Allgemeine Fundstücke  / [D2]


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Doderer, Heimito von: Die Dämonen [1]

  Die Biographie der Emma, in ihrem Freundeskreise "La Drobile" genannt, war an dem Punkte, wo wir jetzt mit ihr halten - am Bach im Haltertale, Sommer 1926 - noch nicht sehr weit gediehen, denn ihr lächerliches Lebensalter war wenig über zwanzig. Da sie englisch, tschechisch und deutsch gleichermaßen zu stenographieren vermochte, die Handelskorrespondenz beherrschte und obendrein eine gescheite und sogar gebildete Person war (beispielsweise: passables Latein!), so zog das Auftauchen ihres hübschen Gesichts bei einer sehr bekannten Transportfirma unweigerlich bald das Angebot einer vorteilhaften Stellung nach sich, ganz zu schweigen davon, daß die Drobila groß und gut gewachsen war und ihr hoher Busen in beträchtlicher Prozession wie ein Herolf vor ihr herzog. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Doderer, Heimito von: Die Dämonen [2]

  Die Weinmann sah aus wie ein in die Märchen von Tausend-und-eine-Nacht und somit auch in die orientalische Üppigkeit verschlagenes Schneewittchen: Milch und Blut, drall und gut, um und um, und all das um die fünzig herum, oder schon drüber. Sie war immer sehr wach, es schien unglaubhaft oder schwer vorstellbar, daß sie auch schlafe. Beim Schlafen wird man warm. Derartige Benommenheiten aber konnte es bei Frau Risa gar nicht geben. Wenn sie des Morgens erwachte (denn sie schlief ja eben doch), wenn sie ihre Umgebung wieder auffaßte, wenn ihre Vorstellungen und Gedanken wieder sprangen und sich gegenseitig ergriffen und miteinander plänkelten oder rangen: das erste, was sie bei alledem genau ausmachte und alsbald wie mit Zangen festhielt, war der Punkt, wo der Profit saß. Das ist die Optik aller Menschen, wird man sagen, aber bei der Weinmann war's schon in's Geniale übersteigert. Der zweite Blick galt dann denjenigen, die ihr solchen Profit etwa würden streitig machen und sie daran hindern wollen. Solche gab es immer. Wußte sie im einzelnen Fall einmal nicht sogleich, wer das sein könnte: dann nahm sie das Vorhandensein des Feindes oder der Feinde doch als sicher an, sie supponierte diesen Feind und ging ihn dann suchen. Freilich fand sie ihn auch. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Doderer, Heimito von: Die Dämonen [3]

  Was Prosodik bedeuten könnte, wußte Leonhard nicht. Also fragte er. (Damals begann seine Fragerei. Wie der Neubeginn eines Kindesalters. Eine geistige Entwicklung kann zunächst sehr wohl mit einer Zunahme der Unwissenheit verbunden sein.) (...) Sie saßen dann an des Buchhändlers Schreibtisch. Fiedler entwarf auf seine Art einen Abriß oder ein Skelett der alten Welt, ein Gestell, recht geeignet für Leonhard, darin zunächst eine bescheidene Wissens- Garderobe da und dort aufzuhängen, und doch nicht in den Irrtum zu verfallen, es bestehe die sogenannte Weltgeschichte aus einer Reihe von revue-artig aufeinander folgenden Kostümwechseln. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Doderer, Heimito von: Die Dämonen [4]

  "Der Rosenkavalier...", wiederholte Frau Trapp und sah mit verschwimmendem Blick gleichsam den Bildern nach, die bei diesem Wort vor ihrem inneren Auge nebelten. Diese Oper war ihr besonders lieb. Sie erkannte wohl nicht, daß hier vor allem das Unerlaubte sie anzog, welches durch die 'Kunst' legitimiert erschien (und gleich im ersten Akt), ganz öffentlich und vor vollem Hause. Frau Trapp, groß, blond mit grauen Strähnen, im Gesicht sozusagen verwittert und auch sonst aus dem Leim gegangen, sah bei derartigen Gefühlsfällen immer wie ein zergehender Edamer Köse aus. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Doderer, Heimito von: Die Dämonen [5]

  "In dieser Fabrik erzeugt er denn auch Papier - sagen wir mal für Zwecke der Toilette. Nun hat ihm da vor einiger Zeit jemand den Gedanken eingegeben, derlei auf der einen Seite mit Reklamen bedrucken zu lassen, sogar mit solchen in Versen. Versteht sich, daß dabei nur ganz giftfreie, harmlose Farben zum Aufdruck verwendet werden dürfen. Herr Dulnik verspricht sich solchermaßen einen bedeutenden Einfluß auf die Menschheit und behauptet, dieses sei die einzige Gelegenheit, wo man den modernen Menschen noch in einer wirklich gesammelten und aufgeschlossenen Verfassung antreffen könne - und eben da müsse der Hebel angesetzt werden.
Mit Dulnik war nämlich vereinbart worden, daß man die bewußte neu entdeckte Reklame-Fläche ausschließlich mit Versen Höpfner'scher Herkunft bedrucken dürfe. (...) ... was da draußen von ihm vorgefunden worden war, zeigte sich als das dilettantische Gestammel irgendeines Niemand, das sich in einem Wald von Apostrophen als Folge der zahllosen Weglassungen und Verkürzungen verlor. (...) "Ja, da sollte man geradezu die ganze Reklame-Dichterei von einer Prüfung und einem Gewerbeschein abhängig machen, um jene gräßlichen Sprachverhunzungen und Patzereien auszuschließen, die man überall trifft... (...) Es müßte ein Kartell geschaffen werden, eine Vereinigung, ein geschütztes Handwerk. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Doderer, Heimito von: Die Dämonen [6]

  Frau Mährischl war ohne Zweifel etwas boshaft veranlagt, um es gelinde auszudrücken, dabei aber gescheit. Letzeres konnte von unserer Rosi nicht gerade behauptet werden. Jedoch für's Boshafte hatte auch die Frau Direktor eine gewisse, wenn auch eher kindliche Neigung. Dieser nachzuleben (ein bißchen wenigstens, natürlich nur so zum Spaß...) war ihr aus eignenen Mitteln nicht recht möglich, jedenfalls langten diese eigenen Mittel nicht für eine genügende Wirksamkeit. Hier sprang nun die neue Freundin ein. Dabei befand sich aber Rosi sozusagen im unbestrichenen toten Raum, über welchen die Geschoßbahnen hinzogen, und sie hatte von ihrer sicheren Stellung aus das Vergnügen, die Einschläge zu beobachten. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Doderer, Heimito von: Die Dämonen [7]

  Frau Rosi Altschul arbeitete sich eben zwischen Tisch und Polsterbank heraus. Nun geschah es, daß ihr Kleid sich verschob, und zwar eine Handbreite über die Knie hinauf, so daß etwa ein einigermaßen aufmerksamer Mensch, der eben am Ende der Bank stand und sich in den Pelz helfen ließ, diese Kniee in ihrer vollen Pracht betrachten und begutachten konnte, von oben zwischen den Tisch und das Sitzmöbel hinein sehend. Die Kniee aber waren schon mehr als beträchtlich, und würdigere Kapitelle für die Säulen, zu welchen sie gehörten. Frau Rosi entdeckte jetzt erst, als sie am Ende der Bank angekommen war, was sie bisher, in ihrer Mühe, übersehen hatte. Und zugleich spürte sie deutlich, daß jemand sie von oben ansah. Den Rock hinabstreifen und aufblicken, war eins. Frau Wolf lächelte. Sie lächelte ganz offen auf diese Kniee herab und auf diese Hände, die hastig zogen und glattstrichen, und im lächelnden Gesicht der Frau Wolf stand geschrieben: zu spät. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Doderer, Heimito von: Die Dämonen [8]

  Jener beschwingende Rausch des Schnees ergriff uns alle, und ich sah mich veranlaßt, dem Rittmeister ein wenig Vorsicht nahezulegen: denn sein linkes Knie war im Jahre 1915 zum Teil an der bekannten Straßenkreuzung bei Ypern geblieben, und der entsprechende Teil unter seiner Haut bestand jetzt aus Silber. Eulenfeld schien jedoch dieses Umstandes gänzlich vergessen zu haben; und, was noch wichtiger schien, auch das Knie erinnerte sich nicht mehr an seine kriegerische Vergangenheit. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Doderer, Heimito von: Die Dämonen [9]

  Wer sie nicht kannte, hätte auf der Straße kaum mit dem ersten Blicke erfassen können, welch eine wohlausgestattete Weibsperson diese Laura Konterhonz eigentlich war. Nur die Gestalt fiel sogleich in's Auge: etwas über mittelgroß, aber kräftig, nicht ganz dem heutigen Ideal entsprechend, sozusagen eine musterhafte Karyatide nach akademischen Maßen. Jedoch war dieses Wesen stets mit derart besonderer Geschmacklosigkeit gekleidet, daß ihre Vorzüge dadurch geradezu mattgesetzt und abgeblendet wurden. Wie man weiß, ist solches Ungeschick in Wien eine höchst seltene Ausnahme. Und es bildete einen großen Nachteil für Fräulein Konterhonz, der allerdings ebenso ein vom Schöpfer gewollter Zug ihres Wesens war, wie etwa ihre winzig kleinen und schön geformten Hände und Füße, oder ihre recht bescheidene Intelligenz. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Doderer, Heimito von: Die Dämonen [10]

  "Gleichwohl muß man sagen", fuhr Eulenberg bedächtig fort, "diese alten Knochen allesamt hatten doch eine verdammt gute Art, ihre Grenzen zu wahren. Derlei fehlt uns heute." "Das heißt", ergänzte Körger, "diese Knochen waren liberal bis auf die Knochen, aber die Knochen selbst waren eben nicht liberal, und so fand bei solchen alten Knochen der Liberalismus seine Grenzen." "Sehr geistreich", sagte Eulenberg, "man spürt allbereits den Esprit und die Dialektik des künftigen Rechtsanwaltes. Es läßt sich prophezeien, daß du dereinst eine Zierde der Verteidigerbank sein wirst." (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Doderer, Heimito von: Die Dämonen [11]

  In Heimito von Doderes 'Die Dämonen' nannte man das Herausekeln von Mitarbeitern, welches heute Mobbing heißt, noch Abtreibung, zumindest in dem Metier, das er beschreibt: der Redaktion, in dem sich Journalisten und ihre Helfershelfer um die Arbeit und die Anerkennung prügeln. Er bschreibt dann das Gefühle wie folgt: "Wer aber hier ganz unsicher im Sattel saß, das waren jene Leute, die zwar lang und breit auf den Gängen Unterhaltungen führten, deren Genealogie jedoch nicht besonders weit hinauf reichte. Sie waren sozusagen da und dort dazwischengestreut und mit guten Bezügen geduldet. Ihr Stellung gründete sich auf Spinnweben, nämlich auf jene feinen Fäden von Mann zu Mann, welche im ganzen das ganze Gewebe der sogenannten 'Beliebtheit' ausmachen. Zu dieser bildete allerdings unbedingte Fügsamkeit die Voraussetzung, welche Fügsamkeit oder Schmiegsamkeit auf die Dauer nur aus einer ehrlichen und wesenechten Verwandtschaft mit der ganzen Allianz- Welt heraus produziert werden konnte. Diese Leute ohne Genealogie, oder wenigstens ohne wirklich edle Genealogie, hatten ein sehr feines Fingerspitzengefühl und tasteten mit unsichtbaren Tentakeln ständig den Boden rundum ab, hier jemand anlächelnd, da mit einer kleinen Schmeichelei vorschnellend, dort wieder eine ganz knappe, sachliche Frage stellend: durchwegs Sonden, um festzustellen, ob alles in Ordnung sei, ob nichts gegen sie vorgehe." (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Doderer, Heimito von: Die Dämonen [12]

  Bereits saß Frau Käthe auf der Chaiselongue, ja, wirklich, jetzt stellte sie die beiden blauen Keks- Büchsen daneben auf den Boden, legte das Pistazien- Säckchen oben drauf - und schlug einfach die Hände vor's Gesicht. Mehr als dieses auf 'frei' gestellte Einfahrtssignal brauchte der jetzt einherbrausende Expreß-Zug der Lust nicht. Sie sank zurück. Stangelers Hände flogen. Er pflückte ihre Kleider weg, wie man Blüten-Blätter von einem Blumenkelch zupft, es war auch Blütenweißes dabei. Die Dinge lagen zerstreut, er hatte Frau Käthe fast ganz entblättert. Sie sank glatt dahin in seinen Armen, sie schien wie bewußtlos. Die Kraftentwicklung war kolossalisch, unter einem Platzregen von Küssen, schließlich rasten sie beide zusammen durch's Ziel. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Doderer, Heimito von: Die Dämonen [13]

  Im deutschen Aufsatz aber mußte sie bei Fella immer noch ein wenig einspringen, sei's in der Klasse, oder bei häuslicher Bearbeitung geistreicher Themen. Lilly vermochte es leicht. Ihr eignete die Gabe des schnellhinfließenden gefälligen Geschwätzes im höchsten Grade - ihre Rede-Übungen in der Klasse waren berühmt - und es galt nur, in Aufsätzen für Fella jene Glätte etwas aufzurauhen und mit dem linken Fuße dann und wann zu stolpern, um nicht Verdacht zu erregen. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Doderer, Heimito von: Die Dämonen [14]

  Am nächsten Tage sah Trix sich München an. Sie war vordem nie hier gewesen. Auf Kunstgenüsse weniger bedacht, zog sie um so tiefer die Aura einer Stadt ein, die ihr, im Vergleiche zu jener, aus der sie kam, als jünger, als klarer und blanker erschien; und dies ohne jeden Hinblick auf historische Daten, welche ja Trix ganz unbekannt waren. Es schien ihr, alles in allem, hier leichter zu leben als daheim (eine Täuschung, die, mehr oder weniger deutlich, usn in jeder fremden Stadt befällt, wenn sie schön und lebhaft ist). (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Doderer, Heimito von: Die Dämonen [15]

  Dem bäuerlichen Menschen, wenn er nicht mehr den Acker bestellt, und jetzt in geschlossener Straßenzeile zwischen städtischem Hausrate wohnt, kommt leicht ein merklicher Grad von Unappetitlichkeit zu. Das gilt auch von bäuerlichen Menschen, welche in die Großstadt verschlagen wurden. Sie bewahren dort zum Beispiel Schmalz und Eier in großen Gefäßen auf dem polierten Schrank des frostigen Schlafzimmers. Dieses entbehrt jeder Bequemlichkeit. Jedoch sind die weißen Kissen parademäßig in den Betten aufgerichtet. Trennt man den Ackerbauer vom Boden, so werden seine Säfte sauer. Er wird anfällig für jedes Übel, von der Lungenschwindsucht bis zur Heimat-Dichtung, die nicht immer nur in der heiligen Stille der Bergwelt passiert. Es gibt Böotier auch mitten im literarischen Leben von Athen oder Wien. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Doderer, Heimito von: Die Dämonen [16]

  Vielleicht brauchte Herzka länger als Rene, um zu erkennen, daß dies ein grauenvolles Bild war, sowohl was die sehr routinierte Malerei, als auch, was die dargestellte Person betraf. Der Pinsel eines in der Zeit vor dem ersten Weltkriege zu Wien sehr bekannten Modemalers hatte hier, von keinerlei Divination gelenkt, an einer Natur so lange herumgeleckt und geschwänzelt, bis von dieser Natur eine Art Abziehbild im Großformat entstanden war: dieses enthielt dann den ganzen Schrecken, und der Maler konnte so wenig dafür, wie ein Photograph, dessen Funktion er ja hier durchaus erfüllt hatte. Das Bild zeigte eine junge Frau in großer Gesellschaftstoilette. Ihr Antlitz war derart, daß Stangeler wünschte, es einschlagen zu können, wie man eine Scheibe einschlägt. Eine hübsche Person; schwarze Flechten um eine weiße Stirn. Aber der Ausdruck des Hohnes, der Frechheit und zugleich völliger Nichtigkeit in diesem Antlitz - in welchem die Augen sehr eng beisammenstanden - war vom Maler nicht distanziert, sondern einfach kopiert worden, gewissermaßen ohne jeden Widerstand, in einer Art profunder Gesinnungslumperei. Darum fiel dieses ganze Gesicht aus dem Bilde heraus und dem Beschauer entgegen, aus einem Bilde, das gar kein Bild war, sicher aber ähnlich bis zur Gemeinheit. 'Er hat nichts gegen sie unternommen, mit seiner Malerei', dachte Stangeler. 'Wahrscheinlich war sie ihm gar nicht widerwärtig. Vielleicht war er selbst so.' (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Doderer, Heimito von: Die Dämonen [17]

  Die Tochter sah dem Vater ähnlich. Dies lag auf der Hand; es lag so oben auf, wie die Bilder in der Kassette zu oberst gelegen hatten; aber eben nur dies, und weiter nichts. Was da eigentlich zwischen Vater und Tochter getreten war, ob nun von der Mutter, ob von anderen Vorfahren herkommend, blieb unergründlich. Aber es mußte stark gewesen sein. Es mußte die väterliche Erbmasse aufgespalten haben, wie eine Axt den Baumklotz spaltet. Oder, sanfter und nicht weniger wirksam: jenes Erbgut war zersetzt worden wie von einer Säure. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Doderer, Heimito von: Die Dämonen [18]

  Mir ist nie mehr im Leben ein Mensch begegnet, der bei aller Freiheit und Unfeierlichkeit im Satzbau und in der Wortwahl so überaus deutlich seine Rede in den Raum entlassen hätte, wie dieser Prinz Croix. Er setzte sozusagen einen freien Raum dafür ohne weiteres voraus: und damit war dieser auch schon vorhanden. (...) Ich verwunderte mich über die Krüdität seiner Ausdrucksweise. Er war viele allein, seine Sprache unterlag weniger der Zensur von der Konvention her, als jener vom Gesichtspunkt des Treffens, der Genauigkeit. (...) Mucki war dem Intellekt gegenüber fügsam, er schluckte ihn, mit dem er nichts anzufangen wußte, wie ein braves Kind die Medizin; vielleicht spielte er bei dem Prinzen überhaupt die Rolle eines allerdings sehr unergiebigen Miniatur-Eckermann. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Doderer, Heimito von: Die Dämonen [19]

  Es steht außer Zweifel, daß Frau Mary nicht nur sehr schön und klug ist, sondern daß sie auch eine ungeheure Kraft bewiesen hat. Sie hat sich wie der berühmte Baron Münchhausen sozusagen am eigenen Zopf aus dem Sumpf gezogen. Dadurch fasziniert sie. Jede Überwindung wirkt faszinierend. Aber mitsamt dieser ist Frau Mary jetzt in einen anderen Sumpf hineingraten. Dieser Triumph, den sie da feiert, kassiert in meinen Augen den siegreichen Feldzug." "Jeder Triumph kassiert", sagte Williams. "Jeder Erfolg überhaupt. Die ausgleichende Gerechtigkeit hebt die Spannung auf. Das gibt einen faden Nachgeschmack. Im Grunde hat jeder Mensch, der nach langer Mühe durch den Erfolg sozusagen rehabilitiert wird, etwas widerwärtiges an sich oder um sich, etwas widerwärtiges Braves. Es ist auf jeden Fall ein bedenkliches Lebensstadium." (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Doderer, Heimito von: Die Dämonen [20]

  Es hatte sie doch im großen und ganzen herumgeworfen, wie eine Windfahne... klar blieb indessen, daß sie in kurzer Zeit über ein Bankkonto von 250.000 - weniger 1000 - verfügen würde. Eine weit vorausgestreckte sorglose Zeit. Noch begann Quapp nicht zu rechnen. Dieser Zustand sollte erst abends eintreten, an ihrem kleinen Schreibtisch. Aber, was erstaunlicherweise schon jetzt eintrat, war ein ganz plötzlicher Impuls zur - Sparsamkeit, ein Widerstand gegen das Geldausgeben: Friseur - Hütchen, zum Kleid mit den braun-gelben Karos passend (sie trug es, jedoch keinen Hut) - etwa Blumen oder Bonbons für die Tante? Von ihr hatte sie was abzuholen, ein Päckchen, und dieses sogleich anderswo hinzutragen: Alte-Damen- Angelegenheiten (Quapp erwog nicht, wie die alten Damen es eigentlich fertig brachten, oft mit einem Minimum von Mitteln in anständiger Weise auszulangen, ohne irgendwem zur Last zu fallen - und daß dies nur durch mäusepfötchenhafte Kleinst-Sorgfalt bewirkt werden konnte. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Doderer, Heimito von: Die Dämonen [21]

  Die Modistin hieß Pauli und hatte ihr Atelier in der Schulerstraße. Sie besaß außer diesem noch ein exzellentes Mundwerk, dessen Aussprüche in Damenkreisen kolportiert wurden. Anläßlich der Heirat eines schon sehr älteren Fräuleins etwa, welche einen einzigen, aber ins Auge springenden Reiz für sich buchen konnte, hatte die Pauli einer über die späte Verlobung erstaunten Kundin gegenüber geäußert: "Wundert Sie das, Gnädige? Mich nicht. Bei dem impertinenten Busen!" (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Doderer, Heimito von: Die Dämonen [22]

  Frau Kapsreiter war ganztägige Kaffeetrinkerin; sie trank nur den besten, auf türkische Art bereitet; tropfenweis, wie ein Vogel. Die Quantitäten waren daher verschwindend; im ganzen dürfte sie täglich eine Tasse voll zu sich genommen haben. Das schadete ihr freilich nicht. Sie war gut beisammen für ihre einundsechzig Jahre. Mäßig schlank, weißes Haar, rosiges und glattes Gesicht. Täglich rauchte sie fünf billige Zigaretten. Im Grund war diese Frau rätselhaft. Sie hatte nie Kinder gehabt und ihren um zehn jüngeren Mann vor geraumer Zeit verloren. Dieser war als städtischer Beamter schon in vorgerückter und gehobener Stellung gewesen und obendrein vierzehn Tage vor seinem Ableben noch einmal befördert worden. Das wirkte sich dann bestens auf die Bemessung der Witwenpension aus (in Österreich sind übrigens Leute, die keinerlei staatliche oder städtische Bezüge, Pensionen, Renten oder ähnliches genießen, sehr selten und gelten auch als minderwertig). Man fragt sich nun, was Frau Kapsreiter, außer dem Kaffeetrinken, den ganzen Tag über zu tun hatte? Nichts hatte sie zu tun. Und hier eben beginnt das Großartige ihrer Existenz: denn sie erfüllte diesen leeren Raum, darin sie nichts zu tun hatte, nicht mit Nichtigkeiten. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Doderer, Heimito von: Die Dämonen [23]

  Anders die beiden Mädchen, die er vor Freud's Branntweinschank verlassen hatte. In ihnen waren Intelligenz und Tiefsinn der Jugend straff aufgerichtet wie Tulpen im taufrischen Beet. Traf ein erschlaffender Wind ein, drückte ein Mißbehagen: sie erlebten's wirklich, keine schützenden Blenden gab es, alles ging bis auf den Grund, der glatt und rein war wie ein bei beginnender Ebbe vom Wasser verlassener Sandstrand. So war der Grund ihrer Seelchen noch nicht verkritzelt vom Linienwerk zahlloser Vergleiche, wie bei den Erwachsenen, sondern alles Eintreffende zeichnete seine Kerbe immer als wär' sie die allererste und sie stand allein und überdeutlich in der reinen Fläche, und störte und beschwerte diese fremden Fläche über jedes Maß. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Doderer, Heimito von: Die Dämonen [24]

  Es gibt Tage, an denen man ungewohnt früh erwacht, und man ist am Abend vorher doch keineswegs zeitig ins Bett gekommen. Man erwacht, es ist noch dunkel. Aber die glimmenden Zeiger und Ziffern der Armbanduhr auf dem Nachttisch sprechen uns überraschend zu und sagen von einer schon morgendlichen Zeit. Man liegt im Dunklen auf dem Rücken, in jenem merkwürdigen Zustande der Wahl- und fast Willensfreiheit, als wäre man aller seiner habituellen Schwächen durch den Schlaf über Nacht ledig geworden - oder als schliefen diese eben noch, und nur ganz man selbst im höchsten Grade sei wach. Man ist wirklich ausgeschlafen; und wie aus allen üblen Gleisen gesprungen, deren man ja täglich welche befährt, mit dem fahrplanmäßigen Zügen des Charakters. Man ist wachsam , und ist aus jenem inneren Kleinbahnverkehr wie ausgestiegen. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Doderer, Heimito von: Die Dämonen [25]

  Wohl befand er sich seit elf Jahren eingefügt in den Grundrost von Tatsächlichkeiten, der uns beruht, in unser Bewußtsein herauf jedoch eine bloß verzeichnende Kenntnis sendet. Nur wenn man lügt und Sachen ganz anders erzählt, als sie wirklich gewesen sind, oder solche, die überhaupt nie waren, dann spannt und staucht sich dieser Rost ein wenig, und es entsteht eine Art Schwellung, ein Tumor der Lüge, welcher den redenden Mund als solchen isoliert und ihn von seinen Quellen und einer eigentlichen Sprache trennt. Viele Menschen neigen in solchen Fällen auch zu einer wirklich geschwollenen Redeweise, hinter der natürlich die Wahrheit ganz verschwindet. Niemandem ist recht wohl dabei. (...) Jetzt sandte jener Grundrost, jenes Gitterwerk, das dann bei vorschreitenden Lebensjahren immer mehr im wachsenden Aschenhaufen verbrannter und konsumierter Tatsächlichkeitern verschwindet, nicht eine bloß verzeichnende kataloghafte Kenntnis herauf in's Bewußtsein Rene's, sondern ein Teil solchen Rostes erglühte selbst, leuchtete her wie ein Stückchen besonders weiß und hell glühender Kohle, das in den Aschenfänger des summenden Samowars gefallen war und jetzt hinter den Schlitzen lag und erstrahlte. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Doderer, Heimito von: Die Dämonen [26]

  Als Frau Mayrinker endlich schlafen ging, war die Mitternacht längst vorbei. Sie machte ihre Toilette und entblätterte sich dazu, so daß ihre ganz weißen Rundlichkeiten sichtbar wurden, weiße Schultern und Arme, baby-haft. Darin lag der starke Reiz, den sie auf ihren Mann wirkte. Endlich stieg sie säuberlich in's Bett, im langen, frisch aus dem Schrank genommenen Nachthemd, dessen scharfe Plättfalten jetzt von durchaus sphärischen Gebilden da und dort aus der geraden Planimetrie gedrängt wurden. Sie lag am Rücken, öffnete plötzlich ein kleines Kindermäulchen, so weit es eben ging, und gähnte tief. Der Roman lag wohl am Nachttisch bereit (sie wählte jedes Jahr mit unfehlbarem Instinkt das jeweils dümmste aller neuen Bücher und wußte allem anderen aus dem Wege zu gehen, mit der Sicherheit einer Fledermaus, die den gespannten Draht vermeidet - und ihr Mann las ja nur Schriften, die sich auf seine Drachen-Puzzis bezogen). Heute ging es nicht mehr mit dem Lesen. Sie schaltete das Licht aus und rollte sich zu einem glatten weißen runden Ei unter dem Nachthemd zusammen. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Doderer, Heimito von: Die Dämonen [27]

  ... wäre der Verfasser zum Beispiel Präsidentin einer internationalen Frauenliga - wozu er glücklicherweise ganz untauglich! - er ließe in den Parlamenten einen Gesetzentwurf einbringen, der den Mannsbildern das Meditieren verböte: denn allzu leicht können die Kerle dabei auf eine Art Archimedischen Punkt gelangen, wo man ihnen nicht mehr beizukommen vermag, alias, sie nicht mehr einseifen kann. Es müßte also denen Weibern das Recht zugebilligt werden, derartige Hochverrätereien gegenüber der Obmacht des Rosenpopo- Flügerlgottes auf ganz konkrete Weise zu stören. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Düffel, John von: Houwelandt

  Es war äußerst bemerkenswert, mit welcher Disziplin sie das Bild einer Frau aufrechterhielt, die allein am glücklichsten war. (...) Sie fand keine Lücke in der Lebenslüge ihrer Unabhängigkeit. (...) Mit der Zeit wurde sie ungeduldig und hätte Beate am liebsten die Maske der Genügsamkeit vom Gesicht gerissen, bis sie auf einmal begriff, daß es ebendiese Ausgeglichenheit und Glätte war, der sie mißtraute. Das Leben war nicht so. (...) (...) Im Gegensatz zu Beates konstanter Gemütsverfassung unterlag sie erheblichen Stimmungschwankungen, die sie nur mit Mühe in den Griff bekam und vermutlich noch schlechter verbergen konnte, als sie glaubte. (John von Düffel: Houwelandt, S. 236)


Düffel, John von: Houwelandt [2]

  Beherzt - fast grimmig - griff er zu, schnitt sich ein fingerdickes Stück Braten ab (...), machte sich über das widerspenstige Stück Fleisch her, das nicht nur genauso aussah wie das vorige, sondern auch ebenso zäh und sehnig schmeckte. Immer wieder mußte Christian sich sagen, daß es sich nur um einen Fall von täuschender Ähnlichkeit handelte, nicht aber um ein und diesselbe Fleischscheibe, obwohl er in seinem tiefsten Inneren davon überzeugt war, daß eben darin seine Strafe bestand. Er war dazu verdammt, diesen einen immergleichen Brocken totes Rind wieder und wieder hinunterzuwürgen. (...) Dann nahm er einen Schluck Rioja, vertilgte den ledrigen Fleischklumpen, der seine Kiefer seit geraunmer Zeit beschäftigte, und ließ einen als Genußseufzer getarntes Stöhnen hören. (John von Düffel: Houwelandt, S. 253f.)


Düffel, John von: Houwelandt [3]

  Er erwischte den Postboten auf halbem Weg über den Hof vor der "Hundehütte", wie die Geschwister ihr Elternhaus nannten, einen zweistöckigen Bau aus der Vorgründerzeit, der zu schmal, zu grau und zu verwinkelt geraten war, um eine Villa am Stadtrand zu sein. Fast schien es, als habe ihr Erbauer seinerzeit voller Mißtrauen in die Zukunft geblickt und für sich und die Seinen keine Vermehrung von Reichtum und Ansehen erwartet. Die "Hundehütte" war eine Trutzburg des Erreichten. Weder Personal noch Gäste hatten in ihr Platz, weshalb sämtliche de Houwelandts, deren Geschäfte prosperierten, mit Anbauten wie dem Gesindehaus um 1900 und dem Kinderhaus Anfang der siebziger Jahre eine Spur von Großzügigkeit in die gotische Verschmocktheit und pastorale Enge ihres Familienbesitzes zu bringen versuchten. Doch Bedienstete gab es, wenn Thomas von sich selbst einmal absah, schon lange nicht mehr. Soweit seine Erinnerung reichte, wohnten im Gesindehaus ältliche Paare und einsame Pensionäre, die geräuschlos vor sich hinstarben. Auch wurde das Kinderhaus entgegen seiner Bestimmung nie von ihm oder den Geschwistern bezogen. Sie alle hatten das steingewordene Angebot, sich mit ihren Familien an der Seite ihres Vaters niederzulassen, abgelehnt. Zwar standen pro Wohnung zwei Kinderzimmer bereit, was einer Aufforderung zur Fortpflanzung gleichkam, doch mieteten sich auch dort wiederum nur alte Leute ein, die offenbar zu schwach und hinfällig waren, um gegen die reizlosen schuhkartonförmigen Siebziger-Jahre-Räume aufzubegehren. Thomas war nicht nur der einzige de Houwelandt, der hier lebte. Er war mit seinen siebenundfünfzig Jahren auch der Jüngste, was ihm noch immer das Gefühl gab, ein Rebell zu sein. (John von Düffel: Houwelandt, S. 19)


Düffel, John von: Houwelandt [4]

  Luisa Mejia führte das bis vor wenigen Jahren einzige Lokal am Ort, das mangels Verwechslungsgefahr einfach nur das "Restaurant" hieß, eine Bezeichnung, auf der sie bestand, obwohl es sich eher um eine Bar handelte. Luisas erster und einziger Ehemann war früh verstorben oder existierte seit jeher nur als Legende. Man konnte sich die Frau kaum anders vorstellen als allein. Sie war eine strenge, hart arbeitende Andalusierin mit wuchtigen Oberarmen und einer durchdringenden Stimme, die es ihr erlaubte, ihre Söhne und Töchter bis hinaus auf die Straße zu kommandieren. Tag und Nacht stand sie am Tresen, hielt ihre Kinder auf Trab und verschwand nur gelegentlich in der dreiviertelhohen Tür zur Küche, um den Extrawunsch eines Gastes persönlich zu erfüllen. Doch sie bediente nicht, Luisa Mejia herrschte. Ihr Reich bestand aus einem niedrigen, tunnelartigen Gewölbe mit einer Flucht schmaler Tische und Bänke. Jedes Jahr ließ sie die Decke neu streichen, doch dem "Restaurant" haftete trotz allem etwas Spelunkenhaftes an. Wer sich zum ersten Mal dorthin verirrte, dachte unweigerlich an die verraucht-verruchten Dorftavernen des iberischen Hinterlands, wo sich Bauern mit knotigen Händen und bizarren Gebissen im Laufe der Nacht die einzige Dorfhure teilten. Dabei waren ihre Stammgäste, die dort vom späten Vormittag an hockten und sich Luft zufächelten, in aller Regel weder Freier noch Zecher, sondern brave deutsche Rentner und Senioren, die einem längst fälligen Arztbesuch oder Krankenhausaufenthalt zu entgehen hofften, indem sie sich Unmengen von Luisa Mejias legendärem Kräutertee einverleibten. (John von Düffel: Houwelandt, S. 93)


Düffel, John von: Houwelandt [5]

  Marita war seine "vorläufig dritte Frau", wie er sagte. Er bot ihr ein sorgloses Leben und das Gefühl, mit Ende Vierzig noch vergleichsweise jung zu sein. Dafür mußte sie seine Launen ertragen und sich in aller Öffentlichkeit von ihm "mein kleines Bettschwein" nennen lassen. Das war der Handel. Doch Marita schien es recht zu sein, solange sie sich die Illusion von Jugendlichkeit bewahren konnte, die durch den Altersunterschied entstand - was in den Kreisen, in denen sie mit Hermann Lobeck verkehrte, kein Problem war. (John von Düffel: Houwelandt, S. 32)


Düffel, John von: Houwelandt [6]

  Wie die meisten Kleinfamilien versuchten auch sie ab einem gewissen Punkt miteinander auszukommen, indem sie sich nicht störten. Die Momente echter Ohnmacht und Hilflosigkeit, die ihm von früher im Gedächtnis geblieben waren, ließen sich an einer Hand abzählen und erschienen ihm rückblickend eher läppisch: die paar Male, wo er nachts an stark befahrenen Straßen stand, weil seine Eltern vergessen hatten ihn abzuholen und er alleine nicht nach Hause fand; die Versprechungen, die sein Vater nicht gehalten hatte und an die er sich später nicht mehr erinnern konnte; die pädagogischen Experimente seiner Mutter, die immer dann zu Hochform auflief, wenn sie ihn wie einen Schüler behandeln konnte, und die seine Freizeit am liebsten in ein endloses Nachsitzen verwandelt hätte. Es war nicht gerade vergnüglich gewesen, damals. (John von Düffel: Houwelandt, S. 254)


Düffel, John von: Houwelandt [7]

  Vor ihrer Abreise würde sie den Kühlschrank mit reichlich Fleisch, Käse und Eiern auffüllen. Es war die einzige Möglichkeit, sicherzugehen, daß Jorge in ihrer Abwesenheit nicht nur von Resten lebte. Sie mußte ihn zwingen, nicht immer das gleiche zu essen, genauso wie sie ihn zwingen mußte, sich den Menschen um ihn herum nicht völlig zu verschließen. Jorge reagierte immer nur auf Zwang. Es machte sie traurig, daß sie so berechnend sein mußte, um auf Jorges Leben Einfluß zu nehmen, das sonst auf seiner einsamen Bahn um immer diesselben Fixpunkte gekreist wäre. Sie kannte Jorge als einen Mann, der keine Vorstellung davon hatte, was ihm fehlte. (John von Düffel: Houwelandt, S. 50)


DuGard, Roger Martin: Die Thibaults [1]

  "Oh", sagte Madame de Fontanin, "diese okkulten Phänomene sind so häufig!" "Was für Phänomene?" Sie war stehengeblieben; ihre Miene war ernst und abwesend. "Die Gedankenübertragung." Die Erklärung wie auch der Ton, in dem sie vorgebracht wurde, waren so neu für Antoine, daß er Madame de Fontanin neugierig ansah. Ihr Antlitz war nicht nur ernst, sondern wie verklärt, und auf ihren Lippen spielte das Lächeln einer Gläubigen, die gewohnt ist, in diesen Dingen der Skepsis der anderen zu begegnen. (Roger Martin DuGard: Die Thibaults, S. 20)


DuGard, Roger Martin: Die Thibaults [2]

  "Ich fühlte mich unverstanden", erklärte er mit dumpfer Stimme, "unverstanden von allen, selbst von meinem Bruder, oft sogar von Daniel." Genau wie ich, sagte sie sich. "Während dieser Perioden war ich unfähig, mich für irgendeine Schularbeit zu interessieren. Ich las, las wie ein Wahnsinniger alles, was ich in Antoines Bücherschrank fand, alles, was Daniel mir geben konnte. Fast alle modernen Romane, französische, englische, russische, habe ich verschlungen. Wenn Sie wüßten, in welchem Rausch ich dann lebte! Und hinterher schien mir alles tödlich langweilig: die Stunden, das Herumklauben an den Texten, die schöne Moral der Gerechten! Ich war offenbar für das alles nicht gemacht!" Er sprach von sich selber ohne Dünkel; aber er kannte, von sich selbst erfüllt, wie jedes junge, kraftvolle Wesen, keinen echteren Genuß, als sich so vor aufmerksamen Augen zu analysieren, und das Vergnügen, das er dabei empfand, wirkte ansteckend. "Das war die Zeit", fuhr er fort, "wo ich an Daniel Briefe von dreißig Seiten schrieb, wo ich manchmal die ganze Nacht Papier bekritzelte! Briefe, in die ich alle Begeisterung und besonders allen Haß des Tages ergoß! Ach, ich sollte jetzt wohl darüber lachen... Aber nein", sagte er und preßte die Stirn zwischen seine Hände, "ich habe unter alledem zu sehr gelitten, ich kann es noch nicht verzeihen..." Ich habe mir diese Briefe von Daniel wiedergeben lassen, ich habe sie wieder gelesen. Jeder ist wie die Beichte eines Narren in einem lichten Augenblick. Sie folgten einander in Zwischenräumen von wenigen Tagen, manchmal von wenigen Stunden, und jeder war wie die Explosion einer inneren Krise, die oft zu der vorhergehenden in schroffstem Widerspruch stand. Eine religiöse Krise, weil ich mich mit aller Macht auf die Evangelien oder auf das Alte Testament oder auf den Positivismus von Auguste Comte gestürzt hatte. Ach, und mein Brief, nachdem ich Emerson gelesen hatte! Ich habe alle Krankheiten des Jünglingsalters gehabt: eine heftige 'Vincitis' und eine verzweifelte 'Baudelairitis'! Aber niemals chronische Leiden! Eines Morgens wachte ich als Klassiker auf, am Abend war ich Romantiker - und verbrannte heimlich in Antoines Laboratorium meinen Malherbe und meinen Boileau. Das tat ich, ganz allein, mit einem teuflischen Lachen! Am folgenden Morgen schien mir alles, was Literatur heißt, gleichermaßen leer, einfach zum Übelwerden. (Roger Martin DuGard: Die Thibaults, S. 351/52)


DuGard, Roger Martin: Die Thibaults [3]

  Daniel war sich wohl bewußt, daß er Jacques' Schamgefühl verletzte. Er tat es mit Absicht, weil es ihn irritierte, mit anzusehen, mit welcher Leichtigkeit sich Jacques monatelang - vielleicht aus Opposition gegen die Ausschweifungen seines Freundes - mit einem fast keuschen Leben abfand. Daniel war sogar naiv genug, sich deswegen Sorgen zu machen, und er wußte, daß auch Jacques sich manchmal ein wenig über die gefügige Schläfrigkeit eines Temperaments beunruhigte, das früher lebhaftere Ansprüche anzukündigen schien. (Roger Martin DuGard: Die Thibaults, S. 246)


DuGard, Roger Martin: Die Thibaults [4]

  Das Bett war niedrig, die Decken völlig zurückgeschlagen. Die rosenfarbene Seide, aus der die Vorhänge waren, bedeckte auch den Hintergrund des Alkovens, in dem Rahels Nacktheit, großartig ausgebreitet, wie eine allegorische Figur in einer durchscheinenden Muschel ruhte. "Wenn ich Maler wäre...", murmelte Antoine. "Siehst du, daß du müde bist", meinte Rahel und lächelte schnell. "Wenn du Künstler wirst, heißt das immer, daß du müde bist." (Roger Martin DuGard: Die Thibaults, S. 359)


DuGard, Roger Martin: Die Thibaults [5]

  Der Anblick Jennys weckte in ihm jeden Augenblick Sehnsucht nach seiner eigenen Jugend. Wie hatte er heute morgen noch, auf dem Tennisplatz, darunter gelitten! Die jungen Burschen und Mädchen mit dem klaren Blick, mit dem vom Spiel verwirrten Haar, den offenen Kragen, den unordentlich sitzenden Kleidern - ohne daß irgend etwas dem triumphierenden Reiz ihrer Jugend Abbruch tun konnte! All diese geschmeidigen Körper, in Sonnenlicht gebadet, die noch in der Erhitzung frisch und von Gesundheut duftend blieben! Ach! Wie grausam hatte er in den zehn Minuten, die er dort zugebracht hatte, die Entwürdigung durch das Alter empfunden! Wie grauenhaft und beschämend war ihm dieser tägliche Kampf gegen sich selbst erschienen, gegen das Welken, die Unsauberkeit, den Geruch, gegen all jene Vorboten der endgültigen Zersetzung, die in ihm schon begann! Und als er seinen schwerfälligen Gang, seinen hastigen Atem, seine Mühe , frisch zu erscheinen, mit dem federnden Schritt seines Sohnes verglich, ließ er schroff Daniles Arm fahren und konnte einen neidischen Ausruf nicht unterdrücken: "Wie gern wäre ich noch einmal zwanzig Jahre, so wie du, mein Kleiner!" (Roger Martin DuGard: Die Thibaults, S. 374)


DuGard, Roger Martin: Die Thibaults [6]

  Für Menschen seines Schlages ist unser Unterrichtsbetrieb alles in allem ganz ungefährlich: Sie wissen instinktiv zu wählen; sie haben - wie soll ich sagen? - die Unbezähmbarkeit der guten Rasse, die sich nicht Fesseln schlagen läßt. Die Ecole Normale ist nur für die allzu Schüchternen und Gewissenhaften eine Gefahr... Im übrigen hatte ich den Eindruck, daß Ihr Bruder mich nur pro forma um Rat fragte, daß sein Entschluß im Grunde schon gefaßt war. Das ist ja gerade das Kennzeichen der Berufung, daß sie so gebieterisch ist. Nicht wahr? Er hat mit einer... einer jugendlichen Heftigkeit vom Geist der Universitäten gesprochen, von der Schuldisziplin, von gewissen Professoren und, wenn ich mich recht entsinne, sogar von seinem Familienleben und seiner Stellung zur Gesellschaft... Sie sind darüber erstaunt? Ich liebe die junge Leute. Sie verhelfen mir dazu, daß ich nicht zu schnell altere; sie erraten, daß sich hinter dem Literaturprofessor ein unverbesserlicher alter Poet verbirgt, zu dem sie offen reden können, und auch Ihr Herr Bruder hat, wenn ich mich recht erinnere, kein Blatt vor den Mund genommen... Ich habe viel Verständnis für die Unduldsamkeit der Jugend. Es ist ein gutes Zeichen, wenn ein junger Mensch sich in natürlicher Opposition gegen alles befindet. Diejenigen meiner Schüler, die es zu etwas gebracht haben, waren alle schwierigen Schüler und sind - wie mein Lehrer Renan sagte - 'mit Schmähungen auf den Lippen' ins Leben getreten... (Roger Martin DuGard: Die Thibaults, S. 482)


DuGard, Roger Martin: Die Thibaults [7]

  Die Situation drohte schon kritisch zu werden, als Jacques plötzlich das Fenster öffnete und in das Zimmer zurückwich. Ein schöner siamseischer Kater mit dichten grauerm Fell und kohlenrabenschwarzem Maul sprang weich auf den Boden. "Sieh da, Besuch?" fragte Antoine, über die Anlenkung erfreut. Jacques lächelte. "Ein Freund." Dann fügte er hinzu: "Einer von der unschätzbaren Sorte: ein zeitweiliger Freund." (Roger Martin DuGard: Die Thibaults, S. 519)


Durrell, Lawrence: Clea [1]

  Ich sah mich nun mit dem Wesen der Zeit konfrontiert, diesem Leiden der menschlichen Psyche. Ich hatte - auf dem Papier - meine Niederlage zugeben müssen. Doch seltsamerweise hatte der Akt des Schreibens mir noch eine Art Gewinn gebracht; gerade durch das Versagen der Worte, die eins ums andere in die bodenlose Kavernen der Imagination sinken und dort versickern. Ein kostspieliger Weg, das Leben anzufangen, gewiß, aber uns Künstler treibt es zu einem Eigenleben, das sich aus diesen seltsamen Techniken der Beschäftigung mit dem eigenen Ich nährt. (Lawrence Durrell: Clea, S. 8)


Durrell, Lawrence: Clea [2]

  In der früheren Welt hätte ich Clea mit einem ganzen Schwarm anderer Freunde und Verehrer teilen müssen. Jetzt nicht. Und seltsam: Zum Teil schenkten diese äußeren Faktoren, in deren tödliches Ringen wir hineingezogen wurden, unserer Leidenschaft eine Erfüllung, die zwar nicht auf Verzweiflung gründete, sondern, ebenso gewiß, in einem Gefühl der Vergänglichkeit wurzelte. Wenn auch von anderer Art, gehörte sie doch in die gleiche Kategorie wie das stumpfsinnige, orgiastische Treiben der verschiedenen Soldatenhorden. Man konnte sich unmöglich der wahren Erkenntnis verschließen, daß der Tod (nicht nah, aber doch in der Luft liegend) die Küsse schärft, jedem Lächeln und jedem Händedruck unerträgliches Gewicht gibt. Obwohl ich kein Soldat war, hing das dunkle Fragezeichen über unseren Gedanken, denn auch die wahren Äußerungen des Herzens waren beeinflußt von etwas, wovon wir alle, wenn auch widerstrebend, Teil waren: eine ganze Welt. Sofern man den Krieg nicht einfach als eine Art zu sterben ansah, bedeutete er eine Art zu altern, die Schalheit der menschlichen Dinge zu schmecken und zu lernen, jedem Wechsel gegenüber tapfer standzuhalten. Keiner konnte sagen, was hinter dem abgeschlossenen Kapitel jedes Kusses liegen mochte. (Lawrence Durrell: Clea, S. 108)


Durrell, Lawrence: Clea [3]

  Man darf die Liebe definieren als eine krebsartige Wucherung unbekannten Ursprungs, die sich überall bilden kann, ohne daß der Betroffene es weiß oder wünscht. Wie oft hast du vergeblich versucht, den "richtigen" Menschen zu lieben, selbst wenn dein Herz wußte, ihn nach langem Suchen gefunden zu haben? Nein, ein Wimpernschlag, ein Parfum, ein betörender Gang, ein Muttermal am Hals, der Mandelduft deines Atems - das sind Komplicen, die sich der Geist aussucht, um uns eine vernichtende Niederlage beizubringen. (Lawrence Durrell: Clea, S. 109)


Durrell, Lawrence: Clea [4]

  "Heute habe ich fünf Mädchen gehabt. Ich weiß, ihr findet das ausschweifend. Dabei ging es mir gar nicht darum, mir etwas zu beweisen. Aber wenn ich gesagt hätte, ich hätte mir aus den fünf Teesorten eine Mischung nach meinem Geschmack hergestellt oder fünf Tabaksorten für meine Pfeife gemischt, dann würdet ihr überhaupt nichts dabei finden. Ihr würdet, im Gegenteil, meinen Eklektizismus bewundern, nicht wahr?" (Lawrence Durrell: Clea, S. 144)


Durrell, Lawrence: Clea [5]

  "Dieser Krieg", meinte er schließlich, "ich muß Ihnen sagen... Er ist ganz anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte." Unterhalb seiner Champagner- beschwingten Trunkenheit war er plötzlich recht ernst geworden. Er sagte: "Niemand, der es zum erstenmal sieht, kann umhin, mit seiner ganzen Vernunft zu protestieren und auszurufen 'Das muß aufhören!' Mein lieber Junge, um die Norm der menschlichen Ethik zu sehen, dazu muß man ein Schlachtfeld gesehen haben. Die allgemeine Idee läßt sich vielleicht in dem ausdrucksvollen Satz zusammenfassen: 'Wenn du's nicht fressen oder ficken kannst, dann scheiß drauf!' Zweitausend Jahre Zivilisation! Das blättert im Nu ab. Kratz nur mit dem kleinen Finger, und schon kommst du auf den Grundanstrich oder die rituelle Kriegsbemalung unter dem Firnis." (Lawrence Durrell: Clea, S. 194f.)


Durrell, Lawrence: Clea [6]

  "Ich bin nicht gut für dich, Darley. Seit wir zusammen sind, hast du nicht eine Zeile geschrieben. Du hast keine Pläne. Du liest fast überhaupt nicht mehr." So hart waren diese strahlenden Augen geworden und so bekümmert! Dennoch mußte ich lachen. Tatsächlich wußte ich jetzt oder glaubte zu wissen, daß ich nie ein Schriftsteller werden würde. Der ganze Impuls, mich auf diese Art der Welt anzuvertrauen, war erlahmt, war versiegt. Der Gedanke an die verquälte kleine Welt von Druck und Papier langweilte mich unerträglich. Doch ich war nicht unglücklich darüber, daß ich von diesem Drang befreit war. Ich war im Gegenteil voller Erleichterung - befreit von der Sklaverei dieser Redeformeln, die zum Mitteilen wahrer Gefühle so ungeeignet schienen. (Lawrence Durrell: Clea, S. 253)


Duve, Karen: Taxi [1]

  Diese Frau in ihrem erbärmlichen 2CV zum Beispiel hätte ja nun, wenn sie denn eine so gute Autofahrerin gewesen wäre, vorausschauend erkennen können, daß es gleich ziemlich eng werden würde, weil ihr nämlich ein Mercedes-Taxi entgegenkam. (...) Sie lächelte mich hilflos an, als wäre ich irgendein bescheuerter Mann, bei dem offensiv zur Schau getragene Dämlichkeit einen erotischen Sanitäterinstinkt auslösen könnte. Zurücksetzen ging nicht, hinter mir hielten bereits zwei Autos. Also hob ich die Hände in Schulterhöhe und schlenkerte der Frau meine Finger entgegen, um ihr zu signalisieren, daß sie es war, die rückwärts fahren mußte. Die Frau sah über ihre Schulter und gleich wieder nach vorn und bekam rote Flecken im Gesicht. Diese Fahrtrichtung beherrschte sie nicht. Es blieb mir nichts übrig, als das Fenster herunterzukurbeln, sowohl meinen als auch ihren Rückspiegel zur Seiten klappen und mich im Schneckentempo an ihrer mitten auf der Straße parkenden Charleston-Ente vorbeizuschieben. An jeder Seite meines Taxis war höchstens noch zwei Finger breit Luft. Die Schnalle selber bewegte sich natürlich keinen Zentimeter, sondern ließ mich machen und glotzte noch blöd, ob ich auch ja keine Schrammme in die Speziallackierung ihres drolligen französischen Kleinwagens fuhr. Diese Wesen würden es nie schaffen. Sich dreißigtausend Jahre lang unterdrücken zu lassen, ohne eine einzige anständige, blutige Revolution auf die Beine zu stellen, das sagte ja eigentlich alles. (Karen Duve: Taxi, S. 60f.)


Duve, Karen: Taxi [2]

  Trendforscher war auch so ein neuer Trend. Der Trendforscher hatte sich mit der zunehmenden Vereinzelung der Westeuropäer beschäftigt und vorausgesagt, daß sich in den Großstädten demnächst nach Geschlechtern getrennte Stadtteile herausbilden würden, in denen entweder nur noch Single-Frauen oder nur noch Single-Männer leben würden. Die Single-Frauen würden in schnuckligen kleinen Stadtteilen wie Eppendorf oder Eimsbüttel wohnen. Sie würden Rüschengardinen an den Fenstern ihrer Altbauten anbringen, und es würde Cafes und Buchläden geben und Geschäfte, in denen man hübschen sinnlosen Krimskrams kaufen konnte. In den Männer-Stadtteilen würden Zweckbauten stehen - ohne Rüschengardinen. Statt Buchläden und Cafes würde es Kneipen und Fast-Food-Ketten geben und mindestens eine Sportarena. Was der Trendforscher bei seinen Prognosen aber noch nicht berücksichtigt hatte, war, daß die Männerstadtteile unter einer fortschreitenden Verslumung zu leiden würden. Ich dachte das für ihn zu Ende: Der Dreck bei den Männern würde kniehoch in den Straßen liegen. Bei den Frauen hingegen würde sogar das Laub zusammengeharkt, in kleine Stoffbeutel gefüllt und mit Samtschleifen in den neuesten Herbstmodefarben zugebunden und an den Straßenrand gestellt. (Karen Duve: Taxi, S. 77)


Duve, Karen: Taxi [3]

  Durch das Taxifahren hatte ich den Kontakt zu allen früheren Freunden verloren. Meine Telefonrechnung bestand aus der Grundgebühr, und die Einzige, die anrief, war meine Mutter, um zu sagen, daß meine Wäsche fertig sei. Post bekam ich auch nicht. Nicht einmal Werbebriefe. Ich hatte es verratzt. Einmal falsch abgebogen, einmal den falschen Beruf gewählt, einmal den falschen Mann geküßt und dein ganzes Leben war verkorkst. (Karen Duve: Taxi, S. 78)


Duve, Karen: Taxi [4]

  "Echt, du fährst Taxi? Erzähl doch mal!" Mir wurde klar, was er und alle anderen in diesem Raum in mir sahen - einen Freak, ein schrulliges Original, das Auskunft geben konnte über eine Welt, mit der ein angehender Rechtsanwalt sich erfreulicherweise erst beschäftigen mußte, wenn es zum Gerichtstermin kam. Vielleicht sahen sie in mir auch bloß ein abschreckendes Beispiel dafür, wie es einem ergehen konnte, wenn man nicht in die Junge Union eintrat. Sie verstanden es nicht. Sie verstanden nicht, daß das, wovon ich erzählte, die Welt war, in der auch sie sich aufhielten. Daß es auch sie etwas anging. Sie dachten, es hätte mit mir zu tun, daß ich solche Dinge erlebte. (Karen Duve: Taxi, S. 80)


Duve, Karen: Taxi [5]

  "Hein-Hoyer, Goldener Handschuh, kannst die Uhr auslassen." Er reckte gereizt das Kinn und legte einen Fünfzig-Mark-Schein aufs Armaturenbrett. Eine große Narbe lief über seinen Handrücken. Der Goldene Handschuh war die Top-Prügel-und-Absturzkneipe in Hamburg, noch vor dem Blauen Peter I bis IV und vor dem Bronzekeller und lange vor Hotel Hannovera. Der Mann wog bestimmt an die hundert Kilo. Er roch nach Schweiß, Alkohol und Gefahr. Unter seinen rechten Augenwinkel hatte jemand dilettantisch den schwarzen Umriss einer Träne tätowiert. Ein gewalttätiger Mensch, nicht imstande, sich zu beherrschen, aber in der Zivilisation mit ihren strikten Verhaltensregeln liefen seine Dominanzansprüche jeden Tag ins Leere. Auswildern ging ja nicht, und so blieb ihm nur der Goldene Handschuh, eines der letzten Biotope, in dem noch das gute alte Schimpansengesetz galt. "Was bist du denn für eine süße, kleine Maus?" Was sollte man einem derart aggressiven Exemplar auf eine derart dämliche Frage bloß antworten? Dian Fossey hätte die Situation sofort in den Griff bekommen. Wenn Dian Fossey es mit einem unangenehmen Gorillamännchen zu tun bekam, dann machte sie irgendwelche Schnalzgeräusche und Unterlegenheitsgesten oder stopfte sich ein Büschel Gras in den Mund, um ihn zu beschwichtigen. (Karen Duve: Taxi, S. 81)


Duve, Karen: Taxi [6]

  "Außerdem werde ich auch ständig gefragt, wie alt ich eigentlich bin", fiel mir noch ein. "Oder die fragen: Seit wann dürfen Teenager Taxi fahren." "Es ist auch nicht normal, daß du so jung aussiehst", sagte Rüdiger. "Wenn jemand auffallend jünger aussieht, als es seinem Alter entspricht, dann ist meistens auch die geistige Reife verzögert." Ich verstand selber nicht, wieso ich immer noch wie achtzehn aussah. Vermutlich lag es daran, daß Dientrich auf Achtzehnjährige stand. Ich machte ja immer alles so, wie er es wollte. Oder vielleicht brauchte man auch nicht zu altern, wenn man nicht lebte. "Das ist aber sowieso bald vorbei mit dem jünger aussehen", fuhr Rüdiger fort. "Frauen altern nämlich wesentlich schneller als Männer. Das ist die Strafe dafür, daß sie so bösartig sind." (Karen Duve: Taxi, S. 95)


Duve, Karen: Taxi [7]

  Ich fand es gut, wenn Tierarten ausstarben. Dem ausgestorbenen Bali-Tiger konnte man doch eigentlich nur gratulieren: Herzlichen Glückwunsch, lieber Bali-Tiger. Nie mehr Hunger, nie mehr Revierstreitigkeiten, nie mehr Schmerzen, nie mehr Todesansgt. Und besonders viel verpaßt hast du auch nicht. Für die noch existierenden Tiere war sein Aussterben ebenfalls ein Glück. Ich mochte gar nicht ausrechnen, wie viel hundert Antilopen oder Gazellen, oder war immer diese Biester fraßen, zerrisssen werden müßten, um auch nur einen einzigen Bali-Tiger bis zur Geschlechtsreife zu ernähren. Von mir gab es keinen Pfenning für bedrohte Großkatzen. (Karen Duve: Taxi, S. 221)


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