Allgemeine Fundstücke  / [E-F]


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Ebner-Eschenbach, Marie von: Gemeindekind

  Virgil bewohnte mit den Seinen ein Stübchen in der vorletzten Schaluppe am Ende des Dorfes. Es war eine Klafter lang und breit und hatte ein Fenster mit vier Scheiben, jede so groß wie ein halber Ziegelstein, das nie aufgemacht wurde, weil der morsche Rahmen dabei in Stücke gegangen wäre. Unter dem Fenster stand eine Bank, auf welcher der Hirt schlief, der Bank gegenüber eine mit Stroh gefüllte Bettlade, in der Frau und Tochter schliefen. Den Zugang zur Stube bildete ein schmaler Flur, in dessen Tiefe sich der Herd befand. Er hätte zugleich als Ofen dienen sollen, erfüllte aber nur selten eine von beiden Bestimmungen, weil die Gelegenheiten, Holz zu stehlen, sich immer mehr verminderten. So diente er denn als Aufbewahrungsort für die mageren Vorräte an Getreide und Brot, für Virgils nie gereinigte Stiefel, seine Peitsche, seinen Knüttel, für ein schmutzfarbenes Durcheinander von alten Flaschen, henkellosen Körben, Töpfen und Scherben, würdig des Pinsels eines Realisten. (Marie Freifrau von Ebner- Eschenbach: Das Gemeindekind)


Echenoz, Jean: Ich gehe jetzt

  Diese Meute schlief um den Leithund gedrängt in einem Gehege und bestand aus struppigen, ungepflegten Hunden mit gelblich schwarzem oder schmutzig gelbem Fell und einem Dreckscharakter. (...) Aus ihren Blicken sprachen nichts als Eifersucht und Mißgunst. Ferrer sollte bald feststellen, daß keines dieser Tiere, für sich allein genommen, ein angenehmer Umgang war. Rief man eins beim Namen, dann wandte es sich kaum um und, wenn es nichts zu fressen sah, gleich wieder ab. Forderte man es zur Arbeit auf, so reagierte es überhaupt nicht, gab höchstens mit einer knappen Drehung des Kopfes zu verstehen, man möge sich an den Leithund wenden. Dieser nun wieder, seiner Wichtigkeit nur zu bewußt, zierte sich gewaltig und antwortete allenfalls mit einem Blick, dem entnervten Blick des Beamten am Rande der Gestreßtheit, dem zerstreuten Blick seiner Sekretärin, die sich gerade die Fingernägel lackiert. (Jean Echenoz: Ich gehe jetzt, S. 38)


Eca de Queiroz, Jose Maria: Die Maias [1]

  Er selber behauptete von sich, weiter nichts als ein Egoist zu sein. Doch niemals war sein Edelmut so echt und so groß wie jetzt in seinem Alter. Ein Teil seines Einkommens zerrann in rührender Mildtätigkeit zwischen seinen Fingern. Jedesmal liebte er mehr, was arm und was schwach war. In Santa Olavia liefen die Kinder aus den Haustüren zu ihm hin, weil sie merkten, daß er zu ihnen zärtlich und langmütig war. Alles, was lebte, hielt er für liebsnwert, und er gehörte zu denen, die den Durst einer Pflanze mitempfinden und auf keinen Ameisenhaufen treten. (Jose Maria Eca de Queiroz: Die Maias, S. 14)


Eca de Queiroz, Jose Maria: Die Maias [2]

  Sogleich beklagte er sich bitter über sein mangelndes Erinnerungsvermögen. Eine so unerläßliche Sache, das Erinnerungsvermögen, etwas, worauf das öffentliche Leben beruhe! Und er besitze davon unglücklicherweise nicht ein Fünkchen. Zum Beispiel habe er (wie es jeder Mensch tun müßte) die zwanzigbändige "Weltgeschichte" von Cesare Canut gelesen. Er habe sich in sein Arbeitszimmer eingeschlossen und sich vorbehaltlos dieser Lektüre hingegeben. Aber dann, meine Herren, sei ihm alles entfallen - und nun habe er keine Ahnung von Geschichte! "Haben Sie ein gutes Gedächtnis, Senhor Maia?" "Ein leidliches." "Ein unschätzbares Gut, dessen Sie sich da erfreuen!" (Jose Maria Eca de Queiroz: Die Maias, S. 164)


Eca de Queiroz, Jose Maria: Die Maias [3]

  Er erzählte ihm von Damaso. Habe er denn diese Zierde der Menschheit nicht wieder getroffen? Dieser Musterknabe posaunte nämlich überall aus, daß der Maia ihn nach jener Geschichte, die auf dem Chiado passiert sei, durch einen Freund dürftige und feige Entschuldigungen übermittelt habe... Furchtbar, dieser Damaso! Er habe die Gestalt, das Innere und die Veranlagung eines Balles: je kräftiger er zu Boden geschlagen werde, desto höher springe er triumphierend in die Luft! (Jose Maria Eca de Queiroz: Die Maias, S. 504)


Eca de Queiroz, Jose Maria: Die Maias [4]

  "Was sind wir denn?" rief Ega. "Was sind wir denn gewesen seit unserer Gymnasialzeit, seit der Lateinprüfung? Romantiker, das heißt minderwertige Individuen, die sich mit Gefühl und nicht mit dem Verstand durchs Leben geschlagen haben." Doch Carlos behauptete, genau zu wissen, daß im Grunde genommen diejenigen glücklicher wären, die sich nur von der Vernunft leiten líeßen und sich bemühten, streng auf ihrem Pfad zu bleiben - nüchtern, straff, logisch, ohne Gefühlsregung bis ans Ende. "Das glaube ich nicht", wandte Ega ein. "Nach außen hin wirken sie trübselig. Und innerlich sind sie es vielleicht sogar. Was beweist, daß sie in dieser schönen Welt entweder unvernünftig oder langweilig sein müssen." "Fazit: Es lohnt nicht die Mühe zu leben." "Das hängt ganz vom Magen ab!" fiel ihm Ega ins Wort. (Jose Maria Eca de Queiroz: Die Maias, S. 813)


Egloff, Joel: Mein kleines Paradies

  Wehmütig erinnern wir uns an die Weihnachten unserer Kindheit. "Fußtritte in den Hintern bekam ich!", erzählt uns Bortch. "Und ich mußte mich auch noch dafür bedanken!" "Du brauchst gar nicht zu jammern!", sag ich zu ihm. "Mir wurde jedes Jahr erzählt, der Weihnachtsmann würde nicht kommen, weil er schwer krank sei und den Winter nicht überstehen würde. Bis man mir schließlich, um endlich Ruhe zu haben, mitteilte, er sei gestorben und niemand würde seine Nachfolge antreten. Damit war die Sache geregelt." (Joel Egloff: Mein kleines Paradies, S. 131)


Ettlinger, Karl: Gastfreundschaft

  Als ich zu Tante Edda zurückkehrte, fand ich daselbst eine kleine Volksversammlung vor. Etwa zwanzig Menschen, von denen neunzehn Autographen sammelten. Sie hatten die Freundlichkeit gehabt, ihre Bücher und Albümer mitzubringen. Für Tinte und Feder hatte Tante Edda in liebenswürdigster Weise Sorge getragen. Ich schrieb also: "Leben ist die Kunst, zu sterben." Einem andern schrieb ich: "Sterben ist die Kunst, zu leben." Ein dritter durfte sich des Eintrags erfreuen: "Leben und Sterben ist eine Kunst." Der vierte war entzückt von dem Aphorismus: "Die Kunst ist das Leben des Sterbens." Beim fünften war "die Kunst das Sterben des Lebens". So lebte und sterbte ich mich durch neunzehn Albümer hindurch. (Karl Ettlinger: Gastfreundschaft)


Falk, Rita: Winterkartoffelknödel

  Jetzt muss ich vielleicht kurz erklären, dass erstens ein Lamperl ein Lamm ist und zweitens von allen Essen, wo die Oma kocht, es das einzige ist, was ich nicht mag. Am Karsamstag aber traditionell ein Lamperl. Und das auf nüchternen Magen. Es ist eine Katastrophe, weil: wenn die Oma merkt, dass es einem nicht schmeckt, da hört bei ihr der Spaß auf. Weil sie nämlich seit den frühen Morgenstunden in der verdammten Küche steht und kocht. Und da hat's dann zu schmecken. Aus! (...) Mir schmeckt's eben nicht, aber ich tu so als ob, weil: sonst Krieg. Nach drei Scheiben Fleisch ist es mir schon schlecht und - zack - haut mir die Oma noch eine vierte auf den Teller. Später geh ich mit ihr in die Kirche zur Osternacht und jedes Mal, wenn der Pfarrer sagt: "Lamm Gottes!", muss ich rülpsen, frag bloß nicht! (Rita Falk: Winterkartoffelknödel)


Fante, John: Warten auf Wunder

  Ich wurde in der Kellerwohnung einer Makkaronifabrik in Nord-Denver geboren. Als mein Vater erfuhr, daß sein drittes Kind ebenfalls ein Junge war, reagierte er in derselben Art, wie damals, als meine zwei Brüder auf die Welt kamen - er ließ sich drei Tage lang vollaufen. Meine Mutter fand ihn im Hinterzimmer einer Kneipe ein Stück die Straße runter von unserer Wohnung und schleifte ihn nach Hause. Abgesehen davon schenkte mir mein Vater wenig Aufmerksamkeit. In meiner Kindheit stand ich eines Tages draußen vor dem Badezimmerfenster des Hauses meiner Tante und beobachtete meine Cousine Catherine, die vor dem Ankleidespiegel stand und ihr langes, rotes Haar auskämmte. Sie war splitternackt, abgesehen von den hochhackigen Schuhen ihrer Mutter, eine voll erblühte Frau von acht Jahren. Ich verstand weder die Aufregung, die in mir brodelte, noch die Verwirrung über die elektrisierende Schönheit meiner Cousine, die mich überkam. Ich stand da und onanierte. Ich war fünf Jahre alt, und die Welt bekam eine neue und gewaltige Dimension. Ich war also ein Verbrecher. Ich fühlte mich die darauffolgenden vier Jahre als Verbrecher. Ein schleichender, rotznasiger, sommersprossiger, undurchsichtiger Verbrecher, bis ich schließlich unter der Last meines Kreuzes zusammenbrach und mich zu meiner ersten Beichte schleppte und dem Priester die Wahrheit über mein bestialisches Leben berichtete. Er erteilte mir die Absolution, und ich stürzte das schwere Kreuz von mir und spazierte hinaus in das Licht der Sonne, wieder zur freien Seele geworden. (John Fante: Warten auf Wunder, S. 57)


Fante, John: Warte bis zum Frühling, Bandini [1]

  Ein ungezähmter, übellauniger Despot von einem Herd. Sie redete ihm gut zu, besänftigte ihn und schmeichelte ihm, aber dieser Schwarzbär von einem Herd lehnte sich immer wieder gegen sie auf und wiedersetzte sich allen Versuchen, ein Feuer in Gang zu bringen; und wenn dieser streitsüchtige Herd dann heiß war und eine wohlige Wärme verbreitete, konnte er plötzlich Amok laufen und gelb glühend damit drohend, das ganze Haus in Schutt und Asche zu legen. Nur Maria konnte mit diesem mürrischen schwarzen Eisenblock umgehen. Sachte legte sie Zweig um Zweig nach, streichelte die zarte Flamme, legte vorsichtig ein Holzscheit nach, dann noch eins und noch eins, bis der Ofen zu schnurren begann und das Eisen sich erhitzte. Der Herd dehnte sich und bullerte in der Hitze, und dann fing er wohlig an zu grunzen, und zu stöhnen wie ein Idiot. Der Herd liebte nur sie allein. Wenn Arturo oder August auch nur ein Stück Kohle in seinen gefäßigen Schlund fallen ließen, geriet er außer Rand und Band und wurde so heiß, daß die Farbe an der Wand Blasen warf, er verfärbte sich bedrohlich gelb und zischte nach Maria, die dann herbeieilte und ihn zur Ruhe brachte. Mit einem Lappen in der Hand zupfte sie geschickt an diesem und jenem Hebel, schloß flink die Luftklappen und schüttelte seine Innereien durch, bis er wieder in seinen dumpfen Normalzustand zurückkehrte. Marias Hände waren nicht größer als erblühte Rosen, aber dieser schwarze Teufel war ihr Sklave, und sie hatte ihn wirklich gern. (John Fante: Warte bis zum Frühling, Bandini; S. 23)


Fauser, Jörg: Mann und Maus [1]

  Vom Leben um die Schönheit betrogen, machen sie aus der Öde und der Häßlichkeit das Beste, sie trinken. Strozzi fühlte sich wieder gut. Ein Mann brauchte so wenig, um sich gut zu fühlen, den vertrauten Geruch von Bier und Schnaps, den Anblick anderer Trinker, die in allergrößter Seelenruhe alle Explosionen ertrugen, den säuerlichen Geschmack des Weißbiers auf der Zunge. Frauen wollten immer Musik und Liebe und Abwechslung, Kino und Tanz und Reisen, Cafes und Zärtlichkeit und wieder Musik. Natürlich, es war nicht zu leugnen, auch viele Männer, unter ihnen Strozzi, brauchten mehr als Weißbier, um das Leben zu ertragen, aber wenn er sich auf das Allernotwendigste konzentrierte, auf seine Seelenruhe, konnte ein Mann in seiner Stadt überleben wie ein einsamer Wolf in den Abruzzen, und er brauchte nicht einmal zu heulen: die Sirenen besorgten das für ihn. (Jörg Fauser: Mann und Maus. Erzählungen, S. 12)


Fauser, Jörg: Mann und Maus [2]

  Oh Gott, dachte Strozzi. Warum lieg ich nicht auf meinem Bett und höre Hilde zu, da weiß ich doch wenigstens, was los ist. Aber beim Gedanken an Hilde verzerrte sich etwas in ihm. Jede Frau hatte einen Wischer, so wie jeder Mann ein einsamer Wolf sein wollte. Aber jede NEUE Frau war ein Sieg über die eigene Trägheit. Über die Trägheit, an der man eines Tages stirbt. Und diese hier hatte Format, sie war komplett verrückt, aber sie hatte Format, sie hatte Stil. Und dieser zarte Mund, das Grübchen, die schönen Augen... (Jörg Fauser: Mann und Maus. Erzählungen, S. 16)


Fauser, Jörg: Mann und Maus [3]

  Seit die Hure, seine Frau, fort war, liebte er die Verkehrsunfälle, die Attentate, die Erdbeben. Vom Fernsehen konnte er überhaupt nicht mehr lassen und hatte sogar ein batteriebetriebenes Gerät unter die Kasse gestellt. Gegen eine Revolution hätte er lediglich einzuwenden gehabt, daß sie dem Abschaum zugute kam. Massenerschießungen hätte er gern jeden Abend live gesehen. An das Dritte Reich dachte er, wie viele, die von Obzönitäten nur träumen, mit unstillbarer Sehnsucht. Mit seinen Feinden würde er jedenfalls kurzen Prozeß machen. Wer aber waren seine Feinde? (Jörg Fauser: Mann und Maus. Erzählungen, S. 21)


Fauser, Jörg: Mann und Maus [4]

  "Du siehst das ganz falsch, Heidi", verkündete er dann. "Wenn ich mich an der Masse reibe, werde ich klein. Wenn ich mich von ihr fernhalte, bleibe ich groß. Je weniger ich von der Masse sehe, desto größer werde ich." "Größenwahnsinnig." "Die Feinheiten an den Menschen erkennt man nur, wenn man sie einzeln betrachtet. Gib mir einen Menschen, und ich entdecke womöglich ein Wunder. Gib mir die Masse, und ich erkenne den Irrtum. Ein Mensch allein - immer eine Möglichkeit. Eine Masse - immer eine Unmöglichkeit. (Jörg Fauser: Mann und Maus. Erzählungen, S. 56)


Fauser, Jörg: Mann und Maus [5]

  Sie hieß Martha, und auf ihrer rechten Arschbacke hatte sie ein Muttermal mit zwei Härchen. Und nachts erzählte sie mir, daß ihr Mann bei der SS gewesen war und Gott weiß wie viele Juden auf dem Gewissen hatte, und im Rausch mit ihnen prahlte und am nächsten Tag zitternd im Keller hockte, weil er fürchtete, entdeckt zu werden. Wahrscheinlich nur eine spezielle Form von Delirium tremens, bei der du statt weiße Mäuse tote Juden siehst. Martha weinte und sagte: "Und im Bett ist er ein Versager!" Ich sagte: "Warum verläßt du ihn nicht?" Und sie sagte: "Aber er ist doch mein Mann." (Jörg Fauser: Mann und Maus. Erzählungen, S. 110)


Fauser, Jörg: Mann und Maus [6]

  Mit Städten ist es anders als mit Frauen. Frauen bringen dich zuerst ganz hoch, ganz ins Paradies, und dann holen sie dich langsam und unter Schmerzen und Tränen und Flüchen und Qualen wieder runter in den Alltag, in den gewöhnlichen Schrecken der zu weich gekochten Eier, der Eifersucht, der gepanzerten Lippen, der Spinnweben um die Augen, nachts wenn die grauen Bäche fließen, vor dem Hahnenschrei. Aber Städte waren anders, sie waren aus Stein unjd Beton und Asphalt und Stahl, aus Erde und Maschinen und Himmel, aus großen Gefühlen, aus Dreck und Gewalt und Glück und Tod, aus den Millionen, die nachts ihre Angst betäubten und am Tag wieder die Fresse hinhielten und ihre Schulter ans Rad. Städte waren das Licht und die Künstlichkeit, das Beben der Straßen und die Musik, die aus den Mauern weinte. Städte konnte man lieben, wenn man die Menschen nicht mehr lieben konnte. Nur in den Städten gab es immer irgendwo eine Chance. (Jörg Fauser: Mann und Maus. Erzählungen, S. 176)


Fauser, Jörg: Der Schneemann

  "Wenn ich das Wort Grube höre, denke ich immer an die Gruben, in denen wir die Kameraden begraben haben. Damals, wissen Sie, in Rußland. Da hatten wir auch noch Illusionen und dachten, wenn wir zurückkommen, wird das noch mal, das Deutschland." "Na, und ist es nichts geworden?" "Das wissen Sie doch so gut wie ich Kollege, daß das nichts geworden ist. (...)" Blum mußte sich zusammenreißen, um eine Antwort zu finden. Der Reisende strahlte eine Hoffnungslosigkeit aus, die sich auf das Hirn legte wie ein fauliger Nebel. (Jörg Fauser: Der Schneemann, S. 134)


Fforde, Jasper: Irgendwo ganz anders

  "Nun, Herr Patient", begann der Psychiater, "was kann ich für Sie tun?" "Also, Herr Doktor", murmelte der Patient unglücklich, "ich kann den Gedanken nicht loswerden, daß ich in Wirklichkeit ein Hund bin." "Verstehe. Und wie lange ist das schon so?" "Na, seit ich ein Welpe war." "Entschuldigen Sie", unterbrach ich. "Ich suche die KlavierEinsatzRiege." "Nein, wir sind Witze-mit-ganz-langen-Bärten", erklärte der Psychiater entschuldigend. "Die Klaviere sind den Gang runter, erste Tür links." (Jasper Fforde: Irgendwo ganz anders, S. 210)


Fielding, Henry: Joseph Andrews Abenteuer

  Mrs. Slipslop, die Kammerfrau, war selbst die Tochter eines Kuraten und wahrte daher einigen Respekt vor Adams. Sie bekannte eine große Hochachtung vor seiner Gelehrtheit und disputierte des öfteren mit ihm über theologische Fragen, bestand aber immer darauf, da sie häufig in London gewesen war und bessere Welterfahrung besaß, als ein Landpfarrer für sich beanspruchen konnte, daß ihren Kenntnissen Ehrerbietung gezollt werden müssen. Bei diesen Auseinandersetzungen war sie Adams gegenüber besonders in einer Hinsicht im Vorteil: sie hatte eine gewaltige Vorliebe für Fremdwörter und gebrauchte sie in einer Weise, daß der Pfarrer, der es nicht wagte, sie mit Zweifeln an ihren Worten zu beleidigen, oft seine Mühe hatte, zu erraten, was sie wohl meinte, und sich bei einem arabischen Manuskript weit weniger den Kopf zerbrochen hätte. (Henry Fielding: Joseph Andrews Abenteuer, S. 23)


Flaubert, Gustav: Briefe an Goncourt

  Ich empfinde gegen die Dummheit meiner Epoche Hassfluten, die mich ersticken. Es steigt mir Sch.. in den Mund, wie bei einem eingeklemmten Bruch. Aber ich will sie behalten, sie eindicken und daraus einen Brei machen, mit dem ich das neunzehnte Jahrhundert beschmieren werde, wie man die indischen Pagoden mit Kuhfladen vergoldet… Die menschliche Dummheit macht mich im Augenblick so fertig, dass ich mir wie eine Fliege vorkomme, die den Himalaja auf dem Rücken trägt. Ich werde versuchen, mein Gift in meinem Buch auszukotzen. (Flaubert an Goncourt, 9. Oktober 1877)


Fleischhauer, Wolfgang: Die Frau mit den... [1]

  Obwohl es schon recht spät war, bildeten sich durch die scharfen Kontrollen an dein Eingängen noch immer lange Schlangen. Man fürchtete in Paris zu Recht den langen Arm Saddam Husseins. Es waren damals sogar die öffentlichen Papierkörbe abgeschraubt worden, um Bombenattentate zu erschweren. Sondereinheiten der Polizei patrouillieren mit Hunden in der Metro, und ein Gebäude wie das Centre Pompidou war natürlich ein leichtes Ziel für Bombenanschläge. Ich hatte, ehrlich gesagt, auch kein gutes Gefühl, als ich es jenseits der Rue de Beaubourg zwischen den Häusern hervorwuchern sah, nicht nur wegen der begründeten Furcht vor Anschlägen, sondern auch weil das Gebäude für meinen Geschmack so aussah, als sei das Attentat schon geschehen. Man mußte schon den letzten Rest von Form- und Farbgefühl in einem postmodernen Delirium verloren haben, um beim Anblick dieses Stangen- und Röhrenmonstrums nicht zu verzagen. (Wolfram Fleischhauer: Die Frau mit den Regenhänden, S. 162/63)


Fleischhauer, Wolfgang: Die Frau mit den... [2]

  "Viel Spaß", sagte Aubryet und grinste. "Bring mir eine mit." "In deiner Größe werde ich schwerlich ein Modell finden. Da müßte man ja mit Pinzetten arbeiten", erwiderte Scholl im Weggehen. "Wovon reden die Herren bitte?" fragte Marivol. "Taschenmösen", knurrte Villemessant. "Wie bitte?" "Unser Freund Scholl hat einen Taschenmösenfabrikanten ausfindig gemacht und trifft ihn jetzt für ein Interview." "Wird so was jetzt schon industriemäßig hergestellt?" "Nein, alles Handarbeit. Feinster Schweinedarm. Bei Seeleuten beliebt. Anscheinend ist es schwierig, mit Schwielenhänden zu onanieren. Aber es gibt auch Hofmodelle, die allerdings so groß sind, daß sie in Kutschen herumgefahren werden und sogar in der Oper auftauchen. Dafür putzen sie sich selber. Aurelien wird uns sicher genau erzählen, wie das vonstatten geht." (Wolfram Fleischhauer: Die Frau mit den Regenhänden, S. 129)


Fleischhauer, Wolfgang: Die Frau mit den... [3]

  Während Marivol auf eine Gruppe in der Ecke zuging und die ersten Gesprächsfetzen von den umstehenden Tischen aufschnappte, konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, daß dieses Getöse aus Sottisen und Halbwahrheiten das genaue Abbild dessen war, was im undurchsichtigen Kopf des Kaisers vor sich gehen mochte. Ein Wust von Gedanken, die das ganze Spektrum der Zeit durcheilten, ohne ein einziges Mal eine wirkliche Einsicht in diese Zeit zu gewinnen. Wenn Napoleon dabei manchmal die Situation richtig erfaßt hatte und seine Politik danach ausrichtete, so war das purer Zufall, so wie eine Uhr, die stillsteht, ja auch zweimal am Tag die richtige Zeit anzeigt. (Wolfram Fleischhauer: Die Frau mit den Regenhänden, S. 128)


Fleischhauer, Wolfgang: Die Frau mit den... [4]

  Ich weigere mich auch, jene Sprache zu sprechen, in der alles gleich klingt und vieles, das nicht gleich klingt, Ähnliches bedeuten kann. Vielleicht liegt es an dieser scheußlichen Sprache, daß das französische Volk eine Versammlung von Schwätzern und Lügnern ist. (...) so blieb ich, lernte diese dumme Sprache, bei der einem der Mund weh tut, wenn man fünf Sätze gesprochen hat. (Wolfram Fleischhauer: Die Frau mit den Regenhänden, S. 190)


Fleischhauer, Wolfgang: Die Frau mit den... [5]

  Unsere Landesherren beklagen sich regelmäßig, das Volk sei aufmüpfig und ungehorsam. Sollten sie doch einmal eine Woche lang Paris regieren! Wie schnell würden sie sich in ihr deutsches Fürstentum zurücksehnen. Beim kleinsten Anlaß wird hier randaliert, der kleine Mann plustert sich auch, schreit herum, schon stehen fünf weitere dabei, und ehe man sich versieht, ist ein Mob daraus geworden, der lärmend und steinewerfend durch die Straßen zieht, ohne daß auch nur jeder zehnte wüßte, worum es bei der Sache überhaupt zu tun ist. (Wolfram Fleischhauer: Die Frau mit den Regenhänden, S. 192)


Fleischhauer, Wolfgang: Die Frau mit den... [6]

  Hieß es nicht, französische Männer seien der Inbegriff von Charme und geistreicher Konversation? Antoine Bertaut ist keineswegs unsympathisch, ganz im Gegenteil. Sein Äußeres ist gepflegt und gefällig, er kleidet sich für meinen Geschmack etwas zu klassisch, worin ich ja immer ein Zeichen für Mut- und Phantasielosigkeit zu entdecken nicht umhinkam. Doch die ersten Momente seines Besuches waren von einer gewissen steifen Förmlichkeit geprägt, die fast an das Maß von Unbeholfenheit eines Frederic Collins heranreichte. Vielleicht bringt es aber auch sein Beruf mit sich, daß seine Konversation bisweilen etwas Wohlüberlegtes, ja fast Abgezirkeltes hat. Ich habe mir Anwälte, die vor Gericht heißblütige Plädoyers halten, um die Herzen der Geschworenen zu rühren, immer etwas anders vorgestellt, eine Mischung aus Danton und Cato dem Jüngeren, die ganze Sturmgewalt der Leidenschaft gefesselt durch eine brillante Intelligenz. Aber er ist ja wie Nicholas noch recht jung und teilt mit ihm, um den oben angerissenen Gedanken nun zu Ende zu führen, ein gewisses Grundvertrauen in die richtige Beschaffenheit der Welt, welche mir, wie Du weißt, so gänzlich abgeht. Sie spazieren, eifrig plaudernd, von Planke zu Planke über die Brücke des Lebens, während ich vor meinen Füßen nur die Spalten dazwischen und den Abrgund darunter zu sehen vermag. (Wolfram Fleischhauer: Die Frau mit den Regenhänden, S. 218)


Fleischhauer, Wolfgang: Die Frau mit den... [7]

  Bitte Ruhe. Schlafendes Kind. Einzig störend in dieser Beschaulichkeit war der ätzende Gestank, der von einem wenige Meter entfernt ausgestellten Galvanisierungsofen herübertrieb. "Das ist die Zukunft", sagte Collins stolz. Mathilda warf Antoine einen vielsagenden Blick zu. "Meinen Sie wirklich, Mr. Collins?" "Ja, sicher. Durch die Maschinen steigt die Rentabilität der Arbeit und damit ihr Wert. Das wird auch die Lebensbedingungen der Arbeiter verbessern." "Ich hatte verstanden, daß die Maschinen, die wir eben gesehen haben, die Arbeiter überflüssig machen würde." "Ja, sicher", entgegnete er. "Aber sie werden dann eben andere Dinge tun." "Ach so." (Wolfram Fleischhauer: Die Frau mit den Regenhänden, S. 679)


Fleischhauer, Wolfgang: Die Frau mit den... [8]

  Er war weit über fünfzig, hatte Antoines Vater noch gut gekannt, ließ jedoch Antoine gegenüber keinerlei Neigung erkennen, diese Bekanntschaft in irgendeiner Weise Einfluß auf ihre berufliche Beziehung nehmen zu lassen, weder im guten noch im schlechten. Er behandelte ihn mit der gleichen Distanziertheit und väterlichen Strenge wie alle debütierenden Anwälte. Der alte Bertaut hatte Antoine gesagt, was es zu Brunet zu sagen gab: Kein schlechter Mensch, aber substanzlos und starr im Denken. Sollten morgen die Türken Frankreich überrennen, wird er eben den Koran auswendig lernen und die Diebe zum Händeabhacken schicken. (Wolfram Fleischhauer: Die Frau mit den Regenhänden, S. 485)


Fleischhauer, Wolfgang: Die Frau mit den... [9]

  Als ich an der 'Biblioteque Historique' vorbeikam, beschleunigte ich meinen Schritt unwillkürlich. Es verging wohl kein Augenblick, da ich nicht an sie dachte, aber wenn ich sie jetzt aus der Ferne gesehen hätte, wäre ich einer Begegnung zweifellos ausgewichen. Ich fühlte mich fast erleichtert, als die Bibliothek hinter mir lag und ich das Portal des Nationalarchivs vor mir hatte. Ich brachte das umständliche Registrierungsverfahren hinter mich, das erforderlich war, um einen Leseplatz zu bekommen. Woran lag es nur, daß man sich hier immer als Bittsteller vorkam? Ich hatte mir Frankreich immer als Wiege der bürgerlichen Freiheiten vorgestellt. Statt dessen war ich hier mit bürokratischen Schikanen konfrontiert, die selbst deutschen Behördenwahn in den Schatten stellten. In deutschen Bibliotheken und Archiven war man oft mit Unfreundlichkeit oder Patzigkeit konfrontiert, aber niemand spielte sich als Wahrer irgendeines Staatsinteresses auf. In Paris traf ich immer wieder auf Beamte, die jegliches Informationsersuchen, das ein wenig aus dem Rahmen fiel, als staatsfeindliche Zumutung zu betrachten schienen. (Wolfram Fleischhauer: Die Frau mit den Regenhänden, S. 324)


Fontane, Theodor: Unwiederbringlich

  Ich habe kein Interesse für Kriegsgeschichten, es sieht sich alles so ähnlich, und immer bricht wer auf den Tod verwundet zusammen und läßt sterbend irgend ein Etwas leben, das abwechselnd Polen oder Frankreich oder meintwegen auch Schleswig-Holstein heißt. Aber es ist immer dasselbe. Dieser moderner Götze der Nationalität ist nun mal nicht das Idol, vor dem ich bete. (Theodor Fontane: Unwiederbringlich, S. 23)


Fontane, Theodor: Unwiederbringlich [2]

  Die Schimmelmann, eine Dame von vierzig, erinnerte einigermaßen an Erichsen; sie war hager und groß wie dieser und von einem ähnlichen Ernste; während Erichsens Ernst aber einfach ins Feierliche spielte, spielte der der Schimmelmann stark ins Verdrießliche. Sie war früher Hofschönheit gewesen, und die dann und wann aufblitzenden schwarzen Augen erinnerten noch daran, alles andere aber war in Migräne und gelbem Teint untergegangen. Man sprach von einer unglücklichen Liebe. (Theodor Fontane: Unwiederbringlich, S. 92)


Fontane, Theodor: Unwiederbringlich [3]

  "Es gibt viele Maßstäbe für die Menschen, und einer der besten und sichersten ist, wie sie sich zu Liebesverhältnissen stellen. Da gibt es Personen, die, wenn sie von einem Rendevous oder einem Billetdoux hören, sofort eine Gänsehaut verspüren; was mich persönlich angeht, so fühl' ich mich frei von dieser Schwäche. Was wäre das Leben ohne Liebesverhältnisse? Versumpft, öde, langweilig. Aber verständnis- und liebevoll beobachten, wie sich aus den flüchtigsten Begegnungen und Blicken etwas aufbaut, das dann stärker ist als der Tod - oh, es gibt nur eines, das noch schöner ist, als es zu beobachten, und das ist, es zu durchleben. Ich bedaure jeden, dem der Sinn dafür fehlt oder der, wenn er ihn besitzt, sich nicht offen und freudig dazu bekennt." (Theodor Fontane: Unwiederbringlich, S. 132)


Fontane, Theodor: Graf Petöfy [1]

  "Am unterhaltlichsten und lehrreichsten erscheinen mir allemal diese Preußen in ihrer rechthaberischen Ausgesprochenheit und ihrem ehrlichen Glauben an eine preußische Verheißung mit dem alten Fritzen als Gott oder wenigstens als Nationalheiligen. Ich habe viel gegen sie zu sagen und nehme sie, wie sich von selbst versteht, als unsere geschworenen und allerechtesten Feinde, zugleich aber doch als solche, denen gegenüber mir das sonst so schwierige 'Liebet eure Feinde' nie sonderlich schwer geworden ist. Sie haben etwas Anregendes und überhaupt manches von uns voraus. Und darunter sogar Großes." "Und das wäre?" "Beispielsweise die Freiheit. Nicht die politische, die nicht viel, und auch nicht die soziale, die noch weniger bedeutet, aber die innerliche. Sie prüfen die Dinge, sind kritisch und leben selbständig aus sich heraus. Und das ist ein Heilsweg; ja, lassen Sie mich hinzusetzen: unter richtiger Voraussetzung der einzige Weg, der zum Heile führt." (Theodor Fontane: Graf Petöfy, S. 17)


Fontane, Theodor: Graf Petöfy [2]

  "Und nun, Hannah, Juwel unserer Krone", hob Phemi wieder an, "schaff uns auch etwas Krausgebackenes oder einen Napfkuchen oder, um auch in Öslau gut wienerisch zu bleiben, einen Gugelhupf. Denn du mußt wissen, ich habe heute den Lammbraten vorübergehen lassen - er hat immer so etwas Ungeborenes-, und so klingt es dann in den Tiefen meiner Seele: 'Was du vom Lamm zu Mittag ausgeschlagen, bringt nur der Gugelhupf zurück.' Oh, ein himmlisches Wort, bei dem ich ordentlich fühle, wie's hier mithupft. (Theodor Fontane: Graf Petöfy, S. 35)


Fontane, Theodor: Graf Petöfy [3]

  "Wie fanden Sie London?" "Vor allem ohne Londoner und beinahe auch ohne Engländer. Es ist dasselbe wie mit Wien, wie mit allen großen Städten. Sie werden zum Rendevouz für die Provinzen oder die Welt überhaupt. In London ist alles 'irish' und 'scotch', und wollte man die Deutschen zählen, so fände man wahrscheinlich mehr als in unserem guten Wien. im übrigen, um auch das noch zu sagen, ich kann mich mit einer Lebensweise nicht befreunden, die den Tag mit Speck und Ei beginnt und ihn mit Kognak abschließt. Kardinal Antonelli soll denn auch ausgerufen haben: 'Ich mag kein Volk, das vierzig Sekten und eine Sauce hat.' Er hätte nach meinen Erfahrungen auch noch hinzusetzen können: alles sei schwer und massig in diesem Lande, sogar die Träume. Wenigstens sprechen sie selber von plumpudding dreams." (Theodor Fontane: Graf Petöfy, S. 49f.)


Fontane, Theodor: Effie Briest [1]

  Diese Freundschaft der beiden Mädchen war ein Lieblingsgespräch zwischen den verschiedenen Freunden des Hauses und Landgerichtsrat Gizicki sagte dann wohl zu Wüllersdorf: "Ich sehe darin nur eine neue Bestätigung des alten Weisheitssatzes: 'Laßt fette Leute um mich sein'; Cäsar war eben ein Menschenkenner und wußte, daß Dinge, wie Behaglichkeit und Umgänglichkeit, eigentlich nur beim Embonpoint sind." Von einem solchen ließ sich denn nun bei beiden Mädchen auch wirklich sprechen, nur mit dem Unterschiede, daß das in diesem Fall nicht gut zu umgehende Fremdwort bei Roswitha schon stark eine Beschönigung, bei Johanna dagegen einfach die zutreffende Bezeichnung war. Diese letztere durfte man nämlich nicht eigentlich korpulent nennen, sie war nur prall und drall und sah jederzeit mit einer eigenen, ihr übrigens durchaus kleidenden Siegermiene gradlinig und blauäugig über ihre Normalbüste fort. Von Haltung und Anstand getragen, lebte sie ganz in dem Hochgefühl, die Dienerin eines guten Hauses zu sein, wobei sie das Überlegenheitsbewußtsein über die halb bäuerisch gebliebe Roswitha in einem so hohen Maße hatte, daß sie, was gelegentlich vorkam, die momentan bevorzugte Stellung dieser nur belächelte. (Theodor Fontane, Effie Briest, S. 209)


Fontane, Theodor: Effie Briest [2]

  "Einfach hierbleiben und Resignation üben. Wer ist denn unbedrückt? Wer sagte nicht jeden Tag: 'Eigentlich eine sehr fragwürdige Geschichte'. Sie wissen, ich habe auch mein Päckchen zu tragen, nicht gerade das Ihrige, aber nicht viel leichter. Es ist Torheit mit dem im Urwald-Umherkriechen oder in einem Termitenhügel nächtigen; wer's mag, der mag es, aber für unserein ist es nichts. In der Bresche stehen und aushalten, bis man fällt, das ist das beste. Vorher aber im kleinen und kleinsten so viel herausschlagen wie möglich und ein Augen dafür haben, wenn die Veilchen blühen oder das Luisendenkmal in Blumen steht oder die kleinen Mädchen mit hohen Schnürstiefeln über die Korde springen. Oder auch wohl nach Postdam fahren und in die Friedenskirche gehen, wo Kaiser Friedrich liegt und wo sie jetzt eben anfangen, ihm ein Grabhaus zu bauen. Und wenn Sie da stehen, dann überlegen Sie sich das Leben von dem, und wenn Sie dann nicht beruhigt sind, dann ist Ihnen freilich nicht zu helfen." "Gut, gut. Aber das Jahr ist lang, und jeder einzelne Tag... und dann der Abend." (Theodor Fontane, Effie Briest, S. 267)


Fontane, Theodor: Der Stechlin [1]

  Dubslav von Stechlin, Major a.D. und schon ein gut Stück über Sechzig hinaus, war der Typus eines Märkischen von Adel, aber von der milderen Observanz, eines jender erquicklichen Originale, bei denen sich selbst die Schwächen in Vorzüge verwandeln. Er hatte noch ganz das eigentümlich sympathisch berührende Selbstgefühl all derer, die "schon vor den Hohenzollern da waren", aber er hegte dieses Selbstgefühl nur ganz im stillen, und wenn es dennoch zum Ausdruck kam, so kleidete sich's in Humor, auch wohl in Selbstironie, weil er seinem ganzen Wesen nach überhaupt hinter alles ein Fragezeichen machte. Sein schönster Zug war eine tiefe, so recht aus dem Herzen kommende Humanität, und Dünkel und Überheblichkeit (während er sonst eine Neigung hatte, fünf gerade sein zu lassen) waren so ziemlich die einzigen Dinge, die ihn empörten. Er hörte gern eine freie Meinung, je drastischer und extremer, desto besser. Daß sich diese Meinung mit der seinigen deckte, lag ihm fern zu wünschen. Beinahe das Gegenteil. (Theodor Fontane: Der Stechlin, S. 7)


Fontane, Theodor: Der Stechlin [2]

  Das Jahr darauf starb ihm die Frau. Sich eine neue zu nehmen widerstand ihm, halb aus Ordnungssinn und halb aus ästhetischer Rücksicht. (...) Dubslav von Stechlin blieb also Witwer. Das ging nun schon an die dreißig Jahre. Anfang war's ihm schwer geworden, aber jetzt lag alles hinter ihm, und er lebte "comme philosophe" nach dem Wort und Vorbild des großen Königs, zu dem er jederzeit bewundernd aufblickte. Das war sein mann, mehr als irgendwer, der sich seitdem einen Namen gemacht hatte. Das zeigte sich jedesmal, wenn ihm gesagt wurde, daß er einen Bismarckkopf habe. "Nun ja, ja, den hab ich; ich soll ihm sogar ähnlich sehen. Aber die Leute sagen es immer so, als ob ich mich dafür bedanken müßte. Wenn ich nur wüßte, bei wem; vielleicht beim lieben Gott, oder am Ende gar bei Bismarck selbst. Die Stechline sind aber auch nicht von schlechten Eltern. Außderdem, ich für meine Person, ich habe bei den sechsten Kürassieren gestanden, und Bismarck bloß bei den siebenten, und die kleinere Zahl ist in Preußen bekanntlich immer die größere; - ich bin ihm also einen über. (Theodor Fontane: Der Stechlin, S. 9)


Fontane, Theodor: Der Stechlin [3]

  "Ihre Tante hat so was; man merkt doch, daß sie das Regiment führt. Und wohl seit lange. Wenn ich recht gehört, ist sie älter als Ihr Papa." "Oh, viel, beinahe um zehn Jahre. Sie wird sechsundsiebzig." "Ein respektables Alter. Und ich muß sagen, wohl konserviert." "Ja, man kann es beinahe sagen. Das ist eben der Vorzug solcher, die man 'schlank' nennt. Beiläufig ein Euphemismus. Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren und die Zeit natürlich auch; sie kann nichts nehmen, wo sie nicht mehr findet. (Theodor Fontane: Der Stechlin, S. 75)


Fontane, Theodor: Der Stechlin [4]

  Man sah ihr an, daß sie nur immer vorübergehend in einer höheren Gesellschaftssphäre gelebt hatte, sich trotzdem aber zeitlebens der angeborenen Zugehörigkeit zu eben diesen Kreisen bewußt gewesen war. Daß man sie zur Domina gemacht hatte, war nur zu billigen. Sie wußte zu rechnen und anzuordnen und war nicht bloß von sehr gutem natürlichen Verstand, sondern unter Umständen auch voller Interesse für ganz bestimmte Personen und Dinge. Was aber, trotz solcher Vorzüge, den Verkehr mit ihr so schwer machte, das war die tiefe Prosa ihrer Natur, das märkisch Enge, das Mißtrauen gegen alles, was die Welt der Schönheit oder gar der Freiheit auch nur streifte. (Theodor Fontane: Der Stechlin, S. 76)


Fontane, Theodor: Der Stechlin [5]

  Woldemar (...) bat (...), daß der Herr, der den Vorzug habe, sie zu führen, nicht ein Herr von Baczko, sondern ein Herr von Czako sei. Die kleine Rundliche geriet in eine momentane Verlegenheit, Czako selbst aber kam ihr mit großer Courtoisie zu Hilfe. "Lieber Stechlin", begann er, "ich beschwöre Sie um sechsundsechzig Schock sächsische Schuzwecken, kommen Sie doch nicht mit solchen Kleinigkeiten, die man jetzt, glaub ich, Veleitäten nennt. Wenigstes habe ich das Wort immer so übersetzt. Czako, Baczko, Baczko, Czako - wie kann man davon soviel Aufhebens machen. Name, wie Sie wissen, ist Schall und Rauch, siehe Goethe, und Sie werden sich doch nicht in Widerspruch mit 'dem' bringen wollen. Dazu reicht es denn doch am Ende nicht aus." (Theodor Fontane: Der Stechlin, S. 81)


Fontane, Theodor: Der Stechlin [6]

  "Nur nicht zu lang im Bett. Die meisten Langschläfer haben einen Knacks. Es können aber sonst ganz gute Leute sein. Ich wette, dein Freund Rex schläft bis neun." "Nein, Papa, der gerade nicht. Wer wie Rex ist, kann sich das nicht gönnen. Er hat nämlich einen Verein gegründet für Frühgottesdienste, abwechselnd in Schönhausen und Finkenkrug. Aber es ist noch nicht perfekt geworden." "Freut mich, daß es noch hapert. Ich mag so was nicht. Der alte Wilhelm hat zwar seinem Volke die Religion wiedergeben wollen, was ein schönes Wort von ihm war - alles, was er tat und sagte, war gut -, aber Religion und Landpartie, dagegen bin ich doch. Ich bin überhaupt gegen alle falschen Mischungen. Auch bei den Menschen. (Theodor Fontane: Der Stechlin, S. 44)


Fontane, Theodor: Der Stechlin [7]

  Tante Adelheid, wenn sich nichts geradezu Verstimmliches ereignete, war, von alten Zeiten her, eine gute Wirtin und besaß neben anderm auch jene Direktoralaugen, die bei Tische soviel bedeuten; aber 'eine' Gabe besaß sie nicht, die, das Gespräch, wie's in einem engsten Zirkel doch sein sollte, zusammenzufassen. So zerfiel denn die kleine Tafelrunde von Anfang an in drei Gruppen, von denen eine, wiewohl nicht absolut schweigsam, doch vorwiegend als Tafelornament wirkte. Dies war die Gruppe Woldemar- Triglaff. Und das konnte nicht wohl anders sein. Die Triglaff, wie sich das bei Kakadugesichtern so häufig findet, verband in sich den Ausdruck höchster Tiefsinnigkeit mit ganz ungewöhnlicher Umnachtung, und ein letzter Rest von Helle, der ihr vielleicht geblieben sein mochte, war ihr durch eine stupende Triglaffvorstellung schließlich doch auch noch abhanden gekommen. (Theodor Fontane: Der Stechlin, S. 84)


Fontane, Theodor: Der Stechlin [8]

  Wer kein feines Gefühl hat, sei's in Kunst, sei's im Leben, der existiert für mich überhaupt nicht und für meine Freundschaft und Liebe nun schon ganz gewiß nicht. Da hast du mein Programm. Unser ganzer Gesellschaftszustand, der sich wunder wie hoch dünkt, ist mehr oder weniger Barbarei; Lorenzen, von dem do doch soviel hälst, hat sich ganz in diesem Sinne gegen mich ausgesprochen. Ach, wie weit voraus war uns doch die Heidenzeit, die wir jetzt so verständnislos bemängeln! Und selbst unser 'dunkles Mittelalter' - schönheitlich stand es höher als wir, und seine Scheiterhaufen, wenn man nicht gleich selbst an die Reihe kam, waren gar nicht so schlimm." (Theodor Fontane: Der Stechlin, S. 273)


Fontane, Theodor: Der Stechlin [9]

  Er haßte zweierlei: sich zu genieren und sich zu ändern. Nicht als ob er sich in der Theorie für besserungsunbedürftig gehalten hätte, keineswegs, er bestritt nur in der Praxis eine besondere Benötigung dazu. Die meisten Menschen, so hieß es dann wohl in seinen jederzeit gern gegebenen Auseinandersetzungen, seien einfach erbärmlich und so grundschlecht, daß er, verglichen mit ihnen, an einer wahren Engelgrenze stehe. Er sähe mithin nicht ein, warum er an sich arbeiten und sich Unbequemlichkeiten machen solle. Zudem könne man jeden Tag an jedem beliebigen Konventikler oder Predigtamtskandidaten erkennen, daß es 'doch' zu nichts führe. (Theodor Fontane: L' Adultera)


Fox, Paula: Was am Ende bleibt

  "Manchmal bin ich froh, daß ich keine Kinder habe", sagte sie. Er schien sie nicht gehört zu haben. Er schlüpfte unter dem Tisch hinaus, ging zur Theke und kehrte mit zwei neuen Flaschen Bier zurück. "Ich hatte zwei Fehlgeburten", sagte sie. "Das weiß ich", sagte er und klang griesgrämig. "Meine Gebärmutter ist anscheinend wie ein Flipperautomat." "Warum habt ihr kein Kind adoptiert?" "Wir haben es immer wieder aufgeschoben und jetzt - jetzt sind wir so ein etabliertes kinderloses Ehepaar." "Das macht nichts", sagte er. "Sie haben unser Glück als Geisel genommen. Ich liebe sie, aber sie erdrücken mich. Und es ist ein Geschäft wie alles heutzutage, das Kinder-haben-Geschäft, das linksliberale Geschäft, das Kultur-Geschäft, das Umsturz-der-alten-Werte- Geschäft, das militante Geschäft... jede Anomalie wird eine Mode, ein Geschäft. Es gibt sogar ein Versagen-Geschäft." (Paula Fox: Was am Ende bleibt, S. 53)


France, Anatole: Die Rosenholzmöbel [1]

  Er war so uninteressant, wie nur ein Mann sein kann. Frauen gegenüber legte er äußerste Kälte an den Tag, er erfreute sich eines geradezu empörend guten Rufes, konnte auf ein von allen Ausschweifungen freies Leben zurückblicken und führte ein äußerst solides Dasein, das ebenso frei war von jedem Schatten eines Verdachts wie der Lebenswandel irgendeiner mit dem Tugendpreis ausgezeichneten Rosenjungfrau. Frömmelei lag ihm fern, ja er verriet sogar etwas wie voltairschen Geist, was ihn aber nicht hinderte, von äußerster Schamhaftigkeit zu sein: Einzelne Stellen in Fenelons "Abenteuer des Telemach" trieben ihm brennende Röte ins Gesicht - soweit es frei von Borsten war. Wenn er mit seinen Schülern Ovid übersetzte, übersprang er immer wieder Stellen von zwanzig oder dreißig Zeilen: was sich gewisse Lümmel als willkommenen und verläßlichen Weg zunutze machten. (Anatole France: Die Rosenholzmöbel, S. 28)


France, Anatole: Die Rosenholzmöbel [2]

  Alles will eben gelernt sein, und wenn man etwas unternimmt, muß man wissen, wie und wo man sich informieren kann. Wohl gibt es nach der Art der Gesellschaften zur Förderung des Sports oder der Landwirtschaft auch Klubs zur Pflege des Liebeslebens, und diese verfügen ebenso über ein Adressenregister mit Tausenden von Namen wie etwa die industrielle und die kaufmännische Welt, nur daß es bei keinem Verleger erschienen ist. Und das ist gut so. Viele sind davor bewahrt worden, den Weg der Vernunft zu verlassen, nur weil sie keine Adresse bekommen haben. (Anatole France: Die Rosenholzmöbel, S. 82)


France, Anatole: Die rote Lilie [1]

  Der ehemalige Siegelbewahrer erklärte, er sei für alle nur möglichen Verbesserungen. Er vergaß, daß er unter dem Kaiserreich für die Abschaffung der stehenden Heere und 1880 für die Trennung von Kirche und Staat eingetreten war, und behauptete, er bleibe getreu seinem Programm ein ergebener Diener der Demokratie. Seine Devise, sagte er, laute Ordnung und Fortschritt. Er glaube wirklich die rechte gefunden zu haben. Montessuy entgegnete mit derber Bonhomie: "Nun seien Sie einmal aufrichtig, Monsieur Garain. Gestehen Sie doch, daß es mit Ausnahme der Änderung der Briefmarkenfarben eigentlich überhaupt keine Reformen gibt. Was die Frage der Regierungsform anbeträfe, so halte er sich an das Nächstliegende, an klare, bestimmte Anschauungen. Er hänge mit allen Kräften an der Gegenwart und kümmere sich wenig um die Zukunft. Die Sozialisten machten ihm weiter keine Sorge. Es sei ihm gleichgültig, ob Kapital oder Sonnenlicht eines Tages ihren Glanz verlieren würden, einstweilen genieße er sie noch. Wenn es nach ihm ginge, dann ließe man die Dinge laufen, wie sie wollten. Nur Narren und Wahnsinnige stemmten sich gegen den Strom oder suchten ihm vorauszueilen. (Anatol France: Die rote Lilie)


France, Anatole: Die rote Lilie [2]

  "Ich vermute, daß die junge Schwester der Engel nur in der Phantasie des altissimo poeta gelebt hat. Sie scheint eine reine Allegorie oder besser noch ein Rechenexempel, ein Gegenstand astrologischer Spekulation gewesen zu sein. Dante, der, unter uns gesagt, ein braver Doktor von Bologna war, hatte unter seiner spitzen Kappe arg viel Mondschein gefangen; er glaubte an die Kraft der Zahl. Der begeisterte Mathematiker träumte von Zahlen, und seine Beatrice ist eine Blüte seiner Arithmetik. Das ist alles." (Anatol France: Die rote Lilie)


French, Ray: Ab nach unten [1]

  Er dachte an die langen und leeren Tage, als er aufgewachsen war. Die mit Trauer und Verlust vollgesogene Atmosphäre, die ihn aus dem Haus getrieben hatte. Auf die dreckigen, grauen, gefährlichen Straßen dieser gottverlassenen Stadt. Aus ihrer Trübseligkeit und dem völligen Mangel an Fantasie gab es kein Entrinnen. Wenn man einen Bus aus Crindau raus nahm, präsentierte einem die Gegend nach einigen halbherzigen Versuchen, Landschaft sein zu wollen, bald wieder das, was sie am besten konnte - finstere Neubausiedlungen und häßliche Fabriken, die giftige Dämpfe ausstießen. (...) Andere Orte haben als Partnerstädte wunderschöne Orte in Frankreich und Deutschland. Crindaus Partnerstadt ist der Friedhof in Ostende. (Ray French: Ab nach unten, S. 76)


Fromentin, Eugène: Dominique [1]

  Als ich dann Bücher kennenlernte, in denen die Seelenvorgänge, die mich so ganz in Anspruch nahmen, lyrisch besungen oder dramatisch zergliedert wurden, hatte ich die Besorgnis, daß alles, was große Geister vor mir empfunden hatten, bei mir zur Parodie würde, weil mein Erleben zu klein und unbedeutend sei. Denn ich merkte, daß ihr Beispiel mir nichts sagte und ihre Schlußfolgerungen - wenn sie solche zogen - mich nichts lehrten. In Wirklichkeit kam das daher, daß ich neben dem eigenen Dasein zu stehen pflegte, als sei es ein von einer andern Person aufgeführtes Schauspiel. Darin lag mein schon nicht mehr abzuwendendes Unglück - denn mein Unglück kann man diese quälende Veranlagung wohl nennen. Und wenn ich auch ins Leben ohne Haßgefühle eintrat, hatte ich doch ein für allemal einen unbeirrbaren Widersacher an der Seite, der mir tief vertraut, aber dabei mein Todfeind war: mein eigenes Ich. (Eugène Fromentin: Dominique, S. 78)


Fromentin, Eugène: Dominique [2]

  "Ich habe stets bis zum äußersten gegen einen Hang zur Melancholie angekämpft, denn ein Melancholier ist in jedem Alter, besonders in dem meinigen, eine höchst lächerliche Figur. Aber das Gemüt mancher Menschen scheint eben irgendwie umwölkt von einem Nebel elegischer Stimmung´, der über ihren Gedanken und Einfällen hängt, stets bereit, sich als Regen darauf zu ergießen. - Um so schlimmer für alle, die im nebligen Oktober geboren sind", setzte er hinzu, und sein Lächeln galt ebenso seinem prätentiösen Vergleich wie jener Schwäche selbst, unter der er im Grunde schwer litt. (Eugène Fromentin: Dominique, S. 8)


Fromentin, Eugène: Dominique [3]

  Der bloße Gedanke, sie wieder einmal anzublicken, kam mir schon tollkühn vor. Daß sie so gelassen war, während ich alle Ruhe verloren hatte, daß sie so untadelig hübsch aussah, während ich selber mir in meinem Schuljungenzustand und mit meinem unkultivierten Bauerngesicht so gründlich mißfiel, erfüllte mich mit einem unklaren Gefühl von Minderwertigkeit und Demütigung; mein Vertrauen und meine Sicherheit waren dahin, und die bisher friedlichste aller Kameradschaften verwandelte sich bei mir in Unterwerfung ohne Sanftmut, widerwillig ertragene Sklaverei. Das war die deutlichste und sehr störende Wirkung dessen, was an jenem Abend so blitzartig über mich gekommen war. Mit einem Wort gesagt: ich fürchtete Madeleine. Sie beherrschte mich, bevor sie mich betörte; der Liebende empfindet in gleicher Weise naiv wie der Gläubige. Jeder leidenschaftliche Kult fängt so an. (Eugène Fromentin: Dominique, S. 6)


Fromentin, Eugène: Dominique [4]

  "Für jeden Menschen gibt es im Leben einen schwierigen Augenblick, in dem er an sich selbst und vielleicht auch an andern verzweifelt. Die Hauptsache ist dann, daß man aus seinen Zweifeln zur Klarheit gelangt und irgendeinen Entschluß faßt. Manchmal braucht das Herz eben einen Anstoß, es muß sich sagen, 'Ich will' - wenigstens bilde ich mir das ein, weil ich es schon einmal so erlebt habe", sie stockte bei diesen letzten Worten noch mehr, denn vor uns beiden stieg dabei die Erinnerung an die ganze Geschichte ihrer Heirat auf. "Von einer Marquise, die zu Anfang dieses Jahrhunderts lebte, wird ja der Ausspruch überliefert, man könnte sogar dem Tode entgehen, wenn man es nur ausdrücklich wollte; vielleicht ist sie also nur gestorben, weil ihr Wille einmal nachließ. Und so mag es sich bei vielen Schicksalsschlägen verhalten, die angeblich außerhalb unseres Wollens liegen. Wer weiß, ob nicht sogar das Glück zum großen Teil in dem bloßen Willen beschlossen liegt, glücklich zu werden?" (Eugène Fromentin: Dominique, S. 193)


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