Allgemeine Fundstücke  / [G2]


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Graf, Oskar Maria: Erben des Untergangs

  "Es hat mich eben immer zu dir hingezogen", meinte sie und schmiegte sich jetzt zärtlich an ihn. Sie sah an ihm empor. Sie fühlte eine unbegreifliche Verstrickung. Ihr heißer Atem strich über sein Gesicht. Ihre straffe Brust ging auf und nieder. Mit einem Male streckte sie ihre Arme und fiel ihm um den Hals. "Du, Iwan!" hauchte sie und saugte sich mit ihren Lippen an seinen bärtigen Wangen fest. Er ließ es widerstandslos geschehen und spürte deutlich, wie ihre Arme dabei zitterten. "So auf freiem Feld, das ist nicht gut!" sagte er endlich ruhig und wollte sich losmachen. Doch sie klammerte sich nur um so fester an ihn und rief aus tiefstem Herzen: "Warum nicht gut! Alles zwischen uns ist gut! Quäl mich doch nicht so, Iwan! Ohne dich hab' ich keine Ruhe mehr!" "Wir sind alle zur Unruhe geboren", sagte er etwas pastoral und hölzern. "Das verstehe ich nicht! Was meinst du damit?" rief sie ein wenig ernüchtert. "Wirigin hat ein Buch, aus dem er manchmal vorliest. Da steht drinnen: 'Was suchst du Ruhe, der du zur Unruhe geboren bist.' Das sagt für uns alles", erklärte er im Weitergehen, und jetzt schob er seinen Arm unter den ihrigen. (Oskar Maria Graf: Erben des Untergangs, S. 381)


Graf, Oskar Maria: Wir sind Gefangene

  Damals zeigte sich auf den Straßen schon sehr deutlich eine allgemeine Kriegsmüdigkeit. (...) Alles schien ausgelaugt. Es wirkte nichts mehr. Die Lebensmitteldemonstrationen wuchsen sich zu Friedenskundgebungen aus. Siegen oder Nichtsiegen, Heldentaten und Schlachten, Kaiserworte, Hindenburg und Zweiundvierziger-Mörser - das alles war mit einem Male nicht mehr wichtig. "Noja, solln S' nur so fortsiegen, bis wir ganz und gar im Dreck drinnen sitzen!" brummten die Leute, und dann ging das Erzählen an. "Überhaupts!... Wenn s' schon in einer Tour siegen und siegen und Beute machen?... Warum gibt's denn nachher alleweil nichts wie Kaninchenleberkäs, Dotschn und das g'stinkerte Fischzeug?!... Dös ist schon dös rechte Siegen! Schwindl ist's, sonst nichts! Krampf ist's!" räsonierte ein Mann auf der Straße und alle nickten. Besonders erbost war man auf das schlechte Bier, auf den König und die Preußen. "Der König ist der größte Schieber!" schimpfte eine Frau im Milchladen: "Der liefert die Milch von seinen Gütern alle ins Norddeutsche 'nauf, weil er da mehrer krieget... Der Geldbeutl spielt bei den hohen Herren die größte Rollen... Ob wir verrecken, ist ihnen sauwurscht." (Oskar Maria Graf: Wir sind Gefangene, S. 320)


Graf, Oskar Maria: Wir sind Gefangene [2]

  Ich schaute den Redner an, ich blickte auf die Studenten und Studentinnen ringsherum. (...) Ich sah noch genauer hin und dachte alsdann über die Laufbahn eines solchen Menschen nach. Also so etwas wird nach einer Reihe von Jahren wieder Professor und steht auch wieder da vorne hinter dem Pult und redet? Und die? Die werden Richter und richten uns. Diese werden Pfarrer, predigen und halten Messe, und die treten später in den Staatsdienst, fangen als niedere Leute an, vermählten sich züchtig, werden befördert, bekommen Titel und Rang und regieren uns schließlich. Die Universität also, das war die Einrichtung, wo man immer und immer, Jahre hindurch, zuhört und dann noch so und so viel Bücher durchliest, und endlich wird man etwas. Das gibt sodann die gebildete, bessere Gesellschaft. Die Arbeiter arbeiten, die Bauern pflügen und ernten - diese Leute aber sagen, was richtig und falsch, was gesetzlich und ungesetzlich, sittlich und unsittlich ist. Mit einem Wort, diese Leute geben den Ton an, sie befehlen. Hier wurde mit 'Geist' hantiert, hier lernte man alle Dinge des gesunden Menschenverstandes so umzumodeln, jedes Wort und jeden Begriff so vieldeutig zu machen, daß der einfache Mensch davon verwirrt wurde und Respekt davor bekam, ja, noch mehr, sogar - eine undefinierbare Furcht. Und das? Das machte ihn dann dieser Gesellschaft gefügig. (Oskar Maria Graf: Wir sind Gefangene, S. 335)


Graf, Oskar Maria: Wir sind Gefangene [3]

  Damals zeigte sich auf den Straßen schon sehr deutlich eine allgemeine Kriegsmüdigkeit. (...) Alles schien ausgelaugt. Es wirkte nichts mehr. Die Lebensmitteldemonstrationen wuchsen sich zu Friedenskundgebungen aus. Siegen oder Nichtsiegen, Heldentaten und Schlachten, Kaiserworte, Hindenburg und Zweiundvierziger-Mörser - 'das' alles war mit einem Male nicht mehr wichtig. "Noja, solln S' nur so fortsiegen, bis wir ganz und gar im Dreck drinnen sitzen!" brummten die Leute, und dann ging das Erzählen an. "Überhaupts!... Wenn's schon in einer Tour siegen und siegen und Beute machen?... Warum gibt's denn nachher allweil nichts wie Kaninchenleberkäs, Dotsch und das g'stinkerte Fischzeug?!... Dös ist schon dös rechte Siegen! Schwindl ist's, sonst nichts! Krampf ist's!" räsonierte ein Mann auf der Straße und alle nickten. Besonders erbost war man auf das schlechte Bier, auf den König und die Preußen. "Der König ist der größte Schieber!" schimpfte eine Frau im Milchladen: "Der liefert die Milch von seinen Gütern alle ins Norddeutsche 'nauf, weil er da mehrere krieget... Der Geldbeutl spielt bei den hohen Herren die größte Rollen... Ob wir verrecken, ist ihnen sauwurscht." (Oskar Maria Graf: Wir sind Gefangene)


Graf, Oskar Maria: Wir sind Gefangene [4]

  Friedrich Wunder nämlich war nicht nur zutiefst verletzt, er war auch sonst ein völlig ungegenwärtiger Mensch und ein Ästhet, den schon eine nüchterne Frage aus der Fassung bringen konnte. Er ging herum, nein, er wandelte dahin wie eine attrappenhafte Erinnerung aus der längstverflossenen Boheme-Zeit. Meistens redete er halblaut vor sich hin und kam er wirklich mit einem Bekannten zusammen, so rezitierte er unablässig Gedichte Georges, Rilkes, redete von Michelangelo, von den Präraffaeliten und hielt sich zu Zeiten seelischen Überschwangs für eine Erscheinung wie Savonarola. (Oskar Maria Graf: Wir sind Gefangene)


Granin, Daniil: Das Gemälde [1]

  "Eine alte Stadt besteht nicht nur aus einzelnen Gebäuden. Wir streiten uns, ob einzelne Häuser Wert besitzen oder nicht. Außerdem existiert aber noch die Atmossphäre der alten Stadt. Ihr Geist. Etwas nicht zu Reproduzierendes. Das Resultat der Ansammlung von Legenden, Stilarten, historischen Ereignissen. Wir beschäftigen uns mit dem Schutz der Natur, der Luft, der Tiere, vernachlässigten aber die Welt der Kultur, der Schönheit, die in jeder Stadt entstanden ist, das alte Zentrum, besonders dann, wenn es von Neubauten umstellt wurde." (Daniil Granin: Das Gemälde, S. 224f.)


Granin, Daniil: Das Gemälde [2]

  Von Gerechtigkeit hat jeder seine eigene Ansicht, mit diesem Wort herumzuwerfen ist gefährlich, denn dann spielt der Gesprächspartner sofort den Beleidigten und wird störrisch. Eine Unterredung ist wie eine Schachpartie. Ein Meister plant sie beizeiten. Doch du hast deine Vermutungen, dein Partner ganz andere. So auch hier. Wir zerbrechen uns den Kopf, wie wir vorgehen wollen, und berücksichtigen nicht, welche Gegenzüge er ausheckt. Und vor Unanehmlichkeiten muß man sich rechtzeitig absichern." (Daniil Granin: Das Gemälde, S. 228)


Granin, Daniil: Das Gemälde [3]

  Er war der Ansicht, die Phantasie funktioniere nur dann gut, wenn das konkrete Material knapp sei. Die Phantasie gaukelte ihm wahrscheinlich eine derart schöne Landschaft vor, daß Lossew ihm interessiert zuhörte, besonders als Arkadi Matwejewitsch die Theorie entwickelte, vor allem im Zentrum einer Stadt müsse man die natürliche Schönheit bewahren, diese beruhe auf unbeabsichtigten Kombinationen, die sich im Laufe der Geschichte herausgebildet und der Stadt ihr Gesicht gegeben hatten. Architekten seien nicht imstande, Zufälligkeiten zu schaffen. Die Absicht sei stets ärmer als der glückliche Zufall. Eine Stadt müsse intime Winkel haben, Freiräume, in denen die Poesie gedeihe. Das brauche die Stadt nötiger als das Dorf. Das Bild Petersburgs sei von Rossi, Rastrelli und Sacharow geschaffen worden. Aber auch von Puschkin, Gogol, Dostoevskij, Block. Moskau habe seine Dichter, die russischen Kleinstädte hätten ihre. Die neuen, auf dem Reißbrett entworfenen Stadtviertel, bequem, durchdacht und gleichförmig - würden sie eigene Dichter hervorbringen? Und wenn wir das Alte zerstören, wo kommen wir dann hin? Wir vernichten die Wohnatmossphäre. (Daniil Granin: Das Gemälde, S. 224f.)


Granin, Daniil: Das Gemälde [4]

  Ihm fiel ein, was sein Vater in dem Heft über die Zukunft geäußert hatte. Daß sie womöglich schon von vornherein existiert. Wie in der Eisenbahn. Man steht am Fenster und sieht den Bahnsteig näher kommen, darauf steht ein Mädchen mit Rucksack. Die Zukunft rückt in den Fensterrahmen, wartet fertig draußen. Wir bilden uns nur ein, daß sie entsteht, in Wirklichkeit sind wir zu ihr hingefahren, das heißt, wir haben auf sie zu gelebt. Sie ist längst fertig. (Daniil Granin: Das Gemälde)


Grass, Günter: Im Krebsgang [1]

  Bereits als die Dinger auf den Markt kamen, habe ich mir einen Mac mit Modem angeschafft. Mein Beruf verlangt diesen Abruf weltweit vagabundierender Informationen. Lernte leidlich, mit meinem Computer umzugehen. Bald waren mir Wörter wie Browser und Hyperlink nicht mehr böhmisch. Holte Infos für den Gebrauch oder zum Wegschmeißen per Mausklick rein, begann aus Laune oder Langeweile von einem Chatroom zum anderen zu hüpfen und auf die blödeste Junk-Mail zu reagieren, war auch kurz auf zwei, drei Pornosites und stieß nach ziellosem Surfen schließlich auf Homepages, in denen sogenannte Vorgestriges, aber auch frischgebackene Jungnazis ihren Stumpfsinn auf Haßseiten abließen. (Günter Grass: Im Krebsgang, S. 8)


Grass, Günter: Im Krebsgang [2]

  Daß ich nicht lache! Kenne meine Grenzen. Bin ein mittelmäßiger Journalist, der auf Kurzstrecken ziemlich gut abschneidet. Zwar mag ich früher im Plänemachen groß gewesen sein - ein nie geschriebenes Buch sollte "Zwischen Springer und Dutschke" heißen -, doch in der Regel blieb es beim Plan. Als dann Gabi klammheimlich die Pille abgesetzt hatte, eindeutig von mir schwanger war und mich vors Standesamt geschleppt hatte, wurde mir, kaum war der Schreihals da und die zukünftige Pädagogin wieder im Studium, sonnenklar: Ab jetzt geht nichts mehr. Von jetzt an kannst du dich nur noch als Hausmann beim Windelnwechseln und Staubsugen bewähren. Schluß mit Gernegroß! Wer sich mit fünfunddreißig und beginnendem Haarausfall noch ein Kind andrehen läßt, ist nicht zu retten. Was heißt hier Liebe! Die gibt's allenfalls wieder ab siebzig, wenn ohnehin nichts mehr läuft. (Günter Grass: Im Krebsgang, S. 42)


Green, Julien: Treibgut [1]

  "Hälst du ihn für intelligent, den jungen Mann?" fragte sie mit verräterischer Unschuld. "Er ist... ernst zu nehmen." "Das sehe ich. Ein guter Schüler, der Primus im Gymnasium." "Du irrst dich gewaltig. Er war ein sehr schlechter Schüler, und ich muß sagen, daß er in gewisser Beziehung ein Nichtstuer geblieben ist." "Bestimmt schreibt er in unbekannten Zeitschriften." "Du kannst ihn nicht leiden, Henriette!" sagte Philipp und lachte nun auch. "Was hat er dir getan? Nein, er schreibt nicht in unbekannten Zeitschriften. Er gesteht selber, daß er nie irgendeine Fähigkeit hatte." "Was zum Teufel treibt er denn?" "Er ist im diplomatischen Dienst." "Darauf hätte ich doch kommen müssen", rief Henriette. "Er poliert sich die Nägel auf den Löschblättern einer Kanzlei."


Green, Julien: Treibgut [2]

  Sie liebte das Leben mit seinen Fehlern und seinen Enttäuschungen. Die negative Vollkommenheit, zu der ihr das Gewissen riet, flößte ihr plötzlich Entsetzen ein. Sie wurde bald zweiunddreißig Jahre alt, und ihre ganze Jugend hindurch hatte sie es vermieden, Böses zu tun. Andern keine Mühe zu machen, niemand zu stören, und wenn es sein mußte, ganz zurückzutreten: diese Vorschriften hatte sie sich selbst eingehämmert, sie war damit einverstanden gewesen, ständig im Schatten zu stehen, ihren Herzschlag zu verlangsamen und nicht viel zu erhoffen. (Julien Green: Treibgut, S. 104)


Green, Julien: Treibgut [3]

  Von Traurigkeit überwältigt und auch aus Furcht, daß Henriette die Tränen sehen könnte, die ihr in die Augen stiegen und sie häßlich machten, beugte sie sich über das Bett und legte ihren Kopf an den Körper der jungen Frau, deren kleine, harte Knie sie an ihrer Brust spürte. Die Wärme dieser Glieder drang durch die Decken zu ihr. Sie fühlte sich dadurch seltsam getröstet, als komme von dieser Berührung neue Jugend über sie. Die ganze Bosheit der Menschen, alles, was unrein und dem Glück feindlich war, hatten seinen Ursprung in der Seele. Der Körper war einfach und gut, und nie hatte sie so deutlich wie an diesem Abend die Unschuld des Fleisches begriffen. Hier war ihr wohl, sie hätte schlafen mögen. (Julien Green: Treibgut, S. 253)


Green, Julien: Dixie [1]

  Einen Augenblick lang entstand ein Durcheinander um die Kalesche herum, bis eine Dame im weißen Musselinkleid mir breiten Volants auf die reglose Elisabeth zueilte. Ohne jung zu sein, bewahrte sie doch in ihren unverändert feinen Zügen den erhabenen Charme einer verführerischen Schönheit. Wäre das Gesicht ein bißchen weniger lang gewesen, hätte es als vollkommen gelten können, aber die Tiefer der großen dunklen Augen glich durch die Güte, die darin zu lesen war, alles wieder aus. (Julien Green: Dixie, S. 17)


Green, Julien: Dixie [2]

  Ganz in der Nähe und wie um den Spaziergänger von diesem schwindelerregenden Aussichtspunkten abzulenken, begann ein Weg, der sanft zu einer Gruppe aus etwas zufällig gepflanzten Bäumen hinführte. Sie vereinigten sich jedoch alle in einem Laubdach, das dicht genug war, um das Licht der Sonne zu brechen; nur ein paar hartnäckige Strahlen drangen wie Lanzen hindurch. Die Anziehungskraft des Ortes lag in seiner tiefen Stille und einer Art allgemeiner Reglosigkeit. Eine steinerne Bank zeugte vom Reiz dieser Einsamkeit. Bald befand sich Elizabeth wie von einem Instinkt geleitet an dieser Stelle, die ihr als ein Zufluchtsort vor etwas Unbestimmtem erschien, denn sie fühlte sich von nichts bedroht. Ganz im Gegenteil, unter diesen Bäumen flößten allein die Luft und der Geruch nach Pflanzen ihr Mut ein. Jede mögliche Gefahr war anderswo gebannt. (Julien Green: Dixie, S. 23)


Green, Julien: Dixie [3]

  Von Oglethorpe Square verschwand Miss Llewelyn bei Einbruch der Nacht, um Mrs. Harrison Edwards zu treffen, mit der sie geheime Interessen verbanden, so daß die beiden, sogar wenn sie über die harmlosesten Dinge miteinander sprachen, den Eindruck erweckten, eine Verschwörung anzuzetteln. Der Unterschied des sozialen Standes erlosch in der Aufregung der Vertraulichkeiten. Immer in Grau gekleidet, gebrauchte Miss Llewelyn die Sprache der feinen Gesellschaft mit ihren altmodischen - wenn auch nicht übermäßig altmodischen - Redewendungen. Eines Abends tauchte auf einem Tischchen eine Flasche Gin zwischen diesen beiden Damen auf, die mit der Zeit nicht mehr ohne einander auskamen. Das tägliche Leben in Kriegszeiten hatte sie zu Komplizinnen gemacht. (Julien Green: Dixie, S. 148f.)


Green, Julien: Dixie [4]

  "Setzen wir uns auf das Sofa", schnaubte er, und so gut es eben ging, sanken sie in die Sitzpolster aus schwarzem Leder. "Ich muß dir eine Frage stellen. Danach kommt der Portwein. Die Nachricht auf Seidenpapier für den Präsidenten Davis, du gibst natürlich auf sie acht..." "Was für eine Frage! Ich trage sie in jeder Sekunde bei mir." "Man muß alles einplanen, selbst eine Verhaftung auf halbem Wege." "Ich biete ihnen die Stirn." "Entschuldige bitte. Eine Durchsuchung..." "Shocking! Aber lassen wir das. Die Botschaft befindet sich da, wo eine Frau einen Liebesbrief verbirgt." "Fünfundvierzig Zeilen von größter Bedeutung!" "Ich habe auch ein kolossales Gedächtnis. Soll ich dir den Prolog zum Verlorenen Paradies aufsagen? Das dauert eine Dreiviertelstunde." "Unter keinen Umständen. Wozu also dieses gefährliche Papier behalten, wenn du dir ganz, ganz sicher bist?" (Julien Green: Dixie, S. 159f.)


Green, Julien: Dixie [5]

  In einem breiten Polstersessel versunken, las die freiwillige Einsiedlerin von Great Lawn in der Nähe knisternder Holzscheite, deren Duft sich mit einer Art Wohlwollen gegenüber jedermann ringsherum ausbreitete, und vom Kamin warf ein Kerzenständer seinen Schein auf ein Buch, das zwei entschlossene Hände so fest hielten, als wollten sie es daran hindern fortzufliegen. Mit ihrem schwarzen Kleid und ihrem weißen Seidentuch vollendete das alte Fräulein, ohne es zu wissen, das Idealbild, das sie sich von ihrer eignenen Person machte. Sie bedauerte, daß sie ein wenig zu rosarote Wangen hatte, aber das lag nicht in ihrer Schuld, sie hatte gesunde Verdauung. (Julien Green: Dixie, S. 225)


Green, Julien: Mont-Cinere [1]

  Sie übertraf in ihrer Sparsamkeit ihre Mutter bei weitem. Die Leidenschaft, von der sie beherrscht wurde, geriet manchmal in Zwiespalt mit anderen Empfindungen, die eigentlich nicht zu ihr paßten und schließlich zurückgedrängt wurden. Denn diese Frau kämpfte gegen sich selbst, und mit einer wahren Askese zwang sie sich zur Entsagung. Ohne genußsüchtig zu sein, neigte sie doch zur Naschhaftigkeit. Es war ihr unangenehm, Tee ohne Zucker zu trinken, dennoch tat sie es. Zwei oder drei Monate nach ihrer Heirat, als die beiden Ehegatten nicht mehr miteinander lebten, überwand sie ihre natürliche Angst vor der Dunkelheit und gewöhnte sich daran, sich auszukleiden, ohne die Lampe anzuzünden. Alle, die um die Angst und die Schrecken der Finsternis wissen und um den Trost, den der kleinste Lichtschein gibt, werden verstehen, daß eine an sich so einfache Sache doch besondere Willenkraft und großen Mut verrät. So gewinnt manche Leidenschaft eine solche Macht über das Menschenherz, daß sie alles aufrührt, Gutes und Böses. (Julien Green: Mont- Cinere, S. 22)


Green, Julien: Mont-Cinere [2]

  Der Tod ihres Mannes war für Mrs. Fletcher kein Grund zu ernstlicher Trauer. (...) sie war nur bestürzt. Und sie empfand die Unsicherheit einfacher Menschen, die fürchten, sich bei gewissen feierlichen Anlässen nicht richtig zu benehmen; sie wissen, daß sie tiefe Ergriffenheit zeigen sollten, fühlen sich dazu jedoch nicht fähig. So fragte sie sich jetzt, was sie beim Tod ihres Mannes zu tun habe, welche Haltung angemessen sei. Und mit diesem Mangel an Natürlichkeit, der bei beschränkten Personen gewissermaßen zur zweiten Natur wird, beschloß sie den Dingen jetzt eine dramatische Wendung zu geben. (Julien Green: Mont-Cinere, S. 25)


Green, Julien: Mont-Cinere [3]

  Emily hingegen, die ungefähr so lebte, wie sie es sich seit ihrer Kindheit gewünscht hatte, wurde von Tag zu Tag nervöser und mißmutiger. Ein paarmal hatte sie schon versucht, mit Frank Streit anzufangen, aber der junge Mann wußte schon aus seiner ersten Ehe, daß es das beste sei, sich in keine Auseinandersetzungen einzulassen, und daß der Schweigsame immer stärker ist als der, der nicht schweigen kann. (Julien Green: Mont-Cinere, S. 226)


Green, Julien: Varuna

  In der darauffolgenden Zeit hatte er Gelegenheit, sein ganzes Leben zu überdenken; denn er schlief nicht mehr, und die schlaflosen Nächte luden ihn ein zu melancholischen Forschungsreisen in die Vergangenheit. Beklommen erinnerte er sich an das verlorene Glück; sein Gedächtnis gab ihm wie ein Instrument von magischer Genauigkeit seine Kindheit und auch seine Jugend wieder, die es zur Gänze in einem Winkel seines Gehirns aufbewahrt zu haben schien. Niemals hatte er vor dem Tod seiner Frau gewußt, was es bedeutete zu leiden, und nun sagte er sich, daß alles menschliche Leben notwendigerweise auf die Verzwiflung zustrebt und daß die süßesten Stunden nur mit Blumen übersäte Wege sind, die zur Zerstörung hinführen. (Julien Green: Varuna, S. 135)


Green, Julien: Erinnerungen an glückliche Tage [1]

  Frühmorgens, wenn unser Dienstmädchen die Salonfenster öffnete, schien die ganze Straße in den Raum hereinzukommen mit ihren Mietdroschken, ihren Omnibussen und ihrer geschäftigen Menge aus Srbeitern und Haushälterinnen mit Einkaufskorb am Arm. Von Zeit zu Zeit flitzte ein Metzgergehilfe auf einem Fahrrad vorüber, eine jener Melodien pfeifend, die kein Franzose heutzutage hören kann, ohne daß es ihm das Herz zusammenzieht, sofern er alt genug ist, sich an jene glücklichen Tage zu erinnern. Der Gedanke stimmt traurig, daß die Straßengeräusche einer Stadt, so lästig sie manchmal auch sind, mit den Veränderungen des alltäglichen Lebens verstummen und für immer verschwinden und in keinem Gedächtnis eine Spur zurücklassen. Wir können uns nur düster vorstellen, wie sich die Hautpstraße von Athen unter der Herrschaft des Perikles angehört haben mag oder das Forum, als Tiberius regierte, oder die Place de Greve im mittelalterlichen Paris. Ein Lied bringt uns manchmal ein Echo von dem, was man einst hörte, ein paar Verse von Villon oder auch Rufe der Straßenverkäuferin, die sich aus Tradition erhalten haben, und das ist alles. (Julien Green: Erinnerungen an glückliche Tage, S. 38)


Green, Julien: Erinnerungen an glückliche Tage [2]

  Eine lange Habichtsnase verlieh ihrem Gesicht einen ziemlich grimmigen Ausdruck, den ihr geflochtenes Haar nur ein bißchen milderte, unregelmäßige braune Flecken bedeckten ihre Wangen und die faltigen Hände; sie trug eine Hornbrille und sprach mit besonders einschmeichelnder Stimme, lachte aber nie. Ein beleidigter Blick war ihre Antwort auf jede Art von männlicher Aufmerksamkeit, die ihr verdächtig war; fast jedes Kompliment von einem Mann war in ihren Augen mit irgendeiner schlechten Absicht behaftet, denn sie betrachtete sich selbst als wandelnde Versuchung des starken Geschlechts. (Julien Green: Erinnerungen an glückliche Tage, S. 86)


Green, Julien: Erinnerungen an glückliche Tage [3]

  Wenn in den ersten nebligen Septembertagen die Schleppdampfer, die den Fluß hinunterfuhren, mit dem heiseren Klang ihres Signalhorns ankündigten, daß sie die Schleuse erreichten, wenn man im Eßzimmer den Kamin anzünden mußte und die Rotweinflasche genau in der richtigen Entfernung vom Feuer auf den Boden gestellt wurde, damit der Medoc sein Aroma entfalten konnte, wenn uns beim ersten Niesen die eingelaufene Flanellunterwäsche vom Vorjahr mit strenger Miene hingehalten wurde und wir wohl oder übel in die kratzenden Dinger schlüpfen mußten, dann war es Zeit, melancholisch zu werden und sich zu wundern, wohin der Sommer verschwunden war. (Julien Green: Erinnerungen an glückliche Tage, S. 90)


Green, Julien: Erinnerungen an glückliche Tage [4]

  Etwas Unvergeßliches verbirgt sich in der Ruhe, die den ersten Takten großer Musik vorausgeht, eine Art ängstliches Warten, dem nur die kraftvolle Stimme des Orchesters antworten kann. Es war köstlich und zugleich fast unerträglich im Dunklen zu warten und zu warten, manchmal zehn oder fünfzehn Sekunden lang, und sich dann plötzlich befreit zu fühlen durch das herrliche Tosen einer Beethoven-Symphonie. Mit klopfenden Herzen lauschten wir vielen Werken von überwältigender Schönheit. (Julien Green: Erinnerungen an glückliche Tage, S. 225)


Green, Julien: Erinnerungen an glückliche Tage [5]

  Ich brauche mich nicht lange über diese Frage auszulassen, es reicht, wenn ich sage, daß die Machtübernahme durch die Linke in ganz Frankreich für große Aufregung sorgte. Die Menschen spürten instinktiv, daß dieses 'Cartel des Gauches' dem Land kein Glück brachte. Das Geld verhält sich wie immer, wenn die Linke in der Politik die Oberhand gewinnt: Es floh über die Grenzen, denn wie es so schön heißt, in Frankreich hat man das Herz auf der linken Seite, aber die Brieftasche auf der rechten. (Julien Green: Erinnerungen an glückliche Tage, S. 229)


Green, Julien: Der andere Schlaf

  Mein Vater dagegen alterte auf andere Weise. Seine Fähigkeiten schienen ungeschwächt; mit anderen Worten, wenn er noch unter seine natürliche Mittelmäßigkeit absank, so merkte man ihm nach außen hin nichts davon an. Sein Gedächtnis ließ ihn nicht im Stich. Mit seinen Geschichtslektüren ging er so zärtlich um wie mit einem Schatz. Von Zeit zu Zeit murmelte er konsonantengespickte merowingische Namen, mit der achtsamen Miene eines Geizhalses, welcher einen Zipfel von einem Geldschein sehen läßt, doch ich hatte den Eindruck, daß er jedesmal unter uns trat wie der Emigrant von einem anderen Planeten. Eine Art Nebel umgab ihn. Sein gegenwärtiges und vergangenes Leben blieb im Verborgenen. Später erriet ich, daß er wohl gelitten hatte; vor allem seine Augen sprachen von entsetzlichen Enttäuschungen, sein Blick war der müde Blick eines Geschlagenen. Ich aber - darin vergleichbar der Mehrzahl der Söhne - wußte nicht, was in seinem Herzen vorging: es war jene Nackheit, welche die Söhne nicht sehen dürfen. (Julien Green: Der andere Schlaf, S. 25)


Grimmelshausen: Simplicissimus Teutsch [1]

  Wir hatten auf eine Zeit ein junges wildes Schweinlein aufgefangen, welches wir in einen Pferch versperret, mit Eicheln und Buchen auferzogen, gemästet und endlich verzehret, weil mein Einsiedel wußte, daß solches keine Sünde sein könnte, wann man genießet, was Gott dem ganzen menschlichen Geschlecht zu solchem End erschaffen. Salz brauchten wir wenig und von Gewürz gar nichts; dann wir dörften die Lust zum Trunk nicht erwecken, weil wir keinen Keller hatten. Die Notdurft an Salz gab uns ein Pfarrer, der ohngefähr drei Meil Wegs von uns wohnete, von welchem ich noch viel zu sagen habe. (Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch, S. 34)


Groult, Benoite: Salz auf unserer Haut

  Ich hatte nicht gerade oft in meinem Leben mit einem Mann geschlafen. Mit zwanzig Jahren hatte ich bisher erst Gilles, meinen Initiator, erlebt, der mich in nichts eingeweiht hatte, denn beide wußten wir so gut wie nichts vom Gebrauch der Geschlechtsorgane. Und dann noch Roger, dessen Intelligenz mich vor Bewunderung stumm und des Urteils unfähig machte, selbst dann, wenn er mich zwischen zwei Physikreferaten auf der marokkanischen Decke in seiner Studentenbude - fließend Wasser auf der Treppe - in fünf Stößen absolvierte, wobei die vorangehenden Kitzel-Streichel- Knutschaktionen, die als Starthilfe gedacht waren, auch nicht langatmiger ausfielen. Ich muß unwillkürlich jedesmal daran denken, wenn ich einen Geiger sehe, der mit der Mittelfingerspitze eine Saite seines Instruments zum Vibrieren bringt und sie wieder losläßt, wenn die gewünschte Wirkung erzielt oder vermeintlich erzielt wurde. Während der Penetration machte er sich freundlicherweise die Mühe, ein paar "Ich liebe dich" zu gurgeln, und ich antwortete mit "Ich liebe dich", um mir Mut zu machen und um diese Viertestunde, der ich jedesmal hoffnungsfroh entgegenfieberte und aus der ich erkennbar ohne die bei ihm eintretende Erleichterung wieder hervorging, mit ein wenig Seele anzureichern. (Benoite Groult: Salz auf unserer Haut, S. 52)


Groult, Benoite: Salz auf unserer Haut [2]

  Ich erinnere mich nicht, ob Gauvain damals schon ein so guter Streichler war, wie er es später wurde. In seinen Kreisen wurde damals nicht viel gestreichelt. Und damals ließ ich mich auch nicht leicht streicheln. Ich fand Roger ganz normal. Man kann doch Männer nicht langweilen mit Äußerungen wie "Nein, ein bißchen höher", oder "Aua, das ist zu heftig...", oder gar "Noch ein bißchen mehr, bitte". Denn wenn man ihnen mit solchen Forderungen auf den Wecker geht, wirkt man unersättlich, und dann gehen sie anderswohin, zu allzeit zufriedenen Mädchen, die ihren Zauberstab anbeten oder ihr heiliges Salböl mit den wonneerfüllten Gesichtern von Erstkommunikantinnen trinken, und wie sollte ich das nachprüfen? Ehrlichkeit war damals nicht üblich dem männlichen Geschlecht gegenüber. Sie sprachen ja nicht die gleiche Sprache wie wir. Man gehörte zu seinem Geschlecht, wie man zu seiner Heimatgegend gehörte. (Benoite Groult: Salz auf unserer Haut, S. 53)


Groult, Benoite: Salz auf unserer Haut [3]

  Bei uns Parisern, die wir mit der künstlerischen Avantgarde liebäugelten (mein Vater verlegte eine Zeitschrift für moderne Kunst), galt Ehrlichkeit als eine etwas lächerliche Eigenschaft, außer bei Dienstmädchen. Man hatte den Gestrandeten und den Müßiggängern gegenüber alle Nachsicht, vorausgesetzt, sie besaßen Esprit und wußten sich zu kleiden; auch den Gesellschaftalkoholikern gegenüber hegte man eine gewisse Zärtlichkeit, während die Dorfsäufer verachtet wurden. (Benoite Groult: Salz auf unserer Haut, S. 70)


Groult, Benoite: Salz auf unserer Haut [4]

  Morgen werden sie auseinandergehen, und für sie bedeutet Auseinandergehen Sichverlieren, vielleicht für immer. Sie haben schon mehrere "für immer" hinter sich. Im illusorischen Wunsch, sich an ihm vollzutanken, will George heute abend alles von ihm verlangen, sich streicheln lassen bis zur Erschöpfung, notfalls mit allen erforderlichen Anweisungen. Im allgemeinen überläßt sie ihm lieber die Initiative, was die verschiedenen Etappen angeht... Wenn er der Meinung ist, daß sie ihre Ration Vorspiel bekommen hat und daß der Augenblick gekommen ist, im Repertoire weiterzugehen... ist es häufig ein wenig früh. Nicht gerade zu früh, aber doch so, daß sie sich auf sehr angenehme Art enttäuscht fühlt. Den Liebesrausch genießt sie mehr, wenn er mit einem winzigen Schuß Frustration verbunden ist. Die Vergänglichkeit der Liebkosungen macht ihre ganze Kostbarkeit aus. (Benoite Groult: Salz auf unserer Haut, S. 139)


Groult, Benoite: Salz auf unserer Haut [5]

  Im übrigen war Francois ein seltener Vogel: einer jener großen Männer, die dann doch nicht groß sind, weil es sich das Leben im letzten Moment anders überlegt. Er hatte alle Trümpfe in der Hand, um ein berühmter Professor, ein angesehener Dichter, ein anerkannter Maler, ein fähiger Pianist, ein unwiderstehlicher Verführer zu werden, und virtuell war er das alles auch, aber winzige Brüche in seinem Charakter oder eine Reihe von Zufällen hatten ihn stets am echten Erfolg gehindert. Und anscheinend war er mit dieser Sachlage immer einverstanden gewesen. Er bot als Mann einen mehr als angenehmen Anblick, ohne daß man hätte sagen können, er sei schön, und sein Charme und seine angeborene Eleganz wurden durch genau die Dosis Nachlässigkeit und Schüchternheit gemildert, die notwendig waren, damit man ihm seine vielfältigen Begabungen verzieh, und die erklärten, daß man ihm in seiner Jugend den hübschen Spitznamen Jean der Träumer verliehen hatte. (Benoite Groult: Salz auf unserer Haut, S. 267)


Groult, Benoite: Salz auf unserer Haut [6]

  Hinzu kommt, daß Ellen von vollkommener, typisch amerikanischer Schönheit ist: Sie weist einen derartigen Mangel an Unvollkommenheit auf, daß man von einem Gefühl der Unwirklichkeit erfaßt wird. Sie ist blond und hat tiefblaue Augen, und man spürt, daß sie sich nur vom Besten, Gesündesten, Vitaminreichsten ernährt; sie ist bis ins Mark psychoanalysiert, gewohnt, Reichtum und Komfort als eine Selbstverständlichkeit und Kummer als eine Krankheit zu betrachten: das perfekte Produkt der US-Technologie! (Benoite Groult: Salz auf unserer Haut, S. 148)


Groult, Benoite: Salz auf unserer Haut [7]

  Ihr Buch hat zumindest das Verdienst, mich über die "weibliche Ejakulation" aufgeklärt zu haben, deren verzückte Beschreibungen ich mit wachsendem Komplex bei Sade und Konsorten registrierte. "Sie entlud sich heftig... Diese unerschöpfliche Zisterne von Liebessäften, die sie vorrätig zu haben schien... Dreimal nacheinander überflutete sie die Rute des Marquis..." Teufel! Waren wir etwa Entladungsbehinderte, ich und die paar Freundinnen, die ich gelegentlich befragt hatte? Mitnichten, beruhigte mich die Autorin. Umfragen beweisen, daß das Phänomen nur bei ganz wenigen Frauen und nur ab und zu beobachtet werden konnte. Uff! "Keine Drüse dieser Zone, außer in Extremfällen die Skenenschen Gänge, könnte eine nennenswerte Menge Flüssigkeit absondern", erklärt Ellen entschieden - sie analysiert die Scheiden der Frauen wie ein Geograph die Ressourcen des Wolgabeckens. (Benoite Groult: Salz auf unserer Haut, S. 151)


Groult, Benoite: Salz auf unserer Haut [8]

  "Ich erzähl' dir mal' nen netten Witz. Also: Weißt du, warum das Bier, wenn man es trinkt, sofort wieder unten rauskommt?" Nein, George weiß ich nicht. "Weil es unterwegs nicht die Farbe wechseln muß", sagt er entzückt und ist gespannt auf ihre Reaktion. Sie deutet noch nicht einmal ein Lächeln an, um ihm endgültig klarzumachen, daß diese Art von Witzen, die bei den Alkoholikern der Südbretagne gängig sein mögen, nicht den geringsten Hauch einer Andeutung von Interesse haben. Aber sie weiß, daß er daraus nur folgern wird, daß sie keinen Funken Humor hat. Wird sie ihm eines Tages erklären können, daß Humor nicht... daß Humor... ach, es würde nichts nützen. Die Leute, die keinen Humor haben, sind am empfindlichsten, wenn es um Sinn für Humor geht. (Benoite Groult: Salz auf unserer Haut, S. 198)


Groult, Benoite: Salz auf unserer Haut [9]

  Harper's Bazaar. Aber meine durch die allzu trockene Luft und die in diesem Land übermäßige Beheizung statisch geladenen Haare haben den Elektroschock des kanadischen Haarkünstlers nicht gut ertragen. Hierzulande, wie übrigens auch in Amerika, haben die Friseursalons mehr mit einem vollautomatischen Waschsalon zu tun - Waschen, Schleudern, Trocknen in achtzehn Minuten! - als mit den sinnlich-kuscheligen Kojen der französischen Schönheitsinstitute. Die Haarwaschbecken haben die Forn einer umgedrehten Guillotine und sägen einem den Nacken ab, mit einem steifen Plastikkragen anstelle eines kuschelweichen Frotteetuchs um den Hals wird die Kundin erwürgt, und die Mädchen striegeln einen wie Pferdeknechte, ehe sie einen dann dem Künstler aussetzen, der durchaus inspiriert sein mag, allerdings nicht durch Ihren Kopf, sofern Sie die Vierzig überschritten haben! (Benoite Groult: Salz auf unserer Haut, S. 278)


Gstrein, Norbert: Der Kommerzialrat

  Zu Ostern hörten wir, daß er in der Klinik war, wegen seiner Herzgeschichten, hieß es, aber es hieß auch, auf Entziehungskur, und wir wußten, möglich war beides, und forschten nicht nach. Wir hatten es aufgegeben, uns um ihn zu kümmern, als er zurückkam und am Anfang so tat, als wäre nichts anders geworden. Dabei hatte er sich verändert, und wie, er wirkte auf eine Art durchsichtig, die wir an ihm nicht kannten, ausgemergelt, obwohl er seine Wampe noch hatte und seinen Fieberkopf, den von der kleinsten Anstrengung rotglühenden Schädel, aber sein Schnaufen war nicht mehr das Schnaufen eines Draufgängers, der vor Kraft außer sich zu sein schien. Das System Mensch, das er war, stand nicht länger unter Überdruck, es kochte, es brodelte nicht in ihm, es kam zu keinen Explosionen. Er war nicht der Polterer von früher, er war ruhiger geworden, auch wenn es eine Ruhe zu sein schien, die er sich nicht ausgesucht hatte, eine Zwangsruhe, eine Ruhigstellung, die sich von einer Sekunde auf die andere auflösen konnte. Tatsächlich erhielten wir den Eindruck, er würde unter Medikamenten stehen, als er zum ersten Mal wieder in unserer Runde auftauchte. (Norbert Gstrein: Der Kommerzialrat, S. 17f.)


Gustafsson, Lars: Aus den Erinnerungen... [1]

  Man könnte meinen, kalte und klare Luft aus Skandinavien müsse die Luft verbessern, aber das ist keineswegs der Fall. In Wirklichkeit verhindert die kalte Polarluft in großer Höhe, daß der atmosphärische Mülleimer, der Berlin ist, sich entleert. Das nennte man eine Inversionssituation. An sogenannten klaren, kalten Tagen sieht man deshalb nicht einmal die Busse an der Haltestelle ankommen, man erwacht mit verstopfter Nase und mit unbestimmten Schmerzen im Rücken und in allen Gliedern. Es ist ein verdammtes Pech, ausgerechnet in der kurzen historischen Epoche geboren zu sein, in der fossile Brennstoffe vorrätig sind. Ich weiß kaum etwas über meine Enkel und dessen Kinder, aber mit Sicherheit weiß ich, daß sie bessere Luftröhren haben werden als ich. (Lars Gustafsson: Sigismund. Aus den Erinnerungen eines polnischen Barockfürsten, S. 18)


Gustafsson, Lars: Aus den Erinnerungen... [2]

  Da saß er in seiner Lederjacke, mit seinem übertrieben großen braunen Bart und seinen kurzsichtigen Augen hinter der Goldrandbrille und sah mich erstaunt, fast erschrocken an. - Sie sind also Meterologe? Das war das einzige, was er in diesem Moment herausbringen konnte, und es klang richtig eingeschüchtert. Ich erklärte ihm, daß ich durchaus kein Meterologe sei, sondern Lyriker, ein schwedischer Lyriker, aber das sei ungefährt dasselbe, da die schwedische Poesie zu neunzig Prozent von verschiedenen Wetterlagen handele. (Lars Gustafsson: Sigismund. Aus den Erinnerungen eines polnischen Barockfürsten, S. 18)


Gustafsson, Lars: Aus den Erinnerungen... [3]

  Ich ließ ihn kurz allein, um an der langen bekleckterten Zinktheke der Kneipe etwas mehr Kirsch zu holen, während er fortfuhr, immer schrecklichere Beleidigungen gegen völlig unbekannte bulgarische Größen auszustoßen, er hörte und sah nichts mehr. Als ich zurückkam, war er gerade dabei angelangt, enthusiastisch zu schildern, wie jemand die Frau eines anderen um drei Uhr nachts vor der Tagung des Schriftstellerverbandes angerufen und ihren Mann einen "masturbierenden Schreibtischaffen" genannt habe. (Lars Gustafsson: Sigismund. Aus den Erinnerungen eines polnischen Barockfürsten, S. 20)


Gustafsson, Lars: Aus den Erinnerungen... [4]

  Hin und wieder treffe ich auf Menschen, die es bedauern, daß der Vorrat an fossilen Brennstoffen auf der Erde einmal erschöpft sein wird. Ich bedauere das keinen Augenblick lang. Ich finde es natürlich. Es ist etwas lästig, genau wie die Zeit, in der wir leben. Aber er wird sich erschöpfen, und das ist ganz natürlich. Die Wahrheit über die Welt sind nicht die Bombergeschwader über Dresden und Hanoi. Die Wahrheit über die Welt sind nicht die Wolkenkratzer von Manhattan, nicht diese Dunstschwader, die frühmorgens in der Fifth Avenue aus den Luftschächten der U-Bahn steigen. Die Wahrheit über die Welt ist ein Habicht, der über einem weiten Moor dahinschwebt. Es ist gut, solche Wahrheiten zu kennen. Das macht einen geduldig. Man ist gefeit gegen Hieb und Stich. Gefeit sogar gegen die Aphasie, die Sprachvergiftung, die dazu führt, daß man kaum noch sprechen kann, nur noch lallen, in kurzen, wirren Sätzen, wie ein Betrunkener, der sich an einen Hauswand lehnt. (Lars Gustafsson: Sigismund. Aus den Erinnerungen eines polnischen Barockfürsten, S. 46f.)


Gustafsson, Lars: Aus den Erinnerungen... [5]

  Ein Busschaffner in Ankara, Stockholm oder Damaskus steht im Dienst der Öffentlichkeit. Er kann guter oder schlechter Laune, mehr oder weniger hilfsbereit und zuvorkommend sein, aber grundsätzlich ist er eine Person, der es obliegt, das Fahrgeld zu kassieren und alten Damen sowie Frauen mit Kinderwagen beim Ein- und Aussteigen zu helfen. Ein Berliner Busschaffner ist etwas ganz anderes. Er ist ein Kommandant. Die Passagiere, zu denen übrigens nur sehr arme und sehr alte Menschen zählen, da alle übrigen mit dem Taxi oder im eigenen Auto fahren, sind ein zwielichtiges Gesindel, das er in Zucht halten muß. Er verachtet sie und verständigt sich nur durch unartikuliertes Knurren mit ihnen. (Lars Gustafsson: Sigismund. Aus den Erinnerungen eines polnischen Barockfürsten, S. 56)


Gustafsson, Lars: Aus den Erinnerungen... [6]

  In unserer Familie ist die Tüchtigkeit eine wahre Pest. Wir treiben sie immer ein bißchen zu weit. Wir entdecken früh, daß wir tüchtig sind, die Leute machen uns höflich ein Plätzchen in der ökologischen Nische frei und finden sich damit ab, daß wir so sind, und dann müssen wir natürlich gleich ganz besonders tüchtig sein, und es dauert nicht lange, bis wir völlig fanatisch sind in unserer Tüchtigkeit. (Neulich habe ich nachgerechnet und herausgefunden, daß ich in einem guten Jahrzehnt mehr als zwanzig Bücher geschrieben habe, ohne zu bedenken, was für einen schrecklich schlechten Eindruck das in einer feinen, schreibgehemmten, empfindlichen Nation wie Schweden macht, wo Dichtung und Geistigkeit stets "dem Schweigen nah verwandt" waren.) (Lars Gustafsson: Sigismund. Aus den Erinnerungen eines polnischen Barockfürsten, S. 69)


Gustafsson, Lars: Aus den Erinnerungen... [7]

  Es ist nicht schwer, gegen die Götter Sturm zu laufen. Aber dabei übersieht man leicht etwas Wesentliches: den historischen Aspekt. In meiner Jugend, im Seminar von Professor Hedenius, hatte ich das deutliche Gefühl, es sei meine Pflicht, junge Theologen zum Atheismus zu bekehren. Wenn ich damit Erfolg gehabt hätte, wären eine Menge netter Leute, die keiner Fliege etwas zuleide getan haben, heute vergrämte Archivaren bei der Arbeitsmarktdirektion, mit einem Existenzminimum, statt in hübschen Landhäusern zu sitzen, wo sie Schafe und Hühner haben und anständige Privatbibliotheken, und sich am Freitagnachmittag ein bißchen anstrengen müssen, um ein paar vernünftige Zeilen über Markus 5,2 zu Papier zu bringen. (Lars Gustafsson: Sigismund. Aus den Erinnerungen eines polnischen Barockfürsten, S. 114)


Gustafsson, Lars: Aus den Erinnerungen... [8]

  Aber zurück zu Mohammed. Nehmen wir einmal an, er sei ein epileptischer Scheich, der sich mit Schaum vor dem Mund in Krämpfen windet und mit dem Stock die Frauen zwischen den Zelten herumjagd. Eineinhalb Jahrtausende danach ist er das nicht mehr. Eineinhalb Jahrtausende lang haben Hunderte Millionen von Menschen ihr Leben, ihren Atem, ihre besten Ideen, ihre höchsten Erwartungen, ihre sublimsten Kunstwerke in ihn hineingeliebt. (Lars Gustafsson: Sigismund. Aus den Erinnerungen eines polnischen Barockfürsten, S. 115)


Gustafsson, Lars: Aus den Erinnerungen... [9]

  Ich bin genauso. Ich habe ihre ganze armselig, wahnwitzige Fixierung mitbekommen. Geld ist für mich das beste Nervenberuhigungsmittel. Man kann nie genug davon kriegen. Nichts (außer vielleichtr verrückt zu werden) könnte so schlimm sein, wie eine Tages ohne Geld dazustehen. Geld ist nun mal das beste Beruhigungsmittel für die Nerven, nichts ist so beschissen, wie arm zu sein, es sei denn, man hätte eine schreckliche Krankheit, aber sogar bei Krebsschmerzen hilft Morphium ein wenig, und man hat ja immer die Hoffnung zu sterben, doch welche Betäubungsmittel gibt es gegen die Armut? (Lars Gustafsson: Sigismund. Aus den Erinnerungen eines polnischen Barockfürsten, S. 127)


Gustafsson, Lars: Aus den Erinnerungen... [10]

  Meine Tagträume sind zu vierzig Prozent sexueller Art. Ich stelle mir vor, wie ich die eine oder andere von meinen Freundinnen und Bekannten - Mädchen, die ich ganz flüchtig oder seit Jahren kenne - verführe, oder kurz gesagt: mit ihnen schlafe. Ein wenig erinnert das an die Simulationsläufe, die Computer beispielsweise für das Verhalten von Raumflugkörpern ausführen, denn manchmal, wenn ich mir einen solchen Tagtraum bis in die kleinste Einzelheit ausgemalt habe, beschließe ich, in Wirklichkeit nicht mit diesem Mädchen oder dieser Freundin zu schlafen, auch wenn sie vielleicht gar nicht so viel dagegen hätte. Der restliche Teil meiner Tagträume handelt davon, wie ich zu Geld komme, ohne mich anzustrengen. In meinen Tagträumen habe ich all Literaturpreise vom Nobelpreis bis zu Eva Thulins Gedächtnisfonds mindestens fünfmal bekommen (in Wirklichkeit habe ich seit 1963 keinen einzigen Literaturpreis mehr bekommen; ich fürchte, das ist die gerechte Strafe). Es gibt keine einzige amerikanische Gastprofeesur von Anchorage bis Austin, die man mir nicht zu akzeptablen Bedingungen angeboten hätte. Manchmal mache ich in meinen Tagträumen clevere, unblutige und humane, aber sehr elegante Banküberfälle. (Lars Gustafsson: Sigismund. Aus den Erinnerungen eines polnischen Barockfürsten, S. 128)


Gustafsson, Lars: Blom und die zweite Magenta

  Wenn man die Kürze seines Auftritts bedenkt, muss man sagen, dass er ihn optimal nutzte. Die Anwesenden hatten hinterher sehr verschiedene Ansichten über die Predigt. Manche empfanden sie als blasphemisch bis zur äußersten Grenze des Zulässigen und darüber hinaus. Andere meinten die Entsehung einer neuen Spiritualität in der schwedischen Kirche zu erkennen, dringend nötig in einer Zeit, in der die Predigten offenbar überwiegend Plädoyers für die Schönheit der Natur und für die Wahl der Sozialdemokraten darstellten. Wieder andere verstanden sie als ziemlich vulgären politischen Angriff auf die Grünen und das war nicht ganz von der Hand zu weisen, da sie tatsächlich in diese Richtung deutete. Aber die meisten fanden sie interessant. Es war jedenfalls eine Predigt, über die man hinterher noch lange sprach. Und solche Predigten sind schließlich rar. (Lars Gustafsson: Blom und die zweite Magenta, S. 16)


Gustafsson, Lars: Blom und die zweite Magenta [2]

  Kann diese Schöpfung denn wirklich gut sein, wenn sie so gefährliche, ja, äußerst gefährliche Dinge aus der Erde hervorbringt? Kann es wirklich die Absicht des Schöpfers sein, daß die Nieren unschuldiger Pilzsammler unter der tastenden Hand des obduzierenden Arztes zerbröseln wie alte verbrauchte Fensterdichtungen aus Gummi? Daß der arglose Anfänger einen schnellen, unbarmherzigen Tod sterben soll, zur Strafe für den scheinbar harmlosen Fehler, den leckeren Wiesenchampignon mit dem weißen Fliegenpilz zu verwechseln? (Lars Gustafsson: Blom und die zweite Magenta, S.20)


Gustafsson, Lars: Blom und die zweite Magenta [3]

  Fräulein Sommardahl war jetzt siebenundfünzig Jahre alt und jeder mit dem geringsten Sinn für Schönheit würde sagen, daß sie noch eine verflixt attraktive Frau war. Eher groß als klein, nicht dick, aber mit breiten, soliden Hüften und einem Busen, der jener gewissen Mütterlichkeit entsprach, von der ihr ganzer Charakter geprägt war, obwohl sie keine eigenen Kinder hatte. Ihre offenbar von Natur rotblonden Haare, mit einem leichten Stich ins Ziegelrote, bildeten einen aparten Kontrast zu ihren klarblauen Augen. Alter hin oder her, war sie doch ganz und gar Frau. (Lars Gustafsson: Blom und die zweite Magenta, S. 74)


Gustafsson, Lars: Blom und die zweite Magenta [4]

  Es war ein Raum, der auf charakteristische Weise Ordnung und Unordnung vereinte. Ein Buch über Bauwerke mit mittelalterlichen Västeras drängte sich im Regal mit indianischen Bilderschriften aus der Chihuahuawüste. Wie viele schwedische Volksschullehrer des alten Schlags hatte auch Cecilia ein sehr respektvolles Verhältnis zur Bildung. Es war wichtig, sich zu bilden. Und es spielte eigentlich keine so große Rolle, welche Gebiete die Bildung umfaßte. Alles ließ sich in den großen Sack der Bildung stopfen, der nicht zugebunden werden würde, ehe man zu Grabe ging. (Lars Gustafsson: Blom und die zweite Magenta, S. 89)


Gustafsson, Lars: Das Familientreffen [1]

  Seit die Schwedische Eisenbahn einen Einstellungsstopp erlassen hat, sind die Schaffner meist schlurfende alte Männer, die auf müden Füßen durch die Gänge latschen und keiner Fliege was zuleide tun. Angetrunkene Passagiere pflegen sie mit liebenswürdiger Toleranz zu behandeln, für unsichere alte Frauen, die seit zwanzig Jahren nicht mehr mit dem Zug gefahren sind, es jetzt aber tun müssen, weil der Gatte vor einem Monat am Herzinfarkt gestorben ist, bringen sie eine Engelsgeduld auf. (Lars Gustafsson: Das Familientreffen, S. 70)


Gustafsson, Lars: Das Familientreffen [2]

  Hilflos wie ein Insekt, das gerade aus seiner Puppe schlüpft, immer grenzenlos in irgendein unmögliches Mädchen verliebt, immer dasselbe schüchterne Lächeln, als hüte er ein richtig nettes Geheimnis, das er uns eines schönen Tages verraten würde, aber erst, wenn er meinte, die rechte Gelegenheit sei gekommen. So kann man es sehen. Unmöglich oder nicht, ich kenne trotzdem kaum einen Menschen, vor dem ich soviel Respekt habe. (Lars Gustafsson: Das Familientreffen, S. 207)


Gustafsson, Lars: Das Familientreffen [3]

  Der Volksschullehrer mit seiner ewig geflickten Brille, seiner schmalen Stirn, seinem dünnen Haaransatz, seinen hilflosen, kurzsichtigen Augen, seinem schüchternen Lächeln. Bienenzüchter, Insektennarr, heißgeliebt von den Kindern und in einer ständigen Fehde mit der Schulleitung, die ihn darauf zu verpflichten versucht, sich an die Lehrpläne zu halten. Immun gegen den Rheumatismus nach über tausend Bienenstichen, die er in seinem Leben schon abgekriegt hat. Beständig freundlich und zerstreut. Einer, der sich von der Welt nicht stören läßt. (Lars Gustafsson: Das Familientreffen, S. 206)


Gustafsson, Lars: Das Familientreffen [4]

  Der andere Matrose, oder was es nun für ein Bruder war, lehnte sich ein bißchen weiter zu mir vor. Ich merkte, daß die Leute auf dem Bürgersteig einen ziemlich großen Bogen um uns machten. In Stockholm herrscht eine enorme Angst vor solchen Gesprächen. Ich glaube, die Leute fürchten sich im Grunde weniger davor, niedergeschlagen oder beraubt zu werden, es ist ja gar nicht so leicht, von jemand niedergeschlagen zu werden, der sich selbst kaum auf den Beinen halten kann. Was sie fürchten, ist dieser klebrige Alkoholikerkontakt. Alkoholiker haben die Fähigkeit, an Leuten kleben zu bleiben, sich ihnen mit ihren Problemen, ihrer verdammten Sentimentalität, ihrem kranken, hungrigen Kontaktbedürfnis aufzudrängen. Ich habe oft das Gefühl, daß sie das nur spielen. Sie schlüpfen in die Rolle des Alkoholikers, weil sie dadurch eine Möglichkeit zum Reden haben, eine Möglichkeit, sich an einen zu hängen, ohne darauf zu hören, was man sagt. Niemand, da kann man sagen, was man will, ist so verdammt scharf auf mitmenschlichen Kontakt, daß er nicht gern darauf verzichtet, wenn er zu dem Preis hergestellt werden soll, daß der eine Partner das Recht zu haben glaubt, sich einen Dreck darum zu scheren, was man selbst sagt. Das Alkoholikergequatsche ist nichts anderes als eine Form von verzweifelter emotionaler Erpressung. (Lars Gustafsson: Das Familientreffen, S. 152)


Gustafsson, Lars: Das Familientreffen [5]

  Ich habe entdeckt, daß Sekretärinnen mich immer nervös machen. Ich habe lange gedacht, das sei irgendeine Marotte von mir, bis ich herausfand, woher das kommen muß. Es ist natürlich ganz einfach so, daß sie so tief in dem System integriert sind, in einem solchen Maß mit ihm verwachsen und identifiziert, daß sie all die Angst, die in der Nähe der Macht ist, aufsaugen wie Schwämme und sie auch wieder ausstrahlen, ob sie wollen oder nicht. Es gibt Mädchen unter ihnen, die als richtige Generatoren der Unruhe fungieren können. (Lars Gustafsson: Das Familientreffen, S. 149)


Gustafsson, Lars: Das Familientreffen [6]

  Der erste Fehler, den ich vermeiden mußte, war allzu große Eile. Die sicherste und schnellste Art, sich auf einem neuen Posten zu blamieren, seine Autorität zu verlieren und sich von den eigenen Experten manipulieren zu lassen, ist eine überstürzte Stellungsnahme zu Dingen, in die man sich noch nicht eingearbeitet hat. Dann können einem spielend leicht Fehler nachgewiesen werden, man macht sich von anderen abhängig, und die ganze Arbeit gleitet einem langsam, aber sicher aus den Händen. Man wird zu jemand, der nur noch Papiere unterschreibt. Man darf aber auch nicht herumgehen und einem passiven Eindruck machen. Es gilt, Initiativen zu ergreifen, aber diese Initiativen dürfen nicht so groß sein, daß man sich dabei eine Blöße gibt. Es gilt, eine entschlossene Miene aufsetzen, aber sie muß sozusagen ganz allgemein entschlossen sein. Wenn die Leute an einem solchen Ort zu früh zu ahnen beginnen, worauf man hinauswill, bevor man selbst sein Ziel genau kennt, ist man im großen und ganzen geliefert. (Lars Gustafsson: Das Familientreffen, S. 143)


Gustafsson, Lars: Tod eines Bienenzüchters [1]

  Vorgestern das Wartezimmer der Röntgenstation im Bezirkskrankenhaus von Västeras. (...) Alle hatten einen Nummernzettel in der Hand. Die Mysterien der Reihenfolge; manchmal holt die Krankenschwester zwei oder drei Patienten auf einmal herein, manchmal nur einen einzigen. Manchmal hört der gesamte Verkehr für eine Stunde auf. Und wie alle jedesmal aufschauen, wenn die Schwester hereinkommt. Wie ein mechanisches Glockenspiel, bei dem sich die Figuren einmal in der Stunde bewegen; eine Tür geht auf, jemand kommt heraus, jemand geht hinein. (...) Und trotzdem immer eine Art kameradschaftlicher Zusammenhalt, immer jemand, der sich bereitfindet, einen zu alarmieren, falls die Schwester gerade dann den Namen aufruft, wenn man zum Rauchen auf dem Klo ist. Oder meine ich, daß es der Schmerz selbst ist, gegen den sie protestieren sollten, mit dem sie sich nicht abfinden sollten? Proletarier aller Schmerzen, vereinigt euch! (Lars Gustafsson: Der Tod eines Bienenzüchters, S. 24)


Gustafsson, Lars: Tod eines Bienenzüchters [2]

  Sie war die jüngste Tochter einer unglaublich tyrannischen Oberarztfamilie aus Falun. Alle ihre Brüder waren Reserveoffiziere, schwedische Meister im militärischen Fünfkampf, Justitiare, weiß der Teufel was noch alles. Ich habe sie nicht besonders oft getroffen, hatte aber den Eindruck, daß sie mich mit unverhohlener Verachtung betrachteten. Einer von ihnen fragte mich sogar einmal, ob man wirklich davon leben können, Volksschullehrer zu sein - damals hieß es ja noch Volksschullehrer. Wir waren einander gegenseitig genauso unbegreiflich. Der Vater - er ist übrigens glaube ich noch am Leben - war ein abscheuliches Montrum, gefürchtet von seiner Familie, von Krankenschwestern, Unterärzten und Assistenten, im ganzen Land bekannt für seine medizinischen Äußerungen, die vor allem besagten, daß Mädchen im Winter Wollstrümpfe tragen sollten, daß Abtreibungen die militärische Schlagkraft eines Landes verringerten und daß die Bevölkerung in Geschlechtskrankheiten und Jugendalkoholismus zu versinken drohe. Die jüngste Tochter war in diesem Haushalt irgendwie ins Abseits geraten. Ich habe den Eindruck, daß sie den größten Teil ihrer Jugend damit verbrachte, sich in der Küche nützlich zu machen. In Todesangst vor dem Vater, von den Brüdern unterdrückt, blaß, dünn und sommersprossig, hatte sie einen Weg zu den Büchern gefunden, zu einer Welt außerhalb dieser Zwölf-Zmmer-Villa am Rand von Falun. Ich glaube, er führte über die moderne Lyrik, die sie neugierig zu lesen begann, weil irgendwann am Mittagstisch darüber gelästert wurde, und quer durch die höhnisch verlesenen Zitate von Ekelöf und Lindegren entdeckte sie, daß das irgendwie von ihr handelte. (Lars Gustafsson: Der Tod eines Bienenzüchters, S. 59f.)


Gustafsson, Lars: Tod eines Bienenzüchters [3]

  Heute morgen habe ich schon alle Bienenstöcke durchgesehen und Zuckerlösung nachgefüllt, tatsächlich ist nur ein einziges Volk erfroren, jedoch ist es eins, das schon vorher nicht besonders viel Haltung bewiesen hat, hätte ich fast gesagt. Ich habe nie recht begriffen, was sie trieben. Sie bauten nur etwa jede zweite Wabe aus, und zwar auf eine zögernde, fast kokette Art, als wollten sie sagen, sie durchschauten zwar die Kunstwachswaben, aber sie könnten trotzdem ein bißchen bauen, nur um zu zeigen, daß sie immerhin die Geometrie beherrschten. Kokette Biester! Ich bin froh, daß sie erfroren sind. Im Sommer hätte sie sicher das Schwarmfieber überkommen, und dann hätten sie sich ohnehin selbst vernichtet. Die Idee der permanenten Revolution sozusagen. (Lars Gustafsson: Der Tod eines Bienenzüchters, S. 63)


Gustafsson, Lars: Tod eines Bienenzüchters [4]

  Der seltsame, etwas muffige Schweißgeruch der Turnhalle, ganz oben unter dem Dach, die Sprossenwände, das Gefühl, Dinge tun zu wollen, für die man nicht genug Kraft hatte, gleichzeitig Mann und Knabe zu sein. Und dieser gleichsam vegetative Halbschlaf während der Unterrichtsstunden damals in der Vorpubertät, wie man dasaß und eigentümliche Spiele mit seinen eigenen Fingern spielte, sie auf verschiedene Arten ineinanderzuflechten versuchte, als sitze man in seinem eigenen Gehirn und flechte darin herum: um seine Labyrinthe zu verstehen. (Lars Gustafsson: Der Tod eines Bienenzüchters, S. 115)


Gustafsson, Lars: Herr Gustafsson persönlich [1]

  So können Sie nicht sitzen, sagte sie mit ihrer tiefen Altstimme. Sie müssen die Sicherheitsgurte umschnallen! -- Warum denn? -- Weil ich erst vor acht Tagen meinen Führerschein gemacht habe. -- Und da fahren Sie schon im Berliner Verkehr? -- Ja; um die Angst zu überwinden. - Nach diesen Worten ließ sie mit einem kurzen, unbeschreiblichen kleinen preußischen Lachen den Wagen in den Verkehr hinausgleiten, kreuzte mit verbissener Miene eine riesige Chaussee, wo kreischende Bremsen anzeigten, daß es nicht allen so leicht fiel wie ihr, die Angst zu überwinden. (Lars Gustafsson: Herr Gustafsson persönlich, S. 23)


Gustafsson, Lars: Herr Gustafsson persönlich [2]

  Dreihundert Meter weiter unten auf der Straße kam ein weißhaariger, singender alter Mann in ausgefransten Kleidern dahergeschwankt. Wenn mich nicht alles täuschte, war er tatsächlich so betrunken, daß er auf der Straße umgefallen und eingeschlafen wäre, wenn ich ihn nicht gerade noch im rechten Augenblick am Ellbogen gepackt hätte. (...) Er setzte sich zu uns in den Wagen und füllte ihn mit einem ungeheuer intensiven Duft nach Rotwein, Knoblauch, altem Bock und ich weiß nicht was noch alles. Sobald er in die Wärme des Autos kam, schien er einschlafen zu wollen. Ich brachte durch diskretes Schütteln wieder Leben in ihn. (Lars Gustafsson: Herr Gustafsson persönlich, S. 165)


Gustafsson, Lars: Frau Sorgedahls weiße Arme [1]

  ... an diesem Morgen Ende April, Anfang Mai, an dem man gehofft hatte, noch sieben, acht Minuten schlafen zu können, bevor es an der Zeit war, all die lebensgefährlichen Hänge zum Gymnasium hinunterzuradeln. Jeden zweiten Tag war es besonders schlimm. Denn dann wurde eine völlig idiotische Sportart ausgeübt, die Morgenandacht genannt wurde. Dreihundertfünzig schläfrige Teenagerstimmen blökten widerwillig einen dieser tristen und vor allem völlig unbegreiflichen Choräle hervor, die das Gesangbuch bis zum Bersten füllten, ein pickliger junger Religionslehrer, der sich nicht allzu sehr mit Unverständlichkeiten abmühte, versuchte, die Partei des Guten gegen das Böse zu ergreifen, nicht selten als Masturbation und heimliches Rauchen definiert... (Lars Gustafsson: Frau Sorgedahls schöne weiße Arme, S. 64)


Gustafsson, Lars: Frau Sorgedahls weiße Arme [2]

  Diese Orgel (...) ein Museumsgegenstand, ein Splitter aus einer glücklicheren Zeit, unserer großen Zeit hier in der Gemeinde, als Boethius Pastor in Mora und Munckstell in Irsta war, als mächtige Prälaten von weißen Kanzeln herab das Evangelium verkündeten, als noch keine verdammte Aufklärungsphilosophie eine einfache, gläubige Landbevölkerung mit ihrem Zweifel angesteckt hatte, kein Darwinismus die Tore zu der systematisch durchdachten Hölle geöffnet hatte, die wir die biologische Natur nennen, und keine Freikirchler Irrlehren über das Recht der Kirche auf Gesetz und Gnadenmittel verbreitet hatte - kurz gesagt, vor der verdammten Moderne... (Lars Gustafsson: Frau Sorgedahls schöne weiße Arme, S. 174)


Gustafsson, Lars: Frau Sorgedahls weiße Arme [3]

  Es war offensichtlich, daß Pastor Dufvenberg an Melancholie litt. Nicht an der stillen, ruhigen Melancholie, die es manchmal braucht, um uns zu verantwortungsvollen Menschen zu machen, die ihre Rolle im Alltag nicht übertreiben und nicht über die Stränge schlagen. Pastor Dufvenbergs Melancholie war von der heißen, der langsam glühenden Art schwarzer Galle, die eigentümliche Dinge bewirken kann. Es heißt, diese schwarze Galle habe eine solche Macht, daß sie gewisse Dämonen in unseren Körper einschleust, deren Anwesenheit und Tätigkeit den Besitzer dazu bringen können, völlig unerwartete Talente und Stärken zu entwickeln. (Lars Gustafsson: Frau Sorgedahls schöne weiße Arme, S. 204)


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