Allgemeine Fundstücke  / [H2]


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Hein, Jakob: Herr Jensen steigt aus

  Wie sehr sich der Fernsehjubel im Lauf der Zeit geändert hatte, fiel ihm plötzlich auf. Obwohl er sich kaum für Fußball interessierte, hatte er doch schon jede Menge Jubel mitangesehen. In den alten Schwarzweißaufnahmen rissen die Fußballer kurz die Arme hoch, selbst wenn sie das entscheidende Tor zum Gewinn der Weltmeisterschaft geschossen hatten. Und am Ende des Spiels schüttelte der Trainer dann mit einem Ausdruck tiefer Freude im Gesicht jedem Spieler herzlich die Hand. Heutzutage konnte das unwichtigste Tor im belanglosesten Freundschaftsspiel fallen, und der Torschützer rannte wie von Sinnen jubelnd über den Platz, auf der Flucht vor allen anderen Spielern, die ihn natürlich doch irgendwann einfingen und schließlich unter sich begruben. Weniger Jubel war im Grunde genommen schon beinahe ein Ausdruck von Unzufriedenheit, aber es wurde immer schwieriger, noch mehr Jubel zu zeigen, wenn es wirklich einmal das entscheidene Tor zur Weltmeisterschaft war, das ein Spieler schoß. (Jakob Hein: Herr Jensen steigt aus, S. 87)


Hein, Jakob: Vor mir den Tag... [1]

  Das Telefon klingelte. "Agentur für verworfene Ideen, Boris Moser am Apparat", meldete sich Boris mit seiner freundlichen Telefonstimme. Er verfügte noch über die verärgerte, die müde und die verunsicherte Telefonstimme, die er aber in der Firma nicht gebrauchen konnte. "Ist da nicht der Computerladen?", krächzte eine belegte Stimme. Sie gehörte wahrscheinlich einem Mann, hätte aber auch die einer Frau sein können, die an einem schweren Fall von frühen Morgen litt. (Jakob Hein: Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht, S. 6)


Hein, Jakob: Vor mir den Tag... [2]

  "Möchten Sie einen Kaffee trinken?" "Ehrlich gesagt, würde ich viel lieber einen Tee trinken, aber nur, wenn sie einen richtigen dahaben." "Ich glaube, ich habe irgendwo noch Teebeutel", sagte Boris. "Dann trinke ich lieber einen Kaffee. Obwohl sie Teebeutel heißen, habe ich es noch nie erlebt, daß es jemandem gelungen ist, aus diesen Beuteln einen Tee zu machen." Boris sah sie fragend an. "In diese Beutel wird das gefüllt, was nach der Teeernte zusammengefegt wurde, die wenigen Aromastoffe werden von dem sie umgebenden Toilettenpapier aufgesogen. Wenn schließlich die Beutel lauwarm gewässert werden, können sich die armseligen Teekrümel nicht ausbreiten. Tee braucht sehr viel Platz, den gibt es nicht in so einem Beutel. Viele Menschen ahnen das und bewegen deshalb ihre Teebeutel wie wild durch das umgebende Wasser. Aber diese Masche funktioniert nicht, das ist gerade si, als würden sie einen Vogelkäfig umherwerfen, um die Flugweise des darin befindlichen Vogels zu erforschen. Also stopfen die Hersteller meist mehr Tee in diese Beutel, als man für eine Tasse bräuchte, wodurch das Wasser dunkel und bitter wird." (Jakob Hein: Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht)


Hein, Jakob: Vor mir den Tag... [3]

  "Einen richtigen Tee bereitet man mit zwei Kannen, frischem Tee und frischem kochenden Wasser. Die Kannen müssen sauber gewaschen sein, es ist überhaupt nicht zuträglich, wenn die Innenwände von altem Tee verschmutzt sind. Nach genau drei Minuten gießt man den Tee von der ersten in die zweite Kanne, das war's. Es ist erstaunlich, wie viele Fehler manche Menschen in diese simple Kunst hineinbringen. Sie filtern das Wasser, sie benutzen dreckige Kannen, sie wärmen die Kannen vor, sie lassen den Tee zu kurz oder viel zu lang ziehen, und sie stellen die Teekanne zum Schluß noch mit Vorliebe auf ein Stövchen. Das Stövchen ist für Tee so etwas wie ein Folterinstrument, weil damit der gute Geschmack aus dem Getränk in die Luft gebracht wird." (Jakob Hein: Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht, S. 18)


Hein, Jakob: Vor mir den Tag... [4]

  Auch hatte das Haus, in dem sie damals lernte, zu allem Überfluß in einer landschaftlich reizvollen Gegend gelegen, wie es in der Hotelbroschüre hieß. Landschaftlich reizvolle Gegend war die schönfärberische Bezeichnung für die ödeste Provinz gewesen. Iris hätte lieber in einer "pulsierenden Großstadt" oder wenigstens "am Rande der Metropole", notfalls auch "in der pittoresken Kleinstadt" gearbeitet, aber sie hatte in der "landschaftlich reizvollen Gegend" festgesessen. (Jakob Hein: Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht, S. 56)


Hein, Jakob: Vor mir den Tag... [5]

  Auch bei den Männern nach Vincent war Iris aufgefallen, daß sie sich von Iris wünschten, ihnen das Leben zu organisieren. Wenn Iris irgendwann damit fertig war, hatten die Männer ihr geordnetes Leben genommen und waren damit in tiefer Dankbarkeit zur nächsten Frau weitergezogen, die ihnen das Leben wieder durcheinanderbringen konnte. Oder Iris hatte die Männer damit vertrieben, eigene Wünsche anzumelden und sich nach solch geradezu peinlichen Bedürfnissen wie Geborgenheit und Halt zu sehnen. Anstatt schrittweise aufzugeben, hatte sie im Lauf der Jahre die Meßlatte immer höher gelegt. Sie arbeitete jetzt schon so lange an diesem schwierigsten Projekt und entschied, es entweder zu einem perfekten Abschluß zu bringen oder daran zu scheitern. Für einen hübschen Handwerker wäre ihr Aufwand der letzten Jahre einfach zu hoch gewesen, sagte sich Iris. Es mußte doch auch nette, gut aussehende Millionäre geben. (Jakob Hein: Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht, S. 57)


Hein, Jakob: Liebe ist ein hormonell... [1]

  Für schnelllebige Modewellen war die DDR vollkommen ungeeignet. Daher war der Pop und alles, was dazugehörte, wenig verbreitet. Bis man an eine abgelegte Westzeitschrift kam, um der Oma den Schnitt der Klamotten zu erklären und dem Friseur die Haarmode zu zeigen, war der Zug schon wieder abgefahren. Daher eigneten sich eher mittelfristige Modewellen wie Punk, Grufti, Skin, Mod oder Rocker. Ich entschied mich für "New Romantic", eine Untergruppe der Gruftis, die weiße statt schwarzer Hemden trug. Dabei spielte es eine Rolle, daß man leichter an weiße als an schwarze Oberhemden herankam. (...) Mit meinen Kumpels hockte ich hinter einem Glas Cola- Weinbrand auf gepolsterten Stahlrohrstühlen an einem Sprelacart-Tisch in der Klubgaststätte 'Kalinka', bis endlich eine Lied von 'Anne Clark' oder 'The Cure' kam. (...) Ich trug schwarz gefärbte Hosen, schwarze Halbschuhe und ein weißes Oberhemd, das ich mir bei meinem Vater ohne sein Wissen geborgt hatte. Das Gesicht hatte ich mir mit einer dünnen Schicht Zinksalbe weiß geschminkt, die laut Verpackung besonders für die Behandlung wunder Babyhaut geeignet war. Dieses Detail mußte meine Geheimnis bleiben. Echte Weißschminke gab es nicht. Meine Haare waren schwarz gefärbt und mit einem Kamm sowie dem Haarspray "Disko-Club" auftoupiert. Dieses Haarspay diente wahrscheinlich heimlich dem Schutz der Jugend vor ungewollter Schwangerschaft, denn es stank abstoßend. Wir stellten uns in einem Kreis auf, in dem die Mädchen ihre kleinen Handtaschen abstellten. (...) Meine Füße bwegten sich überhaupt nicht mehr. Sie standen reglos da, dicht nebeneinander. Nur die Arme ruderten verzweifelt, Halt suchend in der Gegend herum. Dazu blickte ich so, als ob mein bester Freund Suizid hieße und der Freitod für mich ein möglicher Weg weiterer Lebensgestaltung wäre. Das Leben eines New Romantic war nicht ungefährlich, und die Unaufrichtigkeit unserer Selbstmordphantasien offenbarte sich nach jedem Tanzabend. Am Ausgang vom 'Kalinka' versammelten sich nach der Disko immer Skins, die unsere traurigen Existenzen problemlos hätten beenden können. Stattdessen verließen wir das 'Kalinka' ziemlich frühzeitig. Wir waren alle so unsportlich, daß wir keine würdigen Gegener abgaben. Mit unseren wehenden Klamotten hatten wir nicht mal Aussicht auf erfolgreiche Flucht. (Jakob Hein: Liebe ist ein hormonell bedingter Zustand, S. 37f.)


Hein, Jakob: Liebe ist ein hormonell... [2]

  Wir nannten die Kindergartentanten bei ihrem Nachnamen, die besonders freundlichen erlaubten uns, sie trotzdem zu duzen. Das klang so wie heute im Kaufhaus: "Du, Frau Becker, guck mal!" Meine Kindergartentante hieß Frau Kant. Sie war dick, kurzatmig, schlecht gelaunt und trug eine Kittelschürze aus Nylon über ihren Stützstrümpfen.. Bewegung zu Musik machte sie nur mit uns, weil es Vorschrift war, weil in ihrer offiziellen Bedienungsanleitung für Kinder geschrieben stand, daß eine Kindergärtnerin mindestens zweimal monatlich mit den ihr unterstellten Kindern Tanz- und Singspiele einüben mußte. Frau Kant haßte Musik und Bwegung, und Musik und Bewegung haßten Frau Kant. Alle paar Augenblicke griff sie in die Kitteltasche, holte ein Stofftaschentuch heraus und wischte sich damit den Schweiß von der hochroten Stirn. Die Sonne waren zwei Arme, die wir von unten kreisförmig nach außen bringen mußten. Wenn sich ein Kind im Überschwang der Gefühle spontan anders als vorgeschrieben bewegte, brüllte Frau Kant herum. Bei wiederholtem Abweichen gegen die Bewegungsmuster drohten Nachholstunden. (Jakob Hein: Liebe ist ein hormonell bedingter Zustand, S. 7)


Hein, Jakob: Liebe ist ein hormonell... [3]

  In meiner Schulklasse war ich mit weitem Abstand der Beste in Englisch, einen langweiligeren Zustand konnte es für einen Streber wie mich nicht geben. Na gut, ich war kein richtiger Streber, nur so eine Art, das heißt, ich wollte immer der Beste sein und für meine Klugheit bewundert werden, aber gleichzeitig ließ ich mir das nicht anmerken, damit ich auch Freunde hatte. So eine Art vorsokratischer Standpunkt: Ich wußte, daß ich viel wußte, und wußte auch, daß es besser war, nicht alles zu wissen. So war ich für meine Lehrer ein Albtraum, aufgrund meiner Leistungen konnten sie mich nie wirklich bestrafen oder als abschreckendes Beispiel vorführen. Im Grunde meines Herzens blieb ich aber ein Streber, besonders in Fächern, die mir wichtig waren, und Englisch war mein Lieblingsfach. Der Klassenbeste in allen Fächern zu sein zeugte von mangelnder Intelligenz, denn wer interessierte sich schon für alles? War man der Beste in Chemie, klang das nach dicker Brille und brauner Stoffhose. Aber der Beste in Englisch zu sein, das war ehrenvoll und achtbar. Sozial höhergestellt war nur noch der Beste in Sport, ein für mich unerreichbarer Titel. (Jakob Hein: Liebe ist ein hormonell bedingter Zustand, S. 47)


Hein, Jakob: Liebe ist ein hormonell... [4]

  So stand ich an eine Wand gelehnt und versuchte, den geistigen Zustand zu erreichen, in den mich immer die Mathematikstunden versetzten, wenn Herr Dr. Schwerdt mal wieder einen besonders unterhaltsamen Beweis aus der kunterbunten Welt der Algebra an die Tafel malte. Ein Zustand jenseits jedes Gedankens, Gefühl oder Wunsches. Körperloses Schweben in einem geistigen Vakuum. Wäre die Schule in Tibet gewesen und hätte Herr Dr. Schwerdt keine Haare und statt seiner Pullunder einen orangefarbenen Umhang getragen, wären wie beide eine ganz große Nummer gewesen. (Jakob Hein: Liebe ist ein hormonell bedingter Zustand, S. 81)


Heller, Joseph: Überhaupt nicht komisch [1]

  Über das Fahrrad als Transportmittel geht mir, wie ich schon sagte, nichts. Einerlei, wie das Wetter ist, ich weigere mich, ein anderes zu benutzen. Eines Januartages schneite es heftig. Tags drauf taute es, und der Schnee schmolz. Alsdann setzte ein scharfer Nordwind ein, und die Straßen verwandelten sich in Eisbahnen. Kühn wie stets schwang ich mich auf mein Rad und strampelte Richtung Krankenhaus. Als ich den Central Park erreichte, war mir klargeworden, daß es wirklich saudumm war, bei solchem Wetter zu radeln. Gleichwohl blieb ich entschlossen, Joe seine Post zu bringen und noch einige Sachen, um die er gebeten hatte. Der Wind blies mir ins Gesicht, und ich schlitterte den Weg entlang. Weil ich nun aber schon die halbe Strecke bewältigt hatte, meinte ich, es wäre blöd, jetzt aufzugeben. Im Park war kaum Verkehr. (Ich war der einzige Blödling, nur weigerte ich mich verstockt, jetzt umzukehren.) Am Ausgang bei der 103. Straße sah ich mich einer Kombinaion aus Schneewehen, Harsch, einer steilen Abfahrt und heulendem Wind gegenüber, und meine Überlebenschancen waren gleich Null. Das Rad rutschte unter mir weg, ich schlug mit dem Hinterkopf auf und sah Sterne. Gleich mußte ich an Joe denken. "Du Schmock!" würde er sagen, "du bist ja nicht mal krankenversichert!" Mein Kopf tat weh, sonst aber war ich heil bis auf ein paar Schrammen. Der Sattel des Rades stand quer, und die Handbremse war verborgen. Joes kostbarer Mantel von Eddie Bauer hatte auch was abgekriegt, aber davon abgesehen stand alles zum besten. Ich dankte der Gottheit, die sich der Kinder, der alten Leute und der Schwachsinnigen erbarmt, und war glücklich, daß ich zu allem drei Kategorien gehöre. (Joseph Heller: Überhaupt nicht komisch, S. 148)


Heller, Joseph: Überhaupt nicht komisch [2]

  Dustin und ich kannten uns seit etwa zehn Jahren, und wenn wir einander irgendwo begegneten, aßen wir gemeinsam. Daß wir so gute Freunde geblieben sind, liegt gewiß daran, daß wir nie eng befreundet waren. Auch haben wir nie gemeinsam an einem Projekt gearbeitet, und auch das dürfte sich positiv ausgewirkt haben, so halten wir einer den anderen - womöglich ganz irrig - für einen urteilsfähigen und rücksichtsvollen Menschen. Unsere Freundschaft basiert auf einem Übereinkommen, das ich vor Jahren einmal, und nicht ganz spaßhaft, in die Worte faßte: Du brauchst meine Bücher nicht zu lesen, ich deine Filme nicht anzusehen. Sehe ich mir doch mal einen seiner Filme an, so geschieht das anläßlich einer Premierenfeier; den Film anzusehen, ist der Preis für die anschließende Party und das kalte Buffet. Ich glaube, als er mich besuchen kam, hatten wir uns ein oder zwei Jahre nicht gesehen (Joseph Heller: Überhaupt nicht komisch, S. 81)


Hens, Gregor: Himmelssturz

  Ich glaubte, über das Bestimmende seiner Persönlichkeit hinaus, das kräftig-männliche Selbstbewußtsein, das er vor sich hertrug wie eine Monstranz, eine ihn völlig in Anspruch nehmende, feinere Anspannung zu erkennen. Was in diesem Gesicht über das gewohnte Bild hinaus an Zeichnung oder Bedeutung erkennbar war, war nicht etwa die lächerliche, größtenteils gespielte Angst vor dem Autofahren oder vor dem in Grund und Boden hinein vorverurteilten Einkaufzentrum. Antonin war müde und schlaff. Seine Augen waren gereizt, die Nase schien knochiger als früher. Die Haut war rau und trocken. Sein Profil hatte etwas Hypnotisiertes, wie ein Dürerbild. Als hätte er seinen Blick in die Ferne richten wollen und wäre, noch bevor er den Horizont ausmachen konnte, einem einzigen, überwältigenden Gedanken verfallen. Es steckte ein fürchterlicheer Ernst in diesem Puertoricaner, trotz der albernen Vorstellung, die er geliefert hatte. Jetzt auf einmal war er beinahe hager. Derselbe, den ich mir gelegentlich als schnaubenden, gerade erst einem tosenden Meer entstiegenen Gott der Antike vorgestellt hatte, schien jetzt angegriffen und nervös. Zum ersten Mal traten unter der wüsten Oberfläche Anzeichen von Selbstzweifel und Verfall zu Tage. Von dem Kraftmenschen, dem Bezwinger , als den ich ihn kennen gelernt hatte, war nicht viel übriggeblieben. (Gregor Hens: Himmelssturz, S. 101)


Henschel, Gerhard: Kindheitsroman

  Für mein Halbjahreszeugnis erhielt ich fünf Mark fünfzig, weil ich in Betragen, Rechtschreiben und Lesen Einsen und dann noch fünf Zweien hatte. (...) Mit dem Geld ging ich nach Vallendar, um mir was zu kaufen. "Tu, was du nicht lassen kannst", hatte Mama gesagt. "Aber laß dir nicht wieder den letzten Strund andrehen!" Ich entschied mich für ein Plastikschwert mit Plastikscheide. Die Rittermaske, die dazugehörte, mit Visier, war zu teuer. "Mein lieber Schwan!" sagte Mama. "Was hast du dir denn dafür abknöpfen lassen?" "Drei Mark achtzig." "Und der Rest? Hast du den auch verplempert?" "Nein." "Fünf fünfzig minus drei achtzig macht nach Adam Riese eins siebzig. Zeig doch mal, wo du die hast!" Die hatte ich in Zuckerspeck und Bluna angelegt. Adam Riese konnte mir gestohlen bleiben. So ’n alter Opa, der in seiner mittelalterlichen Bude Meerschaumpfeife geraucht und einen Scheißdreck nach dem andern ausgerechnet hatte. (Gerhard Henschel: Kindheitsroman)


Hermans, Willem Frederik: Unter Professoren (1)

  Gonnie war eine kleine Person, vorn flach, in den Hüften breit. Ihre Frisur - von tiefem Blauschwarz - sah stets aus, als sei sie in größter Eile entstanden, so herrlich ungezwungen. Ihr Gesicht war überreichlich angemalt, mit einer alles andere als künstlerisch begabten Hand und augenscheinlich ebenfalls in größter Eile. Ihre hellbraunen Augen hatten nichts Sittsam-Weibliches an sich und schon gar nicht den hochmütig-kühlen Ausdruck seiner Kaatje. Sie hatten etwas Ermutigendes an sich, das heißt den ermutigenden Blick, mit dem eine Kindergärtnerin ihre Zöglinge ansieht. (Willem Frederik Hermans: Unter Professoren)


Hermans, Willem Frederik: Unter Professoren (2)

  "Auf der einen Seite kommt die materialistische Dialektik nur dann zu ihrem Recht, solange die Verbindung zur historischen Forschung aufrechterhalten wird, auf der anderen Seite sehe ich diese Dialektik als den theoretischen Ausdruck des Befreiungskampfes der Arbeiterklasse", antwortete Ziska flink. (...) Was für ein Kopf, dachte Dingelam. So schön. Aber angefüllt mit Sägemehl oder besser gesagt Holzschliff, den man erhält, wenn man eine auf holziges Papier gedruckte Ausgabe des "Kapitals" fein zermahlt und sich das so gewonnene Produkt Löffel für Löffel einverleibt. (Willem Frederik Hermans: Unter Professoren)


Herrndorf, Wolfgang: Tschick [1]

  Das war der erste Tag der Ferien, und ich war praktisch schon am Durchdrehen. (...) Ich weiß noch, dass ich irgendwann aus dem Haus rannte und in den Wald rein und den Hügel rauf, und dann fing ich an zu joggen. Ich joggte nicht wirklich, ich hatte keine Sportsachen an, aber ich überholte ungefähr zwanzig Jogger pro Minute. Ich rannte einfach durch den Wald und schrie, und alle anderen, die durch den Wald rannten, gingen mir wahnsinnig auf die Nerven, weil sie mich hörten, und als mir dann auch noch einer entgegenkam, der mit Skistöcken spazieren ging, fehlte wirklich nur ein Hauch, und ich hätte ihm seine Scheißstöcke in den Arsch gekickt. Zu Hause stand ich stundenlang unter der Dusche. Danach fühlte ich mich etwas besser, etwa so wie ein Schiffbrüchiger, der wochenlang auf dem Atlantik treibt, und dann kommt ein Kreuzfahrtschiff vorbei und jemand wirft eine Dose Red Bull runter und das Schiff fährt weiter - so ungefähr. (Wolfgang Herrndorf: Tschick)


Hochgatterer, Paulus: Über Raben

  Ein roter Paprika, ein gelber. Ich krame absichtlich endlos herum, doch diesmal wird keine Verkäuferinnen auf mich aufmerksam: 'Kann ich dir helfen? Weißt du, es ist nicht sehr hygienisch, jedes Stück Frischgemüse mit bloßen Händen anzugreifen!' - Warum gibt es immer noch diese grünen Paprika? Manchmal packt mich eine unbändige Lust, all diese Kisten mit grünen Paprika auf den Boden zu kippen und darauf herumzutrampeln. Warum können Spar- Verkäuferinnen nicht Gedanken lesen? Um sie an den Mann zu bringen, werden dies grünen Paprika jetzt mit je einem roten und einem gelben kombiniert und als 'Tricolore' verkauft. Ich wette, jeder Zweite ißt den gelben und den roten und wirft den grünen in den Mist. Rot-gelb-grün und Paprikairgendwas hat das sicher mit Ungarn zu tun. Ungarn habe ich noch nie gemocht. Schnurrbärte, Zahnärzte und das ganze Csardás-Gehopse. (Paulus Hochgatterer: Über Raben, S. 41)


Hochgatterer, Paulus: Über Raben [2]

  Er richtete sich vorsichtig wieder auf und schaute an sich hinunter. Er dachte an jene Klassifikation der Männer nach ihrem Umgang mit der Morgenerektion, die Kurkowski jedem seiner Kollegen zumindest einmal aufgedrängt hatte, selbst dem Direktor. Kurkowski würde mit Sicherheit nicht dabei sein; er war viel zu faul. Außerdem: Wo Widmann war, war niemals Kurkowski. Elvira hatte seine physiologische Kopulationsbereitschaft nach dem Erwachen nie nützen können. "Morgenmuffel versäumen viel von der Welt", hatte er manchmal gesagt, und sie hatte ihn dann blickmäßig vernichtet, jedes Mal. "Es existiert keine Frau, die am Morgen gern fickt", sagte Frey, der regelmäßig dabeistand, wenn Kurkowski seine Einteilung präsentierte. Frey kannte alle Frauen. (Paulus Hochgatterer: Über Raben, S. 48)


Hochgatterer, Paulus: Über Raben [3]

  Drosch war in Summe ein ganz sympathischer Kerl, völlig humorlos, aber sympathisch. Ohne jede Hinterhältigkeit oder Aggressivität. Er war einem nicht einmal böse, wenn man ihm zu verstehen gab, daß man nicht das geringste Interesse an den Dingen hatte, die er erzählte. Wie allen Menschen seiner Sorte stand ihm ein trauriges Schicksal bevor. Irgendeines dieser krakenartigen Wesen, ob sie nun Widmann hießen oder Rothenberg oder anderswie, würde ihn sich greifen und nicht mehr loslassen. In fünfzehn Jahren würde er Schülern immer das Gleiche vorbeten, als komisch gelten und öfter zum Hautarzt gehen als nachts ins Freie. (Paulus Hochgatterer: Über Raben, S. 50)


Hochgatterer, Paulus: Über Raben [4]

  Vor mir schält Lukas Meineck ein Salamibrot aus der Alufolie. Er schlägt seine Mausezähne hinein. Lilly Bogner staucht ihn sicher nicht zusammen, sollte sie es bemerken. Meineck ist so winzig, dass jeder glücklich ist, der ihn essen sieht. Er hält Clemens, seinem Sitznachbarn, das Brot hin. Clemens schüttelt den Kopf. Er würde niemals abbeißen. Clemens ist der unauffälligste Mensch dieser Welt. Keiner kann ihn beschreiben, seine Noten sind ausnahmslos durchschnittlich, ab und zu ein Ausreißer nach oben oder unten, gerade so, daß es auch wieder durchschnittlich ist. Familienname Schmidt. Katalognummer fünfzehn. (Paulus Hochgatterer: Über Raben, S. 72f.)


Hochgatterer, Paulus: Über Raben [5]

  Es heißt, Gebhart hat zwei kleine Kinder zu Hause. Ich stelle mir zwei Mini-Maden vor, die gelangweilt vor dem Fernseher hocken und an etwas Amorphem fressen. Grieskoch zum Beispiel. Ursprünglich haben die Leute behauptet, er sei schwul, aber die meisten von uns glauben das inzwischen nicht mehr. Eigentlich ist es den meisten von uns egal geworden, und das will schon etwas heißen, wenn es einer Schulklasse egal ist, ob ein Lehrer schwul ist oder nicht. (Paulus Hochgatterer: Über Raben, S. 131f.)


Hochgatterer, Paulus: Die Süße des Lebens [1]

  Es gibt Menschen, die haben überhaupt keine Bodenberührung. Clemens ist zum Beispiel einer dieser Permanentschweber. Wie auf einem Luftkissen gleitet er über Treppen, Schotter, Grashalme, ständig einen Fingerbreit über Grund, im Gesicht dabei diese nach innen gekehrte Arroganz, diese Überheblichkeit von Amts wegen. Irgendwann einmal wird er ihm eine knallen, einfach so, nicht brutal, sondern eine mittelfeste, flach gehaltene Ohrfeige, eher eine kleine politische Kundgebung als ein Gewaltakt. Überhaupt ist das kontrolliert Brachiale eine chronisch vernachlässigte Angelegenheit in der Darstellung weltanschaulicher Positionen. Dabei geht es nicht primär um Zerstörung, sondern um dort und da eine Handlung mit muskulärem Nachdruck. Amtsautoritäten gehörten zum Beispiel regelmäßig ein wenig geprügelt, Schuldirektoren, Polizisten, Politiker sowieso, dagegen ließe sich doch nun wirklich nichts sagen. (Paulus Hochgatterer: Die Süße des Lebens, S. 17)


Hochgatterer, Paulus: Die Süße des Lebens [2]

  Cejpek wurde nicht müde zu behaupten, er selbst sei ein hundertprozentiger Naturwissenschaftler und die Psyche eine höchst absurde Organisationsform von Materie. Andererseits wies er Horn jeden zweiten seiner Patienten zur Begutachtung zu. "Ein höherer Beamter in der Landesstraßenverwaltung", erzählte er, "Ich war so stolz, daß wir seine Hypertonie in den Griff bekommen haben, und jetzt wird er von Tag zu Tag depressiver." "Das gibt es", sagte Horn. "Da bin ich aber froh", ätzte Cejpek und griff sich ein Stück Lebkuchen. Horn grinste. "Es ist immer besser, die Leute haben etwas, das man kennt", sagte er. Lili Brunner schaute mißbilligend. Sie war in der ärztlichen Kollegenschaft so was wie die Fahnenträgerin der Ernsthaftigkeit. (Paulus Hochgatterer: Die Süße des Lebens, S. 26)


Hochgatterer, Paulus: Die Süße des Lebens [3]

  "Lefti, sehe ich komisch aus?", fragte Ludwig Kovacs. Lefti, der Besitzer des Lokals, stellte ein Glas naturtrübes Pils vor Kovacs ab und musterte ihn. "Natürlich siehst du komisch aus, Kommissar", sagte er, "das heißt, nicht du als Person, sondern du hier auf meiner Terrasse mit dem Bier mitten im Winter, mit der schwarzen Wollmütze an diesem einzigen, extra für dich aufgestellten Tisch, mit all dem Schnee rundherum, und da unten der See, der schon halb zugefroren ist, und wenn man jetzt noch mitüberlegt, daß das ein marokkanisches Restaurant ist, vor dem du da sitzt in deiner blauen Wattejacke, die nicht wissen, ob wie zum Trinken die Handschuhe ausziehen sollen oder nicht, nicht so häufig vorkommen, wenn man das alles mitüberlegt, siehst du komisch aus." "Da bin ich aber beruhigt", sagte Kovacs. Er schlüpfte aus dem rechten Handschuh. (Paulus Hochgatterer: Die Süße des Lebens, S. 89)


Hochgatterer, Paulus: Die Süße des Lebens [4]

  Franziska Zillinger ist achtundneunzig und fast blind. Ihre Tochter ist vor einigen Jahren an Herzversagen gestorben, das heißt, in Wahrheit an ihrer extremen Fettleibigkeit, und ihre Enkelin, die eine erfolgreiche Bankangestellte ist, hat keine Zeit, sie zu besuchen. Frau Zllinger liebt Kirchenlieder, das macht die Sache ziemlich einfach. Er summt "Ein Haus voll Glorie schauet", als er ihre Wohneinheit betritt, und sie sagt: "Jö - ein Haus voll Glorie schauet", und fängt schon an zu singen. Sie kann schätzungsweise acht bis zehn Strophen; er kann drei, aber das macht nichts. Beim Refrain wird sie dann unglaublich inbrünstig und das 'O laß im Hause Dein uns all' geborgen sein' jauchzt sie in die Welt, als gelte es, sich auf der Stelle die ewige Seligkeit zu ersingen. (Paulus Hochgatterer: Die Süße des Lebens, S. 114)


Hochgatterer, Paulus: Eine kurze Geschichte vom... [1]

  Der Ire stellt den Passat haarscharf neben einem Behindertenparkplatz ab und ich bin in diesem Moment absolut sicher, daß ihn, genau wie mich, manchmal der Drang überfällt, breit alle Behindertenparkplätze dieser Welt zu besetzen. Ein Armutszeugnis für einen zivilisierten Menschen, zugegeben, aber manchmal schlägt einfach das Böse durch. Ich sehe dann Schreiduelle mit Rollstuhlfahrern vor mir oder Krückenattacken, sehe mich am Ende süffisant davongehen und keiner zeigt mich an. (Paulus Hochgatterer: Eine kurze Geschichte vom Fliegenfischen, S. 27)


Hochgatterer, Paulus: Eine kurze Geschichte vom... [2]

  "Sei froh, daß du aus dem Spital weg bist", sage ich zum Iren. "Bin ich auch", antwortet er, "das normale Leben ist krank genug." Der Ire behandelt einerseits Menschen, die darauf bestehen, viermal pro Woche zu ihm zu kommen oder, wenn sie schon nicht kommen, zumindest viermal pro Woche zu bezahlen. Andererseits supervidiert er hoffnungsvolle Ausbildungskandidaten und hetzt sie gegen die Mafia der Lehranalytiker auf. Manchmal trinkt er einfach Tee mit ihnen, und manchmal gehen sie gemeinsam ins Kino und er zahlt die Karten. In der Psychoanalytischen Vereinigung wissen das alle, aber kein traut sich was gegen ihn zu tun. "Das macht meine Größe", sagt er, "zwei Meter und hundert Kilo - da scheißen sich auch die Reservefreuds an." (Paulus Hochgatterer: Eine kurze Geschichte vom Fliegenfischen, S. 42)


Hoffmann, E.T.A.: Nachricht von den...

  Kann der Künstler tiefer gekränkt werden, als wenn der Pöbel ihn für seinesgleichen hält? - Und doch geschieht dies alle Tage. Wie oft hat es mich angeekelt, wenn so ein stumpfsinniger Bursche von der Kunst schwatzte, den Goethe zitierte und sich bemühte, einen Geist der Poesie hervorleuchten zu lassen, von dem ein einziger Blitz ihn, den saft- und kraftlosen Schwächling, zermalmt haben würde. Vorzüglich - nimm es nicht übel, Freund! wenn du etwa eine Frau oder eine Geliebte der Art haben solltest -, vorzüglich sind mir eure vielseitig gebildeten poetischen, künstlerischen Weiber in den Tod zuwider, und so gern ich mich von einer feinen Mädchenhand streicheln lasse und meinen Kopf auf eine zieliche Schürze lege, so ist es mir doch oft, wenn ich so eine Frau ohne alles tiefe Gefühl, ohne allen höheren Sinn ins Blaue schwatzen hörte, gewesen, als müsse ich ihr in irgendeinen empfindlichen Teil ihres Leibes mit meinen scharfen Zähnen einen tüchtigen Denkzettel beißen. (E.T.A. Hoffmann: Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza)


Hoffmann, E.T.A.: Nachricht von den... [2]

  In gewissem Sinn ist jeder nur irgend exzentrische Kopf wahnsinnig und scheint es desto mehr zu sein, je eifriger er sich bemüht, daß äußere matte, tote Leben durch seine inneren glühenden Erscheinungen zu entzünden. Jeden, der einer großen heiligen Idee, die nur der höheren göttlichen Natur eigen, Glück, Wohlstand, ja selbst das Leben opfert, schilt gewiß der, dessen höchste Bemühungen im Leben sich endlich dahin konzentrieren, besser zu essen und zu trinken und keine Schulden zu haben, wahnsinnig, und er erhebt ihn vielleicht, indem er ihn zu schelten glaubt, da er als ein höchst verständiger Mensch jeder Gemeinschaft mit ihm entsagt. (E.T.A. Hoffmann: Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza)


Hoffmann, E.T.A.: Nachricht von den... [3]

  Hast du nicht bemerkt, wie die Maler meistens so störrisch und eigensinnig sind, wie sie bei übler Laune kein Lebensgenuß freut, wie die Dichter nur im Genuß ihrer Werke sich wohlbefinden? Aber die Musiker schweben geflügelten Fußes über alles hinweg; leckere Esser und noch bessere Trinker, befinden sie sich bei der guten Schüssel und bei der Prima-Sorte von allen Sorten Wein im Himmel, alles um sich vergessend, sich versöhnend mit der Welt, die sie zuweilen schadenfroh stachelt, und gutmütig dem Esel verzeihend, daß sein Ya keine reine Septime macht, weil er doch nun einmal als Esel nicht anders singen kann - kurz, die Musiker spüren den Teufel nicht, und säße er ihnen auf der Ferse. (E.T.A. Hoffmann: Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza)


Hoffmann, E.T.A.: Nachricht von den... [4]

  Ich: Aber warum lachen gemeine Menschen über alles, was ihnen ungewöhnlich ist? Berganza: Weil das Gewöhnliche ihnen so bequem geworden ist, daß sie glauben, der, welcher es anders treibt und hantiert, sei ein Narr, der sich deshalb mit der ihnen fremden Weise so abquäle und abmartere, weil er ihre alte bequeme Weise nicht wisse; da freuen sie sich denn, daß der Fremde so dumm ist und sie so klug sind, und lachen recht herzlich, welches ich ihnen denn auch von Herzen gönne. (E.T.A. Hoffmann: Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza)


Hoffmann, E.T.A.: Nachricht von den... [5]

  Alle verschrobenen, überbildeten oder geistig erstarrten Weiber gehören, wenigstens nach dem fünfundzwanzigsten Jahr, unerbittlich ins ospitale degli incurablili, es ist mit ihnen nichts mehr zu machen. Die Blütezeit der Frauenzimmer ist zugleich ihr eigentliches Leben, in dem sie sich mit nie erschlaffender Kraft doppelt aufgeregt fühlen, alle seine Erscheinungen begierig im Gemüte aufzufassen. - Wie mit glühendem Purpur umsäumt die Jugend alle Gestalten, daß sie wie verklärt dem freudetrunknen Auge erglänzen, und ein ewig bunter Frühling schmückt selbst die Dornenhecken mit süß duftenden Blumen. (E.T.A. Hoffmann: Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza)


Hoffmann, E.T.A.: Nachricht von den... [6]

  Eine verständige Frau, die, in früher Jugend gut erzogen, frei von Irrtümern, aus der Blütezeit eine wohltuende Ausbildung des Geistes hinübergebracht hat, wird dir allemal eine angenehme Unterhaltung gewähren, sobald du dir's gefallen lassen willst, in der Mitte zu schweben und jeden höheren Forderungen zu entsagen; ist sie geistreich, so wird sie nicht arm an witzigen Einfällen und Wendungen sein, statt aber das Rein- Komische rein gemütlich zu betrachten, sind diese dann mehr in falschen Farben glänzende Ausbrüche eines inneren Unmutes, die dich nur eine kleine Zeit hindurch täuschen und belustigen können; ist sie schön, so wird sie nicht unterlassen, auch kokett zu sein, und dein Interesse an ihr wird in einen eben nicht löblichen Faunismus (um nicht ein anderes verächtliches Wort zu brauchen) ausarten, den ein in der Blütezeit stehendes Mädchen bei keinem Manne erregt, der nicht im höchsten Grade verderbt ist.


Hoffmann, E.T.A.: Meister Floh

  Zu nichts weniger schien aber Herr Peregrinus Tyß aufgelegt als zum Heiraten. Denn außerdem, daß er überhaupt im allgemeinen menschenscheu war, so bewies er insbesondere eine seltsame Idiosynkrasie gegen das weibliche Geschlecht. Die Nähe eines Frauenzimmers trieb ihm Schweißtropfen auf die Stirne, und wurde er vollends von einem jungen genugsam hübschen Mädchen angeredet, so geriet er in eine Angst, die ihm die Zunge band und ein krampfhaftes Zittern durch alle Glieder verursachte. Ebendaher mocht' es auch kommen, daß seine alte Aufwärterin von solch seltner Häßlichkeit war, daß sie in dem Revier, wo Herr Peregrinus Tyß wohnte, vielen für eine naturhistorische Merkwürdigkeit galt. Sehr gut stand das schwarze struppige, halb ergraute Haar zu den roten triefenden Augen, sehr gut die dicke Kupfernase zu den bleich-blauen Lippen, um das Bild einer Blocksberg-Aspirantin zu vollenden, so daß sie ein paar Jahrhunderte früher schwerlich dem Scheiterhaufen entgangen sein würde, statt daß sie jetzt von Herrn Peregrinus Tyß und wohl auch noch von andern für eine sehr gutmütige Person gehalten wurde. (E.T.A. Hoffmann: Meister Floh)


Hofmann, Gert: Die kleine Stechardin

  Mir fällt immer was ein, sagte Lichtenberg, das ist nicht die Frage! Die Frage ist, wie's am Himmel weitergeht! Dann hörte er es wieder donnern, und lief aus dem Saal. Weil er so viel Phantasie besaß, fürchtete er sich vor vielen Dingen: Wasser, das vergiftet war, Eis, auf dem man einbrach, Treppen, die man hinunterfiel. Blitz und Donner fürchtete er auch. Über die Hälfte seines Lebens hatte er nun hinter sich, er wußte es bloß nicht. Wie die meisten dachte er, alles ginge so weiter. Wenn ihn beim Gang durch die Stadt ein Leichenwagen überholte, schüttelte er den Kopf und rief: Nein, noch nicht! Dann winkte er ihn weiter. Andererseits, sagte er, bitte auch nicht ewig! Das wäre mir zu lang! (Gert Hofmann: Die kleine Stechardin, S. 112)


Hooper, Chloe: Märchen eines wahren Mordes [1]

  Die kindlichen Vorstellungen von der politischen Welt sind in der Regel ziemlich abstrakt. Bei einer amerikanischen Studie hatten mindestens siebzig Prozent der Kindergartenkinder die Verkäufer in Süßigkeitenläden für staatliche Angestellte gehalten; außerdem waren sie überzeugt, in der Hierarchie der Macht stehe der Polizist gleich unter dem Präsidenten. (Chloe Hooper: Märchen eines wahren Mordes, S. 102)


Hooper, Chloe: Märchen eines wahren Mordes [2]

  Ich hielt den Atem an. Vor uns ragte ein weißes Herrenhaus mit weitläufiger Veranda auf. Erbaut in den siebziger jahren des neunzehnten Jahrhunderts für reiche Tasmanier und hundert Jahre später in ein Hotel garni für gehobene Ansprüche umgewandelt. Die gesamte Anlage barst vor Stolz: eine überladene Zuckerbäcker-Architektur, liebevoll glasiert, von Bäumen mit Zweigen wie Naschwerk eingefaßt. Wenn man sich einfallen ließe, ein Stück Gesims abzubrechen, um daran knabbern, hätte man Vorwürfe zu erwarten. (...) Ich brauchte einen Moment, um mich an die viktorianische Umgebung zu gewöhnen. Ich hatte mir ein Motelzimmer vorgestellt: Spiegel mit grausamen, porenerweiterndem Neonlicht, neben dem Telefon ein Notizblock mit dem Gekritzel der Vorgänger. Stattdessen ein Himmelbett und in einer Ecke ein Spinnrad. Wer immer den Raum eingerichtet hatte, unterhielt ein inniges Verhältnis zu Tapeten. (Chloe Hooper: Märchen eines wahren Mordes, S. 18f.)


Hooper, Chloe: Märchen eines wahren Mordes [3]

  Im holzgetäfelten Speisesaal, wo ihre Klassenkameradinnen französische Konversation zu machen versuchten, starrte Margot auf ihr Besteck. Sie hatte sich immer vorgestellt, Messer und Gabel seien verheiratet, und der Löffel sei ihre Tochter. Jetzt erkannte sie, daß Messer und Löffel keine Familie waren, sondern auf der Leinenserviette ein Verhältnis miteinander hatten. Das war der Grund, weshalb die Gabel auf der anderen Seite des Platzdeckchens immer allein war und vor Wut schäumte. (Chloe Hooper: Märchen eines wahren Mordes, S. 85)


Hooper, Chloe: Märchen eines wahren Mordes [4]

  Margot Harvey kam kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in einer angesehenen tasmanischen Familie mit ausgeprägten christlichen Wertvorstellungen zur Welt. Ich bin sicher, daß sie ermutigt wurde, ein nettes Mädchen zu werden, nicht zu klug und nicht zu eigenwillig. In ihrer Jugend ging sie zweifellos nur mit Hut und Handschuhen aus, wohin auch immer sie unterwegs war; und vermutlich wird sie, wie meine Mutter, erst mit mindestens zwanzig zum ersten Mal das Wort Scheiße gehört haben. (Chloe Hooper: Märchen eines wahren Mordes, S. 83)


Hooper, Chloe: Märchen eines wahren Mordes [5]

  "Leg dich neben mich", sagte das kleine Mädchen. Er legte sich auf den Teppich neben ihr Bett; ein Lichtkeil fiel auf seine Füße. Er hatte überall im Haus die Lichter brennen lassen. Hatte auch die Türen offen gelassen, damit man die Lichter sah. Jede Nacht dachte er daran, welche Lichter mit welchen Türen im Wechselbeziehung standen: die prekäre Mathematik der Angstbeherrschung. (Chloe Hooper: Märchen eines wahren Mordes, S. 180)


Hooper, Chloe: Märchen eines wahren Mordes [6]

  Die Konzentrationsspanne der Kinder war nicht unerschöpflich, und es dauerte nicht lang, bis ihre spreizbeinigen Posen mit den Händen auf den Hüften ein wenig aufweichten. Ein Feldspieler stemmte einen Arm in die Taille, Hüften schwangen im Kreis. Ein anderer drapierte beiläufig ein Handgelenk über den Kopf: ein kleiner sterbender Sklave. In der Sonne leucheten die weißen Hemden und Hosen wie bleicher Marmor. Ein Schmetterling flatterte über die Spielbahn, ein heller Fleck auf der Netzhaut. Wenn ich die Jungen ansah, mußte ich mir die Augen abschirmen. Sie waren Statuen auf gepflegtem Rasen, jeder in einer Haltung, die ein Edelmann zur Erbauung anderer Pädophiler entworfen hatte. Dies war sein Garten, seine Augenweide, und jede Figur stand in stummem Dialog mit den anderen. Wenn Kinder aus der Erbsünde geboren werden, so half Luciens Statue den übrigen, an Verruchtheit nichts zu verlieren. Die Erwachsenen ahnten nicht, daß dieses Kind, trotz seiner mangelnden Beliebtheit, die Gespräche der Kinder über die Vorzügen der Hölle anführte. (Chloe Hooper: Märchen eines wahren Mordes, S. 186)


Hoppe, Felicitas: Pigafetta

  An den Tischen gerieten die Manieren ins Wanken. Die ganze Anstrengung richtete sich jetzt auf die Beherrschung von Messern und Gabeln über dem Abgrund, und hätten der Klempner und ich nicht gelegentlich unsere Arme nach dem Stuhl des Geopgraphen ausgestreckt, er wäre zwischen uns samt Teller und Suppe ins Nichts gerutscht. Dabei sind die Regeln einfach und rasch zu erlernen: Bei schlechtem Wetter Verzicht auf die Suppe. Den Kaffee, den Tee, das Wasser nur auf halbe Höhe einschenken und immer die Zeit zwischen zwei Wellen nutzen, um voranzukommen. Im Zweifelsfall essen statt sprechen und immer eine Hand an der Kante des Tisches. Man muß sich vertäuen, verankern, einrasten wie die Türen und Schubladen an Bord. (Felicitas Hoppe: Pigafetta, S. 15/16)


Hornby, Nick: A long way down

  Die Leute kommen gerne zu dem vorschnellen Urteil, dass einer, der am Silvesterabend mit einem beschissenen kleinen Moped für einen Hungerlohn im Londoner Norden Pizzas ausliefert, ein echter Loser sein muss, der aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gerade die Pizza Calzone erfunden hat. Okay, wir sind Loser per definitionem, Pizzabote ist nun mal ein Job für Loser. Aber wir sind nicht alle verblödete Arschlöcher. Genau genommen war ich sogar trotz Faulkner und Dickens wahrscheinlich der Dümmste von allen Jungs in dem Laden, zumindest der mit dem niedrigsten Bildungsniveau. Bei uns gab es afrikanische Ärzte, albanische Rechtsanwälte, iranische Chemiker ... ich war der Einzige ohne akademischen Grad. (Ich begreife nicht, wieso es in unserer Gesellschaft nicht mehr Gewalttaten durch Pizzaboten gibt. Stellt euch bloß vor, ihr wärt eine große Nummer in Zimbabwe, Hirnchirurg oder was auch immer, und dann müsstet ihr nach England abhauen, weil das faschistische Regime euren Arsch an die Wand nageln will, und am Schluss müsst ihr euch von einem zugekifften Teenager, der um drei Uhr morgens Fressanfälle kriegt, großkotzig behandeln lassen ... Sollte man da nicht offiziell berechtigt sein, ihm den Unterkiefer zu brechen?) (Nick Hornby: A long way down)


Houellebecq, Michel: Bewußtsein

  Die Wahrnehmung des Egos ist immer schmerzhaft. Wenn man sich seines Egos bewusst wird, wird man sich auch seiner Endlichkeit bewusst. Also könnte man folgern, dass unsterbliche Menschen ein viel kleineres Bewusstsein ihres Egos hätten. Wenn man weiß, dass man sterben muss, hat man ein viel stärkeres Bedürfnis, sich als Wesen zu behaupten. Dann stürzt man sich hilflos in alles, was Auflösung im Nichts verspricht.


Houellebecq, Michel: Plattform

  Wer nur hatte die Legende verbreitet, Frankreich sei das Land der losen Sitten und des ausschweifenden Lebenswandels? Frankreich war ein beknacktes Land, ein völlig beknacktes, vom Amtsschimmel beherrschtes Land. "Ich habe mir auch den Rücken massieren lassen, aber das Mädchen hat auch meine Eeier dabei nicht vergessen...", warf ich ohne große Überzeugung ein. Da ich gerade auf Cachounüssen kaute, hörte niemand meine Bemerkung, bis auf Sylvie, die mir einen entsetzten Blick zuwarf. Ich trank einen Schluck Bier und hielt ihrem Blick ungeniert stand: War diese Frau überhaupt fähig, sich ordentlich um einen Pimmel zu kümmern? Der Beweis dafür stand noch aus. In der Zwischenzeit konnte ich auf meinen Kaffee warten. (Michel Houellebecq: Plattform, S. 65)


Houellebecq, Michel: Plattform [2]

  Ich sah meinen Vater wieder vor mir, ans Bett gefesselt, niedergestreckt von einer plötzlichen Depression - etwas Furchtbares für einen so aktiven Mann; seine Bergsteigerfreunde standen verlegen um ihn herum, waren hilflos angesichts dieses Übels. Wenn er soviel Sport trieb, hatte er mir eines Tages erklärt, dann deshalb, um sich abzustumpfen, um sich am Denken zu hindern. Das war ihm gelungen: Ich war überzeugt, daß er es geschafft hatte, durchs Leben zu gehen, ohne das menschliche Dasein je wirklich zu hinterfragen. (Michel Houellebecq: Plattform, S. 65)


Houellebecq, Michel: Plattform [3]

  Ich war völlig dem Zeitalter der Information, einer Luftblase also, angepaßt. Valerie und Jean-Yves konnten - ähnlich wie ich - lediglich mit Informationen und Kapital umgehen; sie benutzten sie auf kluge und wettbewerbsfähige Weise, während ich es auf routinierte, bürokratische Weise tat. Aber keiner von uns dreien und auch niemand, den ich kannte, wäre zum Beispiel im Fall einer Blockade durch eine ausländische Macht imstande, für die Wiederbelebung der industriellen Produktion zu sorgen. Wir hatte keine Ahnung von Metallgießerei, der maschinellen Fertigung von Einzelteilen, vom Thermoformen von Kunststoff. Ganz zu schweigen von neueren Gegenständen wie Glasfasern oder Milroprozessoren. Wir lebten in einer Welt aus Gegenständen, deren Herstellung, Möglichkeitsbedingungen und Seinsweise uns völlig fremd waren. Erschrocken über diese Erkenntnis blickte ich mich um: Ich sah ein Handtuch, eine Sonnenbrille, Sonnencreme und ein Taschenbuch von Milan Kundera. Papier, Baumwolle, Glas: Alles Dinge, die hochentwickelte Maschinen, komplexe Herstellungssystem erforderten. (Michel Houellebecq: Plattform, S. 214)


Houellebecq, Michel: Plattform [4]

  Wenn Jean-Yves' Vater seine ganz persönliche Überzeugung, den tieferen Sinn, den er im Leben sah, hätte darlegen sollen, hätte er vermutlich nur eine leichte Enttäuschung geäußert. Tatsächlich beschränkte sich sein Lieblingssatz, der Satz, den er, soweit Jean-Yves sich erinnern konnte, am häufigsten ausgesprochen hatte und der am besten seine Erfahrung des menschlichen Lebens zusammenfaßte, auf die Worte: "Man wird älter." Der Mutter ging sein Tod in geziemender Weise zu Herzen - immerhin verband sie ein langes, gemeinsames Leben -, ohne daß sie wirkliche Erschütterung zeigte. "In der letzten Zeit haben seine Kräfte immer mehr nachgelassen...", sagte sie. Die Todesursache war so ungewiß, daß man ebensogut von allgemeiner Erschöpfung oder gar Entmutigung hätte sprechen können. "Er hatte zu nichts mehr Lust...", sagte Jean-Yves' Mutter auch noch. Das war in etwa ihre Leichenrede. (Michel Houellebecq: Plattform, S. 272f.)


Houellebecq, Michel: Plattform [5]

  Es gab viele Wege, um zu Geld zu kommen, ehrliche und unehrliche, geistige oder im Gegenteil brutale, körperliche Methoden. Man konnte aufgrund von Intelligenz, von Talent, von Kraft oder von Mut und sogar von Schönheit zu Geld kommen; man konnte auch durch einen banalen Glücksfall dazu kommen. Meistens kam man wie in meinem Fall durch eine Erbschaft zu Geld; dann wurde das Problem auf die vorherige Generation verschoben. Ganz unterschiedliche Leute waren auf dieser Erde zu Geld gekommen: ehemalige Hochleistungssportler, Gangster, Künstler, Mannequins, Schauspieler, eine große Anzahl von Unternehmern und gewieften Finanzleuten; auch ein paar Techniker und seltener ein paar Erfinder. Manchmal kam man auch durch rein mechanische Anhäufung zu Geld; oder im Gegenteil durch einen von Erfolg gekrönten mutigen Coup. All das ergab kaum Sinn, spiegelte aber eine große Vielseitigkeit wider. Im Gegensatz dazu waren die Kriterien der sexuellen Wahl übertrieben einfach: Sie beschränkten sich auf Jugend und körperliche Schönheit. Diese Eigenschaften hatten gewiß einen Preis, aber keinen unendlichen Preis. Die Situation war natürlich in den vorangegangenen Jahrhunderten, zu Zeiten, als die Sexualität im wesentlichen noch mit der Fortpflanzung verbunden war, anders gewesen. Um den genetischen Wert der Gattung zu erhalten, mußte die Menschheit damals unbedingt Kriterien wie Gesundheit, Stärke, Jugend und Körperkraft berücksichtigen - wovon die Schönheit nur eine praktische Synthese war. Heute ist die Lage anders: Die Schönheit behielt ihren ganzen Wert, aber es handelte sich um einen narzißtischen Wert, aus dem man Kapital schlagen konnte. (Michel Houellebecq: Plattform, S. 281)


Houellebecq, Michel: Plattform [6]

  Meine europäischen Vorfahren hatten mehrere Jahrhunderte lang schwer gearbeitet; sie hatten es sich zur Aufgabe gemacht, die Welt zu beherrschen und sie dann umzugestalten, und in gewisser Weise ist es ihnen gelungen. Sie machten es aus wirtschaftlichen Interesse und Freude an der Arbeit, aber auch weil sie an die Überlegenheit ihrer Zivilisation glaubten: Sie erfanden den Traum, den Fortschritt, die Utopie und die Zukunft. Dieses Bewußtsein einer zivilisatorischen Mission verlor sich jedoch im Laufe des 20. Jahrhunderts allmählich. Die Europäer, zumindest einige unter ihnen, arbeiteten weiterhin, manchmal sogar sehr hart, aber sie taten es aus Interesse oder aus neurotischer Liebe zu ihrer Aufgabe; das unschuldige Bewußtsein ihres natürlichen Rechts, die Welt zu beherrschen und deren Geschicke zu lenken, war verschwunden. (Michel Houellebecq: Plattform, S. 282)


Houellebecq, Michel: Plattform [7]

  Ich hatte in meinem Leben Leid, Beklemmung und Angst erlebt, nur Langeweile, die kannte ich nicht. Ich hatte nichts gegen die stumpfsinnige Wiederholung des ewig Gleichen einzuwenden. Selbstverständlich machte ich mir nicht die Illusion, daß es soweit kommen konnte. Ich wußte, daß das Unglück zäh, erfinderisch und hartnäckig ist; auf jeden Fall war das eine Aussicht, die mir nicht die geringste Sorge einflößte. Als Kind konnte ich Stunden damit verbringen, den Klee auf einer Wiese zu zählen: in mehrjähriger Suche habe ich nie ein vierblättriges Kleeblatt gefunden, und dennoch war ich darüber weder enttäuscht noch verbittert; ehrlich gesagt, hätte ich genausogut Grashalme zählen können, denn all dieser dreiblättrige Klee kam mir wahnsinnig identisch, wahnsinnig schön vor. (Michel Houellebecq: Plattform, S. 303)


Houellebecq, Michel: Plattform [8]

  Sobald ich meinen Koffer auf den staubigen Boden des Busbahnhofs gestellt hatte, wußte ich, daß ich am Ende meines Weges angekommen war. Ein alter, bis zum Gerippe abgemagerter Junkie mit langem, grauen Haar, der eine große Eidechse auf der Schulter sitzen hatte, bettelte vor den Drehtüren. Ich gab ihm hundert Baht, ehe ich gegenüber in den Heidelberger Hof ging, um ein Bier zu trinken. Dickbäuchige, schnurrbärtige deutsche Päderasten stolzierten in Hawaihemden durch das Lokal. Nicht weit von ihnen wanden sich drei junge russische Mädchen im Höchststadium der Beknacktheit zur Musik ihres ghettoblaster. (Michel Houellebecq: Plattform, S. 332)


Houellebecq, Michel: Karte und Gebiet [1]

  Eine Angestellte in relativ hohem Alter, die zwischen den Tischen den Boden aufwischte, näherte sich ihnen und warf ihnen unwirsche Blicke zu. Sie schien nicht nur erschöpft und entmutigt, sondern voller Erbitterung über die ganze Welt zu sein, sie wrang den Putzlappen über ihrem Eimer in einer Weise aus, als ließe sich für sie die Welt darin zusammenfassen: eine zweifelhafte, von Schmutzschichten aller Art bedeckte Oberfläche. (Michel Houellebecq: Karte und Gebiet, S. 347)


Houellebecq, Michel: Karte und Gebiet [2]

  ... gingen sie auf ein Getränk in das Bistro 'Chez Claude' in der Rue du Chateau-des-Rentiers, das später zu ihrer Stammkneipe werden und Jed den Stoff für sein zweites Bild der 'Serie einfacher Berufe' liefern sollte. Der Wirt blieb stur dabei, den letzten Rentnern aus "einfachen Kreisen" im 13. Arrondissement billigen Rotwein und Sandwiches mit Leberpastete und Gewürzgurken zu servieren. In jedem Jahr starb einer von ihnen fast methodisch, ohne daß er durch einen neuen Gast ersetzt wurde. Ein Stück weiter saß eine dicke Frau mit vom Alkohol geröteten Wangen und leerte ihr Glas Pastis in einem Zug. "Die Leute haben sich angewöhnt, sich nur eine halbe Stunde für das Mittagessen zu gönnen und immer weniger Alkohol zu trinken; der Todesstoß war dann das Rauchverbot." (Michel Houellebecq: Karte und Gebiet, S. 106)


Hürliman, Thomas: Das Gartenhaus

  Der Gärtnerberuf, so sprach der alte Mann vor sich hin, sei ein Bückberuf. Aber der Gärtner, anders als die schäbigen Servierkellner, beuge sich niemals vor den Menschen, nein, er verneige sich vor den Restbeständen des Paradieses. Denn jede Gartenanlage sei das Bemühen um die Wiederherstellung des ersten Gartens, Eden genannt, und dorthin, nicht etwa in eine leere Ewigkeit, kehre der Mensch zurück. (Thomas Hürliman: Das Gartenhaus, S. 90)


Huxley, Aldous: Genie und Göttin

  Das Telefon, das ihn soeben zu einer Verlängerung seiner Einsamkeit verurteilt hatte, stand dicht neben dem Symbol und Schauplatz seiner ehelichen Seligkeit. "Nein, das ist das unrichtige Wort" schaltete Rivers ein. "'Ehelich' impliziert eine gegenseitige Beziehung zwischen zwei vollerwachsenen Personen. Aber für Henry war Katy keine Person; sie war seine Nahrung, sie war ein lebenswichtiges Oragn seines eigenen Körpers. Wenn sie abwesend war, glich er einer ihres Heus beraubten Kuh, einem Gelbsüchtigen, der sich müht, ohne Leber zu existieren. Es war eine Qual für ihn. 'Vielleicht sollten Sie sich lieber für eine Weile hinlegen', sagte ich in dem süßlich überredenden Ton, den man unwillkürlich annimmt, wenn man zu einem Kranken spricht. Ich wies mit der Hand auf das Bett. Seine Antwort war das, was geschieht, wenn man niest, während man einen mit Neuschnee bedeckten Berghang quert - eine Lawine. Und was für eine Lawine! Nicht von der weißen, jungfräulichen Art, sondern ein heißer, brodelnder Dungrutsch. Es stank; es erstickte, es überwältigte einen. (Aldous Huxley: Genie und Göttin)


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