Allgemeine Fundstücke  / [I-J]


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Immermann, Karl: Münchhausen

  "Geheimer Hühneraugenessenzbereiter", sagte der Schriftsteller. "Wenn Sie die Verhältnisse des Hofes, in dessen geheimen Diensten ich zu stehen die Ehre habe, kennen, so werden Sie wissen, daß der alte Herzog in dem Spleen seiner vorgerückten Jahre nur noch ein Interesse an seinen Hühneraugen nimmt, die ihn in der Tat auch arg plagen. Ohne diese Pein aber würde dennoch die ganze Existenz des alten Herrn zusammenbrechen, denn der Verdruß gehört ihm zum Leben notwendig hinzu; er ist einer von den Charakteren, die aus Liebhaberei verdrießlich sind. Diese maussade Laune erleichtert übrigens die Staatsverwaltung außerordentlich. Die Regierungsgeschäfte werden in Dünkelblasenheim auf eine höchst einfache Art getrieben; nämlich wenn den alten Herrn die Hühneraugen zu heftig schmerzen, so schlägt er etwas ab, und wenn es leidlich damit steht, so genehmigt er, auf solche Weise motivieren sich die unerwartetsten Entschließungen ganz natürlich. Das Schneiden der Hühneraugen war daher auch von jeher eines der wichtigsten Geschäfte am Hofe; der Obersanitätsrat war damit begnadiget, nun ist der Mann auch alt geworden, hat blöde Augen bekommen und in den letzten Jahren den Herzog mehrmals in das Fleisch geschnitten, woraus denn strenge Regierungsmaßregeln entsprangen. Der alte Herr verlangte daher schon seit einiger Zeit nach einer Abhülfe dieses Übelstandes." (Karl Immermann: "Münchhausen. Eine Geschichte in Arabesken", S. 602f.)


Irving, John: Eine Mittelgewichts-Ehe [1]

  Severin Winter war zu eitel, um eifersüchtig zu sein. Er kam mir wie ein typischer Macho vor; aggressiv und egozentrisch, ging er nach seinen Maßstäben mit einem um. Aber weder Utsch noch Edith waren da ganz einer Meinung. Utsch behauptete, er sei der einzige Mann, den sie je kennengelernt habe, der Frauen tatsächlich so behandelte, als seien sie den Männern gleichberechtigt; ich gebe zu, daß er zu beiden Geschlechtern gleichermaßen aggressiv und egozentrisch war. Edith sagte, daß Severins Form der Gleichberechtigung sehr kränkend für eine Frau sein könne. Er schien keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen zu machen - behandelte beide mit einer Form von Männlichkeit, die Frauen das Gefühl vermittelte, sie seien einfach einer von den Jungs. Um der Gleichberechtigung willen liegt nur wenigen Frauen wirklich daran, daß Männern so weit gehen. Sogar was seine Körperlichkeit anging - seine Hände, die einen überall anfaßten, wenn er sprach -, fühlten sich Frauen von seiner Berührung sogleich entspannt, aber auch ein wenig verstimmt. Seine Berührung ließ sich nicht als billiges Betatschen mißverstehen; seine Berührungen waren so bar jeder Sexualität, daß Frauen das Gefühl, er nähme sie überhaußt nicht als Frauen wahr. (John Irving: Eine Mittelgewichts-Ehe, S. 92)


Irving, John: Eine Mittelgewichts-Ehe [2]

  "Meinst du denn nicht, daß ich auch nett zu Frauen bin?" fragte ich Utsch. "O ja, ich denke schon. Du bringst eine Frau dazu, darin zu schwelgen, eine Frau zu sein", sagte sie; dann runzelte sie die Stirn. "Eine bestimmte Art von Frau zu sein", fügte sie hinzu. Dann sagte sie: "Vielleicht freunden sich Frauen leicht mit dir an, weil sie sehen, daß du zu Männern nicht so nett bist. Weil sie sehen, daß du keine Männer zu Freunden hast, vertrauen sie dir vielleicht. (John Irving: Eine Mittelgewichts-Ehe, S. 95)


Irving, John: Eine Mittelgewichts-Ehe [3]

  "Welches Kind in Amerika will einen Namen wie Helmut oder Florian?" "Ich liebe italienische Namen", sagte Edith. "Nachdem ich mein erstes Fiordiligi genannt habe, mußte ich das zweite einfach Dorabella nennen." "Es hätte Dante geheißen, wenn es ein Junge gewesen wäre", sagte Severin. "Aber ich bin froh, daß es Mädchen sind. Jungen sind solche Scheißegoisten." Er versuchte ständig, die Mädchen zum Lesen zu bewegen. "Ihr müßt gescheit sein", sagte er ihnen, "und ihr müßt lieb sein. Aber wenn ihr lieb seid und nicht gescheit, dann machen euch die andern unglücklich. (John Irving: Eine Mittelgewichts-Ehe, S. 141)


Irving, John: Eine Mittelgewichts-Ehe [4]

  Wir suchten und suchten. Schließlich entdeckte Edith Severin im Fernsehzimmer, alle vier Kinder schlafend um ihn gedrängt, an ihn gezwängt, auf ihn gefläzt. Er war in den frühen Dämmerstunden dort aufgetaucht, als irgendein Spätfilm-Ghul meinen jüngeren Sohn von einer anderen Wirklichkeit überzeugt und sein Geheul die anderen Kinder überzeugt hatte. Severin war von einer der warmen Frauen weggestolpert, hatte sich das nächstbeste Kleidungsstück geschnappt, sich zwischen sie plumpsen lassen und versprochen, bis zum Tagesanbruch nicht wegzugehen. Das Kleidungsstück war Ediths malvenfarbiger Morgenrock, so ein durchsichtiges, knöchellanges Ding. Edith rief uns alle, uns das anzusehen. Die Kinder wachten langsam auf; sie kuschelten und schmiegten sich an ihn, als sei er ein großes Kissen oder ein gutmütiger Hund - und Severin Winter lag in Ediths Morgenrock zwischen ihnen und sah wie ein transvestitischer Gewichtheber, der wie eine gutartige Bombe durch das Dach einer Grundschule gefallen ist. (John Irving: Eine Mittelgewichts-Ehe, S. 142f.)


Irving, John: Eine Mittelgewichts-Ehe [5]

  Zum Beispiel wie sie schlief. Sie rollte sich nicht eng zusammen und schützte sich nicht; sie fläzte sich hin. Wenn man sich an sie kuscheln wollte, hatte sie nichts dagegen, aber sie selbst kuschelte nicht. Edith schlief wie eine Katze - beherrscht, eine Festung, an einen geschmiegt. Utsch spreizte sich aus, als wolle sie sich in der Sonne trocknen lassen. Wenn sie auf dem Rücken lag, schien sie nicht zu bemerken, wo die Decke war, und sie lag auf dem Bauch wie eine im Augenblick des Beinstoßes erstarrte Brustschwimmerin. Auf der Seite las sie wie das Profil einer Hürdenläuferin. Oft schlug sie mitten in der Nacht mit dem Arm aus und schmetterte die Nachttischlampe vom Nachttisch oder fegte den Wecker durchs Zimmer. (John Irving: Eine Mittelgewichts-Ehe, S. 199f.)


Irving, John: Gottes Werk und Teufels Beitrag [1]

  Homer lernte sie alle an Thanksgiving kennen. Erntedank bei den Drapers war ein Familienereignis, das jeder anderen Familie garantiert Minderwertigkeitskomplexe bereitet hätte. Mom übertraf sich selbst an Mamihaftigkeit. Der Professor hielt über jedes nur denkbare Thema eine Vorlesung über die Qualitäten von weißem Fleisch gegenüber rotem, über die letzten Wahlen, über den Snobismus von Salatgabeln, die Überlegenheit des Romans im neunzehnten Jahrhundert (ganz zu schweigen von anderen Aspekten der Überlegenheit jenes Jahrhunderts), die richtige Konsistenz von Preiselbeermarmelade, die Bedeutung von "Buße", die Bekömmlichkeit körperlicher Ertüchtigung (einschließlich des Vergleichs zwischen Holzhacken und Schlittschuhlaufen), das Lasterhafte eines Mittagsschläfchens. (John Irving: Gottes Werk und Teufels Beitrag, S. 27)


Irving, John: Gottes Werk und Teufels Beitrag [2]

  Der dritte Hauslehrer, ein pensionierter Schulmeister aus Camden, war ein unglücklicher alter Mann, der im Haus seiner Tochter lebte, weil er nicht selbst für sich sorgen konnte. Er unterrichtete Geschichte, aber er besaß keine Bücher. Er unterrichtete Weltgeschichte aus der Erinnerung; die Jahreszahlen, sagt er, wären nicht so wichtig. Er war imstande, einen Wortschwall von einer vollen halben Stunde über Mesopotamien loszulassen, aber wenn er innehielt, um Luft zu holen oder einen Schluck Wasser zu trinken, fand er sich in Rom oder in Troja wieder; er rezitierte lange, ununterbrochene Abschnitte aus dem Thukydides, aber ein bloßer Schluckauf trug ihn nach Elba, zu Napoleon. "Ich finde", bemerkte Schwester Edna eines Tages zu Dr. Larch, "es gelingt ihm, ein Gefühl für die Bandbreite der Geschichte zu vermitteln." (John Irving: Gottes Werk und Teufels Beitrag, S. 42)


Irving, John: Gottes Werk und Teufels Beitrag [3]

  Er sah sofort, was an den Klingen der Mähmaschinen verbogen, im Gabelstapler verhakt, im Förderband verzogen, im Lieferwagen verlottert oder in der Ciderpresse aus der Reihe geraten war. Raymond Kendall schaffte binnen zwei Stunden, wofür ein anderer Mechaniker einen vollen Tag halbherziger Arbeit gebraucht hätte, und fast nie kam er zu Olive, um ihr zu sagen, daß sie dies oder jenes neu anschaffen müsse. Es war stets Olive, die als erste den Vorschlag machte, daß etwas erneuert werden sollte. "Muß denn die Kupplung am Deere-Traktor nicht dauernd nachgestellt werden, Ray?" pflegte sie ihn höflich zu fragen. "Würden Sie empfehlen, sie auszuwechseln?" Doch Raymond Kendall war ein Chirurg unter den Bastlern - wie ein Arzt nahm auch er den Tod nicht einfach hin -, für ihn war die Erneuerung eines Teiles ein Eingeständnis der Schwäche, des Scheiterns. Fast immer pflegte er zu sagen: "Aber Olive - ich habe es bisher geflickt, ich kann es wieder flicken. Ich kann es immer weiter flicken." (John Irving: Gottes Werk und Teufels Beitrag, S. 202)


Irving, John: Gottes Werk und Teufels Beitrag [4]

  Man mußte sie nur kennen, um zu wissen, daß sie keine Candy war; sie war lieblich, aber nicht auf falsche Art süß, sie war eine große, natürliche Schönheit, keine Schmeichlerin der Menge. Sie verkörperte eine ganz und gar praktische Verantwortlichkeit, war höflich, energisch und kam im Streit auf den Punkt, ohne je schrill zu werden. Sie beklagte sich nur über ihren Namen, trug ihn aber mit Humor (nie hätte sie die Gefühle ihres Vaters - oder die eines anderen Menschen - leichtfertig verletzt). Sie vereinigte in sich offenbar ihres Vaters frohe Bejahung der Arbeit mit der Bildung und Vervollkommnung, die er ihr ermöglicht hatte - sie ging Arbeit wie geistige Verfeinerung mit großer Leichtigkeit an. (John Irving: Gottes Werk und Teufels Beitrag, S. 27)


Irving, John: Gottes Werk und Teufels Beitrag [5]

  Der Gehilfe des Bahnhofvorstehers war ein junger Mann, der sich für seinen besonders unliebenswürdigen Diensteifer den Diensteifer des Bahnhofvorstehers zum Vorbild genommen hatte, so daß er bei aller Jugendlichkeit eine völlig inadäquate alt-knackerige, weinerliche und schäbige Art hatte - und obendrein noch die Bosheit eines Hundefängers, dem seine Arbeit Spaß macht. Er war ein einfältiger junger Mann, der mit dem Bahnhofvorsteher das tyrannische Auftreten gemein hatte: er brüllte die Kinder an, gefälligst ihre Füße von den Sitzbänken zu nehmen, lächelte aber jeden blödsinnig an, der besser gekleidet war als er, und duldete jede Grobheit von Leuten, die ihm nur irgend etwas voraushatten. (John Irving: Gottes Werk und Teufels Beitrag, S. 256)


Irving, John: Gottes Werk und Teufels Beitrag [6]

  Auch für die Arbeit zog sich Debra mit einer gewissen kecken Ordentlichkeit an. Sie war nicht übertrieben mollig, und während sie nach Cape Kenneth rollten, brach ihre natürliche gute Laune so herzlich hervor, daß sogar ihre Schüchternheit verschwand - sie war ein Mädchen, das Spaß verstand, wie man in Main sagt. Sie sah niedlich aus und war immer guter Dinge, sie arbeitete hart, war gutmütig und nicht sehr intelligent. Ihre Zukunftsaussichten beliefen sich bestenfalls auf eine Heirat mit einem netten, nicht sehr viel älteren und nicht deutlich intelligenteren Mann. (John Irving: Gottes Werk und Teufels Beitrag, S. 358)


Irving, John: Rettungsversuch für Piggy Sneed [1]

  George Ronkers war ein junger Urologe in einer Universitätsstadt, und das war damals alles in allem eine recht lukrative Angelegenheit: Unwissenheit paarte sich mit Liberalität und zeugte unter Studenten wie Dozenten eine geradezu wunderbare Vielfalt von Geschlechtskrankheiten. Da hatte so ein Urologe alle Hände voll zu tun. Seine zahlreichen Patienten im Gesundheitszentrum nannten ihn liebevoll "Raunchy Ronk". Seine Frau nannte ihn zärtlich "Raunch". Sie hieß Kit, hatte eine sehr humorvolle Art, mit Georges Arbeit umzugehen, und war außerdem sehr erfinderisch, wenn es darum ging, ein Gefühl von Geborgenheit zu schaffen. Sie stand kurz vor dem Abschluß in Architektur, hatte eine Assistenzstelle und leitete ein Seminar für Studienanfänger zum Thema "Innenräume". Hier war sie in ihrem Element. Für die ganze Inneneinrichtung bei den Ronkers zeichnete sie verantwortlich. Sie hatte Wände herausgerissen, Badewannen versenkt, Durchgänge mit Bögen versehen, Zimmer rund und Fenster oval gemacht - kurz gesagt, sie ging mit Räumen um, als wären sie nichts weiter als eine Illusion. "Der Trick dabei", sagte sie immer wieder, "besteht darin, daß man nicht sieht, wo ein Zimmer endet und das nächste anfängt; das Konzept des Zimmers zerstört das Konzept des Raums; im Raum gibt es keine Grenzen..." Und so weiter. Es war ihr Element. George Ronkers spazierte durch sein Haus, als wäre es ein Park in einer fremden, aber faszinierenden Stadt. Raumtheorien interessierten ihn nicht die Bohne. "Heute hatte ich ein Mädchen mit fünfundsiebzig Warzen", sagte er. "Klarer Fall für einen Chirurgen. Weiß auch nicht, warum sie ausgerechnet zu mir gekommen ist, die wäre besser zuerst zu einem Gynäkologen gegangen." (John Irving: Rettungsversuch für Piggy Sneed. Sechs Erzählungen und ein Essay, S. 27f.)


Irving, John: Rettungsversuch für Piggy Sneed [2]

  Dickens hat große Komödien - anspruchsvolle und weniger anspruchsvolle - und gleichzeitig große Melodramen geschrieben. Gegen Ende des ersten Teils von Pips Erwartungen sagt er: "Wir sollten uns unserer Tränen weiß Gott niemals schämen, denn sie spülen wie Regen den Erdenstaub weg, der unsere verschlossenem Herzen bedeckt." Doch wir schämen uns trotzdem unserer Tränen. Wir leben in einer Zeit, da der kritische Geschmack uns glauben machen will, daß Weichherzigkeit auf Dummheit herausläuft; wir lassen uns von dem Mist im Fernsehen so beeinflussen, daß wir sogar in unserer Abwehr dagegen überreagieren: nämlich indem wir schließen, daß jeder Versuch, ein Publikum zum Lachen oder Weinen zu bringen, schamlos ist - entweder seichtes Affentheater oder Seifenoper. Edgar Johnson hat recht, wenn er bemerkt: "Zwar läßt sich über die Zwänge, die sich die Menschen des viktorianischen Zeitalters auferlegten, manches sagen, doch in emotionaler Hinsicht sind wir es, die gehemmmt sind, nicht sie. Viele heutige Leser, insbesondere die sogenannten Intellektuellen, reagieren auf ungehemmte Gefühlsäußerungen sehr mißtrauisch. Vor allem edelmütige, heroische oder zärtliche Gefühle lassen sie skeptisch und wie angeekelt zurückzucken. Jedes tiefempfundene Gefühl erscheint ihnen überzogen, heuchlerisch oder peinlich." Johnson bietet auch eine Erklärung dafür an: "Es gibt natürlich Gründe für unsere eigenartige Angst, Gefühle seien nichts weiter als Gefühlsduseleien. Mit zunehmender Beliebtheit der Unterhaltungsliteratur wuchs auch die Zahl der billigen Imitatoren großer Schriftsteller, die nur einen billigen Aufguß ihrer Vorbilder lieferten und deren Kunst der Darstellung emotionaler Vorgänge völlig verwässerten. Dickens - gerade weil er so gut war - wurde das ideale Opfer solcher Nachahmer." (John Irving: Rettungsversuch für Piggy Sneed. Sechs Erzählungen und ein Essay, S. 178)


Irving, John: Rettungsversuch für Piggy Sneed [3]

  Er behandelte nacheinander ein vierjähriges Mädchen mit einer Blasenentzündung (kleine Mädchen bekommen so etwas leichter als kleine Jungen), einen achtundvierzigjährigen Mann mit einer vergrößerten und äußerst schmerzempfindlichen Prostata und eine fünfundzwanzigjährige Frau, die ihre ersten Blasenprobleme hatte. Er verschrieb ihr Azo Gantrinsin, fand ein Verkaufsmuster dieser riesigen Tabletten, an denen ein Pferd hätte ersticken können, und gab es ihr. Eingeschüchtert von ihrer Größe, starrte sie die Tabletten an. "Gibt es dafür etwas, äh, zum Einführen?" "Nein, nein", sagte George. "Die sind zur oralen Einnahme. Sie müssen sie schlucken." (John Irving: Rettungsversuch für Piggy Sneed. Sechs Erzählungen und ein Essay, S. 59f.)


Irving, John: Rettungsversuch für Piggy Sneed [4]

  "Mist", sagte Danfors. "Als die Klinik dieses Ding angeschafft hat, hab ich hintereinander drei Leute zurückgeholt, und da dachte ich, daß das der beste Apparat ist, den es gibt. Aber von den nächsten fünf hab ich vier verloren. Da stand es dann vier zu vier - das Ding ist eben einfach nicht hundertprozentig. Der hier ist jetzt der Tie-Break." Danfors schaffte es, die Statistik der Wiederbelebungsapparats wie die eines sportlichen Absteigers klingen zu lassen. (John Irving: Rettungsversuch für Piggy Sneed. Sechs Erzählungen und ein Essay, S. 72)


Irving, John: Witwe für ein Jahr [1]

  Sie war eine Frau, die zu Wutausbrüchen neigte, eine erfahrene Türknallerin - vielleicht konnte der laute Knall, den die Tür machte, sie dafür entschädigen, daß sie so klein war. Der Gärtner hatte eine Heidenangst vor kleinen Frauen; es kam ihm immer vor, als stünde ihre Wut in keinem Verhältnis zu ihrer Körpergröße. Seine eigene Frau war dick und wohltuend weich, eine gutmütige Frau mit einem großzügigen, nachsichtigen Naturell. (John Irving: Witwe für ein Jahr, detebe 180)


Irving, John: Witwe für ein Jahr [2]

  Mrs. Dashs verstorbener Gatte hatte einmal gesagt, Eleanor sei eine Frau, die unter dem ständigen Zwang stehe, sich zu revidieren. (Jane fand das sehr mild ausgedrückt.) Zu Beginn ihrer Ehe war Eleanor Holt eine dieser Frauen gewesen, die derart mit ihrem Eheglück protzen, daß jeder, der sich irgendwann einmal hat scheiden lassen, sie aus tiefstem Herzen haßte. Und kaum war sie frisch geschieden, wurde sie eine so vehemente Befürworterin der Scheidung, daß jeder, der glücklich verheiratet war, sie am liebsten umgebracht hätte. (John Irving: Witwe für ein Jahr, detebe 316)


Irving, John: Witwe für ein Jahr [3]

  Ich kann mir vorstellen, was Allan von einem Semikolon im Titel hält; er hat ohnehin eine schlechte Meinung von meinen Strichpunkten. "Kein Mensch weiß mehr, was das ist", behauptet er. "Wer es nicht gewohnt ist, Romane aus dem neunzehnten Jahrhundert zu lesen, könnte meinen, der Autor hätte über dem Komma eine Fruchtfliege zerquetscht. Strichpunkte stiften heutzutage nur Verwirrung." (John Irving: Witwe für ein Jahr, detebe 458f.)


Irving, John: Witwe für ein Jahr [4]

  Die Maklerin, eine stämmige Frau mit Zwitscherstimme, entschuldigte sich noch einmal für die Störung beim Abendessen. Sie gehörte zu den Frauen, die sich ins Immobiliengeschäft stürzten, nachdem ihre Kinder flügge geworden waren. Ihr schriller, von Unsicherheit zeugender Eifer, es anderen recht zu machen, paßte eher zu einer Person, die ständig für Nachschub an Erdnußbutter- Sandwiches mit Traubengelee zu sorgen hat, als zu einer, die Häuser kauft und verkauft. Doch ihre Begeisterung war nicht geheuchelt, auch wenn sie sich leicht aus der Fassung bringen ließ. Sie wollte unbedingt, daß alle alles schön fanden, und da das selten vorkam, neigte sie dazu, plötzlich in Tränen auszubrechen. (John Irving: Witwe für ein Jahr, detebe 738)


Irving, John: Die vierte Hand

  Als er mit ihr geschlafen hatte, hatte Crystal ihn gewarnt, daß sie unter einer seltenen Form von Atembeschwerden leide. Wenn sie außer Atem gerate und nicht genug Sauerstoff in ihr Gehirn gelange, bekomme sie Halluzinationen und drehe überhaupt ein bißchen durch - eine heillose Untertreibung. Crystal war ruck, zuck außer Atem geraten; ehe Wallington noch wußte, wie ihm geschah, hatte sie ihn in die Nase gebissen und ihm mit der Nachttischlampe den Rücken verbrannt. Er hatte Mr. Pirney, Crystals Mann, nie kennengelernt, aber er bewunderte dessen Seelenstärke. (John Irving: Die vierte Hand, S. 246)


Irving, John: Bis ich dch finde [1]

  Miss Wong, Jacks Lehrerin in der ersten Klasse, war während eines Hurrikans auf den Bermudas zur Welt gekommen. In ihrem Leben gab es nichts, was entfernt an einen tropischen Wirbelsturm erinnerte, obgleich ihre Angewohntheit, sich für alles und jedes zu entschuldigen, vielleicht schon mit jenem Ereignis begonnen hatte. Sie nannte den Sturm, der während ihrer Geburt betobt hatte, nie beim Namen, und das hätte die Erstkläßler vielleicht auf den Gedanken bringen können, daß dieser immer irgendwo tief in ihrem Unterbewußten wütete. Doch ihren schwunglosen Körper beseelte keine Spur eines Sturms, und ihrer Stimme fehlte jeder Nachdruck. "Es tut mir leid, euch sagen zu müssen, daß der Hauptunterschied zwischen Vorschule und erster Klasse darin besteht, daß wir keine Mittagsruhe halten", verkündete Miss Wong am ersten Tag. (John Irving: Bis ich dich finde, S. 199)


Irving, John: Bis ich dch finde [2]

  Emmas Zimmer sah genauso aus, wie man sich das Zimmer eines Mädchens vorstellt, das von Kindheit durch die Pubertät zur Lüsternheit unterwegs ist. Auf dem großen Bett nahmen die vernachlässigten Teddybären und andere Stofftiere untergeordnete Positionen ein. An den Wänden hingen ein Poster von einem Beatles-Konzert und eines von einem Robert-Redford-Film. (Vielleicht war es 'Jeremiah Johnson', denn Redford trug einen Bart). Und überall, auf dem Boden und auf dem Bett, lagen Emmas BHs und Slips ganz offebn herum - einer davon schien einen Teddybären zu strangulieren. Die Unterwäsche dieser im Werden begriffenen Frau, die Emma ganz offensichtlich war, deutete (wenn auch nicht für Jack) darauf hin, daß sie es eiliger hatte als die meisten Altersgenossinen, ihre Reise durch die Pubertät hinter sich zu bringen. (John Irving: Bis ich dich finde, S. 273)


Irving, John: Bis ich dch finde [3]

  Am unnahbarsten war Madame Delacorte, eine französische Schönheit, die in der Bibliothek arbeitete und deren Mann romanische Sprachen unterrichtete. Romane waren nicht gerade das, woran man beim Anblick von Madame Delacorte dachte. Es gab in Exeter keinen Jungen, der ihr in die Augen hätte sehen können - und keinen, der die Bibliothek betrat, ohne sehnsüchtig nach ihr Ausschau zu halten. Madame Delacorte sah aus, als hätte sie gerade gevögelt und wolle mehr, viel mehr. (Dennoch hatte die verschwitzte Umarmung ihre Frisur irgendwie unbeschädigt gelassen.) Madame Delacorte war eine so beherrschende Persönlichkeit wie Jeanne Moreau in 'Jules und Jim'; nicht einmal ihr Mann vermochte sich ihr ohne Stottern zu nähern; und er stammte immerhin aus Paris. (John Irving: Bis ich dich finde, S. 426)


Isler, Alan: Klerikale Irrtümer [1]

  "Keinen Zucker, danke." Ich machte mir damals noch nichts aus Süßem. Dazu mußte erst Maude kommen, die mich mit einem Lachen über die Vorstellung, daß ein Franzose auch nur eine Ahnung haben könnte, wie richtiger Tee schmecken muß, eines Besseren belehrte. "Ach." Die Mutter Oberin nickte, als verstehe sie. Auf den Zucker im Tee zu verzichten war ihrer Meinung nach wohl das fromme Äquivalent eines härenen Hemdes. (Alan Isler: Klerikale Irrtümer, S. 64)


Isler, Alan: Klerikale Irrtümer [2]

  Die Katholiken sind - wie die Protestanten in den Freudschen Regionen ihres tiefsten Inneren wissen müssen - die Originalchristen, die echten Christen (abgesehen natürlich von den jüdischen "New Agers" des ersten Jahrhunderts). Das Urheberrecht lag schließlich eineinhalb Jahrtausende lang bei den Katholiken, Herrgott noch mal. Und daher haben die Protestanten die Katholiken immer mit einer verräterischen Nervosität umgebracht. Die Katholiken bringen die Protestanten im Vertrauen auf ihren Herrn um. (Alan Isler: Klerikale Irrtümer, S. 70)


Isler, Alan: Klerikale Irrtümer [3]

  Das Datum für ihre Periode sei schon eine ganze Weile überschritten, sagte sie - und das bei ihr, ergänzte sie, bei der die Blutungen immer so pünktlich gekommen seien, daß man danach in einer bewölkten Nacht die Mondphasen hätte bestimmen können. Ich gebe zu, ich bin ein bißchen zimperlich, was die körperlichen Aspekte des weiblichen Menstruationszyklus anlangt, ich empfinde einen gewissen Ekel, der vielleicht in judaischem und biblischem Boden wurzelt, mit noch größerer Wahrscheinlichkeit aber auf den Augenblick zurückgeht, als ich den Blutfleck hinten auf dem Rock meiner Mutter sah. Wir waren in Orleans, ich war damals dreizehn, auch ohne Nazis ein Alter, in dem einen Ängste und Pickel plagen. (Alan Isler: Klerikale Irrtümer, S. 77)


Jacobi, Peter: Mein Leben als Buch

  Wieso hatte ich mich freiwillig aus meinem Schneckenhaus auf die Tanzdiele begeben, mich weichen hilflosen Mollusken dem scharf zupackenden Stakkato dieser Rhythmen ausgesetzt? Dabei hatte ich die Tanzmusik theoretisch längst als primitiv und geistlos abgehandelt. Seit der Schulzeit teile ich die Menschheit in Mitwipper und Nichtmitwipper ein. Die überwiegende Mehrheit der Mitwipper kann nicht anders, als bei Musikbeschallung in Schunkeln auszubrechen und sklavisch mitzuwippen. Der Nichtmitwipper hingegen, meist ein einzelner kühler Kopf, schlendert, wenn es sein muß, ohne die geringste Gemüts- und Körperregung durch das infernalische Preßluftgehämmer eines Speedmetal-Konzerts und liest Hebbels 'Tagebücher'. (Peter Jacobi: Mein Leben als Buch)


Jirgl, Reinhard: Die Stille [1]

  Du machtest dich lustig über meine noch aus Kinderjahren herrührende Trauer über das Ende aller Ferienzeit; Henriette, auch heute bin ich mit dieser Trauer all-1. Und ist ihrerseits nur Fantomschmerz noch aus allen zurückliegenden Berufsjahren als praktischer Arzt. Seit 3 Jahren ist zum Fantomschmerz der echte Schmerz hinzugekommen. Der hält uns=beide, dich Henriette mich, fest=zusammen, über deinen Tod hinaus. Auch in deinen Altenjahren bist du eine Schönheit geblieben. Du vermochtest alt zu werden ohne zu verlieren; eine Frau, die mit=den-Jahren in ihrem Äußeren auch den eigenen Charakter sichtbar macht. Wenigen Menschen wird das Gesicht menschlich. Noch weniger behalten es. Du gehörtest du den Wenigen. Und so hätten wir=Beide befreit von Arbeitslast&pflicht den Anfang unserer Lebenszeit aus dem Alltagsschutt Derjahre ausgraben können wie versunkene Stätten der Kinderzeit. Im Alter Wiederkindsein solange des Leben's Countdown uns noch Zeit beläßt. - Zu kurz war dein Atem, Henriette, kein Halbesjahr war dir zu deiner neuen Kinderzeit bemessen. (Reinhard Jirgl: Die Stille, S. 10)


Jirgl, Reinhard: Die Stille [2]

  Und so wurde meine Schwester im-Lauf-Derjahre - seit ich, & damit gewissermaßen auch sie, eingeheiratet hatte in Henriettes Familie - zur starr=sinnigen Klammer, die ebendiese Familie, deren menschliche Bestandteile oftmals den 1druck der völligen Gleichgültigkeit gegen ein=ander machten, trotzig wie eine Dynastienhüterin mit fester Hand zusammenhielt. Was schließlich dieser Frau in jenem Familiengehäuse den Spitznamen 'Eiserne Jungfrau" 1trug und der Schwiegergroßvater Henry, bei einem der allsommerlich anberaumten Familienfeste auf dem Laubengrundstück bei Weißensee mit Anspielung auf Felicitas Geburtsdatum, dem 1. September 1939, übern-Tisch-hinweg in seiner kauzigen Art bemerkte: 'Mit der Glücklichen kam Derkieg'. Woraufhin er die Ewigeleier seiner Geschichte schlug (weil er, so wie Viele seiner Gene-Ration, vom- Krieg ihr Teil abbekommen hatten & dies Erbe nun mitsich schleppten, indem sie bei jeder Gelegenheit Drüber erzählten). (Reinhard Jirgl: Die Stille, S. 11)


Jirgl, Reinhard: Die Stille [2]

  ... liegt seine letzte Schlappe nur 4 Jahre zurück: Als ihn die Hormone rappelich machten & er nach 8 Jahren Ehe, jetztüberdann, seine Frau verlassen mußte wegen irgend 1 Semi-Narristin, Frau Etepetete & roh- Köstlerin; - aber schon nach nem 1/4Jahr wars wieder Essig-ohne-Öl mitter roh-Mannze & die feinsinnige Tussi setzte ihn kurzerhand vor die Tür; - da kam er jammernd angekrochen zu=uns-Nachhause, ob wir nicht 1 Bett für ihn hätten 1 Bleibe, ich-bin-doch-euer-Sohn & bla -. (Reinhard Jirgl: Die Stille, S. 18)


Jirgl, Reinhard: Die Stille [3]

  Harmlosigkeit u Frohsinn ließen dich mißtrauen; nur dem Schweren, Dunklen in den Menschenseelen wandtest du dich zu - wie !selten fandest du Dergleichen im Zeitalter der Heuchelei -, aber Es blieb für dich: Nicht das Fruchtbare, nur das Furchtbare u das Ernste, das die Menschen in=Bann&Schicksal schlägt, Das will dir dem Mensch=Sein angemessen sein. Panzer gegen alles Lichte. Aber dieser Panzer, Meinlieberbruder, ist nicht kompakt, gleicht eher nem Sieb -: ? Spürst du sie manches Mal wie fremde Einschlüsse im Geröll dessen, was andere eine Seele nennen. Und wenn du auch Spott & Häme mit-den-Jahren leiser werden ließest (niemand schließlich kann Übereinleben=lang sich mit derselben Kraft über dasselbe aufregen). (Reinhard Jirgl: Die Stille, S. 63)


Jirgl, Reinhard: Die Stille [4]

  Keine Heimlichkeit ist so heimlich, daß nicht das Gerüst zu ihrer Mechanik sichtbar wäre: Auch der- Seiten-Sprung hat Kalender & Routine. - -!?Wie aber vermögen Frauen, % vielbesser als wüßten sie Darüber wörtlichen Bescheid, allein aus dem-ver-Halten des fremd=gehenden Mannes Die-Fremde-Frau !herausspüren. Sag mir, Vater: Über ?welchen Radar-Sinn verfügen Sie, den der-Mann nicht unterlaufen kann; ?was für morfo= logische Felder umgeben ihn & zeigen an was er !niemals anzuzeigen gedachte. --Dabei, "Sohn", dürfte der-Mann sich immer !selber anzeigen, indem die-Frau mit ihrem untrüglichen Gespür für Echt u: Falsch allein das ver- Halten des-Mannes taxiert : Er will der-Frau gegenüber Normalität vorspielen, u: sobald er spielt spielt er schlecht. Hier ist Jedermann ein miserabler Heuchler, & noch mieserabler sobald seine Heucheley zu!gut gebaut ist. Und Das fällt ihr=natürlich !sofort auf; die Frau braucht nur darauf zu warten, bis der-Mann durchs eigene ver-Halten sich verrät.... --Das wär ungefähr dasselbe wie beim normalen Laufen: du vollziehst den Aufrechten Gang unbewußt; erst wenn du auf jede deiner Bewegungen achtgibt & sie zu kontrollieren gedenkst; fällst du auf den Pinsel. (Reinhard Jirgl: Die Stille)


Jirgl, Reinhard: Die Stille [5]

  Barbarus novus, der Neue Held mit Übergewicht & bedenklichem Cholesterinwert : Das entsprang nicht fernen Wüsten nicht den Urwäldern od abgelegenen Inseln; deren Mutter Lauge schwamm in den zentralbeheizten Bottichen welt=weiter Städte-Bauten, das gedieh in den-Büros & auf-Ämtern : Hier wurde er geboren, Barbarus novus - Fremder Sprachsplitter voll doch sprachbeschränkt gefühlsflach gedankenlos -, Piepel-Schurnale & Demoskopen päppelten ihn auf, versahen ihn mit grandiosen Ziffern, mülljonenfache Über-1=Stimmung, gleicher Wille = gleiche Freuden, 1 x pro Jahr für 3 Wochen als Reisepöbel m. Pauschalverblödung die-Welt okkupierend & !immer=Alles oll inn-kluh-syph. (Reinhard Jirgl: Die Stille)


Jirgl, Reinhard: Die Stille [6]

  Dann stell dir dochmal GOtt vor SEinen Bittstellern vor - (u: weil ich mich abwandte hörte ich deine Worte als hätten die Lippen sich zum Grinsen verzogen) - GOtt als SEin eigener Beamter, wie ER hinterm Schalterfenster hockt & zu SEinem Geschäft's Zeiten das !mülljardenfache Gebarme Gezetere & Halle-Luuja- Geschrei dieser heils-geilen Baggasche, die ER 1 x aus Dreck gemacht, seither anhören muß : Ich sehe IHN vor mir mit Ärmelschonern als Verwaltungsbeamten SEiner eigenen Güte, im mies-antropisch hageren Gesicht tief 1gebrannt die Narben des Büro-Grams. GOtt = 1 Magen auf Latschen, SEinen Feierabend herbeisehnend mit dem Wissen daß sogar SEine beste Waffe im holo caustum gegen SEin Menschen=Gezücht - Die Sinflut - schon verzagt hatte. So müßte ER also bis in Alleewichkeit SEinen Dienstschieben für Geschöpfe, die IHM lange schon voll SEinen heiligen Ekels zum Hals raushängen. (Reinhard Jirgl: Die Stille)


Jirgl, Reinhard: Die Stille [7]

  Deine Schwermut & deine Verzweiflung, Henry, bestimmten jegliches Tun & versetzten dich in die Nähe zu jenen nervösen uninteressanten Ver-Rückten, die, an der Schwelle zum Blödsinn, durch die Straßen irren & laut mit sich selber kwatschen müssen. Aber selbst das sicherte dir längst keine besondere Aufmerksamkeit zu, seit die-Menge in aller Öffentlichkeit ihre Mobiltelefone an den Schädel hält & schamlos laut ihr Maulpisse abschlägt. (...) Du, Henry, warst von anderem Kaliber. Du gehörtest zu jenen Trostlosen, die im Unglück abgekommen waren wie Krankheiten in einem Körper. Da sind sie & wachen wie penible Ärzte über den korrekten Ausbruch ihres eigenen Unglücks. Und so können sie immer aufs-Neu trostlos-Los bleiben. (Reinhard Jirgl: Die Stille)


Johnson, Uwe: Jahrestage [1]

  Sie heißt nicht Marjorie. Wir wissen ihren Namen nicht. Wir kennen sie nicht. Sie ist uns zugekommen im vergangenen Winter, ein Mädchen, das an der 97. Straße auf den Bus 5 wartete. Es war ein Tag mit ätzendem Wind, kalt genug das Warten eindringlich und inständig zu machen. Sie stand nicht krumm und im Unglück der Kälte zusammengezogen; sie machte aus dem Frieren eine sorgfältige und zierliche Pantomime. Es sah aus, als fröre sie aus Kameradschaft. Wir gaben ihr nur ganz wenig Worte, und schon vertraute sie uns an: sie sei froh, dies Wetter nicht versäumt zu haben. Sie sagte es als eine Wahrheit, und da es ihre Wahrheit war, kam sie nicht zudringlich heraus. So zutraulich ist sie. So anmutig kann sie leben. Das Wort schön, für sie ist es übriggeblieben. Sie kann unter wuchtigen Capes verbergen, daß sie schon sechzehn Jahre lang richtig gewachsen ist, sehr schlank, noch nicht schmächtig, auf langen Beinen, die auch die Blicke weiblicher Passanten auf sich ziehen. Es ist ihr Gesicht. Ihr Gesicht ist eine Auskunft über sie, die nie enttäuscht, nie zurückgenommen werden muß. (...) Wir sehen ihr auf den Mund, weil er jung ist, wir sehen ihr auf die Lippen wegen ihres ganz bewußten, absichtlichen Lächelns. Es ist ernst, es ist überlegt. Es bedeutet etwas, es ist verständlich. Es ist freundlich. Was andere zu den Festen geschenkt kriegen, davon kann sie leben, aus dem Vollen. Sie sieht uns, sie strahlt. Sie redet mit ihren schwarzen Augen, und wir glauben ihr. Es ist nicht erfindlich, warum sie glücklich sein sollte, uns zu sehen; wir nehmen es hin ohne Widerrede in Gedanken. (...) Sie hat einen einzelnen, eigens für uns abgetrennten Blick abzugeben, der sagt, als hätte sie insgeheim neben unserem Ohr gesprochen: Es tut mir wohl, euch zu sehen. Es ist nicht einmal unbehaglich. Da ist kein Zweifel. Sie verhängt ihre Wahrheit über uns. Sie kann noch nur ausdrücken, was sie ist. Sie hat eine Art, sich uns zuzuwenden, aufmerksam, heiter, fast ergeben vor Teilnehmen, in einer schön aus Schultern und Nacken laufenden Bewegung, deren Abbild im Gefühl abgemalt wird wie eine Berührung. Sie umfaßt uns mit ihrem Blick jedes Mal, als erkennte sie uns, nicht nur ihr Bild von uns, auch was wir wären. Und wir glauben ihr. Wir verdächtigen nicht ihre Aufrichtigkeit. Mit ihr läßt Freundlichkeit sich tauschen, als sei sie noch ein Wert. (Uwe Johnson: Jahrestage 1)


Johnson, Uwe: Jahrestage [2]

  Die Tante raucht (Zigarillos), sie trinkt auch von den harten Sachen; sie versteht einen Witz, solange sie im festen Interesse der Allgemeinheit ihn unzulässig zu nennen nicht umhinkann. Sie geht mit der Zeit. Sie kann kochen, sie kann backen. Die Tante ist ledig geblieben, es deutet ihre Ansprüche an. Sie gibt Ratschläge in Ehefragen, sie kann sich vorstellen wie es in der Ehe ist (immerhin soll ein Musikkritiker Musik kritisieren, nicht Sinfonien schreiben. Nicht einmal Sonaten). Sie ist modern. (In ihrer Familie hat Gesine eine solche Tante nicht.) Wir haben es hier mit einer Person zu tun, mit der man die Pferde stehlen gehen kann an allen Tagen, da die Gesetzgebung den Diebstahl der Pferde vorschreibt. (Uwe Johnson: Jahrestage 1)


Johnson, Uwe: Jahrestage [3]

  Diese Marie ist zehneinhalb Jahre alt und reckt sich zu vier Fuß elf Zoll. (...) Wohl finde ich Mecklenburgisches, Ironie in Schiefhalsigkeit, durch Kopfsenken verkanteten Blick, steinerne Versteckmiene, überhaupt das Anschlägige, das Schabernacksche. Das alles nun in ausländischer Sprache. Es ist das Amerikanisch des Mittelstands, diszipliniert durch eine Traditionsschule, vorsichtig gegen Slang. Was sie dann aber spricht, damit lebt sie. Oft muß ich, mit meinem Dolmetscherdiplom, nachschlagen. (...) Neuerdings ist eine Art Entschuldigung: I stand corrected, und das mit dem Akzent der Upper West Side von New York, für den Sie so leicht keine Zensur fänden. Deutsch spricht sie, als hätte sie Schmerzen im Hals. Wahrscheinlich mußte sie die mitgebrachte Sprache opfern, um bequemer anwachsen zu können in der Straße, der Schule, der Stadt. Düsseldorf, Berlin, Jerichow, für sie ist es Geographie. Germany. An Ferien in Dänemark erinnert sie sich besser. Sie jetzt in die deutsche Sprache zurückbringen, es wäre ein größeres Unglück für sie als der Umzug ins Amerikanische war. (Uwe Johnson: Jahrestage 2)


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