Allgemeine Fundstücke  / [K1]


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Kadare, Ismail: Der Schandkasten

  Mit zusammengepreßten Lippen sahen sie immer wieder zu den Feldern hinüber, die in diesem Jahr des Krieges wegen brachlagen, als lasse sich dort noch eine andere Erklärung für das neue Dekret finden. Über das mit wassergefüllten Granatlöchern übersäte Land schwärmten Raben und Elstern, da und dort verrückte Muster aus Formen und Klängen bildend. Die Menschen brauchten nur eine Weile die nach ausgebliebener Aussaat weit und sanft und schwarz sich quälende Erde anzuschauen (was es für eine Frau hieß, die Leibesfrucht zu verlieren, wußten sie alle; so konnten sie auch ermessen, wie gramvoll eine Erde ohne Frucht war), also genügte ein Blick auf das verödete Land, um ihnen klarzumachen, daß das meiste nun vorüber war und daß dieses Dekret auch nichts mehr schlimmer machen konnte, so wie das Kreischen der Elstern über der winterlichen Erde deren Schwermut nicht mehr zu vertiefen vermochte. (Ismail Kadare: Der Schandkasten, S. 77)


Kästner, Erich: Drei Männer im Schnee

  Der Hotelbetrieb funktioniert trotzdem tadellos. Das liegt an Polter, dem ersten Portier. Er liebt das Grandhotel wie sein eigenes Kind. Und was das Alter anlangt, könnte er tatsächlich der Vater sein. Er hat, außer dem tressenreichen Gehrock, einen weißen Schnurrbart, ausgebreitete Sprachkenntnisse und beachtliche Plattfüße. Sein hochentwickeltes Gerechtigkeitsgefühl hindert ihn daran, zwischen den Gästen und den Angestellten nennenswerten Unterschiede zu machen. Er ist zu beiden gleichermaßen streng. (Erich Kästner: Drei Männer im Schnee, S. 46)


Kästner, Erich: Drei Männer im Schnee [2]

  Auf einem Sofa von äußerst geringem Fassungsvermögen kuschelte sich das Chemnitzer Ehepaar. Die übrigen Barbesucher hatten das Vergnügen, dem zärtlichen Zwiegespräch zuhören zu dürfen. Die sächsische Mundart eignet sich bekanntlich wie keine zweite zum Austausch lieblicher Gefühle. Sogar Jonny, der Barmixer, verlor die Selbstbeherrschung. Er grinste übers ganze Gesicht. Schließlich bückte er sich und hackte, ohne Sinn und Verstand, im Eiskasten herum. Denn es geht nicht an, daß Hotelangestellte die Gäste auslachen. "Wenn man unsre deutsche Sprache mit einem Gebäude vergleichen wollte", meinte Hagedorn, "so könnte man sagen, in Sachsen habe es durchs Dach geregnet." (Erich Kästner: Drei Männer im Schnee, S. 74)


Kaminer, Wladimir: Schönhauser Allee [1]

  Die bittere Erfahrung, daß man das Leben nicht immer noch besser machen kann, als es ist, hat die Menschheit in eine ziemliche Sackgasse gebracht. Allen Berufsgruppen, die an der Weltverbesserung arbeiten, droht die Arbeitslosigkeit. Nur die totale Unterhaltung zeigt den Ausweg: Man kann es nicht schöner machen, aber dafür spannender, bunter und lauter. Unterhaltsamer eben. Das ganze Leben in eine Talkshow verwandeln, nur auf diese Weise kann man die Reste von Menschlichkeit und den guten Willen zur allgemeinen Verbesserung der Lage aufrechterhalten. (Wladimir Kaminer: Schönhauser Allee, S. 42)


Kaminer, Wladimir: Schönhauser Allee [2]

  Der letzte Russe, den sie übrigens auf unserer Veranstaltung "Russendisko" - zum Tag des Sieges" am 9. Mai kennen gelernt hatte, wirkte sehr solide. Er war ein erfolgreicher Geschäftsmann, der deutsches Schweinefleisch in Rindfleischdosen nach Mittelasien verkaufte. Auf diese Weise rettete er dort viele Moslems vor dem Hungertod, ohne sie in die Sünde zu treiben, und gleichzeitig bereicherte er sich. (Wladimir Kaminer: Schönhauser Allee, S. 72)


Kaminer, Wladimir: Schönhauser Allee [3]

  Vor fünfzehn Jahren war in Russland die Zeitschrift "Rund um die Welt" sehr populär. Es war die russische Variante von "GEO", stets mit einem nackten Afrikaner auf dem Titelbild, der eine krumme Holzlanze in der Hand hielt. Diese Zeitschrift übte auf den Russen eine ungemein beruhigende Wirkung aus: "Rund um die Welt" beschäftigte sich hauptsächlich mit Völkern, die noch keine Kleider trugen. Das gab der Zeitschrift einen gewissen erotischen Anstrich und gleichzeitig dem Leser das Gefühl des Wohlstands. Er sah mit eigenen Augen, dass auf der Welt massenhaft Menschen lebten, die noch weniger zum Anziehen hatten als er. Besonders intensiv beschäftigten sich die Herausgeber der Zeitschrift mit den Kannibalen. "Bei uns werden ab und zu die Rechte der Menschen verletzt, anderswo werden die Leute jedoch gleich aufgefressen", lautet die Botschaft. (Wladimir Kaminer: Schönhauser Allee, S. 99f.)


Katajew, Valentin: Das Gras des Vergessens

  Wowka Diderix, alias W. von Dietrichstein, so pflegte er zu unterzeichnen, war ebenfalls ein junger Dichter, wenn auch beträchtlich älter als ich. Reicher Student, cremefarbne Flanellhose, Homespunjacke, runder steifer Strohhut, einen dicken goldenen Siegelring mit Familienwappen am Finger, das semmelblonde Affenfrätzchen eines baltischen Barons, bei dem die weit auseinanderstehenen Zähne beim Sprechen sichtbar wurden. Typischer letzter Sproß eines Geschlechts. (Valentin Katajew: Das Gras des Vergessens, S. 10)


Katajew, Valentin: Das Gras des Vergessens [2]

  Der bekannte Journalist Gerzo-Winogradski, derselbe, der unter dem Pseudonym Lohengrin das tägliche Feuilleton schrieb, kurze, zerhackte Zeilen, Kurzabsätze nach dem Rezept des Feuilletonskönigs Wlas Doroschewitsch, ein schmales Intellektuellengesicht mit langem Verhaeren- Schnurrbart, ließ durch den ebenfalls tschechowschen Kneifer einen flüchtigen Blick über mich hingleiten, der aber plötzlich haftenblieb. Schwer zu sagen, was ihn an mir fesselte, vielleicht tat ich ihm einfach menschlich leid, weil ich vor Verlegenheit so krampfhaft hüstelte und "schwache Lunge" mimte oder weil ich so nervös den Lackschirm meiner stellenweise von Brennlinsen durchsengten Gymnasiastenmütze quetschte oder weil ich mich so maßlos meiner vulkanischen Pubertätspickel am mageren Chinesenkinn schämte. (Valentin Katajew: Das Gras des Vergessens, S. 19)


Katajew, Valentin: Das Gras des Vergessens [3]

  Der Genosse saß im Dienstraum des Kreisvorsitzenden, himbeerrote Plüschdecke, Wasserkaraffe mit einem Rest gelblichen Inhalts, Spülschale, gesprungenes Wasserglas auf dem Tisch, vertieft in die Moskauer Illustrierte "Der Gottlose", so daß sein Gesicht hinter den bizarren Zeichnungen eines Grafikers mit dem ausgefallenen, fast makaber anmutenden Pseudonym Morr nicht zu sehen war. Es waren Karikaturen. Gott Zebaoth höchstselbst, einen possenhaft altmodischen Kneifer auf der Nase, über der Glatze den Heiligenschein, ferner ein Rabbi mit Schläfchenlöckchen, im gestreiften Tallis, daneben ein Mulla mit Turban wie eine Knoblauchzwiebel, schließlich unserer einheimisch rechtgläubiges Väterchen mit verschwiemelten Augen und Himbeernase. Darunter standen Verse von Demjan Dedny, dem ersten proletarischen Dichter. Eine Blasphemie, damals noch neu und von einer Kraßheit, daß es niemand verwundert hätte, würde sich plötzlich der Himmel aufgetan haben und ein grellweißer Zickzackblitz niedergefahren sein, der binnen eines Augenblickes das gottlose Blatt nebst Redakteur, Zeichner, Dichter und allen Jahresabonnenten in Asche verwandelt hätte. (Valentin Katajew: Das Gras des Vergessens, S. 153)


Katajew, Valentin: Das Gras des Vergessens [4]

  Es war die Stunde, wo in Moskau alle Bekannten am Apparat hängen und verabreden, wie sie den Abend verbringen werden. In letzter Zeit war mein Zimmer zu einem Nachtklub geworden, und die ganze Bande versammelte sich fast täglich bei mir. Ich nahm den Hörer ab. Aber noch bevor ich mich melden konnte, steuerte Majakowski auf mich zu und hieß mich mit einer kategorischen Handbewegung die Muschel abschirmen. Ich tat es. "Wer ist dran?" "Werden wir gleich hören." Das Weitere spielte sich dann folgendermaßen ab: Ich fragte, wer am Apparat sei, und nannte den Namen, wobei ich die Muschel zuhielt, Majakowski überlegte einen Moment, dann machte er eine zustimmende oder ablehnende Kopfbewegung, meist eine ablehnende. Mitunter begleitete er sie mit einem: "Soll ruhig kommen" oder "Ach, hol ihn der Teufel", zuweilen war er auch noch drastischer, worauf ich gehorsam in den Hörer sprach: "Bin heute abend leider besetzt" oder "Ja, kommen Sie". An diesem Tag waren es besonders viele Anrufe, und Majakowski seihte sie mit der Sorgfalt eines Goldwäschers, um die wenigen Körnchen Gold herauszufischen: die Menschen, deren Gesellschaft ihm an diesem Abend erwünscht war. (Valentin Katajew: Das Gras des Vergessens, S. 237)


Katajew, Valentin: Das Gras des Vergessens [5]

  Und schließlich der Hausherr selber - Meyerhold. Saloppe Eleganz, der schmale Schlips halb aufgegangen und verrutscht, doch wenn auch abgetragen, immer noch unverkennbar pariserisch. Der scharfgeschnittene Kopf weit im Nacken. Und musikalische Hände, von denen man hätte schwören können, es wären mindestens vier, wie bei einer indischen Gottheit, weil sie sich in ständiger flirrender Bewegung befanden. (Valentin Katajew: Das Gras des Vergessens, S. 242)


Kehlmann, Daniel: Beerholms Vorstellung [1]

  Vormittags war ich in der Schule, gegen eins kam ich heim und bekam von der Haushälterin - keine alte kinderliebende Frau, wie das Klischee es möchte, sondern eine junge hübsche, die mich nicht ausstehen konnte - ein aufgewärmtes Essen. Dann erledigte ich meine Aufgaben, schrieb kurze, angewiderte Aufsätze unter indiskrete Überschriften ("Mein schönstes Erlebnis", "Mein bester Freund" - es braucht eine Menge von solchem Zeug, um Kinder an den Gebrauch von Phrasen zu gewöhnen) und löste mit leichter Hand einfache Rechnungen. (Daniel Kehlmann: Beerholms Vorstellung, S. 19)


Kehlmann, Daniel: Beerholms Vorstellung [2]

  Die Welt um ein Kind ist noch nicht ganz festgefügt, an den Rändern fasert sie aus, es gibt noch Löcher darin und undichte Stellen und kleine Irrtümer im Gewebe. Nie wieder habe ich so intensiv das Grauen erlebt, das in der völligen Stille rauscht und in der Leere zwischen den Möbeln flimmert, wie in schlaflosen Kindernächten, wenn ich das Licht anknipste. Einmal, ich war acht oder neun Jahre alt, geriet mir die Geschichte von der bösen Frau in die Hände, die sich in eine Spinne verwandelt. - In meinem ganzen Leben habe ich nicht mehr solche strahlend schrecklichen Alpträume, solche Exzesse der Angst durchlebt. (Daniel Kehlmann: Beerholms Vorstellung, S. 20)


Kehlmann, Daniel: Beerholms Vorstellung [3]

  Drei Monate nach meiner Abreise heiratete Beerholm unsere Haushälterin. Es amüsiert mich, mir vorzustellen, was zwischen den beiden vorgegangen sein muß, ohne daß ich etwas davon bemerkte. Selbst für ein Kind war ich ziemlich naiv. Nach sieben Monaten (rechne nur nach) kam das erste Kind, ein Mädchen, nach einem Jahr folgte ein zweites. Wenn ich in den Ferien zu Besuch kam, sah ich die beiden goldlockig über die Teppiche kriechen, unter den Blicken ihrer schönen Mutter und ihres alten Vaters, ("Sie haben entzückende Enkel!" - der Alptraumsatz seiner Parkspaziergänge.) (Daniel Kehlmann: Beerholms Vorstellung, S. 32)


Kehlmann, Daniel: Beerholms Vorstellung [4]

  Es war einer der letzten Augusttage, und noch dazu gerade der, an dem man an einer feinen Magnetschwere spürt, daß es nicht mehr lang dauert. Noch blüht alles, und die Wespen und die Käfer sind aufgeregt, aber in all das mischt sich ein seltsames Unbehagen. Jedes Jahr hält diesen Tag bereit, und plötzlich ist er da, und man weiß nicht woher und warum gerade heute. Vermutlich (aber du merkst wohl, daß ich nur nach Ausreden suche) war wohl das der Grund. (Daniel Kehlmann: Beerholms Vorstellung, S. 60)


Kehlmann, Daniel: Die Vermessung der Welt [1]

  Der Pastor fragte, ob ihm das Lernen schwerfalle. Er zog die Nase hoch und schüttelte den Kopf. Hüte dich, sagte der Pastor. Gauß sah überrascht auf. Der Pastor blickte ihn streng an. Stolz sei eine Todsünde! Gauß nickte. Das solle er nie vergessen, sagte der Pastor. Sein Leben lang nicht. Wie klug man auch sei, man habe demütig zu bleiben. Warum? Der Pastor bat um Verzeihung. Er habe wohl falsch verstanden. Nichts, sagte Gauß, gar nichts. Doch, sagte der Pastor, er wolle das hören. Er meine es rein theologisch, sagte Gauß. Gott habe einen geschaffen, wie man sei, dann aber solle man sich ständig bei ihm dafür entschuldigen. Logisch sei das nicht. Der Pastor äußerte die Vermutung, daß etwas mit seinen Ohren nicht stimme. (Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt)


Kemp, Percy: Musk

  Er war zwar in Sachen Verführung kein Aristokrat, einer dieser Schönlinge, die sich schlicht und einfach damit begnügen, als solche zu existieren und darauf zu warten, daß die Frauen zu ihnen kommen. Nein, Armand Eme war in puncto Verführung ein veritabler Held der Arbeit, ständig bestrebt, durch Eigeninitiative seine Erfolgsbilanz zu steigern. Und ein Parfüm, das er sich ausgesucht und für das er bezahlt hatte, war für ihn der schlagende Beweis, daß sein Erfolg beim schwachen Geschlecht auf einer ausgeklügelten Eroberungsstrategie beruhte und nicht das Ergebnis irgendeiner Laune der Natur war, die ihn mit der Nase von welch griechischem Gott auch immer und mit Augen wie denen irgendeines Giganten der Leinwand ausgestattet hatte. (Percy Kemp: Musk, S. 26)


Kennedy, A.L.: Gleissendes Glück

  "Computer? Ein Computer ist ein Ding, ein Werkzeug, dagegen kann man nichts haben. Ich habe Probleme mit den Leuten, die Computer benutzen. Dieser hier wird von mir benutzt, also mag ich ihn gern. Außerdem ist er mein Zugang ins Netz. Ich mag das Internet. Man findet dort echte Informationen, Fakten, die mit emotionaler Zusatzladung versehen sind, mit Überflüssigem, mit Leidenschaften, allgemein mit menschlicher Subversivität. Menschen sind der Maschine immer einen Schritt voraus, also ist das Netz voll mit vollständigen Fakten, und man wird immer daran erinnert, was sie sind - menschlich. Manche Menschen vergessen vielleicht, wer sie sind, aber man kann sich beim Denken schon mal verlieren - Gedanken sind groß und weitläufig. Ich lege Wert darauf, jeden Tag ein paar Dinge ins Netz zu stellen, die normale Programmierer nicht leiden können: Ethik, Nonsens, Mora:2 (A. L. Kennedy: Gleissendes Glück, S. 142)


Keun, Irmgard: Nach Mitternacht

  Wir froren auf einmal und hatten es eilig. Aber die SS wollte uns nicht über den Opernplatz zur Bockenheimer Landstraße lassen. Wir fragten, warum nicht, und was denn los sei? Aber gerade die SS ist immer frech und tut sich so großartig. Trotzdem sie nichts anderes zu tun hatten als dazustehen, diese SS-Leute, hatten sie keine Zeit, uns zu antworten. Vielleicht arbeitete sie innerlich so wahnsinnig, daß sie nur mal verächtlich mit ihren militärischen Schultern zucken konnten. Gerti bekam gleich kohlschwarze Augen vor Wut. Ich kenne das an ihr, sie wird dann gefährlich und bringt sich selbst natürlich in größte Gefahr. Darum fragte ich den einen SS noch mal so ganz süß wie ein Malzbonbon und voll Demut, als halte ich ihn für einen höchsten Beherrscher Deutschlands - auf solche Weise wollen Männer ja von Mädchen behandelt sein. (Irmgard Keun: Nach Mitternacht, S. 25)


Keun, Irmgard: Nach Mitternacht [2]

  Der Kurt Pielmann liebt Gerti und will sie heiraten. Sein Vater hat viel Geld in dem Laden von Gertis Eltern stecken. Wenn er das Geld jetzt rauszieht, ist der Laden kaputt. So was muß man verstehen und einsehen, ich redete der Gerti zu, den Pielmann zu treffen. Sie kann ja freundlich mit ihm umgehen, heiraten braucht sie ihn noch längst nicht. Und küssen auch nicht und überhaupt nichts. So einen Mann braucht sie einfach zu sagen: sie sei glücklich, daß es einen Menschen wie ihn gebe, und er solle sie im Nationalssozialismus belehren und in eine herrliche Welt von Ideen einführen. Sie sei noch nicht reif, die Lebensgefährtin eines nationalsozialistischen Mannes und alten Kämpfers zu sein, aber sie wolle sich dazu heranbilden. Und er solle ihr dabei helfen, indem er ihr aufbauendes Lesematerial schicke. Natürlich wird so ein Kurt Pielmann aufbauendes Lesematerial schicken - schon allein, weil er dann selbst glauben kann, er habe das Material gelesen. Ich kenne so was von meinem Vater und der Tante Adelheid und vielen anderen. Lesen ist denen viel zu anstrengend und langweilig. Jede Wette könnte man darauf eingehen, daß sie noch nicht mal "Mein Kampf" von Anfang bis Ende gelesen haben, ich habe es allerdings auch nicht. Aber sie haben es gekauft und auch mal reingeschaut und glauben dann auch selbst, sie haben alles gelesen. (Irmgard Keun: Nach Mitternacht, S. 28f.)


Keun, Irmgard: Nach Mitternacht [3]

  Einen Kolonialwarenladen hat sie in der Liebigstraße. Sie hat staubige Haare, ist dick und nervös. Wenn sie einen Hut trägt, sieht er immer verrutscht aus, auch wenn sie ihn richtig aufhat. Wir sind gute Kunden bei ihr und kaufen Cognac und Apfelsinen und Norseekrabben in Büchsen. Der Algin ißt immer gern Krabben zum Frühstück. Er denkt dann, er sei verreist. Wenn die Frau Breitwehr im Laden ist, hat man Angst von ihr. Sie ist so eilig und streng mit den Kunden und hat drei Angestellte, die vor ihr zittern, obwohl sie nicht gut bezahlt werden. Aber wenn sie einem leid tun wie ein aus dem Nest gefallener verregneter Vogel. Dabei trägt sie einen echten Silberfuchs. Er macht sie nicht schön, aber sie hat ihn sich unter greulichen Aufregungen erkämpft. (Irmgard Keun: Nach Mitternacht, S. 41)


Keun, Irmgard: Nach Mitternacht [4]

  Wie weiße Tauben flatterten Schwestern im Operationssaal umher, alles blinkte weiß, hart und grell. Ein jämmerliches Stückchen Mann lag auf dem Operationstisch. Ein älterer, arbeitsloser Buchhalter. Mager war sein Körper, die graue Haut schien schon gestorben. Vergrämt wirkte sein Bauch, sorgenvoll ragten die Füße mit den krunkeligen Zehen empor. Das Gesicht hatte Frieden. Tot würde er nicht anders aussehen als jetzt in der Narkose. Ernst und klar war das Gesicht unter einem Netz von Sorgenfalten. Ein tröstlicher Schleier schien dieses stille bewegungslose Faltennetz. Und mir schien es ein grausamer Frevel, einen zu retten, der Frieden hatte. Ihn zu retten für ein kummervolles, friedloses Leben. Er war doch schon tot. Meine Hand hätte gezittert vor Angst, ihn wieder lebendig werden zu lassen. Aber draußen im sauberen, rot gekachelten Flut sahen wir im Vorbeigehen auf einer Bank eine Frau sitzen, eine graue kleine Spitzmaus mit dunklen Angstaugen. Leide murmelnd betete sie in unerhörter Eile, als müsse sie in einer Minute die hunderttausend ungebeteten Gebete ihres Lebens nachholen. Ein leiser rasender Wirbel von Gebeten kam aus ihr heraus. "Geht alles gut", sagte Kunitzers Assistent, dick, bierblond, daseinsfroh. Mit seiner rosa Polsterhand durchbrach er den grauen Gebetswirbel, legte seine Hand der Spitzmäusigen flüchtig auf die arme kleine Schulter. Die Spitzmaus sah aus, als sei Gott selbst ihr erschienen und als fehle es ihr nur an Kraft, auf die Knie zu sinken. Ihre zerbeteten Lippen umzitterte ein Lächeln. Gott ging weiter. (Irmgard Keun: Nach Mitternacht, S. 110f.)


Keun, Irmgard: Nach Mitternacht [5]

  Ihre Stimme zittert, ihre Hände streuen verschiedene Gesundheitskräuter in einen Topf. Das Wasser auf dem Herd fängt an zu brodeln. Betty ist vegetarisch und edel, weil sie nur das Körperlose, Reine und Geistige will, aber ich habe noch nie jemand gesehen, der sich derart ununterbrochen mit seinem Körper beschäftigt wie diese Vegetarierin. Ich kenne Trinker, ich kenne Fresser - die viel mehr Zeit haben, an Geistiges zu denken, als Betty Raff. "Jetzt würde mir ein Apfel guttun", sagt sie, und dann reibt sie andächtig einen Apfel zu Mus und ißt ihn. Oder sie kocht feierlich eine Kräutersuppe, um ihr Lebensgefühl zu erhöhen. Wenn sie drei Pflaumen gegessen hat, muß sie hinterher eine viertel Zitrone langsam einnehmen. Im Frühling macht sie eine Frühlingskur und braucht abends fünf Radieschen. Mal muß sie rohes Gemüse essen, mal gekochtes. Sonntags ißt sie Weizenflocken und eine Art von Sägespänen in Milch oder Fruchtsaft verrührt. Sie ißt aber nicht, sondern speist, weil essen nur für gewöhnliche Leute ist. Manchmal findet sie, daß ihre Speisen Bratenduft angenommen haben, wodurch ihr das Blut vergiftet wird. Dagegen muß sie reinen Traubenmost trinken und löffelweise Gemüsesäfte. Jede Stunde bereitet sie sich was anderes und ißt es mit so ernster, traurig vorwurfsvoller Miene, als bringe sie einer rohen, verständnislosen Umwelt ein großes, rührendes Opfer. (Irmgard Keun: Nach Mitternacht, S. 126f.)


Keun, Irmgard: Nach Mitternacht [6]

  Eine große, heitere deutsche Familienfeier wird morgen stattfinden. Nur der siebzigjährige Herr Küppers wird nicht dabeisein. Da der Mensch sich alle sieben Jahre verändert, hat er sich entschlossen, noch heute leise und still fortzuwandern. Mit ihm wird seine Rente wandern, die als einziges von seinen Kindern geliebt wurde. Er ist heute abend mit Algin bekannt geworden. Denn Algin war zutraulich und sehr betrunken. Er wollte sich umbringen, und vorher wollte er noch einen anderen Menschen umbringen. So hatte er es sich in den Kopf gesetzt. Mich wundert's ja nicht mehr, wenn Menschen verrückt und unglücklich sind. Mich wundert's höchstens noch, wenn sie normale Menschen sind. Der Algin wollte irgendeinen Menschen umbringen, der schlechter sei als er selbst, dümmer oder minderwertiger. Er sagt, er habe nach diesem Menschen gesucht, ihn aber nicht gefunden. Wer entschlossen ist zu sterben, hat große Macht, und Algin lebte stundenlang berauscht von dem Gefühl dieser Macht und nebenbei berauscht von Wein auf leerem Magen. (Irmgard Keun: Nach Mitternacht, S. 136)


Keun, Irmgard: Nach Mitternacht [7]

  Umhergeirrt war der Algin in den Stunden des Tages, keinen Menschen fand er zum Umbringen. Keinen Menschen fand er, der etwas Böses, Ekliges, Lächerliches, Schmerzendes tat, dessen er nicht auch fähig gewesen wäre. Und Algin irrte in Bogeners Weinstube, dort saß nur der alte Herr Küppers. Algin machte seine Bekanntschaft, indem er sagte, er habe die Macht, ihn umzubringen - aber nicht die Lust, nicht die Kraft, nicht das Recht. Auf diese Weise haben die beiden Männer sich angefreundet, was mich nicht wunderte. Denn wenn ein zu allem entschlossener Mensch heutzutage darauf verzichtet, den anderen zu töten, so bedeutet das doch schon viel. (Irmgard Keun: Nach Mitternacht, S. 136)


Keun, Irmgard: Kind aller Länder

  "Ach", sagt mein Vater, "wo sind die schönen guten alten Zeiten, wo die braven bürgerlichen Frauen einander noch mit Regenschirmen auf den Kopf gehauen haben, wenn sie eifersüchtig waren - und die unangenehmen Frauen nette anonyme Briefe schrieben? Heutzutage arbeiten schon die Guten mit politischen Repressalien. Die Politik scheint wirklich alle Menschen und alle menschlichen Beziehungen vergiftet zu haben. Jeanne ist so ein nettes Mädchen, manchmal ein wenig zu zärtlich, ein wenig wirr und etwas zu verschwenderisch mit sich und ihren Gefühlen. Sie ist gescheit, aber wenn sie Gelegenheit hat, eine Dummheit zu begehen, wird sie sie unter allen Umständen begehen. Eine Gemeinheit nie." (Irmgard Keun: Kind aller Länder)


Keyserling, Eduard von: Abendliche Häuser

  Wenn noch jemand dagewesen wäre, mit dem er hätte Karten spielen können, das war noch das beste Mittel gegen graue Stimmungen. Es war eigentlich seltsam und schwer zu erklären, aber dieses Mittel versagte nie, wenn er sich an den grünen Tisch setzte und die Karten zur Hand nahm, dann kam es unfehlbar, dieses erregte Gefühl, das wie eine körperliche Wohltat in das Blut ging und angenehm bis in die Fingerspitzen hinein kitzelte. Das ließ sich nur mit der hübschen Erregung des Moments vergleichen, wenn man eine schöne Frau zum ersten Mal so von hinten sacht um die Schultern faßt und nicht weiß, wird sie empört sein oder stillhalten. (Eduard von Keyserling: Abendliche Häuser, S. 41)


Keyserling, Eduard von: Harmonie

  "Meine Mila haben Sie gesehn? Ja, ein gutes Kind. Sie hat eine angenehme Stimme. Sie ist noch zuweilen etwas laut, das fällt Annemarie auf die Nerven. Gott! man möchte die ganze Welt für sie wattieren." Frau von Malten zog die Augenbrauen ein wenig hinauf und sah Felix mit ihren trüben, grauen Augen ernst an. Ja, Felix kannte das, hinter den Elegien der guten Malten steckte immer eine Lehre. Sie betrachtete Annemarie wie eine Kirche, und sie war der Küster, der jeden an die Heiligkeit des Ortes zu erinnern hatte. (Eduard von Keyserling: Harmonie, S. 20)


Keyserling, Eduard von: Harmonie [2]

  Frau von Malten in ihrem schwarzen Atlaskleide legte bedächtig die Suppe vor. "In der Tat! Frau von Malten versteht aus jeder Mahlzeit ein Fest zu machen", bemerkte Felix höflich. "Malten! O ja!" bestätigte Annemarie, "und das ist auch nötig. Essen wird so leicht langweilig oder schlimmer noch. Ich höre es sehr gern, wenn Malten von der Wirtschaft spricht. Da kommt nicht immer so was von Stehlen und so vor. Ich glaube, Mozart sprach von seinen Kompositionen so wie Malten von ihrer Wirtschaft." (Eduard von Keyserling: Harmonie, S. 36)


Keyserling, Eduard von: Harmonie [3]

  Die Malten meldete die Nachtigall, und nun hörte man zu. (...) "Eine merkwürdige Nachtigall" - erklärte Thilo, "die singt, als hätte sie einen Konflikt hinter sich." "Ehekonflikt", kicherte die Exzellenz. Felix lachte so laut auf, daß ihn alle ansahn. "Ich denke", sagte er, " daß es gut ist, daß wir nicht nach Ehekonflikten in den Fliederbusch steigen müssen und die Nacht durch singen." Wirklich herzlich lachte nur Mila darüber. "Mich rührt sie", sagte Annemarie. "Sie singt - als ob sie sich fürchtete - vor etwas, das kommen könnte, wenn alles still und dunkel und sie allein ist." "Leisten wir ihr deshalb Gesellschaft?" fragte die Exzellenz. Felix lachte spöttisch: "Ja, wir sind hier so wichherzig, daß wir nächstens neben jedes Vogelnest eine Nachtlampe hängen werden, damit die Vögel sich im Dunkeln nicht fürchten." (Eduard von Keyserling: Harmonie, S. 47)


Keyserling, Eduard von: Seine Liebeserfahrung [1]

  Er schaut gut aus, der alte Bursche. Das Gesicht quittengelb. Solche Reisende sind immer leberleidend. Das dichte Haar und der Vollbart sind schon grau, aber ein seltsam farbiges Grau, wie das Fell junger Mäuse. Dazu die fieberblanken Augen. Er wohnt da draußen vor der Stadt in seinem schönen Landhause und läßt sich von seiner jungen Frau pflegen, der alte Egoist. Er mag sich den Magen tüchtig an den Genüssen der fünf Weltteile verdorben haben. Die Frau soll so etwas wie eine Schönheit sein, sagte Fred Spall, der ein Verwandter von ihr ist. Also ich gehe morgen hin, damit auch das abgetan ist –, aber meine Abende dort verbringen, o nein! Die kann ich besser anwenden als bei dem alten Daahlen mit seiner kranken Weltleber zu sitzen. (Eduard Graf von Keyserling: Seine Liebeserfahrung)


Keyserling, Eduard von: Seine Liebeserfahrung [2]

  Ein Ereignis hatte heute bei mir begonnen, das war sicher, aber jetzt wollte es mir scheinen, als sei es tragisch. Wie es auch kommt, es soll gründlich durchlebt werden. Ich wollte in meinem Leben immer zu viel den Regisseur spielen, wir leben unser Leben doch dann nur ganz, wenn wir es verstehen, unser eigenes Publikum zu sein. – Nur das. Ich bin ein Gedankenpedant. Was war es, was ich erlebte? Verliebtsein – was ist das? Definitionen sind immer falsch, aber sie beruhigen. (Eduard Graf von Keyserling: Seine Liebeserfahrung)


Kipling, Rudyard: Unheimliche Geschichten

  Nur wenige Dinge auf dieser Welt sind uns noch angenehmer als die bedingungslos-ungestüme, leidenschaftsvollunverhüllte Bewunderung, die uns manchmal ein Jüngerer entgegenbringt. Kein weibliches Wesen, auch nicht in blindester Hingabe, würde sich das Gehaben des von ihr bewunderten Mannes so gänzlich zu eigen machen, ihre Kopfbedeckung nach seiner Art tragen, oder die eigene Rede um seine Flüche bereichern! (Rudyard Kipling: Unheimliche Geschichten, S. 191)


Kishon, Ephraim: Der seekranke Walfisch... [1]

  In der Regel gibt es vier Jahreszeiten im Jahr: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Das gilt auch für England. Allerdings haben sie dort alle vier Jahreszeiten am selben Tag. Morgens Sommer, mittags Winter, abends Herbst und Frühling. Manchmal auch umgekehrt. Es gibt keine festen Regeln. Man schaut zum Fenster hinaus: Der Himmel ist strahlend blau, die Sonne scheint. Freudig verläßt man das Haus, tritt auf die Straße hinaus - und springt zurück, weil wenige Schritte entfernt soeben ein Blitz eingeschlagen hat. Wassersturzfluten, wohin man blickt. Man eilt die Stiegen hinauf, rafft Regenmantel und Schirm an sich, tritt abermals auf die Straße - und wird von freundlichem Vogelgezwitscher empfangen. Am wolkenlosen Himmel lacht die Sonne. Mit Recht. (Ephraim Kishon: Der seekranke Walfisch oder ein Israeli auf Reisen)


Kishon, Ephraim: Der seekranke Walfisch... [2]

  Der Amerikaner findet alles, was er tut und was ihm geschieht, in Ordnung. Er wundert sich nicht im geringsten, wenn ihm ein Tankstellenwärter ameisenhaltige Konzertflügel zum Kauf anbietet. Er glaubt fest daran, daß Gott das Fernsehen erfunden hat, auf daß die natürliche Dreiteilung des Tages gewahrt werde: acht Stunden Schlaf, sechs Stunden Arbeit und zwölf Stunden vor dem Bildschirm. Er ist davon durchdrungen, daß ein erstklassiger Baseballspieler mit Recht so viel Geld verdient wie der Präsident der Vereinigten Staaten oder sogar wie Elvis Presley; daß man die Zukunft planen und Geld sparen muß für den Tag, an dem die Atombomben zu fallen beginnen; daß eine amerikanische Ehe ohne zwei amerikanische Kinder - einen amerikanischen Knaben und ein amerikanisches Mädchen im Alter von elf beziehungsweise neun Jahren - keine amerikanische Ehe ist; daß es nur in Amerika Steaks gibt; daß man aus Broschüren alles erlernen kann, auch »Wie man Präsident wird, in zehn leichtfaßlichen Lektionen«; und daß Gott die Amerikaner liebt, ohne Rücksicht auf Rasse oder Religion, aber mit Berücksichtigung ihres sozialen Status. (Ephraim Kishon: Der seekranke Walfisch oder ein Israeli auf Reisen)


Klima, Ivan: Liebe und Müll [1]

  Meine Frau hatte jahrelang vergeblich eine halbwegs zumutbare Arbeit gesucht. Erschöpft von den Laufereien auf Ämter, die beauftragt waren, politisch Labile von Arbeitsplätzen fernzuhalten, nahm sie schließlich den Job einer Interviewerin für irgendeine soziologische Meinungsumfrage an. Gegen ein Entgelt, das eher demütigte als anspornte, mußte sie Neubausiedlungen abklappern und unwillige oder ängstliche Leute überreden, ihre Fragen zu beantworten. Sie beklagte sich zwar nicht, verfiel aber gelegentlich in Depressionen. (Ivan Klima: Liebe und Müll, S. 19)


Klima, Ivan: Liebe und Müll [2]

  Außer Zahlen und Maschinen liebte Vater, wie mir später aufging, auch hübsche Frauen und die Vorstellungen der Sozialisten von einer besseren Welt. Und wie jeder Verliebte setzte er auf den Gegenstand seiner Vergötterung übertriebene und trügerische Hoffnungen. Meinst du, daß sich jede Liebe übertriebende Hoffnungen macht? fragte sie. Mir war klar, daß sich die Frage auf uns beide bezog, und ich wagte nicht, sie zu bejahen, obschon ich nicht wußte, warum ausgerechnet wir eine Ausnahme bilden sollten. (Ivan Klima: Liebe und Müll, S. 28)


Klima, Ivan: Liebe und Müll [3]

  Früher hatte ich geglaubt, daß alles, was ich wahrnahm, in irgendeiner Geschichte verwendbar wäre. Aber bald war mir klar, daß ich wohl kaum eine andere Geschichte finden würde als meine eigene. Man kann sich kein fremdes Leben aneignen, und selbst wenn man es könnte, fände man keine neue Geschichte. Auf der Erde lebten nahezu fünf Milliarden Menschen, von denen jeder glaubte, sein Leben ergäbe mindestens eine Geschichte. Allein diese Vorstellung machte mich ganz schwindlig. Wenn sich ein Schreiber finden, oder, besser noch, erschaffen ließe, der so besessen wäre, fünf Milliarden Geschichten festzuhalten, aus denen er dann alles striche, was er an Übereinstimmungen fände, wieviel bliebe dann wohl übrig? Von jedem Schicksal kaum ein Satz, ein Moment, ein bloßer Tropfen im Meer, ein unwiederholbares Erlebnis oder des Schmerzes - aber wer von außerhalb sollte diesen Tropfen erkennen, wer ihn von der Meeresflut trennen? Und wozu überhaupt sollten noch neue Geschichten erdacht werden? (Ivan Klima: Liebe und Müll, S. 29)


Klima, Ivan: Liebe und Müll [4]

  Die Menschen suchen Bilder für das Paradies und finden nichts anderes als das, was ihnen auf Erden lieb ist. Das Paradies läßt sich nicht in Bildern fassen, es ist vielmehr ein Zustand des Zusammenfindens. Mit Gott, mit dem Menschen. Es kommt aber wohl darauf an, daß es in Reinheit geschieht. Das Paradies ist vor allem ein Zustand, in dem die Seele sich rein fühlt. (Ivan Klima: Liebe und Müll, S. 225)


Köpf, Gerhard: Ein alter Herr [1]

  Alte Herren haben meist einen Leibarzt, den sie seit Jahrzehnten konsultieren. Auf diese Weise entsteht eine Art Ehe, in der sich das wechselseitige Wissen übereinander wie Gesteinsflöze ineinander schiebt. Die ärztlich erforderliche Balance zwischen menschlicher Nähe und klinischer Distanz wird dabei mitunter auf eine delikate Probe gestellt, zumal die Leibärzte von alten Herren in der Regel selbst alte Herren sind. (Gerhard Köpf: Ein alter Herr, S. 5)


Köpf, Gerhard: Ein alter Herr [2]

  Der alte Herr hatte den ruhigen Herbst des Lebens erreicht. Er war dort seßhaft geworden, wo er einst studiert und, fast noch ein bartloser Jüngling, seinen Doktor gemacht hatte. An diese bewegte Zeit erinnerte er sich hin und wieder, besonders wenn er wegen einer Lappalie mit einem Polizisten aneinander geriet. Das war ein Hobby von ihm. Mit patrizischer Dünkelhaftigkeit fragte er dann den Elitebeamten, welchen Schulabschluß er geschafft habe. Tief in seinem Inneren wünschte er sich jedoch, mit dem Jähzorn eines Kirmesboxers zuzuschlagen. Es war eben nicht immer einfach mit meinem alten Herrn. Das spürten auch seine Nachbarn in der Siedlung, die überwiegend von kleinen Beamten bevölkert wurde. Sie lehnten den Professor insgeheim ab. Er paßte nicht in ihre geistesfreie Welt, weil er als verdächtig vornehm galt. Irgendwie witterten diese einfachen Menschen, daß er mit seinem Intellekt ihre Vorgartenidylle störte. Weil aber sie alle so sein wollten wie die anderen, war der alte Herr ein Fremdkörper. Er wiederum fand es gräßlich, aufgrund seiner gediegenen Erziehung zu diesen Leuten höflich sein zu müssen. Zweifellos spürten sie seine Verachtung, denn die Gewöhnlichen beargwöhnten bekanntlich diejenigen, die sich mit Dingen beschäftigen, von denen sie keine Ahnung haben. (Gerhard Köpf: Ein alter Herr, S. 10/11)


Köpf, Gerhard: Ein alter Herr [3]

  Natürlich stimme ich Dir zu, daß es mitunter zugeht wie im Märchen von Hase und Igel. Wo das Leben hin will, ist die Literatur schon da. Zu allen Zeiten holten sich alte Männer gerne junge Frauen in ihr Bett. (...) Gewiß, die 'Musen sind ewig jung, aber die Kombination von jungem Wein und alten Schläuchen dient seit alters der Belustigung der Zuschauer. Es ist also vor allem die Lächerlichkeit, die dieser Konstellation innewohnt. Zu ihr gesellt sich die Peinlichkeit, die sich im zeitgeistigen 'Forever Young' manifestiert. Alte Männer mampfen Kleie, stapfen mitten im Sommer mit Skistöcken durch die Fußgängerzonen und leisten sich teuren japanischen Fisch, weil sie in der Apothekerzeitung gelesen haben, roh verzehrt fördere dieser die Potenz. Oder sie nehmen an einem Kurs für Lach-Yoga teil, bis der Botenstoff Gamma Interferon aus dem Körper geschmunzelt ist. Männer in unserem Alter setzen sich eine Baseball-Kappe verkehrt herum auf den Kopf, ziehen sich knappe Höschen an, um als 'Inline Skater' junge Frauen zu beeindrucken: gepanzert an sämtlichen Gelenken, in der Tasche die Handynummer des Orthopäden. Ich beobachte Greise auf Rennrädern: behelmt wie Hindenburg vor der Schlacht von Tannenberg, mit enganliegendem Gummizeug angestrapst, um dem drohenden Hodenkrebs vorzubeugen. Meistens schimmelt es bereits darunter. (Gerhard Köpf: Ein alter Herr, S. 86)


Köpf, Gerhard: Ein alter Herr [4]

  Der harmlose Bürger, Angehöriger der sogenannten Gerontologie, also in fortgeschrittenem Alter, bevorzugt mit Gehhilfe, ist das obskure Objekt der Begierde. Die ideale Zielscheibe. Auf diese Weise wird ihm einmal mehr in rüdem Ton und mit professioneller Rüpelhaftigkeit verdeutlicht, daß er nichts als Kroppzeug sei und sich gefälligst schleunigst vom Acker zu machen habe. Nein, der alte Herr spricht zur Identifizierung der Terroristen nicht von den anarchieverliebten Radfahrern, die mit ihren Hochgeschwindigkeitswaffen über Gehwege rasen, auf Parkwegen, in falscher Richtung durch Einbahnstraßen, regelmäßig auf der verkehrten Seite, in einem Tempo, daß einem das Blut unter den Fußnägeln hervorspritzt. Mit einem altmodisch stabilen Stockschirm allerdings, a la d'Artagnan blitzschnell zwischen die Speichen gestochen, ist ihnen noch halbwegs beizukommen. Doch der Feind tarnt sich geschickt: Mal kommt er als ausgedörrter Büroangestellter auf einem rostigen Drahtesel daher, mal als schickimickigestylter Jungunternehmer auf einem Instrument zum Preis eines Appartements in Schwabing. Besonders gefährlich sind breitärschige Hausfrauen auf Hollandrädern sowie Damen geistlicher Herkunft, die auf ihrem Nonnenhobel alles niederwalzen, was sich ihnen auf der Zufahrt zum Dom in den Weg stellt. Der alte Herr meint auch nicht Inliner- Kamikazes oder Skateboard-Sturzpiloten, deren verwegenes Äußeres allein Furcht und Schrecken unter der älteren Bevölkerung verbreitet. Die Rede ist von jungen Männern und Frauen mit einem dieser neumodischen Kinderwagen: handlich wie eine Uzzi, gefährlich wie eine Tellermine und effizienter als das Pfeilgift Curare. Aber beladen wie ein Packesel. An allen möglichen Stellen sind zusätzliche Netze angebracht, prall gefüllt mit Plastiktüten, Nuckelflaschen und Regenzeug. Noch im Tiefgeschoß, also unter dem eigentlichen Frachtraum, türmten sich sinnlose Gegenstände. Nicht die Mitglieder von Al Kaida, nicht Osama Bin Laden oder die letzten Versprengten von Oberst Khadafi, nicht die ETA und nicht die IRA, sondern harmlos erscheinende junge Väter und Mütter, die strotzend vor Stolz ihre Brut der Umwelt zumuten und der Frischluft aussetzen, sind die wahren Terroristen. Mit ihren Kindskutschen, die mehr und mehr Unheil bringenden Tarnkappenpanzern gleichen, walzen sie alles nieder, was ihren Weg kreuzt, und sie hinterlassen eine blutige Spur des Verderbens unter uns Alten und Gebrechlichen. Offenbar gibt es aufgrund einer überlangen Pillen-Verhütung immer mehr Zwillinge, für die besonders mörderische Sichel-Streitwagen mit Überlänge konstruiert wurden, die Ben Hur vor Neid erblassen ließen. (Gerhard Köpf: Ein alter Herr, S. 35f.)


Köpf, Gerhard: Ein alter Herr [5]

  Hector mußte plötzlich Pipi machen, wie sein Vater mit unschuldigem Augenaufschlag versicherte, nicht ohne unerwähnt zu lassen, er habe seinen Sohn aus Gründen der Männlichkeit a priori zum Stehpinkler erzogen. Wegen ihrer notorisch überschätzten Zielgenauigkeit haßte der alte Herr diese atavistische Ausdrucksform von Maskulinität. Am Rande eines Nervenzusammenbruchs angekommen wies der Professor auf die Glastüre zum Badezimmer, wählte im Geiste jedoch bereits die Nummer der Feuerwehr. (Gerhard Köpf: Ein alter Herr, S. 47)


Köpf, Gerhard: Ein alter Herr [6]

  Die Friseure genossen mittlerweile Kultstatus, wie einschlägigen Gesellschaftnachrichten, vulgo Klatschspalten, in Boulevardblättern, vulgo Revolverjournaillen, zu entnehmen war. Einen sogenannten 'Termin' für eine Positronenemissionstomografie zu bekommen, (man sagt heute: einen 'Termin machen', aber die Katze 'macht' auch etwas in die Ecke) war einfacher, als vom Barbier drangenommen zu werden. Wartezeit: wenigstens zehn Tage. Dabei hatte der alte Herr eigens begriffen, wie wenig sie wert waren. Schließlich begab er sich entnervt zu einem Friseur in seinem Viertel: 'Keralogie Creative Crew' - KCC. Inhaberin: Helga Friesenheimer. Man glaube nun ja nicht, murmelte der alte Herr vor sich hin, Frau Friesenheimer habe das Graecum, weil sie mit dem Wort 'Keralogie' herumfuchtelt wie ein Betrunkener mit einer Handgranate. (Gerhard Köpf: Ein alter Herr, S. 90)


Köpf, Gerhard: Ein alter Herr [7]

  Kaum hatte der alte Herr das notorisch berühmte, geradezu famose Geschäft auf Münchens Prachtboulevard, dieses weißgold verspiegelte, rokokokette, lusterlüsterne Taj Mahal der Noblesse durch ein venezianisches Portal (18. Jahrhundert) betreten, als ihn ein eigenartiger Duft umwehte. Es roch nach Weihrauch, Gold und Myrrhe. Wer Oberadel- Edelmosers Schwelle übertritt, der befindet sich im Morgenland der Heiligen Drei Könige. In den hinteren Gemächern vermutet man unwillkürlich Johannes Heesters und Cha-Cha-Cha Gabor beim Halma. Der alte Herr hatte mit Vorbedacht die frühe Vormittagsstunde gewählt, weil er dann hoffen durfte, vom 'Principe' persönlich umsorgt zu werden. Er gilt als Frühaufsteher. Schon segelte Ernesto Oberadel- Edelmoser wie ein Maharadscha auf seinen Kunden zu: Admiral auf einem majestätischen Windjammer, über alle Toppen beflaggt, in einen betörend geschnittenen Blazer von beinahe anrüchiger Eleganz gewandet, einer engimatischen Kombination aus Violett und Weinrot, dekoriert mit einem ungemein passenden blaugelben Seidenschlips (Preisklasse Lamborghini). Die ebenso kunstvoll wie eigenwillig arrangierte Lockenpracht glänzte blauschwarz wie auf dem Haupt eines Aztekenpriesters. Keiner in der Stadt kannte das Geheimnis, das diese Coiffure zusammenhielt. Das wie von Nektar und Ambrosia gepflegte Menjoubärtchen zuckte professionell über einen kapriolierenden Mund nach oben. Man sah es auf Anhieb: Dieser Mann hatte Stil. Dieser Mann hatte Format. Es war vom Scheitel bis zur Sohle eine ästhetische Existenz. Ein vornehmer Mensch. Ein Souverän. Maestro Oberadel- Edelmoser, dieses Prachtexemplar von einem Modeschöpfer, lächelte wie stets: jedewedem Dünkel abhold, sympathisch würdevoll, sogar ein wenig verschmitzt. (Gerhard Köpf: Ein alter Herr, S. 148)


Köpf, Gerhard: Ein alter Herr [8]

  Nun ist er also regelrecht ausgebrochen, dieser Frühling: wie ein Häftling. In der Tat handelt es sich bei dieser Jahreszeit um eine gemeingefährliche Laune der Natur. Alle sprießt, sprotzt, spreizt und - explodiert. Mein Freund, es ist unerträglich. Kein Zweiglein, das sich nicht zu einem Knöspchen bemüßigt fühlt, kein Grashalm, der nicht glaubt, sich emporrecken zu müssen. In meiner neurotischen Nachbarschaft hängen bereits bemalte Plastikeier an den Büschen, die gegen Luftgewehrkugel resistent sind. Man müßte scharfschießen dürfen. Bewegt man sich in die Stadt, so scheinen Tausende von Höhlenbewohnern plötzlich auf den Straßen, Radfahrer üben breits erste terroristische Einsätze, von Kinderwägen ganz zu schweigen. Die weibliche Welt glaubt bei den ersten Sonnenstrahlen, sämtliche Anstandsgrenzen überschreiten und möglichst viele Kleider von sich zerren zu müssen. Die Flut sekundärer Geschlechtsmerkmale - mit der man urplötzlich konfrontiert wird wie mit einem Tsunami - ist zutiefst verstörend und bedrohlich. Gestern noch mit dicker Wolle und allerlei Kunstfaser keusch bedeckt, offenbart sich einem das Weibliche schlagartig wie eine Naturkatastrophe. Auf der Steinbank vor der Residenz hockt das Volk dicht bei dicht wie Hühner auf der Stange, hält sein Gesicht in die Sonne, beißt in eine Senf triefende Leberkässemmel oder verschüttet böswillig seinen im Plastikbecher mitgebrachten Kaffee auf die Kleidung des Nachbarn. (Gerhard Köpf: Ein alter Herr, S. 153)


Köpf, Gerhard: Ein alter Herr [9]

  Kaffee und reichlich Sahnetorten bei 'Bachmair am See' gestalteten den Nachmittag nur gerinfügig erträglicher. Aus dezent versteckten Lautsprechern ertönte das übliche lästige Musikgedudel. Die Herrschaften unternahmen einen kleinen Rundgang durch den Ort, begutachteten und kommentierten die Auslagen. Benigna von Abel erwog bei 'Bogner' den Kauf eines Dirndls, denn alle Menschen liefen, Ergebnis einer globalen Bajuwarisierung, in 'Designer-Tracht' herum, als habe ganz Bayern Ausgang. 'Urige Country-Mode' nannte man das jetzt. Sogar ein 'Thermo-Dirndl' für Damen mit empfindlichen Unterleib wurde angeboten. Dazu Haferschuhe, getestet von 'Lurchi'-Salamander. Der alte Herr murmelte etwas von Stil- Stalinismus, war aber nach außen hin von bestürzender Freundlichkeit und verbarg geschickt sein lebhaftes Distanzierungsbedürfnis. (Gerhard Köpf: Ein alter Herr, S. 163)


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