Allgemeine Fundstücke  / [K2]


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Konecny, Jaromir: Doktorspiele

  Mama spinnt! Omas Tod hat bei ihr die Hirnwindungen verknotet. Im Traum war ihr Omas Geist erschienen und hatte ihr gesagt, daß Mutter eine Heilerin sei - 'ne Hexe! "Wenn ich über meine Kräfte Bescheid gewußt hätte", jammerte Mutter damals, "hätte ich Oma retten können." Ein klarer Fall!! Was soll Lillis Vater als berühmter Gehirnchirurg mit einer Hexe anfangen? Die zu allem Überfluß studierte Mediziner als Scharlatan und Quacksalber abfertigt? Erst vor zwei Jahren hat Mutter ihren Hexenbesen an die Wand gehängt und sich als Naturheilerin getarnt. (Jaromir Konecny: Doktorspiele, S. 14)


Krampitz, Karsten: Wasserstand und Tauchtiefe

  Mischnik ist ja nicht gerade unkompliziert, aber witzig. Etwa wenn er über die "Bionade-Bourgeoisie" in der neuen Siedlung lästert: Die Ehefrauen von denen, sagt er, hätten alle Sozialpädagogik studiert und hießen Frauke. Beim Reden setzten sie mit den Fingern Gänsefüßchen. Und alle trügen sie lila Kopftücher und an den Ohren extra große Kreolen. Und während die Fraukes im Garten die Brut beaufsichtigten, läsen sie "Fifty Shades of Grey" im Original oder die Landlust. (Karsten Krampitz: Wasserstand und Tauchtiefe)


Krausser, Helmut: UC

  Das Londoner Orchester empfing mich kühl, wie einen Parvenü, der sich mit chauvinistischen Provokationen nach oben fuchteln wollte. Über den Proben lag ein irrationales, unausgesprochenes Mißtrauen. Als ich die Entfernung eines Posaunisten forderte, der meinem Gehör nach nur über eine Lotterie seinen Platz im Bläsertrakt ergattert haben konnte, glitt die Diskussion mit dem Konzertmeister in gewerkschaftliche Dimension ab, mir wurde vorgeworfen, den Halbgott im Frack zu geben, die Zeiten eines Toscanini seien passe. (Helmut Krausser: UC, S. 14)


Krausser, Helmut: Die Zerstörung der europäischen ...

  Ich glaube, für alle sprechen zu können, wenn ich sage, daß die Rituale des Abends von nun an einen Grad weihevoller verlaufen. Schon allein in der Art, wie jeder sein Glas an die Lippen führt, ist wieder etwas enthalten, was längst verloren schien - die gewisse Religiosität der Trinker zu Beginn ihrer Karriere, wenn man den Becher nimmt wie berufene Frauen den Schleier, wenn jeder Schluck ein kleines Gebet enthält und jeder Rülpser ein Amen. (Helmut Krausser: Die Zerstörung der europäischen Städte, S. 20)


Krausser, Helmut: Die Zerstörung der ... [2]

  In den Schoppenstuben gab es nicht nur Schwule, montags und mittwochs konnte man auch einem Lesbenpärchen beim Knutschen zusehn. Ich trank dort bis zur Ohnmacht und lernte Calvin kennen, einen jungen englischen Homo, bestens bewandert in der Geschichte abendländischer Adelshäuser. Er sprach Deutsch mit feinstem Oxford-Akzent und war vom Ostteil der Stadt begeistert. Hier könne man es ruhig noch ein paar Wochen ohne Kondom treiben, meinte er. Calvin war nett, ließ oft etwas springen, schrieb langstrophige Gedichte, und obwohl ihm sonst nichts fehlte, ging er jeden Donnerstag in eine HIV-Positivengruppe. "Da herrschte immer so ein herrlich pathetischer Ton", erklärte er, "so bedeutungsschwer, so eine Würde in der Auswahl der vorletzten Worte, alles ist eine gravitätische Zeitlupe getaucht, ach..." Calvin war auch regelmäßiger Gast bei von Praunheims literarischen Sonntagssalons und nahm mich dorthin mit. Man diskutierte über die Homo-Akten beim Stasi, es gab schlechten Wein zu trinken, und im Lauf des Abends erzählte ich einen bärtigen Menschen fast unaufgefordert drei Fünftel meiner Lebensgeschichte. Es war der absolute Tiefpunkt. (Helmut Krausser: Die Zerstörung der europäischen Städte, S. 28)


Krausser, Helmut: Die Zerstörung der ... [3]

  Spontanenentschluß, Geburt aus Armut und Entzug, aus Wahn- und Leichtsinn. Wir stürmten die Tankstelle, schrien nach Bier in kleinen, unnumerierten Flaschen. Mit dem erbeuteten Kasten flohen wir quer über die Autobahn, hinein in den Wald und begannen zu trinken. Da entdeckte ich eine Nummer auf einer der Flaschen. Ich warf sie zornig zu Boden. Wir konnten nur hoffen, daß es keine fortlaufende Serie war. Aber siehe: Auf allen Flaschen stand die gleiche Nummer. Man hatte uns Falschbier angedreht. (Helmut Krausser: Die Zerstörung der europäischen Städte, S. 53)


Krausser, Helmut: Die Zerstörung der ... [5]

  "Das Geschäft mit der Angst" raunt mir der Einäugige zu, "ist von allen das lohnendste; die gesamte Zivilisation basiert darauf! Und im Krieg und in der Liebe..." Die gelbe Gier lehnt sich aus seinen Augen. Seit neuestem dealt er garantiert negative Aids- Befunde, von Haustür zu Haustür, Originalformulare vom Gesundheitsamt, mit Blankodatum und brillant gefälschtem Zertifikat. Stück 20 Mark. Da drüben steht er, klingelt, lüftet den Hut... "Die Frau Ihrer Träume wird Sie lieben dafür!" ist sein verkaufsträchtiger Spruch. (Helmut Krausser: Die Zerstörung der europäischen Städte, S. 56)


Krausser, Helmut: Die Zerstörung der ... [5]

  Er spuckte zurück und wartete auf die fällige Ohrfeige, um ebenfalls ohrfeigen zu dürfen. Die Rituale einer solchen Partyauseinandersetzung sind ja gemeinhin bekannt. Natürlich kann es passieren, daß Frauen die Regeln dieser Kämpfe noch nicht richtig im Blut haben und die Reihenfolge der Waffengänge mitunter durcheinanderbringen. Nur damit ist es zu erklären, daß die Spielverderberin Hardy blitzschnee und wuchtig in die Eier trat. (Helmut Krausser: Die Zerstörung der europäischen Städte, S. 136)


Krausser, Helmut: Die Zerstörung der ... [6]

  Ich erinnerte mich daran, daß ich einmal vier Jahre alt war und mir eine Ameise über den Handrücken wanderte und ich mir schwer überlegte, ob ich sie zerquetschen dürfe oder nicht, daß ich mich dann, Daumen nach unten, für das Töten entschied, den Körper der Ameise zwischen zwei Fingern zerrieb und fortschnippte und mich plötzlich das Bewußtsein quälte, ein Mörder geworden zu sein und ich aufschaute zu Gott und ihn fragte, ob ich nun verflucht sei, und er keine Antwort gab. Andererseits freute ich mich meiner Mordnacht und richtete tags darauf unter den Ameisen ein Massaker an, denn wenn schon verflucht, dann wenigstens aus gutem Grund. (Helmut Krausser: Die Zerstörung der europäischen Städte, S. 153)


Krausser, Helmut: Die Zerstörung der ... [7]

  Del Vries thronte auf einem breiten Ledersessel, links neben sich einen grell bemalten Lampenschirm, rechts neben sich seine ebenso grell bemalte Gattin. Seit neuestem trug er Glatze. Sylvia hatte dazu den bösen Spruch geprägt, er habe beim Friseur eine Denkerstirn verlangt. Seine Frau war blond, faltenreich und braungebrannt, und ihren Mund umspielte ein weinerlicher Zug. Sie galt als strunzdumm und im Übermaß peinlich. Man riet del Vries jahrzehntelang, sich doch von ihr zu trennen, worauf er sie aus reinem Trotz behielt, um seine Umgebung zu ärgern. (Helmut Krausser: Die Zerstörung der europäischen Städte, S. 146)


Krausser, Helmut: Die kleinen Gärten des [1]

  Er gehe jetzt Karten spielen. Es wäre schön, wenn um Mitternacht der Kaffee heiß wäre. Warum, fragt Elvira, die normalerweise pünktlich um zehn Uhr abends schlafen geht, sagst du das nicht dem Personal? Bin ich dein Dienstmädchen? Er ist nicht mehr heiß, insistiert Giacomo und legt eine Extraportion Bedeutung in das Wort. Er brauche einen Liter heißen Kaffee für seine Kunst, ob das zuviel verlangt sei? Seinetwegen, gibt Elvira zu bedenken, müssen jemand vom Personal bis Mitternacht aufbleiben. Ob er seine Kunst nicht vielleicht auch Tag fabrizizieren könne? Und Giacomo platzt der Kragen. Seine Kunst finanziere das alles hier! Ein gewichtiges Argument, dem Elvira ad hoc nichts entgegenzusetzen weiß. Sekunden später fällt ihr ein, daß sie damals aus Liebe zu Giacomo gezogen ist, sich aus Leidenschaft und Liebe für ihn entschieden hat, aus Leidenschaft und Liebe, eine katholische Mutter, mit der Aussicht, oder wenigstens dem nicht geringen Risiko, in bitterster Armut zu leben, aber das mag und kann Puccini nicht mehr hören, nicht mal, wenn sie es ihm hinterherbrüllen würde. (Helmut Krausser: Die kleinen Gärten des Maestro Puccini, S. 21)


Krausser, Helmut: Die kleinen Gärten des [2]

  Aus Puccini sei durchaus noch etwas herauszuholen, sofern er seinen Lebenswandel in den Griff bekäme, dann, und nur dann, könne vielleicht noch mit ihm zu rechnen sein. (...) Aber nun stehe ein Skandal, vielmehr ein Erdbeben ins Haus, wenn erst bekannt werde, daß er mit einer Art Hure verkehre, einer Proletin, in die er sich ernsthaft verguckt habe. Diese Affäre müsse unterbunden werden, mit allen Mitteln. Dieses zweilichtige Nüttchen sei eine Zapfstelle, ein Talentvampir, sie entziehe ihm jede Arbeitskraft. (Helmut Krausser: Die kleinen Gärten des Maestro Puccini, S. 27)


Krausser, Helmut: Die kleinen Gärten des [3]

  Der gelbe Kater war neun Jahre alt und hatte noch nicht eines seiner neun Leben hinter sich. Doch wie es manchmal geht, mußte er binnen weniger Minuten für alles den vollen Preis zahlen. Wie viele glückliche Geschöpfe war er egoistisch geworden, fraß Krebs nur noch, wenn Mme. Malefoot vorher die Schalen entfernte, verschmähte Magermilch, gab sauce roulee den Vorzug vor Butter, leckte aber zur Not auch Butter bis zum letzten Flöckchen vom Teller und brauchte nur lässig an der Hintertür zu kratzen, damit Mme. Malefoot gerannt kam und ihn mit dem Versprechen eines Stücks Käse ins Haus lockte, denn guten, kräftigen Käse schätzte er mehr als alles andere, ausgenommen frischgefangene junge Mäuse, so jung, daß sie noch kein Fell hatten, das ihm appetitverderbend im Hals steckenblieb, solche, die er lebendig mit Knochen und allem verschlingen konnte, mit einem wohligen frisson, wenn sie noch zappelten. (Annie Proulx: Das grüne Akkordeon, S. 366)


Krausser, Helmut: Die kleinen Gärten des [4]

  Der Vater liebt ihn nicht sonderlich, weil er aus der langen Familientradition gefallen scheint und keinerlei Talent zur Musik zeigt. Als er dem Fünfjährigen die erste Geige geschenkt hat, so eine Anekdote, verzog sich der kleine Tonio damit, baute einen Mast und Segel und ließ die Geige im nächsten Teich als Piratenschiff schwimmen. Eigentlich eine Phantasie verheißende Anekdote. Viele Jahre später wird Giacomo sie anders erzählen, wird behaupten, Tonio habe ihm auf der Geige vorgespielt, er selbst habe dessen nicht existentes Talent lächelnd eingesehen und die Geige zum Segelschiff umfunktioniert. Es entspricht seiner Gewohnheit, den Dingen nachträglich einen ihm gewogeneren Rahmen zu verleihen, selbst wo er niemals ein Musikinstrument, das teuer Geld gekostet hat, zu Wasser lassen würde. (Helmut Krausser: Die kleinen Gärten des Maestro Puccini, S. 73)


Krausser, Helmut: Die kleinen Gärten des [5]

  Der Dampf aus der Gerüchteküche weht bald, diverse Umwege benutzend, Elvira ums Haupt; die bis dahin herzliche Atmosphäre kühlt ab. Die Seligmans bekommen zwar nicht direkt etwas mit von dem sich zusammenbrauenden Gewitter, spüren aber, daß etwas nicht in Ordnung sein muß, und reisen nach London zurück, bevor ein böses Wort das scheinbare Idyll zerstört. Giacomo schwört beim Grab seiner Mutter, daß nichts passiert sei, und bestreitet sogar, daß Sibyl eine erotische Anziehung auf ihn ausübe. Elvira gibt sich, auch sie will einmal etwas Neues ausprobieren, verständnisvoll und hofft besorgt, daß Sybil nicht schwanger von ihm werde. Giacomo lacht und meint, das sei absurd, sei in der Menschheitsgeschichte erst einmal vorgekommen, und wenn es Gott einfallen sollte, ein zweites Kind mit einer Sterblichen zu zeugen, würde selbst er sich mit Sybil schwertun. (Helmut Krausser: Die kleinen Gärten des Maestro Puccini, S. 261)


Krausser, Helmut: Die kleinen Gärten des [6]

  Am nächsten Tag erscheint im Gionarle d'Italia ein Interview Puccinis, in dem er Strauss Eintönigkeit durch den ständigen Gebrauch starker Gegensätze vorwirft, während Debussy ganz neue musikalische Farben gefunden habe. Zwar bewundere er beide, Strauss wie Debussy, als Italiener aber bleibe er überzeugter Parteigänger der Melodie. Dem Tonfall ist ein gewisser Nationalismus anzuhören. Empfinden sich auch alle drei genannten Komponisten längst nicht mehr als Galionsfiguren irgendeiner nationalen Schule, werden sie doch als solche, Sportlern gleich, in der Presse gehandelt und sehen sich, um an der Heimatfront nicht anzuecken, zu einer vaterländischen Pflichterfüllung verdammt. (Helmut Krausser: Die kleinen Gärten des Maestro Puccini, S. 268)


Krausser, Helmut: Eros [1]

  Unsere Familienleben wurde von meinem Vater raffiniert durchdacht, von meiner Mutter loyal unterstützt. Was sie nicht begriff, machte sie durch Gehorsam und Hingabe gut. Oft beobachtete ich Papa, wie er die Stirn senkte und, von der Auffassungsgabe seiner Gattin frustriert, Ablenkung in einem Teppichmuster suchte, wie er dann Trost dadurch empfing, daß jenes geborene Freifräulein von Hohenstein, ein solches war meine Mama, keinerlei Anordnung zu widersprechen wagte. Oh, ich begriff, welche Anstrengung meinen Vater jenes Dasein als Oberhaupt einer mustergültigen Familie kostete, begriff auch, welchen Stolz er am Ende eines Tages neben sein Kissen bettete, er, dieser gebildete, künstlerisch veranlangte Mensch, der, nach schlichten Prämissen, alles Wesentliche geschafft hatte, der reich war, geachtet und geschmackvoll, der die Pflicht zum Nachwuchs in Einklang gebracht hatte mit einem Leben in geheimer Überhöhung. (Helmut Krausser: Eros, S. 18)


Krausser, Helmut: Eros [2]

  Zwei Wochen später dann sagte mein Vater zu mir: "Denk daran, daß du ein Deutscher bist. Dürer schaut auf dich herab!" Und er zeigte auf den Druck in der Diele, Dürers Selbstbildnis, mit langem Haar, ich glaube, es war ein Ersatz, weil er Jesus nicht so ganz leiden konnte. Dürer schaut auf dich herab! Das wurde irgendwann, selbst für meine flachen Schwestern, zum geflügelten Wort, über das man heimlich lachte, beim Lachen aber Scham empfand und Verbotenheit. Wie man irgendwann aufs Feld geht und ruft: Gott, du bist ein blöder, alter Gauch! Und kein Blitz fährt hernieder, weil Gott gerade nicht hingeschaut hat. Dürer dagegen sah immer herab. (Helmut Krausser: Eros, S. 20)


Krausser, Helmut: Eros [3]

  Seltsames ging vor. Von Brücken war aufgestanden und langsam um meinen Schemel herumgegangen. Seine Stimme war fester und fester geworden, zuletzt war sie von der gewinnenden Art eines Henkers, der dem Delinquenten versichert, er wolle es ihm so einfach machen wie möglich, es helfe ja nichts, man müsse da jetzt durch. Er verfügte über die Gabe, an manchen Stellen sehr direkt, ja grob zu werden, die Grobheit aber sofort wieder zurückzunehmen, dem Beleidigten aufzuhelfen, bis dieser die Beleidigung nicht nur verzieh, sondern die nachgereichte Entschuldigung beinahe als Auszeichnung empfand. Eine Taktik, die mir von diversen Verlegern her vertraut war. (Helmut Krausser: Eros, S. 11)


Krausser, Helmut: Eros [4]

  Sie entwickelt sich. Wird ihre Ausbilderin eine ekelhafte Menschenschinderin und Nazischnepfe nennen, wird ihe ein Tasse 57 Grad Celsius heißen Tee ins Gesicht schütten, was für die sogenannte Nazischnepfe gesundheitlich folgenlos bleibt. Das Getränk kühlt sich während des Fluges um entscheidende fünf (!) Grad ab. Die Nazischnepfe verzichtet mangels sichtbarer Wunden auf eine Anzeige und beläßt es bei der fristlosen Entlassung. Sofie wird, wie sie es angekündigt hat, putzen gehen. Wird die Abendschule besuchen. Ihre Adoptiveltern schießen etwas Geld zu, ebenso Rolf, der sein Studium mit Bestnote abschließt und fortan lehrt, was er selbst gelernt hat, nämlich Orgelbau, ein Beruf, vorläufig mit Zukunft, so viele zerbombte Kirchen werden neu aufgebaut und mit Musik munitioniert. Jeder hat zu tun. Rolf und Sofie leben einige Jahre ganz glücklich zusammen, beide zu beschäftigt, um daran zweifeln zu können. (Helmut Krausser: Eros, S. 132)


Krausser, Helmut: Nicht ganz schlechte Menschen [1]

  Hedwig, eine engelhaft niedliche, zart gebaute und meist gutgelaunte Frau von dreißig Jahren, sympathisierte mit den aufregend neuen, beängstigend demokratischen Ansichten ihres deutlich älteren Gatten, den sie aus Vernunftgründen geehelicht, dann jedoch schnell liebgewonnen hatte. Er war auf seine Weise ein ehrlicher und anständiger Mann. Wobei das nicht alle so beurteilt hätten. Die Loewes lebten während des für Deutschland immer unglücklicher verlaufenden Völkerringens relativ komfortabel in einer Sieben- Zimmer-Wohnung in der Nähe des Nauener Tors und konnten sich selbst während der härtesten Entbehrungszeit zwei Bedienstete leisten, ein Zimmer- und ein Kindermädchen. Von beiden machte Theodor Loewe körperlichen Gebrauch. Hedwig nahm ihm das aber nur anfangs und pro forma übel, sie war ja eingeweiht. Theodor hatte ihr freimütig von seinem Leiden berichtet, mittlere bis schwere, sagte er, und seine Stimme zitterte, Satyriasis, er könne nicht anders, nein, mit Liebe habe das nichts zu tun, es handle sich eher um die Verrichtung kloakischer Bedürfnisse, um eine Art sexuellen Brechdurchfalls. (Helmut Krausser: Nicht ganz schlechte Menschen)


Krausser, Helmut: Nicht ganz schlechte Menschen [2]

  Beider Lieblingsfach war zum Befremden des Vaters weder Deutsch noch Mathematik, sondern – ausgerechnet – Religion. Sie ahnten früh, daß es hier um etwas nicht klar Faßbares ging, fanden sich mit vielen Behauptungen konfrontiert, mit denen sich wunderbar spielen und spekulieren ließ. Warum Jesus immer mit langen Haaren dargestellt werde, fragten sie ihren Lehrer, Herrn Vogel, wo doch der Apostel Paulus solche Frisuren ausdrücklich kritisiert hätte. Und warum nicht alle Männer in christlichen Ländern Jesus nacheifern würden, statt alle drei Wochen zum Friseur zu gehen? Sie fragten auch, woher man denn wissen könne, daß Jesus Gottes einziger Sohn gewesen sei. Aus der Lektüre der griechischen Götter- und Heldensagen wußten sie, daß der inzwischen abgesetzte Zeus in etlichen Verkleidungen vielfach für Nachwuchs unter menschlichen Frauen gesorgt habe. Der christliche Gott dagegen habe sich nur einmal hinreißen lassen, eine Ehe zu brechen? Vielleicht seien die anderen Male ja unentdeckt geblieben? Für solche Fragen und Äußerungen bekamen sie mächtig Ärger, und Theodor Loewe wurde dringend gebeten, die Elternsprechstunde zu besuchen. Dort beklagte man sich pflichtgemäß über die vorwitzigen Brüder, aber bei allem Unmut klang auch der Respekt durch, den achtjährige, zur Blasphemie neigende Kinder sich weißgott verdient haben. (Helmut Krausser: Nicht ganz schlechte Menschen)


Krausser, Helmut: Nicht ganz schlechte Menschen [3]

  ... wurde Friedrich Nietzsche zum entscheidenden Einfluß für Max. Mit vierzehn Jahren geriet er an ein Exemplar der "Fröhlichen Wissenschaft", was in eine drei Jahre dauernde Ekstase mündete. Er betrat mit der Lektüre jenes Buches nicht etwa fremdes Terrain, nein. Er empfing eine zweite Taufe, stürmte, zitternden Herzens, den Palast eines Denkers, der alles, was zuvor für sicher und indiskutabel galt, zertrümmert hatte. Der mit dem großen Hammer der Vernichtung philosophierte und seine Leser losließ aufs tabulose Denken an sich. Der jedes Individuum, das ihm verfallen war, in eine von Gemeinplätzen und Vorurteilen unumstellte Zone zwang. Mit seiner Sprache, seinen fast ausnahmlos trinkbaren Sätzen, bewirkte er zugleich, daß sich das aller Sicherheiten beraubte Individuum in der neuen Freiheit nicht nur frei und nackt, sondern sogar wohl und kreativ fühlte, beinahe wie ein junger, aufbegehrender Prometheus, dem alles Allzumenschliche ebenso vertraut wie krank und überwindbar erschien. (...) Wie so viele Jugendliche unter dem Einfluß dieses Denkers schnappte er über, glaubte sich dazu ausersehen, eines Tages die Papier gebliebenen Gedanken des Riesen in Taten zu übertragen. An ihm würde letztendlich die Umsetzung jener Neu-Ordnung der Welt liegen. Denn niemand sonst begriff Nietzsche so gut wie Max Loewe. Fand Max Loewe, der gebenedeit war unter den Jünglingen. (Helmut Krausser: Nicht ganz schlechte Menschen)


Krausser, Helmut: Nicht ganz schlechte Menschen [4]

  Die Gier auf das Mädchen Irmgard, eine drahtige Blondine aus der Nachbarschaft, die Max mit ihrer kleinen Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen schier wahnsinnig machte, brachte ihn der rückständigen Welt (...) wieder näher. Ausgerechnet Karl, als wollte er den Bruder ärgern, lud Irmgard, dieses geistig schlichte Gezücht einer Arbeiterfamilie, ins Kino ein. (...) In der darauffolgenden Nacht bekämpfte Max seine Eifersucht durch exzessive Masturbation, fand sich endgültig zurückgeschleudert in die Allzumenschlichkeit des Daseins. (...) Wenn Max, den sie ungleich interessanter fand, sie fortan nicht demonstrativ geschnitten, wie eine Unterleibskranke behandelt hätte, wäre sie ihm aller Wahrscheinlichkeit nach verfallen, und er hätte seinen Wunschtraum, einmal mit der Zungenspitze in ihrer Zahnlücke zu wühlen, in die Tat umsetzen können. Jede Jugend ist eine Tragödie verpaßter Möglichkeiten, die widerwillig zur Komödie wird. (Helmut Krausser: Nicht ganz schlechte Menschen)


Krausser, Helmut: Nicht ganz schlechte Menschen [5]

  Schwieriger zu kaschieren waren Max’ finanzielle Unpäßlichkeiten. Von seinem Erbteil war kaum noch etwas übrig. Im Gegensatz zum sparsamen Karl hatte Max das meiste auf den Kopf gehauen oder in fragwürdige Bekanntschaften investiert. Er sah nun drei Möglichkeiten: entweder neben dem Studium eine ihm unwürdige Arbeit anzunehmen, seine Eigentumswohnung zu verkaufen und billig zur Miete zu wohnen oder beim Pferderennen zu gewinnen. Letzteres schien deutlich attraktiver als die Alternativen, also fuhr er regelmäßig mit der Trambahn nach Mariendorf, zu den Trabrennen. Wo er erst seine, dann große Teile von Ellies Rücklagen verspielte. Es war nicht etwa so, daß ein hochintelligenter Mensch wie Max keinen Weg gefunden hätte, ein gewinnbringendes System auszutüfteln. Dessen Schwachpunkt lag einzig bei den Pferden, die unfähig waren, seinen Gedanken zu folgen, die sich einen Dreck um mathematische Formeln scherten und oft sogar, aus tierischer Bosheit, anders ins Ziel einliefen als von Max prognostiziert. Damit hatte niemand rechnen können. (Helmut Krausser: Nicht ganz schlechte Menschen)


Krausser, Helmut: Alles ist gut [1]

  Jerzy, der polnische Hausmeister in unserem Block, ist einundachtzig Jahre alt. Ein Hutzelmunkel, nicht eben zwangsjackenhacke, doch eigenstartig bis skurrilst. Jedes Weibswesen, welchen Alters einerlei, spricht er mit "Gneidiges Froillein, wie scheen Sie sein!" an und bezirzt / beschleimt es, als stünde sein Mittelleib noch in vollem Saft und Wuchs. Manchmal holt er aus der Hose etwas hevor, das, denn Jerzy weiß um präzise Grenzen, in seiner Faust versteckt bleibt. Es ist mehr als Witz gemeint denn als Bedrohung oder Angebot. Wenn er über den Hof schlurft und seine fleckigen Hände zittern, könnte man Mitleid bekommen - oder in Verstimmtheit geraten über die hier deplazierte Lethargie des Todes, die einen wie ihn nicht erlösen will. Indes - der Flinkflug seiner Zunge erstaunt, er zäumt sie auf ihren verwegenen Ausritten mit Komplimenten und erotischen Avancen, die an sich peinlich wirken mögen. Von einem reiferen, gnädigeren Standpunkt aus betrachtet, der die Welt und ihre Insassen gründlicher kennengelernt hat und um die Vergänglichkeit allen eitlen Treibens weiß, kann man ihm etwas Drolliges abgewinnen. (Helmut Krausser: Alles ist gut)


Krausser, Helmut: Alles ist gut [2]

  Im Bett war June die eierleckende Wollmilchsau. Mit wollmilchsäuisch meine ich: Sie machte alles, was ich begehrte, und machte es gut und sehr gern. (...) Soviel Genuß sie mir bereitete, so schwer schien es möglich, ihr zu einem ähnlichen Genuß zu verhelfen. Nicht, daß sie mir keine Höhepunkte vorgegaukelt hätte, als Dank für die Mühe, die ich mir gab. Aber es waren eben immer nur Orgsamusbehauptungen, aus Höflichkeit oder Taktgefühl. Andere Männer hätten den Unterschied womöglich nicht bemerkt. Aber ein Komponist spürt die organische, tripelfugenartige Abfolge der komplexen Rhythmen, die Verkürzung der Metren, die Übergänge von Sechzehntelkeuchern zum Zweiunddreißigstelwinseln, dann die Klimax, verschärft von Triolen und Quintolen mit synkopierten Beckenbewegungen der Lust darunter, bis alles ins große Finale mündet, in den gewaltigen Schlußakkord, von jetzt völlig wilden, unregelmäßig gesetzten Baßfiguren durchwoben. Darüber die Fanfaren, die Blitze im Gehirn. Und das Gleiten ins Meer der Ruhe, in die lange Fermate am Ende, der Triumph der Befriedigung, während ein durchgedrehtes Kontrafagott noch ein paar akustische Fähnchen der Begeisterung hißt. Die Tonalität war ja grade deshalb ein solcher Erfolg in der Menscheitsgeschichte, weil sich mit ihren Mitteln Sex musikalisch adäquat darstellen ließ. (Helmut Krausser: Alles ist gut)


Krausser, Helmut: Kartongeschichte [1]

  Alfred wuchs behütet zwischen gepflegten Vorstadtgärten auf. Nach einer damals populären Fernsehserie wurde er Alf gerufen, sah niedlich aus als Kind, sah frühreif aus als Pubertierender, beinahe alles fiel ihm in den Schoß. Gute Noten, gute Freunde, gute Frauen. Mit neunzehn Jahren, als andere noch unschlüssig waren, was sie studieren sollten und wozu, gründete er eine Firma, bestand darauf, daß man ihn nicht mehr Alf nannte, sondern Red. Red Hot. Mit zweiundzwanzig war er Millionär. Sein Betrieb expandierte, er steckte jeden erwirtschafteten Cent in Biotechnikaktien, die Aktien stürzten ab. Undsoweiter. Erstaunlich, wie sich so viel Erlebtes in so wenigen Sätzen endlagern läßt. (...) Scheitern, grandios scheitern wie Alfred, tragisch scheitern, weil die Welt noch zu bäuerlich mißtrauisch ist, um an Biotechnikaktien zu glauben, ja, das ist ein Schicksal. (Helmut Krausser: Kartongeschichte)


Kubiczek, André: Die Guten und die Bösen [1]

  Zigmund Fraud war die hundertprozentige Parodie eines Computerfreaks, eines Cyberpunks, wie ihn klischeehafter kein noch so unbeleckter Fernsehjournalist hätte erfinden können. Sein Zimmer glich einer Recyclingstation für Elektronikmüll, ein Schrotthaufen, aus dessen Tiefen er immer wieder Teile herausgriff, um sie miteinander zu verlöten. Natürlich war sein Lieblingsfilm Wargames, natürlich las er nur Science-Fiction-Bücher, in denen junge Männer mit luziden Gehirnen und freien Oberkörpern von dunklen Mächten in Gestalt klappernder, kurzschlussgeplagter Androidenarmeen bedroht wurden, und natürlich aß er vorzugsweise Pizza und trank Bier aus Büchsen, die er, wenn sie leer waren, an seiner Stirn zerdrückte und geschlossene Auges in einen Abfalleimer warf, über dem ein kleines Basketballnetz hing. Und als reiche das nicht aus, dem klassischen Ideal von Schönheit und Geschmack - oder doch zumindest dem weniger anspruchsvollen bürgerlichen Wohnkomforts - zuzusetzen. legte er sein Clownskostüm ab, besorgte sich eine schwarze Lederkluft und frisierte die Haare zu klebrigen, abstehenden Stacheln, um dann derart vor seinem Monitor zu sitzen, dessen Gehäuse er mit schwarzem Reparaturlack gestrichen hatte, und jenen Teil der Welt mit virtuellen Taschenspielertricks zu belästigen, den er über sein Modem erreichen konnte. (André Kubiczek: Die Guten und die Bösen, S. 44)


Kubiczek, André: Die Guten und die Bösen [2]

  Er sah aus wie ein Yuppie auf dem Freizeittrip. Außerdem hatte er eine Bierfahne und glasige Augen. Er bat Nike in die Küche und entkorkte eine Flasche Wein. Nike, die darauf vorbereitet gewesen war, Vanessa hier anzutreffen, nahm erleichtert einen ersten Schluck und wartete auf Instruktionen, die jedoch nicht kamen. Sie saßen lediglich am Küchentisch herum und fanden keine Worte, die diesen Einbruch des Privaten in ihre Beziehung hätten lockerer gestalten können. Wie immer, wenn Dr. Schwarzhaupt ihr gegenübersaß und schwieg, hatte sie den Eindruck, seine Augen tasten unter dem Schutz der Spiegelbrille ihren Körper ab. Sie hatte heute eigens auf einen Rock verzichtet und war stattdessen in Jeans gekommen, auch um Vanessa nicht den Vorwand für eine spätere Entgleisung zu liefern. Sie war sich ziemlich sicher, daß Vanessa der Typ Frau war, der nach Vorwänden für haltlose Unterstellungen geradezu fahndete, von Affären beispielsweise, und Nike war sich auch sicher, daß Dr. Schwarzhaupt nicht der Mann war, der solche Unterstellungen entkräften konnte. Er war lediglich das phlegmatische Pendant zu einer hysterischen Frau. (André Kubiczek: Die Guten und die Bösen, S. 253)


Kubiczek, André: Junge Talente [1]

  Delia öffnete ihm die Tür, ihre Eltern waren nicht zu Hause. Hier, in der Sicherheit ihrer Wohnung, hatte sie eine Souveränität, deren Fehlen sonst am deutlichsten im Sportunterricht auffiel, wenn sie als Letzte in eine der Mannschaften gewählt wurde, sehr exotisch in ihrem blaumetallic Puma-Turnzeug zwischen all den Sack-und Asche-Kombinationen, und sich immer wieder darüber zu ärgern vermochte, eine stille, äußerst komische Verbissenheit, mit der sie erfolgslos um Gleichberechtigung bat. Es war bekannt, daß sie eine ausufernde Westverwandtschaft hatte. Sie schrieb mit Füllfederhaltern von Pelikan, um deren leere Patronen sie die anderen früher angebettelt hatten, und es gingen Gerüchte, daß ihr Kinderzimmer mit Kiss- Postern zutapeziert sei, das doppelte S des Namenszugs in Runenform. Less wußte nach seinem Besuch, daß das nicht stimmte, doch er stellte es nicht klar, weil er sie nicht um das letzte Interesse der Mitschüler berauben wollte. (Andre Kubiczek: Junge Talente, S. 17)


Kubiczek, André: Junge Talente [2]

  Mit lautem Kreischen fuhr der Zug in den Bahnhof ein, und der ganze müde Tross kraxelte in die staubigen Waggons hinauf. Es war einer dieser doppelstöckigen Zubringer, die jeden Tag die Resignation des Umlands in die größeren Städte verfrachteten, über deren Bahnhofsvorplätze hinweg sie sich dann zerstreute, sich epidemisch ausbreitete bis in Werkhallen, Umkleidekabinen, Waschkauen: ein Zug von proletarischen Pilgern, dessen Botschaft Müdigkeit hieß, eine Botschaft, die jeder Einzelne wie eine Fußfessel hinter sich herschleifte. Alle fielen sofort in ein erschöpftes Keuchen, die Augen geschlossen, die Köpfe in die Ecken der Polster gestürzt, die Wangen ans schmierige Glas der Scheiben gepresst. Einige hängten sich die Blousons über die Gesichter. Draußen wurde es allmählich heller, die Landschaft gewann an Geschwindigkeit, und in Less siegte die Unruhe über die Freude, keiner von denen zu sein, deren Körper jetzt schlafsüchtig im Takt der Gleisnahtstellen wippten, denen dünne Speichelfäden aus den Mundwinkeln rannen, die die glimmenden Zigaretten sich zwischen ihren erschlafften Fingern zu Asche verbiegen ließen. Man hätte leicht verzweifeln können an ihrer Verzweiflung. (Andre Kubiczek: Junge Talente, S. 64)


Kubiczek, André: Junge Talente [3]

  Aus der Imbißbude unter der Hochbahnbrücke stieg weißer Rauch auf. Trotz der Kälte stand ein Dutzend Menschen an den runden Plastiktischen. Sie bliesen dampfenden Atem auf das dampfende Essen. Ketchup tropfte aus den zusammengepreßten Brötchenhälften in den Schnee. Less kaufte sich eine Bratwurst und ein Bier und gesellte sich zu denen, die hier aus unerfindlichen Gründen ihren Heimweg in die Länge zogen. Abendbrot gab es schließlich überall. Komische Gestalten allesamt, kaum Frauen darunter, und hätte man sie mit einem Wort bezeichnen sollen, das trotzdem jeder einzelnen gerecht, geworden wäre, hätte dieses Wort hängend lauten müssen. Alles ging an ihnen, die Kleidung am Körper, die Haare vom Kopf, die Tränensäcke, die Lebensmittel in den Einkaufsnetzen. Selbst wenn sie die Arme hoben, um vom Brötchen abzubeißen oder einen Schluck Bier zu trinken, hatte es den Anschein, als müßten sie doppelt so stark gegen die Gravitation kämpfen wie andere. (Andre Kubiczek: Junge Talente, S. 68)


Kubiczek, André: Junge Talente [4]

  Sie erzählte von ihrer Schwangerschaft, von ihrem Mann, vom Haushalt: nur Probleme. Sie hofften auf eine Neubauwohnung, mehr nicht. Junge oder Mädchen: egal. Jenes Gemüse gab es nicht, diese Zigarettensorte nicht, aber Tomaten-Ketchup, eine ganze Kiste ergattert neulich, kein Gewürz-Ketchup, das richtige. Eine Freundin arbeitete am Fleischstand in der Kaufhalle und machte ihnen zum Wochenende immer ein Paket zurecht, Kochschinken und Filet. Einmal im Monat die Haare, mobile Trockenhaube etc. Eine Suada der Mängel, des Mangels, der Mangeln. Überall durchzogen und ausgepreßt. Alles drehte sich ums Fressen, um Wohnungseinrichtung, Autoanmeldung, Schwiegereltern, die den Würgegriff probten, Nachbarn mit aufgerissenen Stereoanlagen, Ersatzteile, Handwerker und begann wieder von vorn. Nicht der Anflug einer Idee, nicht einmal die Spur von etwas, das man nicht anfassen konnte, in den Mund stecken, ins Gesicht schmieren oder verhökern. Nicht der kleinste Versuch, sich eine Patina von Bedeutung auf den ganzen Krempel zu halluzinieren, wenn es sie schon nicht gab. Nein: Der Krempel stand für sich, und er war wahr, und das Pathos, das ihn beschwor, klang ernst und zum Teil sogar tragisch. (Andre Kubiczek: Junge Talente, S. 106f.)


Kubiczek, André: Junge Talente [5]

  Die Kneipe war für einen Sonntagnachmittag gut gefüllt, die Gäste schienen Stammkunden zu sein, die ihren Frühschoppen verlängerten, in den Abend hinein, an dem das Saufen wieder eine normale Tätigkeit sein würde. Arbeitergesichter allesamt, hager, alterslos, die Frauen ausgemergelt oder aufgeschwemmt, alle in einer Feiertagsgarderobe, die eine Spur zu frisch war, zu gut gebügelt und zu bunt für diesen Anlaß. Bier und Schnaps hatten ihre Gesten fahrig gemacht, von Zeit zu Zeit erhoben sich einzelne Wörter aus dem Brei der lallenden Gespräche und standen sekundenlang zwischen den Tabakschwaden im Raum, Wörter, die wohl Zuneigung ausdrücken sollten oder Sympathie, deren rabiate Artikulation sie aber zu Zoten machte. Verlierer allesamt, die belassen werden mußten in den verkackten Situationen, in denen sie steckten, in der Rolle der Relativierer, in die ihre Kinder nachrücken würden, wenn sie selbst am Suff verreckt waren. Und das nur, um nicht ein allgemeines Bewußtsein für das Unglück zu entfachen, für das Unglück der Mehrheit. (Andre Kubiczek: Junge Talente, S. 200)


Kuczok, Wojciech: Dreckskerl

  Obwohl der Junge edle Proportionen besaß, litt er an dem Gebrechen der absoluten Unauffälligkeit; er gehörte zu denen, über die wir auf der Straße stolpern und selbst dann noch nicht sehen, wenn sie sich umdrehen und brüllen, man könne sich wenigstens entschuldigen. Dem Jungen stand die Chronik der Liebesdebakel ins Gesicht geschrieben, was ihm einen wildentschlossenen Ausdruck gab; es war gerade so, als würde er sich augenblicklich zum Gewaltakt eines sofortigen Antrages an die wohl am wenigsten anspruchsvolle Frau entschließen und bis ans Ende seiner Tage in einer tragischen Ehe steckenbleiben (denn daß er zu denen gehörte, die sich eben nicht scheiden lassen, saß man auf den ersten Blick. (Wojciech Kuczok: Dreckskerl, S. 19/20)


Kuczok, Wojciech: Dreckskerl [2]

  Am seligsten war an dem Tag die Schwester des alten K., fast posierte sie als heilige Theresa, wenn sie mein Paradeanzügelchen ansah, die gweihte Kerze in meiner Hand, wie ich mich der Herde der zur Erlösung geführten Lämmchen anschloß, sie verdrehte die Augen vor Wonne; ich hätte schwören können, daß das die glücklichsten Augenblicke in ihrem Leben waren, all jene, die mit dem vorkirchlichen Menschenauflauf zusammenhingen; ob bei meiner Heiligen Kommunion oder bei der Firmung, immer sah ich diese grenzenlose Befriedigung auf ihrem Gesicht, wenn sie mich an sich drückte und Maria anempfahl, ich fühlte direkt, wie sie wie eine Katze schnurrte, ich sah, wie ihre Lider bebten, wie sie die Augen zukniff, wenn der Priester in den Vermeldungen ihren Namen aussprach und ihr für ihre Gemeindearbeit dankte, ich stellte mir vor, was während der Pilgerfahrten des Papstes mit ihr geschah, was in ihr vorging, wenn sie, zwischen Menschengewühl und Schutzschranken gepfercht, einen Moment ganz dicht am Papamobil stand, einen Moment Seine Augen, Seinen Blick auffing und spürte, daß sie in diesem einen Moment die einzige Person auf der ganzen Welt war, die der Papst anblickte; ich stellte mir all dieses süßen Ohnmachtsanfälle vor und begriff im Nu die Quellen ihres Altjungfernstandes: mein Tantchen war eine weltliche Nonne, Priorin des einköpfigen Ordens zur Heiligen Selbstinnigkeit, das war so gewiß wie der Schauer in der Kirche, wie die brennenden Sünden auf dem Scheiterhaufen der Gebete, wie das Fingergeflecht der Fröm-möm-mömmigkeit, wie die Schwester des alten K. hatte von den Litaneien blau geränderte Augen und ein von den Gespenstern Glaube, Liebe, Hoffnung randvolles Herz. (Wojciech Kuczok: Dreckskerl, S. 124)


Küng, Max: Wenn du dein Haus verlässt...

  Er dachte: Ich kann gar nicht so viel saufen, wie ich saufen müßte, so beschissen anstrengend ist das Leben manchmal. Aber er sagte es nicht, denn er war sich des Pathos seiner Gedanken bewußt. Andere hatten nicht so viel Glück wie er. Er hatte eine Frau, zwei gesunde Kinder, einen Job und nationale Bekanntheit. Was wollte er mehr? Auf diese einfache Frage hatte er eine einfache Antwort: Intimverkehr. Eine Nummer schieben. Schnackseln. Es treiben. Nageln. Poppen. Bimsen. Kohabitieren. Koitieren. Uga-Uga. Sex. (Max Küng: Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück)


Kumpfmüller, Michael: Hampels Fluchten

  Sie hatten gerade noch Zeit, die Decke über das Bett zu werfen, da stand vor Sorge bleich der Vater im Zimmer und bat, ein paar Sachen für das Krankenhaus zusammenzupacken, und die Mutter ging gekrümmt vor Schmerzen und sagte gar nichts, sah nur das Mädchen Rosa und Heinrich, und die in aller Eile zurechtgezupften Kleider und die Hitze in den Gesichtern sah sie und war nicht böse, und daran, daß sie nicht böse und ihnen gönnte, was sie in ihrem Inneren zutiefst mißbilligte, erkannte Heinrich, daß es um sie geschehen war. Er brachte ihr bis zuletzt die Säfte und das Obst aus fernen Ländern, und gegen Ende wurde sie still und grau und appetitlos und wollte nichts mehr hören, denn das wußten die Lebenden schon vor ihrer schweren Arbeit des Sterbens, und daß man sie alle gerne in der Nähe hat, aber wenn es ernst wird, ist man lieber allein, nimmt Anlauf und bringt es hinter sich, und was immer dann kommt, ähnelt womöglich dem Paradies nicht, aber besser als diese Hölle ist es allemal. (Michael Kumpfmüller: Hampels Fluchten, S. 184f.)


Kundera, Milan: Die Unwissenheit [1]

  So ist das seit Irenas Kindheit: während sich die Mutter zärtlich im ihren Sohn wie um ein kleines Mädchen kümmerte, war sie ihrer Tochter gegenüber männlich spartanisch. Soll das heißen, daß sie sie nicht liebte? Vielleicht wegen Irenas Vater, ihrem ersten Mann, den sie verachtet hatte? Hüten wir uns vor einer solchen Küchenpsychologie. Ihrem Verhalten lag die beste Absicht zugrunde: von Kraft und Gesundheit strotzend, machte sie sich Sorgen wegen der mangelnden Vitalität ihrer Tochter; mit ihrer rüden Art wollte sie ihr ihre Hypersensibilität austreiben, ungefähr so wie ein sportlicher Vater, der sein ängstliches Kind ins Schwimmbecken wirft und überzeugt ist, die beste Art und Weise gefunden zu haben, ihm das Schwimmen beizubringen. (Milan Kundera: Die Unwissenheit, S 21)


Kundera, Milan: Die Unwissenheit [2]

  Sie war betört von seiner Güte, die allen als sein wesentlicher, auffallender, beinahe unwahrscheinlicher Charakterzug erschien. Damit bezauberte er die Frauen, die zu spät begriffen, daß diese Güte weniger eine Verführungs- als eine Verteidigungswaffe war. Als Lieblingskind seiner Mutter war er unfähig, allein, ohne die Fürsorge von Frauen zu leben. Um so schlechter jedoch ertrug er ihre Ansprüche, ihre Streitereien, ihre allzu gegenwärtigen, allzu expansiven Körper. Um sie halten und gleichzeitig fliehen zu können, schoß er Granaten der Güte auf sie ab. Von der Explosionswelle gedeckt, trat er den Rückzug an. (Milan Kundera: Die Unwissenheit, S 27)


Kundera, Milan: Der Scherz [1]

  Marketa gehörte zu den Frauen, die alles ernst nahmen (durch diese Eigenschaft verschmolz sie vollkommen mit dem Genius jener Zeit) und denen von den Schicksalsgöttinnen schon an der Wiege prophezeit wurde, daß ihre stärkste Eigenschaft die Gabe des Glaubens war. Damit will ich nicht etwa euphemistisch andeuten, daß sie dumm war; keineswegs: sie war ziemlich begabt und aufgeweckt und übrigens so jung (sie war neunzehn), daß ihre naive Leichtgläubigkeit eher zu ihrem Charme als zu ihren Mängeln gehörte, dies um so mehr, als sie von unbestreitbaren körperlichen Reizen begleitet war. Wir alle an der Fakultät mochten Marketa und bemühten uns mehr oder weniger intensiv um sie, was uns (zumindest einige von uns) aber nicht daran hinderte, daß wir uns zugleich, wenn auch im Guten, ein bißchen über sie lustig machten. (Milan Kundera: Der Scherz, S. 37)


Kundera, Milan: Der Scherz [2]

  Etwa einen Monat vor den Ferien begann ich, Marketa näherzukommen (sie war im ersten, ich im zweiten Studienjahr), und ich versuchte, ihr auf ähnlich dumme Art zu imponieren, wie zwanzigjährige Männer aller Zeiten dies tun: ich setzte mir eine Maske auf; ich gab vor, (an Geist und Erfahrung) älter zu sein, als ich es war, ich gab vor, von allen Dingen Abstand zu haben, die Welt von oben herab zu betrachten und über meiner Haut noch eine andere, unsichtbare, kugelsichere Haut zu tragen. Ich ahnte, zu Recht übrigens, daß Scherzen ein verständlicher Ausdruck des Abstands war, und wenn ich schon immer gerne gescherzt hatte, scherzte ich mit Marketa besonders angestrengt, gekünstelt und ermüdend. Wer aber war ich wirklich? Ich muß es nochmals wiederholen. Ich war jemand, der mehrere Gesichter hatte. (Milan Kundera: Der Scherz, S. 39)


Kundera, Milan: Der Scherz [3]

  Die Beherrschung weiblichen Denkens hat nämlich unumstößliche Regeln; wer sich entschließt, eine Frau zu überreden, ihr ihren Standpunkt mit Argumenten der Vernunft auszureden, wird kaum an sein Ziel gelangen. Es ist wesentlich klüger, die grundlegende Selbststilisierung einer Frau zu erfassen (ihre grundlegenden Prinzipien, Ideale und Überzeugungen) und dann zu versuchen, die gewünschte Handlungsweise der Frau (mit Hilfe von Sophismen, unlogischer Demagogie und ähnlichem mehr) mit dieser grundlegenden Selbststilisierung in eine harmonische Beziehung zu bringen. Helena zum Beispiel schwärmte häufig vom "Einfachen", "Ungekünstelten", "Klaren". Diese Ideal hatten ihren Ursprung zweifellos im ehemaligen revolutionären Puritanismus, und sie verbanden sich mit der Vorstellung vom "reinen" und "unverdorbenen" Menschen mit strengen sittlichen Grundsätzen. Da Helenas Welt der Grundsätze aber eine Welt war, die nicht auf Überlegung (einem System von Ansichten), sondern (wie bei den meisten Menschen) auf alogischen Vorstellungen basierte, war nichts einfacher, als die Vorstellung vom "klaren Menschen" mit Hilfe einer einfachen Demagogie mit einer ganz unpuritanischen, unmoralischen, ehebrecherischen Handlung zu verbinden und so zu verhindern, daß Helenas erwünschtes (das heißt ehebrecherisches) Verhalten in den nächsten Stunden in einen neurotisierenden Konflikt mit ihren inneren Idealen geriet. Ein Mann darf von einer Frau alles Erdenkliche verlangen, will er aber nicht wie ein Rohling handeln, muß er es ihr ermöglichen, im Einklang mit ihren tiefsten Selbsttäuschungen zu handeln. (Milan Kundera: Der Scherz, S. 212)


Kundera, Milan: Das Leben ist anderswo

  Damals schrieb man das Jahr 1870, und von fern drang Kanonendonner des preußisch-französischen Kriegs nach Charleville. Das ist eine besonders günstige Gelegenheit für eine Flucht, denn für Lyriker haben Schlachtrufe nostalgische Anziehungskraft. Sein gedrungener Körper mit den krummen Beinen zwängte sich in eine Husarenuniform. Der achtzehnjährige Lermontow wurde Soldat und entfloh der Großmutter und deren beschwerlicher Mutterliebe. Die Feder, Schlüssel zur eigenen Seele, tauschte er ein gegen die Pistole, Schlüssel zum Tor der Welt. (Milan Kundera: Das Leben ist anderswo, S. 191)


Kundera, Milan: Das Buch vom Lachen und Vergessen

  Ich betone es nochmals: Idylle und für alle, denn alle Menschen sehnen sich seit Urzeiten nach der Idylle, nach diesem Garten, in dem die Nachtigallen singen, nach diesem Areal der Harmonie, in dem sich die Welt nicht fremd gegen den Menschen, nicht ein Mensch gegen den andern richtet, sondern wo alle Menschen aus einem einzigen Stoff geschaffen sind und das Feuer, das am Himmel glüht, das gleiche ist, das in den Seelen der Menschen brennt. Alle sind dort eine Note in einer wunderbaren Bachschen Fuge, und wer dies nicht sein will, bleibt ein schwarzes Pünktchen, überflüssig und bar jeder Bedeutung, das man nur zu packen braucht, um es zwischen den Fingern zu zerquetschen wie einen Fisch. (Milan Kundera: Das Buch vom Lachen und Vergessen, S. 16)


Kundera, Milan: Das Buch der lächerlichen Liebe

  Wir machten uns über Herrn Zaturecky, dessen vornehmer Name uns faszinierte, lustig, allerdings auf eine sehr wohlwollende Weise, denn das Lob, mit dem er mich überschüttete, stimmte mich milde, insbesondere in Verbindung mit dem vorzüglichen Sliwowitz. Es stimmte mich so milde, daß ich in jenem unvergeßlichen Augenblick die ganze Welt liebte. Und weil ich nichts besaß, womit ich diese Welt hätte beschenken können, beschenkte ich Klara. Zumindest mit Versprechungen. (Milan Kundera: Das Buch der lächerlichen Liebe, S. 8)


Kundera, Milan: Das Buch der lächerlichen Liebe [2]

  Dieser Gott war erschaffen aus einer einzigen Idee (andere Wünsche und Gedanken hatte er nicht): er verbot außereheliche Liebesbeziehungen. Er war also ein ziemlich komischer Gott, aber lachen wir deshalb nicht über Alice. Von den zehn Geboten, die Moses der Menschheit übergab, waren neun für Alices Seele ganz ungefährlich, weil Alice weder töten noch den Vater nicht ehren, noch das Weib des Nachbarn begehren wollte; ein einziges Gebot empfand sie als 'nicht selbstverständlich', also als echtes Hindernis und als Aufgabe; es war das berühmte siebte: 'du sollst nicht Unzucht treiben'. Wenn sie ihren religiösen Glauben irgendwie verwirklichen, bezeugen und unter Beweis stellen wollte, so mußte sie sich gerade auf dieses eine Gebot konzentrieren, wodurch sie aus dem unklaren, verschwommenen und abstrakten Gott für sich einen bestimmten, verständlichen und konkreten Gott machte: den 'Antibeschlafgott'. Ich frage Sie, wo beginnt denn eigentlich die Unzucht? Jede Frau bestimmt diese Grenze für sich selbst nach ganz geheimnisvollen Kriterien. Alice erlaubte Eduard ganz gern, daß er sie küßte, und nach seinen unzähligen Versuchen fand sie sich sogar damit ab, daß er ihre Brüste streichelte, in der Mitte ihres Körpers aber, sagen wir in Höhe des Bauchnabels, hatte sie streng und kompromißlos eine Linie gezogen , unterhalb derer sich das Land der geheiligten Verbote befand, das Land der Gebote Moses' und des Zorns des Herrn. (Milan Kundera: Das Buch der lächerlichen Liebe, S. 210)


Kurbjuweit, Dirk: Zweier ohne [1]

  Wir gingen nicht ungern zur Schule. Wir waren ohne Aufwand mäßig gute Schüler, manchmal neugierig auf das, was uns erzählt wurde, meistens aber gelangweilt, ohne verdrossen zu sein. Unsere Lehrer betrachteten wir mit Nachsicht. Sie nahmen ihre Aufgabe, uns auf die Welt der Erwachsenen vorzubereiten, rührend ernst, obwohl niemand wußte, was für eine Welt das sein würde, wenn wir erwachsen wären. Alles änderte sich immerzu. Natürlich hatten auch wir Grund, Lehrer zu hassen, unser Erdkundelehrer zum Beispiel war ein Scheusal, mit einem Hang zu tagfüllenden Hausaufgaben, aber dann sahen wir ihn ratlos vor den großen Landkarten stehen, die er im Klassenzimmer entrollt hatte, und wieder stimmten die Staatsgrenzen nicht mehr. Fast tat er uns Leid, wenn er die Karten anhand von Zeitungsgraphiken ergänzen oder ändern wollte, mit einem dicken schwarzen Stift, den er zittrig führte. Was wir dann sahen, entsprach der aktuellen politischen Lage noch weniger als die Originalkarte, weil der Erdkundelehrer wieder abgerutscht war mit seinem Stift, die Karten hingen ja und lagen nicht. So teilte er beim Versuch, in unserer Gegenwart Jugoslawien zu zerschlagen, das griechische Festland in zwei Hälften und er gründete in einer Ecke des Iran eine unabhängige Republik, als er die Sowjetunion auflöste. (Dirk Kurbjuweit: Zweier ohne, S. 57)


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