Allgemeine Fundstücke  / [L]


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Lampedusa, Guiseppe Tomasi di: Die Sirene

  Ich bin ein Gewohnheitstier; so setzte ich mich immer an denselben kleinen Ecktisch, der genau so gebaut war, daß er dem Gast die größtmögliche Unbequemlichkeit bot. Links von mir spielten zwei Gespenster von höheren Offizieren mit zwei Schreckbildern von Appellationsgerichtsräten Tricktrack; die militärischen und richterlichen Würfel glitten ohne einen Laut aus dem Lederbecher. Weiter saß links von mir immer ein Herr sehr vorgeschrittenen Alters, in einen abgetragenen Mantel gemummt, dessen Astrachankragen nicht mehr allzu viele Haare aufwies. Er las unaufhörlich ausländische Zeitschriften, rauchte Toskanerzigarren und spuckte häufig; alle Augenblicke klappte er die Zeitschriften zu und schien in den Rauchwindungen irgendeiner Erinnerung nachzuhängen. Danach begann er wieder zu lesen und zu spucken. Er hatte recht häßliche, knochige, rötliche Hände mit geradegeschnittenen, nicht immer sauberen Nägeln; aber als er einmal in einer seiner Zeitschriften auf die Abbildung einer jener archaischen griechischen Statuen stieß, bei denen die Augen weitab von der Nase stehen und um deren Mund ein undeutbares Lächeln liegt, sah ich überrascht, daß seine unschönen Fingerkuppen mit einer geradezu königlichen Zartheit über das Bild hinstrich. (Guiseppe Tomasi di Lampedusa: Die Sirene)


Lange, Hartmut: Die Ermüdung [1]

  "Und Sie waren glücklich verheiratet?" "Ja, sehr glücklich." "Das ist vernünftig", fügte er hinzu. "Denn was ist die Ehe anderes, als der Versuch, sich aneinanderzuklammern. Vorausgesetzt, man begreift, daß das Leben letzten Endes nichts anderes bieten kann als Betroffenheit. Sie verstehen, Betroffenheit, die durch Einsamkeit wächst, und von der man sich gegenseitig ablenken muß. So gesehen, war ich von meiner Frau abhängiger, als es den Anschein hatte." (Hartmut Lange: Die Ermüdung, S. 71)


Lange, Hartmut: Die Ermüdung [2]

  Wer Anlagen dazu hat und seine Sensibilität wie einen Seismographen den Erschütterungen des Lebens aussetzt, erfährt früher oder später jenes Gefühl von Ermüdung, das es ihm immer schwerer macht, seinem Dasein lebenswerte Aspekte abzugewinnen. Man hat alle Horizonte, die die Hoffnung uns vorgaukelt, umschritten und merkt nun, daß man im Kreis geht und daß diese Kreise, da man der Hoffnung nicht mehr vertrauen kann, immer enger werden, und zuletzt kann es vorkommen, daß jedes Interesse am Leben, da es in seinem Wiederholungen schal geworden ist, erlischt. (Hartmut Lange: Die Ermüdung, S. 97)


Lange, Hartmut: Das Konzert

  Der plötzlich über Nacht hervorbrechende Frühling gab ihm das sichere Gefühl, daß es ihm erlaubt sein müßte, es der Natur gleichzutun, die mit der Kraft des Unbedenklichen grünte und blühte, und da er die eigene Form abgestreift hatte und frei, unterschiedlos nur noch dem Wesentlichen verbunden war, genügte ihm ein Blick auf die Kastanien vor seinem Zimmer, um sich in seiner Euphorie zu bestätigen. (Hartmut Lange: Das Konzert, S. 99)


Lange-Müller, Katja: Die Enten, die Frauen...

  Überhaupt wird es dem Neugierigen, erst recht dem Mutigen, nicht versagt bleiben, mit Pilzen und durch sie viel zu erleben. - Nein, ich denke jetzt nicht an solches Mistzeug (im wahrsten Sinne des Wortes), wie diese - gewaltige Räusche samt noch unerforschten Nebenwirkungen auslösenden - Glockendüngerlinge, die in holländischen Kellern auf Kuhfladen gezüchtet werden und die man, weil auf dem weiten Feld des Pilzes noch manche Lücke im Betäubungsmittelgesetz klafft, übers Datennetz bestellen kann. Ebensowenig meine ich die törichten Experimente mit dem Panther- oder dem alten Ernst-Jünger-Kumpel Fliegenpilz, die, da sie alle beide Ibotensäure sowie das etwas weniger giftige Muscarin enthalten, auch die Sinne stimulieren, jedoch in erster Linie Leber und Nieren schädigen. Leider fühle ich mich moralisch verpflichtet, auch vom orangefuchsigen Schleierling (Cortinarius orellanus) abzuraten, obwohl das hübsche und sogar der Zunge angenehme Geschöpf - dank des in ihm gespeicherten, sehr komplex wirkenden und ziemlich zuverlässig die Nierenfunktion lahmlegenden Giftes Orellanin - zum perfekten Mord taugt. Und wer kennt nicht mindestens einen gierigen, aber geizigen und auch sonst fiesen Gourmet, auf dessen Gesellschaft er gern verzichten würde? (Katja Lange-Müller: Die Enten, die Frauen und die Wahrheit, S. 31)


Lange-Müller, Katja: Die Enten, die Frauen...[2]

  Regierungen aller Länder, Finanz-, Kultur- und Verteidigungsminister sämtlicher Kabinette, Direktoren der Museen Europas, Intendanten der Staatstheater der Bundesrepublik Deutschland, Mimen, Musiker, Maler, Schriftsteller, die ihr zu einem beachtlichen Teil auf unsere Rauchwarenkaufkraft angewiesen seid, Tabakarbeiter und - industrielle, Lungen- und Nervenärzte der Welt, deren Brötchengeber wir sind, was würde aus euch, wenn wir Nikotinabhängigen dieser Erde alle miteinander auf einmal für immer aufhörten, zu inhalieren, zu schnupfen, zu kauen? Und wenn nun am selben Tage auch noch die Alkoholiker, die Vielfraße, die Lotto- und die Glücksspielbesessenen - in Tateinheit mit den Junkies, den Koksern, den Cannabiskonsumenten unter uns und sogar den Nichtrauchern - ihre sämtlichen Süchte niederlegten, na dann gute Nacht. (Katja Lange-Müller: Die Enten, die Frauen und die Wahrheit, S. 188)


Lange-Müller, Katja: Böse Schafe

  "Essen ist Mist, schon bevor es dazu wird und kaum wieder rauswill aus unsereinem, das hat mich schon seit der Kindheit nicht mehr gereizt. Ich nahm, was es gerade gab, soviel wie nötig, sowenig wie möglich. War auch besser in den Jahren, die dann kamen. Mußte ich kein Geld für ausgeben, hätte ohnehin nichts übrig gehabt. Aber jetzt, unter den Ahnungslosen... Wenn die gut zu dir sein wollen, packen sie dir den Teller randvoll. Und du hast zu schaufeln, sonst gucken sie komisch. Bevor ich die Gabel endgültig niederlege, spreche ich immer ein paar lobende Worte: Tolle Soße, schmeckt fein, der Braten ist ja superzart. Dann strahlen sie wie frisch gefickte Eichhörnchen. (Katja Lange-Müller: Böse Schafe, S. 31)


Laxness, Halldor: Islandglocke [1]

  Es war einer jener alten, würdevollen Männer, von denen man jedes Frühjahr etwa drei Dutzend bei der Gerichtsversammlung auf dem Althing sehen konnte. Das Gesicht war zerfurcht und vom Wetter gegerbt, der Blick matt und ein wenig schläfrig, und die Brauen hochgezogen, wie bei einem Mann, der lange versucht hat, während der Rede eines langweiligen Gegners gegen den Schlaf anzukämpfen; es war eines der Gesichter, die gegen die meisten Argeumente gefeit sind, insbesonders jedoch gegen solche, die auf menschliche Schwächen Bezug nehmen. (Halldor Laxness: Islandglocke, S. 167)


Laxness, Halldor: Islandglocke [2]

  Über den Papst wollte er mit den Damen nicht streiten, aber es könne nicht geleugnet werden, sagte er, je weiter man auf der Nordhalbkugel nach Süden gehe, desto weniger absurd komme einem der heilige Petrus vor. Das weiß ich aber, daß Ihr nicht sagen wollt, Assessor, sagte die Frau des Bischofs, es könne zwei verschiedenen richtige Wahrheiten geben, eine für die südliche und eine andere für die nördliche Welt. Arnas Arnaeus antwortete langsam, mit jenem scherzhaften Ausweichen vor dem Kern der Sache, das bisweilen wie Flatterhaftigkeit wirken kann, doch nie einen wichtigen Standpunkt in Gefahr bringt... (Halldor Laxness: Islandglocke, S. 237)


Laxness, Halldor: Islandglocke [3]

  ... beinahe menschenscheu, müde und ein wenig melancholisch; er hielt einen Ladestock in der Hand. Er verwendete eine ziemlich schwerverständliche Sprache; ihr Hauptbestandteil war die Form des Deutschen, die man verwendet, um Soldaten auszuschimpfen, doch in sie eingeflochten waren verschiedene Ausdrücke aus anderen Sprachen. Er hatte einen Branntweinbaß und verwendete ein Zäpfchen-R, das klang wie das Röcheln eines Tieres, dem der Hals durchgeschnitten wird. (Halldor Laxness: Islandglocke, S. 167)


Leo, Per: Flut und Boden [1]

  Großmutter hatte müde gewirkt. (...) Denn ich kannte sie gar nicht anders als müde. Nicht schläfrig, eher erschöpft. Ausgeleiert. Wie der Himmel über ihrer Stadt. Nun aber hatte sich ihrer Müdigkeit ein auffälliger, beinahe greller Zug beigemischt. Sie will nicht mehr, dachte ich. (...) Die steile Treppe in den schlundartigen Eingang. Der weiße, leicht gewölbte Klingelknopf. Die Stille im Windfang zwischen den beiden Milchglastüren. Der Duft alten Gemäuers. Die Ewigkeit, bis sich eine ferne Tür öffnet und langsame Schritte durch die Eingangshalle schlurfen. Der saure Kuss auf die Wange. Der Geruch von Kartoffeln in der Küche, von Spargel auf der Toilette. Wir fassen uns an den Händen und wünschen eine gesegnete Mahlzeit: Haut rein, ihr Türken, und nicht gezittert! Die Mittagsruhe. Das Fünfmarkstück, mit dem ich nach einem Quadrat Butterkuchen geschickt werde. Der Apfelsaft, den man mir statt Kaffee in eine zarte Tasse mit Rosendekor einschenkt. Die besorgte Frage nach dem Befinden meines Vaters. Die Frachtschiffe, die sich durch die Zweige der alten Kastanien nach Bremen oder zur Nordsee schieben. Bleib ein anständiger Junge, sagt der Großvater zum Abschied, vergiss uns alte Leute nicht, die Großmutter. (Per Leo: Flut und Boden)


Leo, Per: Flut und Boden [2]

  Die ohnehin kaum spürbare Anwesenheit meiner Großmutter verflüchtigte sich bis auf einen homöopathischen Rest, wenn sie sich nach dem Essen zum Mittagsschlaf in ihr Zimmer zurückzog. Ich ging in den Wintergarten, legte mich in den Liegestuhl, zog mir eine dicke Wolldecke bis unters Kinn und sah den Gedanken beim Verlassen des Kopfes zu. Das war die schönste Stunde, ihretwegen kam ich. Das Haus war jetzt still und scheinbar leer, ohne dass ich mich einsam gefühlt hätte. Es umfasste mich wie eine große weiche Hülle. Das unentschlossene Studium, die unverliebten Frauen, der irrlichternde Ehrgeiz, Lisa und Lyotard, all das war jetzt weit weg. Hinter den dicken Mauern war die Welt wie eingeschlafen. Die Autos auf dem Kopfsteinpflaster: ein fernes Rauschen. Dann wieder Stille. Vor mir lag eine endlose Weite aus Wiesen, Bäumen, Wasser und den Feldern des Oldenburger Landes. Das juckende Gefühl, da draußen finde irgendetwas statt, dem ich mich stellen müsse, ohne es zu begreifen, der latente Fluchtimpuls, das Gehetztsein, all das beruhigte sich. Plötzlich war es nicht nur Tag - plötzlich wärmte die Sonne, die durch die Kastanienzweige und die großflächigen, von Efeu umkränzten Fenster hereinschien. Für einige Minuten nickte ich weg, wachte wieder auf, nickte wieder ein oder auch nicht, es war egal, dann zog eine Wolke vor die Sonne, dann gab sie ihre Wärme wieder frei, eine Drossel sang, und wenn Großmutter kam, um mich zum Kaffee zu holen, stellte ich mich schlafend. (Per Leo: Flut und Boden)


Leo, Per: Flut und Boden [3]

  ... beschloss ich kurz darauf, mir sogenannte professionelle Hilfe zu suchen. Aber wo? Die Stadt, insbesondere mein Viertel, war vollgepackt mit hochsensiblen Psychotherapeuten. Doch mich um einen von ihnen zu bemühen, schien mir so aufdringlich und hoffnungslos wie an einer der Fachwerkvillen in der Nachbarschaft zu klingeln, um ein Gästebett zu fordern. (...) -- "Was ist mit Ihnen?", fragte sie irgendwann. "Na ja, ich fühle mich irgendwie so leer", sagte ich schließlich verzagt, fast abwiegelnd, "orientierungslos. Ich weiß nichts mit mir anzufangen." "Das Übliche also." Wie bitte? Keine zwei Minuten in professionellen Händen und schon die Gewissheit, dass es doch noch schlimmer ging. -- "Na gut, dann erzählen Sie doch mal von Ihrer Familie", sagte sie, immerhin verabredungsgemäß. Diesmal wusste ich besser Bescheid. So viel psychotherapeutischen Common Sense besaß ich doch. Scheidung halt. Vater kürzlich Pleite gemacht. Großmutter gestorben. Kein Urvertrauen, bindungsunfähig, Beziehungen zu Frauen immer schnell am Ende. Während ich so vor mich hin redete, schrieb sie mit ihrer großen ungezügelten Schrift beide Seiten einer großen Karteikarte voll. Keine Nachfrage, kein Nicken, kein Blick. "Sie brauchen was Hochfrequentes", sagte sie, als ich fertig war. Das klang gar nicht gut. Ob nicht auch Giftspritze ginge, hätte ich fast gefragt. (Per Leo: Flut und Boden)


Leo, Per: Flut und Boden [4]

  "Seit einiger Zeit erforsche ich die Vergangenheit meines Großvaters. Wie sich herausstellt, war er ein dicker Nazi. Berufsoffizier in der SS. Vielleicht belastet mich das auch." (...) Die Therapeutin ließ ihre Karteikarten in den Schoß fallen und sah mich zum ersten Mal verständnisvoll an. Mir dämmerte, dass das bisher einzige Mittel, das mein Leiden lindern konnte, aus psychotherapeutischer Sicht offenbar zu den wenigen akzeptablen Leidensformen zählte. Aber da war er endlich - der erste Griff an dieser glatten Nordwand. Wirklich besser ging es mir zwar nicht, aber immerhin wusste ich jetzt, wozu ein Sturmbannführer in der Familie gut war. So war ich zum Nazienkel geworden. Und so unerfreulich die Umstände auch waren, die das bewirkt hatten - es war tatsächlich ein Fortschritt. (...) Mein Großvater war ein lupenreiner Nazi gewesen. Gutes Haus, schiefe Bahn, SS-Karriere - diese Geschichte erzählte ich bald mit einer Virtuosität, die ihre Wirkung fast nie verfehlte. Ich konnte kaum fassen, wie scharf alle darauf waren. Das löste zwar meine Probleme nicht, aber zumindest war ich wieder partytauglich. Niemand hätte sich wohl angezogen gefühlt, wenn ich als Enkel Himmlers oder Mengeles dahergekommen wäre. Aber die wohlverpackte Mischung aus alter Familie und blondem SS-Offizier schien ohne Umweg über die Hirnrinde eine kräftige Leitbahn des vegetativen Nervensystems zu elektrisieren. Sie löste erregte Augenaufschläge und Backenrötungsprozesse aus, als würde Fest persönlich live aus Speer himself berichten. Kategorie rassiger Gentlemanverbrecher oder so. Weniger schüchterne Naturen hätten mit diesem Pfund zu wuchern gewusst. Ganze Batterien höherer Töchter hätte man mit der Edelnazimasche ins Bett kriegen können. (Per Leo: Flut und Boden)


Leo, Per: Flut und Boden [5]

  Manche Menschen, und zu denen gehört mein Vater, sehen gerne Schaltpläne. Nur Schaltpläne verraten die Wahrheit über den Strom. Zeigen sie doch, dass er kein Ding mit Ort und Namen ist, sondern ein unbewegter Beweger, eine Macht von solcher Unbestimmtheit, dass sie ebenso gigantische Kräfte verursachen kann wie Bewegungen von filigraner Präzision. Dem Kundigen enthüllt der Schaltplan eine Idee, eine technische Lösung, durch die sich ein plumper Druck in ein vielgliedriges Schema von Zuleitungen und Abflüssen, Verstärkungen und Unterbrechungen, Parallelen und Gegenläufigkeiten verwandelt. Wer, statt auf Dinge zu glotzen, Pläne zu lesen versteht, der erkennt, noch bevor das erste Auto aus der Kurve fliegt, dass Carrerabahnen etwas furchtbar Stumpfsinniges sind: ein Kreis, zwei Drehwiderstände, fertig. Bei einer elektrischen Eisenbahn hingegen erkennt er sofort den Geist ihres Erbauers, er sieht, ob es sich um einen Banausen handelt, der heimlich von Carrerabahnen träumt, oder um einen Meister, dem man auch die Elektrifizierung des ersten Krankenhauses auf dem Mond anvertrauen könnte. (Per Leo: Flut und Boden)


Lewitscharoff, Sibylle: Apostoloff [1]

  Rumen Apostoloff möchte uns die Schätze Bulgariens zeigen. Meine Schwester und ich wissen es besser: solche Schätze existieren nur in den bulgarischen Hirnen. Wir sind überzeugt, Bulgarien ist ein grauenhaftes Land - nein, weniger dramatisch: ein albernes und schlimmes. Seine Gegenden? Meer, Wald, Gebirge, Auen? Unseretwegen mag es da verborgene Reize geben. Wir sind aber keine Ornithologen und wollen auch nicht auf Bärenjagd gehen. Auf malerische Rhodopenschluchten geben wir nichts, Hammerschläge in Rhodopentälern erschüttern uns nicht, Glockengeläut lädt uns nicht zum Kirchgang ein. Rosenfelder sind für uns Rosenfelder und sonst wenig, Rosenfelder bringen unsere Herzen nicht in Wallung. Bloß weil man auf eine blutrote Fläche zeigt, benehmen wir uns nicht wie Frischverliebte und erfahren auch keine Extrablutzufuhr. (Sibylle Lewitscharoff: Apostoloff, S. 10)


Lewitscharoff, Sibylle: Apostoloff [2]

  Trotzdem kann Alexander Iwailo Tabakoff nicht für einen glücklichen Mann gelten. Er mag es in jungen Jahren gewesen sein, als er sich in die für die ihn bestimmte Blondine verliebte - ein Prachtexemplar, das er da zu fassen kriegte! Von sprudeligem Charme, das kräftige Haar zu Dauerwellen gedeht, klackernde, rasselnde Goldglieder mit Glücksanhängern um den Arm, ein Mund, den alle bulgarischen Männer zu küssen begehrten, wiewohl eine penible antrainierte Damenhaftigkeit solche Begehrlichkeiten schmollend zurückwies. Als Kinder waren wir von ihr begeistert, drückten uns immer in ihrer Nähe herum, schmeichelten ihr. Die Frau roch gut; neben ihr kam alles, was lebte, zu seinem Recht. Sie besaß eine Leibesgenerosität, die wir an unserer Mutter vermißten. (Sibylle Lewitscharoff: Apostoloff, S. 29)


Lewitscharoff, Sibylle: Apostoloff [3]

  Rumen zeigt sich von der lustigen Seite, er hat seinen Zuversichtsgenerator angeworfen, der ihm die fröhlichsten Prospekte ins Hirn wirft. Im Eifer des Hungers mustert er die mit Lämpchen behängten Fassaden wie ein wählerischer Bordellbesucher, beugt sich wisserisch zu den ausgehängten Speisezetteln hinunter. Meine Schwester, dieses nach allen Windrichtungen schwankende Temperamentsrohr, läßt sich von ihm anstecken, faßt den Burschen sogar beim Arm und lacht mit ihm, als wäre ich nie zur Welt gekommen. (Sibylle Lewitscharoff: Apostoloff, S. 32)


Lewitscharoff, Sibylle: Apostoloff [4]

  Eine Bedienung in mittleren Jahren, die ausschaut, als würden ihre Kleider sie nicht ganz zuhalten, bringt unser Frühstück, eine Zigarette zwischen die Finger geklemmt, von der etwas Asche auf den Teller der Schwester fällt. Eisenhartes Kinn. Baumfällertyp. Das durch und durch abgebrühte Geschöpf hat sich vor uns aufgepflanzt und blickt auf uns herab, als hätte es den Befehl bekommen, uns niederzuhauen, sollten wir auf die Idee kommen, an irgend etwas herumzumäkeln. Meine Schwester ist morgens auf nachsichtige Weise lethargisch. Herausfordernde Personen können sie nicht aus dem Gleichgewicht bringen. Das preßspanartige Brot, der graue Kaffee, die Tomate, die in Menschenjahre umgerechnet schon über siebzig zählt, sie mustert die Bescherung geruhsam und bittet Rumen, um ein schärferes Messer zu fragen. (...) Sobald ein neues Messer gebracht worden ist, geht meine Schwester ans Werk. Sie ist die Meisterin des präzisen Kleinschnitts, eine chirurgische Begabung, die nicht Menschenfleisch zum Ziel hat, sondern Frühstückbrote. Die Tomate wird nach allen Regeln der Kunst zerlegt, und weil mir das nie gelingen würde, ohne daß dicke und dünne Scheiben in ein Mißverhältnis zueinander kämen und die Schnittstellen am Hautrand unschön ausgefranst wären, schiebt meine fürsorgliche Schwester mir eine tadellos geschnittene Tomatenscheine hin, bevor sie auf ihrem eigenen Teller weitermacht. (Sibylle Lewitscharoff: Apostoloff, S. 38)


Lewitscharoff, Sibylle: Apostoloff [5]

  Lilo hatte von Natur aus eine hohe Stimme, war aber bemüht, eine Oktave tiefer und vor allem gedehnt zu sprechen, was ihre Zuhörer unruhig machte. Sie liebte längere Sätze, legte nach ein oder zwei Satzteilen eine elegante Abwärtskurve ein - ein bißchen verschleimt klang das, als wäre sie plötzlich von Grippe befallen -, um dann unerwartet hoch auf dem Punkt zu enden. Das Sprechen mit hoher Stimme war verpönt, zumindest bei den Frauen. Es galt als eine Spezialität der Bulgarinnen. Die Schwäbinnen wurden nicht müde, einander Schauergeschichten von den Bulgarinnen zu erzählen. Wegen ihres hohen Gekreischs, ihrer spitzigen Gefühlsäußerungen wurden sie maßlos verachtet, besonders von unserer Mutter, die viel auf ihre von Natur aus tiefe, vom Rauchen vernagte und verderbte Stimme hielt. (Sibylle Lewitscharoff: Apostoloff, S. 75)


Lewitscharoff, Sibylle: Apostoloff [6]

  Bis zu diesem Wochenende hatte unsere Mutter keinen näheren gesellschaftlichen Umgang mit Adligen gehabt. Was sie vom Adel dachte, dürfte, wenn wir uns ausnahmsweise mal in den Mutterkopf hineindenken wollen, kleinbürgerlich romantischer Natur gewesen sein, gleichsam eine Brühe aus Adel und Edel, worin einige giftige Brocken schwammen. Adlige waren auf einem Gipfelhorst geboren mit goldenen Namensschildchen um den Hals, aber sie hatten sich diesen geschenkten Vorzug im nachinein zu verdienen, indem sie, angehalten durch eine unerbittliche Erziehung, von unten (trieblich gesprochen unten, denn die Natur des Menschen lag in den Augen der Schwaben tief, tief unten) zu ihrem hochgelegten Anfang wieder emporklettern mußten. Sie hatten zäh, fleißig, ernst und streng zu sein und mußten sich bei Tisch einem zehnmal kompliziertrem Reglement unterwerfen, als es bei uns zu Hause üblich war, um als ausgewachsene Adlige dann, Adelige, die den Adelstitel sich verdient hatten, graziös, gewinnend, weise und gütig zu sein. Durften sie überhaupt lachen? Kein Wunder, daß in diesem gähnenden Abgrund der Menschenunmöglichkeit der gesamte europäische Adel verschwand. (Sibylle Lewitscharoff: Apostoloff, S. 94)


Lewitscharoff, Sibylle: Apostoloff [7]

  Wir besannen uns auf die bulgarische Neigung, Gerüchten Glauben zu schenken - todsicheren Wettsystemen, Diätwundern, Verschwörungen, Ufos, astrologischem Abrakadabra - und solches Zeug mit steifem Zeigefinger und hochgeschürzten Augenbrauen zu verbreiten. Wir begnügten uns damit, einmal das Stuttgarter Telefonbuch aufzuschlagen, stellten fest, wie viele von Wefelkrodts es gab, dann schlugen wir das Verzeichnis wieder zu. (…) Den Bulgaren ist die Pflege geheimer Gehirngeburten eine Lust wie eine Pflicht. (Sibylle Lewitscharoff: Apostoloff, S. 96f.)


Lewitscharoff, Sibylle: Apostoloff [8]

  Ein Protobulgare bringt sich nicht um, dies euer liebstes Argument. Und das ganze Gemurkse ersonnen, weil es nicht in eure Köpfe will, daß ihr in eurem ureigenen Familiensumpf ein mürbes Geschöpf herangezüchtet habt, so eine weichliche, selbstische Seelenmolluske, die bei der kleinsten alltäglichen Belastung ins Zittern geriet. Kennt ihr die Geschichte vom Waschbecken? Dem Waschbecken, das in der Praxis aus der Wand zu bröseln begann? Die Mutter entdeckte den Schaden und geriet in eine solche Panik, daß sie ihren Mann sofort nach Davos zum Skifahren schickte, um es heimlich reparieren zu lassen, weil ihm der Anblick eines aus der Wand brechenden Waschbeckenes nicht zugemutet werden konnte. (Sibylle Lewitscharoff: Apostoloff, S. 102)


Lewitscharoff, Sibylle: Apostoloff [9]

  Bei meiner Schwester liegt der Fall anders. Sie hat so eine gewisse elastische Art. Passiv, aber nicht lahm. Selbst wenn sie nicht geradewegs in sie verliebt sind, fühlen Männer sich zu ihr hingezogen. Die Zurückhaltung, die sie übt, ihre graziöse Figur, ihr blasses, feines Gesicht, das nichts Herausforderndes hat, das alles verfehlt seine Wirkung nicht. Und dann ist meine Schwester auch schlau. Wenn sie gefallen will, weiß sie Mittel präzis einzusetzen. Sie schöpft aus einem riesigen Reservoir an Männerlob; da sind zartsinnige wie scharfgezielte Sachen darunter, die sie geschickt an den Mann bringt - mit einem Augenaufschlag, worin grüne Sprengsel funkeln und glühen, Augenaufschlag, der aus einer Schmaläugigen eine fast Überäugige macht, während ihre Stimme (Schwesterchen, welcher Teufelspakt hat dir diese Stimme erkauft) zu einem intimen Flüstern heruntergefahren wird, und horch nur, leise, leise - hingehaucht, ausgehaucht, zwiegelispelt wie von der Schlange in Eden - kommt das Lob an den Mann. Wie sehr sie den Bogen raushat, merkt man aber erst in der Sekunde danach, während der Lobempfänger noch mit seiner Entkräftung ringt und der zerbrechlichen Lage Herr werden muß. Urplötzlich schaltet das durchtriebene Stück wieder auf schmaläugig um und blickt so fremd vor sich hin, als wisse sie gar nicht mehr, mit wem sie es zu tun hat. Neidisch? Ja. (Sibylle Lewitscharoff: Apostoloff, S. 114/115)


Lewitscharoff, Sibylle: Apostoloff [10]

  Hier galten die Gesetze der schwäbischen Großmutter und ihrer elf Geschwister, die, ohne daß man an ihrer Kleidung etwas Wesentliches hätte ändern müssen, auf einem Tafelbild des achtzehnten Jahrhunderts hätten verewigt werden können. Wie ehrwürdige Lutheraner sahen sie aus, alle schwarz gekleidet, alle hochgeknöpft. Ihre Köpfe ruhten auf weißen, gestärkten Krägen, außer im Gesicht und an den Händen zeigten sie niemals Haut. Die Frauen waren überaus reinlich und schminkten sich nicht, sie rochen ein bißchen nach Seife und nach höchstens einem Tropfen Kölnisch Wasser. Ausnahmslos trugen sie das Haar zum Knoten gebunden. Es erscheint mir bis heute als das einzig richtige Erscheinungsbild einer alten Frau. ich bin darauf geprägt wie eine von Konrad Lorenz handaufgezogene Graugans auf ihren Futtermeister. (Sibylle Lewitscharoff: Apostoloff, S. 154)


Lewitscharoff, Sibylle: Apostoloff [11]

  Als Verliebte irrten wir auf getrennten Wegen. Schon während der Gymnasialzeit hätte der Unterschied kaum größer ausfallen können. Ich liebte die hochtourigen Flitzköpfe oder das Gegenteil davon: staubtrockene Knarzer. Und nichts dazwischen. Meine Schwester hingegen, herrje, meine Schwester trieb es mit den aalglatten Schwiegermutterblieblingen, unserer Mutter garantiert zur Freude. Ich aber schleppte Kerle an, bei denen ihr garantiert die Haare zu Berge standen: einen Rasputin, einen total verlederten Politkommissar und einen finnischen Afghanstanfahrer, der ziemlich LSD geladen hatte, als er unserer Mutter die Hand verweigerte und leicht schlingernd an ihr vorbeisteuerte, um sich auf das rote Sofa zu fläzen. (Sibylle Lewitscharoff: Apostoloff, S. 190)


Lewitscharoff, Sibylle: Apostoloff [12]

  Die Psychose der kompletten Führungsschicht eines Landes entzieht sich dem Verstehen, sie wirkt immer sonderbarer, je tiefer man in sie eintaucht und desto mehr Details man ans Licht bringt. (...) andererseits habe ich selbst mindestens vier Jahre lang an Lenin, Trotzki und Mao geglaubt. Mit diesem Teil der Vergangenheit kann ich nicht mehr in Verbindung treten, Mitglied bei Spartakus Bolschewiki-Leninisten ist ein fremder Mensch gewesen. Es kann nicht daran liegen, daß ich jung war, dreizehn, als es losging. Im selben Jahr haben mich die Bilder von James Ensor entzückt - helles, flammendes, jubilierendes Entzücken, es währt und währt und führt zu einer Glücksschwemme, wenn ich seinen Christuswuslern oder den verwunderten Masken in einem Museum begegne. Auch die Stimme von Bob Dylan wohnt seither in meinem Ohr, der Bursche mag singen, was er will. Diese beiden Leidenschaften und vielleicht noch zwei, drei mehr haben sich zu meiner seelischen DNA verschränkt. (Sibylle Lewitscharoff: Apostoloff)


Lewitscharoff, Sibylle: Blumenberg [1]

  Für heute hatte sich ein Gerhard Baur angemeldet. Pünktlich um 16 Uhr 15 klopfte es, und ein langer dünner Mensch trat ein. Blumenberg erinnerte sich, daß der junge Mann schon einmal in der Sprechstunde gewesen war und einen günstigen Eindruck hinterlassen hatte. Gleich beim ersten Besuch war Blumenberg Reinhold Schnei... zerpflückte sie mit der linken Hand Brot und schob winzige Stückchen davon in den Mund. Mit den Krümeln, die um ihren Teller verstreut lagen, hätte man ein Zwitscherbataillon Spatzen sättigen können. (Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg, S. 59)der in den Sinn gekommen, der auch ein fadendünner Zweimetermann gewesen war und sich immer gebeugt gehalten hatte, um die zwanzig Zentimeter ungeschehen zu machen, die er zuviel maß. (Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg, S. 29)


Link, Heiner: Frl. Ursula

  Daß durch die eigene Mutter überhaupt keine Beschädigung der Seele stattfinden kann, halte ich für vollkommen ausgeschlossen. Mütter wollen schließlich immer nur das Beste für ihre Kinder. Vor allem für die Söhne wollen Mütter stets das Beste. Sie sollen Rechtsanwälte werden. Es gibt Statistiken, die besagen, daß sich 88 Prozent aller Mütter sehnlichst den Rechtsanwaltberuf für den Sohn wünschen. Wenn man nun davon ausgeht, und man kann davon ausgehen, daß auf jeden Anwalt mindestens ein Mandant kommen muß, bedeutet dies nicht mehr und nicht weniger, als daß 38 Prozent aller Mütter ihre Söhne in die berufliche Aussichtslosigkeit treiben. (Heiner Link: Frl. Ursula, S. 66)


Lodge, David: Therapie [1]

  Vielleicht liegt das an einer weitverbreiteten 'Mitleidsübersättigung' - an dem Phänomen, daß die Medien uns tagtäglich mit soviel menschlichem Leid zuschütten, daß wir keine Reserven an Mitgefühl, Zorn und Empörung mehr haben und nur daran denken können, daß uns das Knie wehtut. (...) Ich bekomme jede Menge Bettelbriefe von Wohlfahrtsorganisationen, es muß da einen regen Austausch von Namen und Adressen geben, man braucht nur einmal irgendwo zu spenden, und schon erstickt man geradezu in Bittbriefen auf Recyclingpapier (...) und Bergen von Broschüren, die Schwarzweißfotos von verhungerten schwarzen Babies mit stockdünnen Armen und Beinen und Greisenköpfen zieren. (...) Wie soll man diese Flut menschlichen Elends je eindämmen. Ich für meinen Teil überweise tausend Pfund im Jahr an eine Organisation, die mir dafür eine Art Scheckbuch schickt, so daß ich meine Spenden verteilen kann, wie ich es für richtig halte. (...)n Es ist ein bißchen so, als wollte man alle Meere der Welt mit einer Schachtel Kleenex trockentupfen, aber die Mitleidsübersättigung hält sich in Grenzen. (David Lodge: Therapie, S. 15f.)


Lodge, David: Therapie [2]

  Wir hatten nett gegessen und eine Flasche Wein getrunken, und ich war zwischendurch mal aufs Klo gegangen, um einen zu sniefen... Ja, damals stand ich auf Drogen... hatte immer was in der Handtasche. Schnee vom Besten, Tubby war in der Beziehung völlig unbeleckt. Coke war für ihn nur Coca Cola, und beim Wort Sniefen hätte er wahrscheinlich nur an Schnupfen gedacht und mir ein Taschentuch angeboten. Schon bei Hasch wäre er bestimmt aufgeflippt, deshalb hatte ich ihm nie verraten, daß ich harte Sachen nahm. Ein bißchen hat es mich schon gewundert, daß er überhaupt nichts gemerkt hat, schließlich hätte sich ja über seine lahmen englischen Witze ein Mädel im Normalzustand nicht halbtot gelacht. (David Lodge: Therapie, S. 202)


Lodge, David: Therapie [3]

  Ich habe ein paar Weintrauben mitgebracht, wo soll ich sie hinstellen? Nein? Kannst du gar nichts essen? Weisheitszähne sind wirklich eine Plage. Vereitert, ja? Gleich zwei? Kein Wunder, daß du so elend aussiehst. Du, die sind wirklich gut. Keine Kerne. Und wenn ich dir eine schälen würde... Nein? Na gut, da kann man nichts machen. Tut es sehr weh? Na ja, wahrscheinlich haben sie dir was gegen die Schmerzen gegeben. Wenn die Wirkung nachläßt, mußt du Nachschub verlangen, im Krankenhaus sind sie in dieser Beziehung oft richtig gemein, die denken offenbar, Schmerz veredelt den Menschen. (David Lodge: Therapie, S. 213)


Lodge, David: Therapie [4]

  Es gibt zwei Sorten von Männern, sag ich immer, Pflanzenfresser und Fleischfresser, man merkt es daran, wie sie dich angucken. Weil ich diese großen Titten habe und auch sonst ganz gut aussehe, werde ich ziemlich oft angeglotzt. Ich weiß, in der Schule hast du immer gesagt, daß du für die sonstwas geben würdest, Hetty, aber ehrlich gesagt, hätte ich lieber deine Figur. Bei einem flachen Busen sitzen die Klamotten besser. Nein, Schätzchen, natürlich bist du kein Bügelbrett, du weißt schon, wie ich es meine. Also wie gesagt - es gibt Männer, die gucken dich voller Bewunderung an, als wenn du eine Statue wärst oder so was, das sind die Pflanzenfresser, die wollen dich nur mal ganz vorsichtig anfassen, und andere gucken, als wenn sie dir am liebsten die Kleider vom Leib reißen und dich auf der Stelle verschlingen würden, das sind die Fleischfresser. (David Lodge: Therapie, S. 214)


Lodge, David: Therapie [5]

  Wenn ich mir heute die jungen Leute in den Discos oder Nachtklubs betrachte, fällt mir immer der Gegensatz zwischen dem erotischen Hämmern der Musik, aufreizendes hautenges Outfit - und der fehlenden Körpernähe beim Tanzen selbst auf. Wahrscheinlich kann die Jugend von heute darauf verzichten, weil Kontakte mit dem anderen Geschlchet jederzeit und überall zu haben sind. Bei uns war es genau umgekehrt. Beim Tanzen durfte man sogar im Jugendklub einer Kirchengemeinde ein Mädchen in aller Öffentlichkeit in den Armen halten oder ein Mädchen, das man vielleicht noch nie gesehen hatte, zum Tanz auffordern. Man spürte ihre Schenkel unter den raschelnden Petticoats und die Wärme ihrer Brüste, roch das Parfüm hinter ihren Ohren oder die frisch gewaschenen Haare, die das Gesicht des Partners streiften. Natürlich mußte man so tun, als ginge es einem im Grunde gar nicht darum, man mußte vom Wetter sprechen oder von der Musik, aber nirgendwo sonst waren unsere Körper sich so nah. Man denke sich eine Coctailparty, auf der alle Gäste masturbieren, während sie vorgeblich damit beschäftigt sind, ihren Weißwein zu genießen und über neueste Bücher und Theaterstücke zu diskutieren, und man hat eine gewisse Vorstellung davon, was Tanzen für Heranwachsende Anfang der fünfziger Jahre bedeutete. (David Lodge: Therapie, S. 281)


Lodge, David: Therapie [6]

  Auch Maureen muß an diesen Abenden gewisse Lustgefühle gehabt haben, aber es kann sein, daß sie diese Empfindungen gar nicht klar erkannte. Sie besaß eine natürliche Reinheit. Auf unanständige Witze reagierte sie mit ungeheuchelter Verständnislosigkeit. Wenn sie groß sei, sagte sie, wolle sie heiraten und Kinder haben, aber der Gedanke an Sexualität kam ihr in diesem Zusammenhang offenbar gar nicht. Dabei ließ sie sich gern küssen und drücken und schnurrte in meinen Armen wie ein Kätzchen. Mit dieser gewissermaßen unschuldigen Sinnlichkeit ist es wohl heute, bei der Flut sexueller Reize und Bilder, der unsere Teenager ausgesetzt sind, ein für allemal vorbei. Dabei denke ich noch gar nicht mal an die Softporno-Videos und die einschlägigen Zeitschriften, die man an jeder Ecke bekommt, sondern an normale, für Jugendliche über fünfzehn zugelassene Kinofilme mit Szenen und Ausdrücken, die vor fünfzig Jahren Filmemachern und Verleihern zu einem längeren Aufenthalt im Knast verholfen hätten. Kein Wunder, daß die Kids von heute so früh wie möglich Sex haben wollen. Vielleicht halten sie sich gar nicht erst mit Küssen auf, sondern gehen gleich aufs Ganze. (David Lodge: Therapie, S. 289)


Lodge, David: Ortswechsel [1]

  Der jähe Ausbruch der sexuellen Revolution Mitte der sechziger Jahre hatte ihn dann doch etwas verunsichert. Seine Sonntagszeitung, die er seit Beginn des Studiums las, ein seriöses Blatt mit enggedruckten Spalten, voll von Rezensionen und Auszügen aus den Lebenserinnerungen von Staatsmännern, war plötzlich pickelgleich übersät mit farbigen Illustrationen nackter Busen und Apres-Sex- Freizeitkleidung. Seine Studentinnen zogen sich von einem Tag zum anderen wie Nutten an, die Röcke wurden so kurz, daß er die Damen, wenn ihm die Namen entfallen waren, nach der Farbe ihrer Schlüpfer unterscheiden konnte. (David Lodge: Ortswechsel)


Lodge, David: Ortswechsel [2]

  Morris Zapp ist weder prüde noch reaktionär. Er hat in vielen Umfragen kundgetan, daß er dafür ist, die derzeitigen Abtreibungensgesetze in Euphoria abzuschaffen (wie auch die Gesetze über Unzucht, Masturbation, Ehebruch, Sodomie, Fellatio, Cunnilingus und sexuelle Stellungen, bei denen die Partnerin oben ist; die ersten Siedler Euphorias gehörten einer besonders kleinkarierten puritanischen Sekte an, und ihre Tabus sind in einer Gesetzgebung festgeschrieben, bei deren strikter Beachtung mittlerweile neunzig Prozent der derzeitigen Einwohner hinter Gittern säßen. (David Lodge: Ortswechsel)


Lodge, David: Ortswechsel [3]

  Jahrelang hatte Desiree ihn geplagt, er solle doch mit ihr nach Europa fahren, aber er hatte es ihr immer abgeschlagen. Denn Morris Zapp war ein seltener Vogel unter amerikanischen Philologen, ein Mann, dem das Wort Entfremdung war. Er hatte Amerika, insbesonders Euphoria, ehrlich gern. Seine Ansprüche waren bescheiden: gemäßigtes Klima, eine gute Bibliothek, reichlich Tussis in Reichweite, genug Geld für Zigaretten und Alkohol, ein komfortables, modernes Haus und zwei Autos. (David Lodge: Ortswechsel)


Lodge, David: Ortswechsel [4]

  Morris hatte die Wohnung wegen der Zentralheizung genommen. Es war die erste der von ihm besichtigten Behausungen, die mit dieser segensreichen Einrichtung ausgestattet war. Allerdings stellte sich heraus, daß es sich dabei um ein System handelte, dessen elektrische Speicheröfen widernatürlich und unveränderlich so programmiert waren, daß sie auf Hochtouren liefen, wenn man schlief, sich ausschalteten, sobald man aufstand, und von da ab einen immer spärlicher werdenden lauwarmen Luftstrom in die frostige Atmosphäre entließen, bis man am liebsten sofort wieder ins Bett gestiegen wäre. Dieses System war, wie Dr. O'Shea erläuterte, außerordentlich sparsam, weil es mit Strom zu halbem Preis arbeitete. Trotzdem, fand Morris, war es ein kostspieliges Verfahren, im Bett ins Schwitzen zu kommen. Zum Glück war die Wohnung außerdem noch mit antiquierten Gasöfen ausgerüstet, und wenn er die den ganzen Tag auf der höchsten Stufe laufen ließ, erreichte er eine einigermaßen erträgliche Temperatur, die O'Shea offenbar als übertrieben empfand. Jedenfalls legte er sich, wenn er Morris' Wohnung betrat, immer schützend den Arm vors Gesicht wie jemand, der in ein brennendes Haus stürmt. (David Lodge: Ortswechsel)


Lodge, David: Ortswechsel [5]

  Es regnete wie schon am Vortag, was Philip zunächst enttäuscht hatte. In seiner Erinnerung herrschte in Euphoria ewiger Sonnenschein, und er hatte vergessen, vielleicht nie gewußt, daß es dort in den Wintermonaten eine Regenzeit gab. Aber es war ein weicher, sanfter Regen, und die Luft war warm und wohlriechend. Das Gras war grün, Bäume und Büsche voll belaubt, manche trugen auch Blüten und Früchte. Es gab keinen richtigen Winter in Euphoria, der Herbst reichte dem Frühling und dem Sommer die Hand, und so tanzten sie das ganze Jahr über, zur fröhlichen Verwirrung der Pflanzenwelt, eine Gigue zu dritt. Philipp spürte, wie sein Herz im Takt mit dem heiteren Rhythmus schlug. (David Lodge: Ortswechsel)


Lodge, David: Ortswechsel [6]

  "Ah, Zapp. Sehr nett, daß Sie vorbeikommen", säuselte der Vizerektor und erhob sich halb hinter seinem Schreibtisch, als Morris hereingeführt wurde. Morris watete durch den hochflorigen Teppich und schüttelte die schlaffe Hand, die sich ihm entgegenstreckte. Steward Stroud war ein großer, kräftiger Mann, der sich in einer Pose rührender Hinfälligkeit gefiel. Selten sprach er lauter als im Flüsterton, seine Bewegungen waren die eines kränklichen älteren Mitbürgers. Jetzt sank er in seinen Sessel zurück, als habe er sich mit der Anstrengung des Aufstehens und Händeschüttelns total verausgabt. (David Lodge: Ortswechsel)


Loest, Erich: Schattenboxen

  Zwei Schwarzkittel machen sich daran, Kränze und Sträuße wegzuräumen, Kohler sieht sie respektlos hantieren, das ist ihr täglich Brot; Kohler überschlägt, was dieser Berg Beileidsflora gekostet haben mag, dreihundert Mark reichen nicht. Drei Kränze hat einer der Abräumer über den Arm gehängt, die Schleifen verwirren sich, Platz wird für neuen Sarg und neue Kränze und neue Tränen. Ein Besen hat hinter dem Pult gelehnt, eine Frau fegt Rosenblätter und Kunstlorbeer zusammen, schafft Sauberkeit für neue Pietät. Was, denkt Kohler, wird mit den Kränzen? Werden sie auf stillem Umweg dem Händler am Friedhofseingang zurückgeliefert, staubt er sie ab, frischt sie auf, hängt sie abermals in sein Fenster? Ein Kranz hält mehr als eine Leiche aus. (Erich Loest: Schattenboxen, S. 106)


Loest, Erich: Völkerschlachtdenkmal [1]

  Für viele Leipziger steht das Völkerschlachtdenkmal einfach so da; wenn sie Besuch von auswärts haben, führen sie den halb widerwillig hin. Bei mir war das anders. Mein Vater hat in Beucha die Steine gebrochen, Vojciech war beim Bau dabei bis zur obersten Plattform. Manchmal blicke ich auf eine Fuge und denk: Da hat Vojciech den Mörtel hineingestrichen. Vojciech hat Leipzig mitgebaut, den Krystallpalast und die Westvorstadt und eben das Denkmal. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es innerhalb des Rings mehr Hotels, Restaurants, Cafes, Bierkneipen und Imbißstuben als heute im ganzen Bezirk. Dieses Leipzig können Sie sich gar nicht vorstellen, das kann noch nicht mal einer, der's erlebt hat. Der Luftschutzbunker: Nach einem Jahr haben wird von der südlichsten Ecke her gegraben, von der Kante des Friedhofs aus. Wir sollten nicht zu weit an die Pfeiler ran, damit die Massen nicht drückten. Wir haben Abstand gehalten, auch, als die Stollen aufeinandertrafen. Von dort haben wir einen Luftschacht hochgetrieben, auf der Wiese südlich vom Denkmal kamen wir raus. Nun zog immer ein frisches sächsisches Lüftchen durch die Stollen. Wir, der 'Freiwillige Selbstschutz Völkerschlachtdenkmal' mitsamt Familien, hatten unsere Stammnische mit einem Schild an der Tür: 'Bunkerleitung - Betreten verboten". Dort war's beinahe bemütlich. Und warm wie in 'nem Kuhhintern. Die Waffen-SS hat sich im April 1945 dann doch durch die Fundamente gekratzt. (Erich Loest: Völkerschlachtdenkmal, S. 7)


Loest, Erich: Völkerschlachtdenkmal [2]

  Klara (...) horchte in sich hinein, wo das Ziehen in ein Zerren überging, ließ Zweige fallen und sprach zusammen mit dem Herausfließen aller Atemluft: "Hertha, du, das war ämd ne Wehe, oh, Godd, oh, Goddchen!" Und die Nachbarin: "Runder mid de Hälfde vun dem Reissch, de sedzd'ch wie ins weeche Bedde, un ich zerr dich heeme." (...) Vor der Haustür wurde sie von acht Händen herausgehoben, da war gleich jemand, der zur Hebamme lief, jemand, der heizte und Wassertöpfe ausborgte. Jemand hatte Fleischbrühe auf dem Herd, auch in einfachsten sächsischen Kreisen Büjong genannt, und löffelte der Gebärenden ein Tässchen davon ein. Ein Haus richtete sich darauf ein, daß geboren wurde, voller Neugier gescha das, voller Mitgefühl und etwas lüstern auch. Die Hebamme machte sich an ihr Geschäft, lobte Frau Linden für ihre Mithilfe, tröstete nach einem Schmerzensschrei, verwischte Schweiß, drückte, massierte, ließ Kaffee einflößen, formulieren wir der Deutlichkeit halber: Bohnenkaffee, und dann, kurz nach Mittag, schlüpfte ihr etwas in die geschulten Hände, glitschig, schrumplig der Po, greisig das Gesicht, quäkend sofort; die Hebamme hob es hoch und verkündete, was jetzt festzustellen das wichtigste war: "Ä Schunge!" Eine butterweiche, kinderleichte Geburt also, nichts, was mein Seelchen belastet, modisch ausgedrückt, frustriert hätte. Keine Existenzangst oder Ehescheidungsqual etwa hatte meine Mutter der Frucht mitgeteilt, unbeschadet auch von Kriegsfurcht war ich vom Kiemenstadium ins Lungenstadium geglitten, keine Zangengeburt hatte mir eine Ahnung von Folter eingegeben, ich war einundfünfzig Zentimeter lang und wog ein paar Gramm mehr als sechs Pfund, das galt als gutes Startgewicht. Als Vater Felix nach Hause kam, lächelte ihn Klara an und sagte wiederum: "Schunge." (Erich Loest: Völkerschlachtdenkmal, S. 7)


Loest, Erich: Völkerschlachtdenkmal [3]

  Klara druckste herum, er faßte ihr sachte unters Kinn, noch immer schlug sie die Augen nieder, wagte nun aber doch zu sagen: "Du, 's hat wieder zugeschnappt." Da kratzte sich Felix am Hinterkopf, das war wirklich eine Überraschung. Ach was, andere hatten zehn und zwölf Kinder und verhungerten nicht, und war's vielleicht gar nicht schlecht, zwei Kinder dicht hintereinander? Ein Aufwasch sozusagen? "Awr danach wird uffgebaßt!" (Erich Loest: Völkerschlachtdenkmal, S. 80)


Loest, Erich: Völkerschlachtdenkmal [4]

  Das neue Staatsoberhaupt fand nicht zu uns heraus. Jedes Jahr war es zweimal in der Nähe, wenn es die Messe besuchte. Dann wurden Hallen abgesperrt, Geheime wimmelten, und der Vorsitzende schritt im hellen Anzug hindurch, zur Herbstmesse mit seinem Strohhütchen; er stammte aus einem Ländchen, das sich die Preußen einmal unter den Nagel gerissen hatten. Hundert Jahre lang hatten sich die Saarländer gewehrt, innerlich Preußen zu werden, und ausgerechnet ein Dachdecker von dort mußte dann der oberste Neupreuße werden und uns Sachsen regieren - die Geschichte macht schon seltsame Sprünge. Ob von Berlin die Anordnung gekommen war, das Völkerschlachtdenkmal in Böttger-Porzellan nachzubilden? Heutzutage kommen doch alle Ideen für Sachsen aus Berlin. (Erich Loest: Völkerschlachtdenkmal, S. 269)


Loest, Erich: Die Mäuse des Dr. Ley

  Während der Abendmahlzeit nahm ich Gelegenheit, Helene eingehend zu betrachten. Das am Halse offene Kleid ließ Schlüsselbeinchen erkennen, die mich an ihrer Zartheit rührten; auf ihnen erhob sich ein schlanker Hals, von der gleichen matten Haut wie das Gesicht überzogen. Die Augenbrauen wölbten sich dunkel und stark, die Stirn darüber glänzte in schlichter Glätte, und über ihr erhob sich ein fast schwarzer Haarschopf, den Helene kurz geschnitten trug, so daß die kräftig entwickelten Ohren und die Wirbel des Nackens frei lagen. Widerspenstig schien dieses Haar zu sein, auch einige Klammern und Kämmchen konnten es nicht bannen, und es gab dem Gesicht einen eigenwilligen Ausdruck, wie ich ihn an Frauen stets geschätzt habe. Ihre Augen standen breit auseinander und waren von leicht malayischem Typ, sie konnten einen Gesprächspartner besitzergreifend fassen, jedoch stand ihnen auch ein träumerischer Ausdruck zu Gebote. Der Ansatz der Nase, die wie beim Bruder voll entwickelt war, wurde durch einige Sommersprosseen verziert, auch die Wangenknochen waren anmutig gesprenkelt, und von ihnen sank das Gesicht zu dem kurzen Kinn hinab, das ebenso von Willenskraft wie von der Fähigkeit sprach, erst nach reiflichem Überlegen zu entscheiden. Voll ausgeprägt wie die Schultern waren ihre Hüften, denen man vielleicht einiges fleischiges Polster hätte gönnen mögen; gerade Beine führten zu kräftigen Füßen hinab - damit, so hoffe ich, habe ich dem Leser genug über das Äußere dieser Dame mitgeteilt. (Erich Loest: Die Mäuse des Dr. Ley, S. 57)


Loest, Erich: Rotes Elfenbein

  "Es ist eigentümlich mit dem Sport", redete Varney. "In den zwanziger Jahren kannte jeder die Drei Codonas, die den dreifachen Salto am Heck zeigten. Wer weiß denn schon heute, ob eine Truppe den vierfachen beherrscht? Hammerwerfen, ein künstlich konstruierter Bewegungsablauf, ist olympische Disziplin, obwohl sich nur ein paar hundert fette Männer damit abquälen. Hunderttausende spielen Tennis, aber Tennis gibt’s nicht bei der Olympiade." "Aber Schlittenfahren." "Ach ja. Wo die Leute in Eisrinnen herunterjagen und man mit tausendstel Sekunden mißt. Was mich an diesem Sport vor allem stört: Die Schlittenfahrer sehen, während sie hinabrasen, so wenig von der Landschaft." "Folglich könnte man diese Sache verbilligen. Man schweißt Stahlröhren zusammen, schmiert sie innen mit Seife ein und schießt die Athleten mit Preßluft durch." "Eine fabelhafte Idee. Und solche Röhren kann man in jeder Großstadt und in der Sahara aufstellen, und es gibt dann nicht mehr nur sechs oder sieben hochgelegene Dörfer auf der Welt, in denen man dieser Sportart frönt." (Erich Loest: Rotes Elfenbein)


Lüscher, Jonas: Frühling der Barbaren

  Das weiße Hemd mit den Rosenwasserflecken am Rücken roch etwas streng, was daran lag, dass Preising bei seinem Versuch, Saida für Nabokovs lepidopterologische Spaziergänge oberhalb des Genfer Sees zu interessieren, recht ins Schwitzen geraten war. Er unternahm einen halbherzigen Versuch, dem mit der Applikation einer größeren Menge Rasierwasser unter den Achseln entgegenzuwirken, und umschiffte die schwierige Frage nach dem zweiten Hemdknopf, indem er während des Zuknöpfens versuchte, im Kopf die Anzahl der Circonflexe in der Originalfassung von Prousts Madelainesequenz zu ermitteln, eine Sequenz, die er sich die Mühe gemacht hatte, auswendig zu lernen, weil er im Laufe seines Lebens die Erfahrung gemacht hatte, dass Schmelzbrötchen und, vielleicht etwas allgemeiner, mit Nahrungsmitteln verknüpfte Kindheitserinnerungen in so mancher gesellschaftlichen Situation als beliebtes Gesprächsthema aufkamen. (Jonas Lüscher: Frühling der Barbaren)


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