Allgemeine Fundstücke  / [M]


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Macdonald, Marianne: Das Manuskript

  Allem Anschein nach hatte der Pfarrer Davey nie kennen gelernt. Mit volltönender Stimme gab er ganz offensichtlich seine Standard-Beerdigungsrede zum Besten, mit eingefügten Verweisen auf "das tragische und gewaltsame Ende" eines "aufopferungsvollen Sohns und talentierten Künstlers", und forderte uns am Ende auf, den Kopf zu senken und zu beten. Ich bin immer wieder überrascht, wenn eine Ansammlung von Alltagsatheisten diesem Befehl Folge leisten. (Marianne Macdonald: Das Manuskript, S. 190)


Machfus, Nagib: Palast der Sehnsucht [1]

  "Heute stehst du im Mittelpunkt, gefeiert wie ein Bräutigam, ein Tag des Triumphs, nicht wahr? Wärst du nicht so mager, gäbe es an dir nichts auszusetzen." Kamal lächelte. "Ich fühle mich ganz wohl so." Jasin warf einen letzten Blick in den Spiegel. Er setzte den Tarbusch auf, rückte ihn sorgfältig weit nach rechts, so daß er fast an die Augenbrauen heranreichte. Begleitet von einem Rülpser, sagte er: "Ein ziemlich großer Esel bist du, einer mit Abitur. Genieße endlich die Ruhe, stopfe dich mit gutem Essen voll, du hast doch Ferien. Wie kannst du dich nur dazu hinreißen lassen, in den Ferien doppelt soviel zu lesen wie im ganzen Schuljahr? Gott sei's gedankt, daß ich mit solch mageren Menschen wie dir nichts gemeinsam habe." (Nagib Machfus: Palast der Sehnsucht)


Machfus, Nagib: Palast der Sehnsucht [2]

  "Nur begnüge ich mich damit, mit dem Kopf auf Reisen zu gehen, während du, wie mir scheint, erst dann zufrieden sein wirst, wenn dich deine gedankliche Tour rund um die Welt gebracht hat." "Aber hast du keine Sehnsucht, in alle Himmelsrichtungen zu ziehen?" Kamal dachte einen Moment lang nach. "Ich glaube, ich habe von Natur aus eher eine Vorliebe fürs Seßhafte. Schon der Gedanke ans Verreisen scheint mich zu erschrecken, das heißt die Bewegung, das Durcheinander, nicht aber, Neues zu sehen und zu erkunden. Am liebsten wäre mir, die Welt könnte an mir, dort, wo ich gerade bin vorüberziehen." Hussain stimmte sein liebenswürdiges, von Herzen kommendes Lachen an. "Wenn das ginge, wäre ein feststehender Ballon für dich das beste, da würde sich dann die Welt unter dir drehen." (Nagib Machfus: Palast der Sehnsucht)


Machfus, Nagib: Palast der Sehnsucht [3]

  "Warum denkst du nicht daran, selbst zu schreiben? Sowohl jetzt wie auch künftig werden dir deine Verhältnisse erlauben, dich ganz dieser Kunst zu widmen." Hussain zuckte verächtlich mit den Schultern. "Ich soll schreiben, damit andere Leute etwas zu lesen haben? Warum nicht umgekehrt?" "Welche der beiden Möglichkeiten ist wohl großartiger?" "Frag mich nicht nach Großartigkeit, sondern lieber nach dem, was Glück bedeutet. Ich halte Arbeit für den Fluch der Menschheit, und zwar nicht, weil ich faul bin. Nein, keinesfalls. Aber ich meine, daß man beim Arbeiten Zeit verschwendet, die Persönlichkeit in Fesseln legt und das pralle Leben versäumt. Ein glückliches Leben ist fröhlicher Müßiggang." Kamals Blick verriet, daß er den Freund nicht ganz ernst nahm. "Ich weiß nicht, wozu ein Leben ohne Arbeit gut sein sollte. Eine Stunde Nichtstun ist schwerer herumzubringen als ein Jahr voller Arbeit." "Das ist ja das Unglück! Was du sagst, trifft genau zu. Denke nicht, daß ich es jetzt schon schaffe, nichts zu tun. Leider nicht. Bis jetzt verplempere ich meine Zeit noch nicht sogenannten nützlichen, in Wirklichkeit aber nichtssagenden Dingen. Da bleibt nur zu hoffen, daß ich mir eines Tages meine Vorstellung vom glücklichen Leben erfülle und es fertigbringe, einzig dem Müßiggang zu frönen." (Nagib Machfus: Palast der Sehnsucht)


Machfus, Nagib: Palast der Sehnsucht [4]

  "Ich weiß, daß du von deinen Träumereien nicht ablassen wirst. Du hast so lange mit ihnen gelebt, daß sie wahrer als die Wirklichkeit geworden sind. Lies, soviel zu willst, schreib meinetwegen sogar, wenn du glaubst, Leser zu finden. Sieh im Schreiben eine Möglichkeit, berühmt und reich zu werden, aber nimm es um Himmels willen nicht zu ernst. Du warst ein heftiger Verteidiger der Religion, und genauso emsig betreibst du jetzt deine Abtrünnigkeit. Du bist immer hart und ungeduldig, als würdest du für die ganze Menschheit die Verantwortung tragen. (Nagib Machfus: Palast der Sehnsucht)


Machfus, Nagib: Zuckergäßchen [1]

  Er las, dachte nach, notierte Gedanken, die er später in den Artikeln verwendete. Was ihn zu unermüdlichem Eifer trieb, waren Wissensdurst, Wahrheitsliebe, Neugier auf geistige Abenteuer, aber auch Sehnsucht nach Trost und Erlösung von Wehmut und Einsamkeit, beides in seinem Innern tief verwurzelt. Aus dem Alleinsein flüchtete er sich in die Einheit des Seins bei Spinoza, über die eigene Unbedeutendheit tröstete er sich durch die Mitwisserschaft um Schopenhauers Sieg über den Willen hinweg, das Maß seines Mitleids mit Aischas Unglück besänftigte er mit einem Schluck aus der Leibnitzschen Erklärung des Bösen, sein nach Liebe dürstendes Herz tränkte er mit der poetischen Sprachgewalt Bergsons. Doch so unablässig er sich auch mühte, er vermochte es nicht, der Ungewißtheit die Krallen zu schneiden, die ihm Folterqualen bereiteten. Die Wahrheit erwies sich als ebenso kokette Geliebte wie eine Frau aus Fleisch und Blut. Sie zierte sich, verdrehte einem den Kopf, ließe einen zweifeln, machte eifersüchtig und gaukelte einem im gleichen Moment verführerisch Besitz und Vereinigung vor. Wie eine Geliebte war sie schillernd, launisch, wankelmütig, und nur allzuoft neigte sie zu List, Verrat, Grausamkeit, Hochmut. Kam am Ende nur Ratlosigkeit heraus, fühlte er keine Kraft mehr, dann sprach er sich Trost zu mit den Worten: "Ja, vielleicht leide ich wirklich, aber auf jeden Fall bin ich am Leben, bin ein lebender Mensch. Wer das von sich behaupten will, muß den Preis zahlen. (Nagib Machfus: Zuckergäßchen)


Machfus, Nagib: Zuckergäßchen [2]

  Ich begehre diese Frau, seit wann, weiß ich nicht. Begierde ist ein tyrannischer Herrscher, Liebe nicht. Die Liebe kennt seltsame Wege, doch sie ist frei von Gier. Würden sich meine Liebe und meine Begierde an einer Frau entzünden, könnte ich endlich seßhaft werden. Es wird nicht geschehen, nie wird mein Leben etwas anderes als ein Wust von Gedanken und Gefühlen sein, die nicht in Einklang zu bringen sind. (Nagib Machfus: Zuckergäßchen)


Maier, Andreas: Das Zimmer [1]

  Mein Onkel J. trank seinen Kaffee gezuckert, in eine gewöhnliche Tasse Bohnenkaffee gab er fünf Teelöffel Zucker (ich sah dem immer fassungslos zu); wenn man das auf eine ganze Thermoskanne hochrechnet, muß er etwa fünfundzwanzig bis dreißig Teelöffel Raffinadezucker in jede Kanne geschüttet haben. Mein Onkel lebte nicht gesund, das kann man nicht sagen, allerdings war es damals auch noch nicht so in Mode, gesund zu leben, man durfte sich die eigene Todesart fast noch aussuchen, und es war meistens die eigene Lebensart. (Andreas Maier: Das Zimmer, S. 44)


Maier, Andreas: Das Zimmer [2]

  Einmal schaute er fern, einen Bergsteigerfilm mit Luis Trenker. Bergsteiger- und überhaupt Heimatfilme liebte er, amerikanische Filme schaute er nie... das fiel mir aber erst später auf. Wo die anderen bereits in den Straßen von San Francisco waren, war er noch bei der Försterhütte vom Silberwald. Filme, die zu einem Drittel der Gesamtlänge aus röhrenden Hirschen bestehen, die spektakulär Almwiesen hinauf und hinunter laufen bei fortgeschrittenem Gelbstich des Filmmaterials. (Andreas Maier: Das Zimmer, S. 48)


Malpass, Eric: Morgens umsieben ist die Welt...

  "Mummi bekommt wieder ein Baby", sagte Paps. Diese Erklärung hatte Gaylord gefürchtet. Er war gekränkt. In einer Angelegenheit, die ihn so unmittelbar betraf, hätte man ihn wenigstens fragen können. "Ich muß doch nicht etwa mit ihm spielen?" "Wahrscheinlich wirst du das wollen", sagte Paps ohne große Überzeugung. Philoprogenetik war nicht gerade seine Stärke. Bei Baby dachte er eher an Windeln und die Sechs-Uhr-Flasche als an den Fortbestand des Lebens und das Gesegnet-ist-der- Mann-der-viele-Kinder-hat. (Eric Malpass: Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung, S. 134)


Manguel, Alberto: Tagebuch eines Lesers

  Im Tagebuch beschreibt Bioy die Beerdigung der Schriftstellerin Maria Luisa Levinson. Ihr geschlossner Sarg hatte ein kleines Fenster. Jemand stellte fest, daß ihr Gesicht offenbar mit Zeitungsseiten bedeckt war. Ihre Tochter erklärte darauf, man solle später einmal an den Nachrufen erkennen, wer sie war. (Alberto Manguel: Tagebuch eines Lesers, S. 22)


Manguel, Alberto: Tagebuch eines Lesers [2]

  Ein paar Tage nach der Tragödie hörte ich von einem, der sich an dem Morgen in einem Buchladen nahe dem World Trade Center aufhielt und, da er nur warten konnte, daß sich der Staub legte, weiter in den Büchern blätterte, inmitten des Sirenengeheuls und der Schreie. Chateaubriand notiert, daß ein bretonischer Dichter inmitten der Revolutionswirren in Paris eintraf und den Wunsch äußerte Versailles gezeigt zu bekommen. "Es gibt Leute”, schrieb Chateubriand, "die Gärten und Springbrunnen besichtigen, während um sie herum Weltreiche zusammenbrechen." (Alberto Manguel: Tagebuch eines Lesers, S. 75)


Manguel, Alberto: Tagebuch eines Lesers [3]

  Die Katze tut so, als wäre sie von ihrem eigenen Schwanz überrascht; sie belauert ihn eine Weile und macht einen Satz, um ihn zu fangen. Als hätte sie für sich entschieden, daß das, was wie ihr Schwanz aussieht, nicht ihr Schwanz ist, ein fiktiver Schwanz sozusagen. Aus Freude an diesem Spiel verzichtet sie - wie ein Leser - freiwillig auf die Realitätsprüfung. (Alberto Manguel: Tagebuch eines Lesers, S. 220)


Mann, Klaus: Mephisto [1]

  Sie war unberührbar, unangreifbar; denn sie war ahnungslos und sentimental. Sie glaubte sich umgeben von der "Liebe ihres Volkes", weil zweitausend Ehrgeizige, Käufliche und Snobs Lärm machten zu ihren Ehren. Sie schritt durch den Glanz und verschenkte Lächeln - mehr verschenkte sie nie. Sie glaubte allen Ernstes, daß Gott ihr wohlwollte, weil er ihr so viel Geschmeide hatte zukommen lassen. Mangel an Phantasie und an Intelligenz bewahrte sie davor, an eine Zukunft zu denken, die mit dieser schönen Gegenwart vielleicht wenig Ähnlichkeit haben würde. Wie sie dahinschritt, erhobenen Hauptes, übergossen vom Licht und von der allgemeinen Bewunderung, gab es keinen Zweifel in ihrem Herzen an der Haltbarkeit solchen Zaubers. Niemals - so meinte sie zuversichtlich - niemals würde abfallen von ihr dieser Glanz; niemals würden die Gemarterten sich rächen, niemals würde die Finsternis nach ihr greifen. (Klaus Mann: Mephisto, S. 25)


Mann, Klaus: Mephisto [2]

  Die kleine Siebert war reizend. Ihr Köpfchen mit dem kurzgeschnitttenen, links gescheitelten blonden Haar glich dem eines dreizehnjährigen Buben. Ihre hellen und unschuldigen Augen wurden dadurch nicht weniger anziehend, daß sie kurzsichtig waren: manche fanden, daß gerade die Art, auf die Angelika beim Schauen die Augen zusammenkniff, ihren besonderen Charme ausmache. "Unsere Kleine schwärmt wieder einmal", sagte der schöne Rolf Bonetti und lachte etwas zu laut. Er war jenes Mitglied des Ensembles, das die meisten Liebesbriefe aus dem Publikum erhielt: daher sein stolzer, müder, vor lauter Blasiertheit beinah angewiderter Gesichtsausdruck. Der kleinen Angelika gegenüber jedoch war er der Werbende: schon seit längerem bemühte er sich um sie. Auf der Bühne durfte er sie oft in den Armen halten, das brachte sein Rollenfach mit sich. Im übrigen aber blieb sie spröde. Mit einer wunderlichen Hartnäckigkeit verschenkte sie ihre Zärtlichkeit nur dorthin, wo nicht die mindeste Aussicht bestand, daß man sie erwiderte oder auch nur wünschte. Rührend und begehrenswert, wie sie war, schien sie ganz dafür gemacht, viel geliebt und sehr verwöhnt zu werden. Der sonderbare Eigensinn ihres Herzens aber ließ sie kühl und spöttisch bleiben vor Rolf Bonettis stürmischen Beteuerungen, und ließ sie bitterlich weinen über die eisige Geringschätzung, die Hendrik Höfgen ihr gegenüber an den Tag legte. (Klaus Mann: Mephisto, S. 34)


Mann, Klaus: Flucht in den Norden [1]

  Sie sah ihren Vater im halbdunklen Eßzimmer allein in einem unbequemen Stuhl am Fenster sitzen. Sein Gesicht ist aufgeschwemmt, schlaff, mehlig-blaß, mit entzündeten Augen. Er streicht sich mit dem Daumen über die linke Wange und über die linke Seite des Kinns. Er ist nicht rasiert. Die blonden Bartstoppeln liegen ihm wie ein Schimmel, wie ein fahler Ausssatz über Kinn und Backen. Eine ungeheure Langeweile lastet auf seiner Stirne, seinen Schultern und seinen Händen. Die Erinnerungen, die ihm einst so tröstlich waren, sind abgenutzt, ausgelaugt, er kann sie nicht mehr hervorholen, sogar sie, das letzte, was er hatte, bereiten nun Ekel. Er ist überflüssiger als eine Ratte in diesem Zimmer, in dieser Stadt, auf dieser Erde. Seine Zeit ist vorbei, gründlich, endgültig - er hat auf nichts nichts mehr zu hoffen. Er haßt das, was gegenwärtig herrscht und obenauf ist; aber das, was sich etwa dahinter anmeldet, würde ihm ebenso wenig behagen. Jedoch wird er nicht den Mut haben, sich umzubringen. Nicht einmal besaufen kann er sich, denn er hat kein Geld. Auf dem Speicher verstauben seine Gemälde von solider impressionistischer Technik, Landschaften und Damenporträts, haben früher ganz gute Presse gehabt, jetzt interessiert sich für sie kein Aas. Am Ersten hat auch noch der letzte Mieter gekündigt, den sie in der Wohnung hatten, und neulich hat ihm sogar Felix, sein ordinärer, aber nicht erfolgloser Sohn, die zehn Mark verweigert, die er ihm sonst ab und zu gab. Man wird trotzdem nicht den Mut haben, sich umzubringen. - Der Vater hat nicht gehört, daß die Türe aufgemacht worden ist. Da seine Frau ihn anspricht, hebt er langsam den schläftigen Kopf. 'Sitzt du hier und döst?' fragt sie und hat den verkniffenen Mund. 'Es ist ja ganz dunkel im Zimmer.' - 'Nein', antwortet er. 'Nur so...' Sie schweigen beide, und sie hassen sich. Sie sind beide in derselben trostlosen Lage. Sie hassen und sie verachten sich, weil sie sich gegenseitig so tief haben sinken sehen; weil sie sich gegenseitig nicht helfen können; weil keiner etwas von dem anderen voraus hat. (Klaus Mann: Flucht in den Norden, S. 217f.)


Mann, Klaus: Flucht in den Norden [2]

  Der schwarze Hund Knut hatte sich zu Karins Füßen gelagert und ließ sich von ihr mit Kuchenstückchen füttern. Wolf, der bei der Mutter lag und keinen Kuchen bekam - die alte Dame vergaß ihren Liebling im Plaudern -, stellte sich, als interessiere ihn dies nicht und er habe keineswegs Lust auf so kindisches Zeug wie Kuchenbröckchen. Nur zuweilen konnte er sich nicht beherrschen, schoß gramvoll eifersüchtige Blicke und ließ aus tiefster Brust ein Knurren hören, voll von der ganzen wehleidigen Erbitterung einer grundanständigen, scheußlich benachteiligten Kreatur. (Klaus Mann: Flucht in den Norden, S. 40)


Mann, Klaus: Treffpunkt im Unendlichen [1]

  Doktor Massis war Privatgelehrter. Das gestattete ihm seine finanzielle Lage. Sein Vermögen, das ein tüchtiger Vetter ihm über die Inflation gerettet hatte, war nicht groß, aber doch eben groß genug, daß er von den Zinsen behaglich leben konnte. Er hatte eine Dreizimmerwohnung in der Dörnbergstraße, Nähe Lützowufer. Schlafzimmer und Eßzimmer waren unauffällig, fast spießig möbliert, aber sein Arbeitsraum hatte skurrilen Charakter. Es war schwarz tapeziert und überfüllt mit bizarren Gegenständen. Wo keine Bücher standen oder in Stapeln lagen, hingen chinesische Masken, indianische Fratzengottheiten oder gespenstische Blätter moderner Meister (zum Beispiel ein ungemein verwunschener Kubin). Oben auf den Bücherschränken standen große Modelle von Segelschiffen, dazwischen ein menschlicher Embryo, im Spiritus gräßlich gekrümmt. Freunde nannten diese düstere Stube das Kabinett des Doktor Kaligari, und Massis selbst pflegte über seine Dämonie zu scherzen. "Das sind so altmodische kleine Späße, die man sich gönnt." Sein Ehrgeiz war, vieldeutig zu erscheinen, was ihm bei seiner talmudistischen Verschlagenheit nicht übel gelang. Wozu er sich auch bekannte, immer ließ er noch geheime Hintergründe ahnen, niemals war im letzten festzustellen, wo sein Standort war. Was er preisgegeben hatte, nahm er durch ein ironisches Wort wieder zurück, und hatte er sich zu weit hervorgewagt, verhüllte er sich nachher um so gründlicher. Dabei wollte er nicht unzuverlässig oder unredlich scheinen, aber hinter jeder definitiven Erkenntnis, die er aussagte, hatte er stets eine noch definitivere in petto. Dieses Spiel hatte denselben Reiz wie der Blick in den Spiegel, dem ein anderer Spiegel gegenübersteht: die Verführung der unendlichen Perspektive, die foppende Kulissenwirkung einer falschen Ewigkeit. Freilich war jene Unterhaltung so trügerisch wie diese, beide entließen einen ungetröstet und unbelehrt. (Klaus Mann: Treffpunkt im Unendlichen)


Mann, Klaus: Treffpunkt im Unendlichen [2]

  Gregor Gregoris Ruhm stieg plötzlich und blendend über Berlin auf wie eine Rakete. Über Nacht kam es, daß man überall seinen Namen hörte. Er war in diese Stadt gekommen, von den Zehenspitzen bis zum Scheitel mit keinem anderen Willen geladen als dem: zu siegen. Für was - blieb eine andere Frage. (...) Man pflegt sie nicht zu stellen, die Frage nach dem: "Für was?", wenn Bühnenmenschen sich um ihren Ruhm bemühen. Gregors Wesen aber war von der Art, daß er selber sie stellte - ohne sie freilich beantworten zu können. Nichts - als - eitler Komödiant zu sein, wies er mit Hochmut von sich. Er prätentierte geistige Ziele, über deren Beschaffenheit er Genaueres allerdings nicht auszusagen wußte. Sein Wesen war so anspruchsvoll wie unklar. Die Energien, mit denen er die ständige Hochspannung seines Tages bestritt, waren keineswegs gespeist aus den soliden Quellen einer starken Vitalität, vielmehr erzwang er sie mittels einer hysterischen Verkrampfung, die er sich keinen Augenblick zu lockern erlaubte. In der Tat, diese Hysterie war sein kostbarstes Kapital. Nicht nur, daß sie ihm ermöglichte, in Ohnmacht zu fallen oder Schreikrämpfe zu bekommen, wenn ihm etwas nicht paßte: sie gab seinem Wesen den phosphoreszierenden Charme, die Elastizität, die Unwiderstehlichkeit; sie verlieh seinen übertriebenen geistigen Ansprüchen, seinem intellektuellen Hochstaplertum den Schwung und die fieberhafte Intensität, dank denen sie fast überzeugten. (Klaus Mann: Treffpunkt im Unendlichen)


Mann, Klaus: Treffpunkt im Unendlichen [3]

  Richard Darmstädters Vater, Paul Darmstädter, war ein jüdischer Patrizier in Mainz. Er bewohnte ein altehrwürdiges Haus dortselbst und hatte allerlei Geschäfte und Interessen zwischen Frankfurt und Köln. Seine Gemahlin, geborene Herzfeld aus Wiesbaden, war an Richards Geburt gestorben. Vielleicht begann bei dieser Tatsache die Aversion, die Vater Darmstädter unleugbar gegen seinen Sohn empfand. Sie war auch sonst vielfach begründet. Vater Darmstädter war konservativ, auf eine nüchterne Art fromm, allen Extremen abhold; pedantisch grämlich, aber auf einer gesunden Basis von Vitalität, ehrbar und maßvoll. Richard: übertrieben in allen seinen Reaktionen und Gefühlen, bald depressiv, bald auf eine forcierte Art ins Leben verliebt; sehr intelligent, aber fahrig; ausschweifend sentimental und zynisch; mit einem Hunger nach Abenteuern, sowohl physischen (die in praxi meistens etwas zweitklassig verliefen), als auch geistigen, überrationalen, die ihn in mystische Gebiete und unkontrollierte Ekstasen führten. (Klaus Mann: Treffpunkt im Unendlichen)


Manzoni, Alessandro: Die Brautleute [1]

  Außer diesem besonderen Schmuck des Hochzeittages hatte Lucia noch den alltäglichen einer unaufdringlichen Schönheit, die jedoch nun hervorgehoben und gesteigert wurde durch die verschiedenen Gefühle, die sich auf ihrem Antlitz malten: Freude, gedämpft durch eine leichte Unruhe und jene stille Traurigkeit, die sich hin und wieder auf den Gesichtern von Bräuten zeigt und ihnen, ohne ihre Schönheit zu schmälern, einen besonderen Charakter verleiht. (Alessandro Manzoni: Die Brautleute, S. 52)


Marias, Javier: Der Gefühlsmensch

  Ich werde niemals Extreme erreichen, wie Hörbiger sie pflegt, der zwar in der viertletzten Saison in Madrid als Otello aufgetreten ist. (...) Er war seinerzeit ein genialer Neuerer in der Interpretation dieser Partien, aber seine Originalitätssucht ist mit der Zeit immer stärker und umfassender geworden, je mehr seine Fähigkeiten mit den Jahren schwanden, und in den letzten Jahren seiner Karriere prahlte er mit seiner eigenen Exzentrik und erzählte selbstgefällig, er müsse elf Stunden schlafen, viermal täglich die Kleidung wechseln, dreimal baden und zweimal mit einer Frau schlafen, um ein Minimum an Wohlgefühl zu erlangen. (Javier Marias: Der Gefühlsmensch, S. 113)


Maron, Monika: Animal triste [1]

  Emile war neunundfünzig und Sibylle war neunundvierzig; ich glaube, sie waren das schönste Liebespaar, das ich im Leben gesehen habe. Sie konnten während eines Gesprächs plötzlich einander so tief in die Augen fallen, daß jeder, der mit ihnen am Tisch saß, gerührt seine Rede unterbrach, um in die Erinnerung an einen ähnlich glücklichen Augenblick seines eigenen Lebens zu versinken. Obwohl beide in ihren öffentlichen Liebesbezeugungen eher zurückhaltend und schamhaft waren, suchten sie jede Gelegenheit, einander flüchtig zu streifen oder sich für eine Sekunde wie von der Leibhaftigkeit des anderen immer wieder überzeugen, als könnten sie ihr ungeheures, nicht mehr erwartetes Glück nicht glauben. (Monika Maron: Animal triste, S. 44f.)


Maron, Monika: Animal triste [2]

  Ich will nicht behaupten, daß ich leidlos Tochter war, aber seit Hinrich Schmidts Tod war ich davon überzeugt, daß es zwar beschämend und lächerlich sein konnte, zur Gestalt der eigenen Mutter heranwachsen zu müssen, daß aber den Söhnen im Bild der Väter eine ungleich größere Gefahr drohte. Die Angst, die er im Kindesalter erduldet hat, eines Tages als Vater selbst verbreiten zu müssen, zwingt jeden Mann, entweder das Kind in sich zum Schweigen zu bringen oder auf Vaterschaft zu verzichten. (Monika Maron: Animal triste, S. 67)


Maron, Monika: Animal triste [3]

  Das Besonders an Franz ist, daß er mich an niemanden erinnert. Wenn mir ein mit Franz vergleichbarer Mann aber nie zuvor begegnet ist und wenn mir Franz trotzdem vertraut ist wie kein anderer Mann, den ich länger und genauer gekannt habe als ihn, kann das nur bedeuten, daß ich mir, ehe ich Franz traf, ein Bild von ihm gemacht haben muß; nicht ein Bild von Franz, dem Hautflügelforscher aus Ulm, sondern von einem, der sich als letztendlicher Sinn aller himmelschreienden Sehnsucht eines Tages offenbaren würde, offenbaren mußte, weil sonst diese ganze umtriebige Hoffnung ein gemeiner Betrug der Natur gewesen wäre, eine paradiesische Fata Morgana auf dem Weg ins Verdursten. (Monika Maron: Animal triste, S. 104)


Maron, Monika: Animal triste [4]

  Wenn ich über das Alter überhaupt etwas Gutes sagen kann, dann nur, daß es in zweierlei Hinsicht taugt als Vorbereitung auf den Tod: Wir haben Zeit, unsere Erinnerungen so lange zu feilen und zu schleifen, bis die Versatzstücke am Ende zu einer halbwegs pausiblen Biografie verschraubt werden können; und wir werden uns mit dem fortschreitenden Verfall selbst so lästig, daß wir eines Tages den Tod herbeisehnen können, damit er uns vom Liebsten, was wir im Leben hatten, von uns selbst, erlöst, was aber nur für den Fall gilt, daß wir schneller verfaulen als verblöden. (Monika Maron: Animal triste, S. 145)


Maron, Monika: Animal triste [5]

  Die Zeit der reinen Dankbarkeit ist die erste Phase der Liebe, vermutlich jeder Liebe. Einem Menschen gelingt es, uns zu verwandeln. Eigenschaften, von denen wir wünschten oder sogar wußten, daß sie verschüttet oder unerweckt in uns verborgen sind, verdrängen von der Sekunde unseres Verliebtseins an andere, mit denen zu leben wir gewohnt waren. Wir erkennen uns nicht wieder. Wir sind schöner, sanfter, weise. Wir sind erlöst von unserem Kleinmut und unserer Mißgunst. Wir fühlen uns imstande, unserem ärgsten Feind zu vergeben. Jeden Baum, jede Straße, jede Minute überstrahlen wir mit unserem Glück und wundern uns über ihre bis dahin unentdeckte Schönheit. Wir fühlen uns ein mit dem Himmel, dem Regen, dem Wind. Wir sind eins mit dem Himmel, dem Regen, dem Wind. Wir sind endlich von dieser Welt und endlich gar nicht mehr von ihr. (Monika Maron: Animal triste, S. 180)


Maron, Monika: Animal triste [6]

  Inmitten der Wolkenkratzer, Klimaanlagen, Eismaschinen und den ewigen Sirenen der Unfallwagen fühlte ich mich so tierhaft frei wie nie zuvor in der Natur, die mich, je unerschlossener und unbelebter sie war, um so herber auf meine eigenen Unnatur verwiesen hatte. Alle Sprachklischees erwiesen sich plötzlich als so paradox wie wahr: der Dschungel der Großstadt, die pulsierende Stadt; der Lärm brandet; der Verkehr braust, strömende Menschenmassen, Häusermeere, Straßenschluchten, als wäre im Chaos der Stadt die uns gemäße Natur wieder erwachsen. (Monika Maron: Animal triste, S. 219)


Maron, Monika: Endmoränen [1]

  In gewisser Hinsicht war jede Liebe nichts als die Imagination einer paradiesischen Glückseligkeit, deren Urbild in uns zwingt, ihre irdische Erfüllung nachzujagen. Das jedenfalls sagt Elli. Elli sagte auch, daß sie in Menschen, die jenseits der triebgesteuerten Jugendzeit ihre Glücksphantasien an die geschlechtliche Liebe hängten, entweder auf den Rausch programmierte Suchtcharaktere, leidverliebte Masochisten oder einfach nur romantische Idioten sehen könne. (Monika Maron: Endmoränen, S. 163f.)


Maron, Monika: Endmoränen [2]

  Igor betrieb eine Galerie für moderne russische Malerei in Berlin und plante, in Moskau eine Galerie für moderne westeuropäische Kunst zu eröffnen. Als Sohn eines Diplomaten hatte er einen Teil seiner Kindheit in Deutschland verbracht. Im idyllischen Bonn am Rhein, sagte Igor, in der deutschesten aller deutschen Landschaften, so daß er selbst ein bißchen deutsch geworden sei. Glaub ihm nicht, rief Karoline aus der Küche, er ist ein Russe bis in die letzte Pore, ein arroganter wunderbarer Russe, der alle Deutschen verachtete. Nur die Männer, sagte Igor, die Frauen bewundere ich. (Monika Maron: Endmoränen, S. 74)


Maron, Monika: Endmoränen [3]

  Ich habe jetzt schon das Gefühl, daß ich nichts kann, was diese Welt noch braucht. Ich konnte Botschaften in Biografien verstecken, und das ist über Nacht eine ganz überflüssige Fähigkeit geworden. Vielleicht habe ich in meinem Leben zuviel Kraft darauf verwendet, etwas nicht zu tun, und Achim hat recht mit seiner Behauptung, ich sei geistig deformiert infolge erzwungener defensiver Denkgewohnheiten. Mein Vater hatte eine Cousine, die ihr Leben lang nicht gelernt hat, vernünftig zu telefonieren, weil sie unter den Nazis drei Jahre im Zuchthaus gesessen hatte. Jede Verabredung zum Kaffetrinken wurde zur konspirativen Aktion. Wenn sie sich mit einem von uns am Alexanderplatz treffen wollte, sagte sie: du weißt schon, bei der komischen Uhr, oder: an dem großen Turm. Sogar die Uhrzeit versuchte sie zu umschreiben: eine Stunde später als jetzt, sagte sie oder: zwei Stunden früher als beim vorigen Mal. Es war vollkommen unsinnig, aber sie konnte nicht anders. (Monika Maron: Endmoränen, S. 57)


Maron, Monika: Endmoränen [4]

  Den Entschluß, das Haus zu kaufen, faßten wir innerhalb von Minuten. Wir hatten einen ehemaligen Kommilitonen von Achim in seinem gerade ausgebauten alten Forsthaus besucht und, weil die Besitzer solcher Anwesen es von ihren Besuchern so erwarten, das Haus, die Einrichtung, den Garten und die Landschaft überschwenglich gepriesen. Der Gastgeber muß in unseren Lobreden wohl unseren geheimen Wunsch vermutet haben, selbst Besitzer eines derartigen Refugiums zu sein, oder er sehnte sich nach befreundeter Nachbarschaft, jedenfalls fuhr er mit uns nach Basekow, wo das Haus, von abgeernteten Feldern umgeben und in ein unglaubliches Herbstlicht getaucht, uns alle Bedenken vergessen ließ, die in vernünftigen und handwerklich unbegabten Menschen wie uns angesichts des ruinösen Zustandes dieser Kate jeden Gedanken an einen Kauf hätten ersticken müssen. (Monika Maron: Endmoränen, S. 20)


Maron, Monika: Endmoränen [5]

  Ich war ein Stadtkind, und mein Verhältnis zur Natur beschränkte sich auf ihre Nutzbarkeit, ohne daß ich mir dessen bewußt gewesen wäre. Ich dachte einfach nicht darüber nach. Selbst als ich in Basekow den Gewittern zusah oder dem Sturm, der in gewaltigen Wellen das Korn peitschte, empfand ich vor allem eine tiefe Genugtuung, weil diese Macht keine Menschenmacht war, weil sie keinem Gesetz gehorchte und keiner Regierung, weil sie die Garantie war für einen größeren, der Lächerlichkeit unseres eigenen Lebens entzogenen Zusammenhang. Der Gedanke, eine Kreatur dieser undurchschaubaren, endlosen Welt zu sein, stattete mich gegenüber der Tatsache, daß ich den idiotischen Gesetzen einer ebenso idiotischen Menschenmacht unterlag, mit unbestreitbaren Rechten aus. (Monika Maron: Endmoränen, S. 24)


Maron, Monika: Endmoränen [6]

  Nachdem ich drei Wochen lang nicht nur jede geistige Anstrengung, sondern auch gedankliche Zielgerichtetheit vermieden hatte, drängte es mich noch immer nicht, meinen haustierähnlichen und gänzlich unnützen Zustand zu beenden. Meine anfängliche Hoffnung, etwas in mir würde sich, wenn ich nur lange genug im Stumpfsinn verharrte, auch ohne disziplinierende Vorsätze wehren, erfüllte sich nicht. Im Gegenteil: je länger der Zustand andauerte, umso wohler fühlte ich mich in ihm. (Monika Maron: Endmoränen, S. 83)


Maron, Monika: Endmoränen [7]

  Und Achim langweilten ziellose Gespräche, wie ich sie mit Elli führte, die tröpfelnd begannen mit einem kleinen Seufzer, dem ein verhaltener Fluch auf dies oder das folgte, dann eine Allerweltsfrage: warum muß das so sein? oder eine unernste Verdammung: alles ist schrecklich, ehe die ersten Sätze sich zu einem Rinnsal vereinten, das sich langsam seinen Weg bahnte, zwischendurch versickernd und als Bach wieder aufsprudelnd, der allmählich anschwoll zu einem Strom von gewichtiger Breite, in abschüssige Kurven rauschte und sich in der Ebene wieder beruhigte, in kleinen Wellen die Ufer anspülte, sich hier und da staute und weiterfloß, bis er, wenn Elli und ich müde und ein bißchen trunken waren, in das Meer aller bisher geführten Gespräche und tausendmal gestellten Fragen mündete. (Monika Maron: Endmoränen, S. 90)


Maron, Monika: Endmoränen [8]

  Aber schon morgens beim Zeitungslesen empfinde ich deutlich, daß die Zeitung nicht mehr für meinesgleichen geschrieben wird, und manchmal denke ich wirklich: laß sie doch ziehen, die Welt; und wenn den Menschen in hundert Jahren das Wasser ausgeht, werden sie sich wohl etwas einfallen lassen müssen. Keine Generation, auch unsere nicht, wurde gefragt, ob ihr der Zustand, in dem sie den Laden übernehmen mußte, gefällt oder nicht. Und dann erschrecke ich, weil mir klar wird, daß ich, statistisch gesehen, in solcher Lethargie noch zwanzig, vielleicht sogar dreißig Jahre verbringen kann und dabei zu einem bösartigen Greis verkomme, und nehme mir vor, ein gütiger und weiser Großvater zu werden. (Monika Maron: Endmoränen, S. 95)


Maron, Monika: Endmoränen [9]

  Sobald von Glück als zu erstrebendem oder gar erreichbaren Krankheit oder seinen sexuellen Obsessionen gesprochen. Und Glück als die Frucht rauschhafter Liebe war für Elli nichts als Autosuggestion und Selbstbetrug, dem sich nur hingab, wer das Leben, wie es nun einmal war, nicht ertragen wollte. Niemand, der kein Kind mehr sei, dürfe einen anderen Menschen für das eigene Wohlbefinden in Haftung nehmen, meinte Elli. Sie hätte zu keiner Zeit ihres Lebens geglaubt, daß der Mensch einen Anspruch auf Glück hätte, und schon gar nicht sei ihr Idee gekommen, der Weg durch das irdische Jammertal ließe sich durch die Liebe versüßten. (Monika Maron: Endmoränen, S. 164)


Maron, Monika: Endmoränen [10]

  Ich bin schwanger, sagte sie, aber ich will jetzt kein Kind, jetzt nicht. Ich wußte nicht, ob sie meinen Widerspruch erwartete oder meine Zustimmung. Und Alex? fragte ich. Was hat Alex damit zu tun? Ich bin schwanger, nicht Alex. Aber er ist der Vater? Was heißt: er ist der Vater? Lauras Stimme klang schrill und feindselig. Wenn ich es ihm nicht gesagt hätte, wüßte er gar nichts davon. Nur weil ich so blöd war, es ihm zu erzählen, glaubt er, es sei ebenso seine Entscheidung wie meine. 'Es ist auch mein Baby', das ist ein Kitschsatz aus jeder zweiten amerikanischen Fernsehserie. Es ist überhaupt noch kein Baby und schon gar nicht seins. In diesem Stadium gibt es weder Mütter noch Väter, sondern nur schwangere Frauen. (Monika Maron: Endmoränen, S. 172)


Maron, Monika: Das Mißverständnis... [1]

  Ick bin an dem Alten schon vorbei, bleibt der plötzlich stehn und schreit: Nu frag ich Sie, wo sind die Schwalben. Ick bleib stehn, der Alte kieckt in den Himmel. Ick kieck ooch in den Himmel. Keene Schwalbe zu sehn. Wo sind die Schwalben, frage ich Sie, sagt der Alte, schüttelt den Kopp, wo die bloß sind, sagt er und geht weiter. (Monika Maron: Das Mißverständnis. Vier Erzählungen und ein Stück, S. 100)


Maron, Monika: Das Mißverständnis... [2]

  Der Mensch wird jeborn mit ner bestimmten Menge Liebe in sich, sagen wir ein oder zwei Megawatt, das ist verschieden von Mensch zu Mensch. Die trägt er wien Kaffeewärmer unterm Arm mit sich rum und is unglücklich. Bis er eines Tages einen findet, dem er den Kaffeewärmer überstülpt. Ick liebe dich, sagt er und deckt ihn mit seiner Liebe zu. Eine Weile is der Mensch glücklich. Dann wird dem Jeliebten unter dem Kaffeewärmer zu heiß, er kriegt keene Luft und schiebt den Kaffeewärmer beiseite. Beede klemm ihre Lieben untern Arm und suchen neue Opfer. (Monika Maron: Das Mißverständnis. Vier Erzählungen und ein Stück, S. 101)


Maron, Monika: Das Mißverständnis... [3]

  Sie setzt sich auf eine Bank gegenüber einer großen Kastanie und spricht mit dem Baum: Wat is bloß los mit den Menschen. Warum lebense denn nich. Jeder will das sein, was er nich is, oder den haben, den er nich kriegt. Man hat ihnen was wegjenommen, und nun wollnses gerne wiederhabn. Aber was. Irgendwas, wat ick nich wissen kann, weil icks nie hatte, weilse mich nich jeborn habn, sondern einfach uff die Welt jekotzt. Ick denk mir dit so: Eines Tages wurde meiner Mutter schlecht, so schlecht, daß se kotzen mußte. Und wat se ausjekotzt hat, war ick, janz kleen zuerst, viel kleener als andere. Und aus gerechter Empörung über die janze Sauerei bin ick denn so groß jeworden. Und kämpfe nu sone Art Klassenkampf. (Monika Maron: Das Mißverständnis. Vier Erzählungen und ein Stück)


Maron, Monika: quer über die gleise [1]

  Da mir aber, sobald ich irgendeinem Menschen von meinem Postamt erzähle, derjenige sehr ähnliche Geschichten von seinem Postamt erzählt, was zwar an der Schlechtigkeit unserer Postämter nichts ändert, allen Klagenden aber die Herzen erleichtert, beschreibe ich auch Ihnen einmal, wie es auf meinem Postamt so zugeht. Ich will mich gar nicht dabei aufhalten, daß natürlich die meisten Schalter geschlossen sind und von den beiden geöffneten lange Schlangen stehen, das ist wohl normal. Aber die Damen, es sind meistens Damen, hinter der Glasscheibe verdienen eine genauere Beschreibung. Fast alle haben diesen besonderen Blick, der den Kunden darüber aufklärt, daß sein Begehren als lästig, geradezu aufdringlich empfunden wird, daß seine Wünsche nur widerwillig erfüllt werden und daß er im Fall der Beschwerde Gefahr läuft, gar nicht bedient zu werden. Natürlich ist mir dieser Blick gut bekannt, denn ich komme aus dem Osten, wo jeder, der etwas zu vergeben hatte, was andere unbedingt brauchten, genauso guckte. (Monika Maron: quer über die gleise. Essays, Artikel, Zwischenrufe, S. 72)


Maron, Monika: Ach Glück [1]

  Er gehörte zu den zehn besten Abiturienten seines Jahrgangs in Greifswald, was ihm das Studium der Germanistik ermöglichte, obwohl sein Vater Arzt war und somit Vertreter einer Berufsgruppe, die neben den Pfarrern dem Staat am verdächtigsten war. Die Kampffelder hatte er in seinem Leben lieber gemieden. Er spezialisierte sich früh auf die Literatur und Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts, trat keiner Partei bei, obwohl das dem Verzicht auf eine Dozentenstelle an der Universität gleichkam. Die akademische Institution, bei der er seit seiner Promotion gearbeitet hatte, galt als Auffangstelle für Wissenschaftler, die nach Maßgabe der Regierung von der Erziehung und Bildung der künftigen Eliten besser ferngehalten wurden. Trotzdem hatte Achim seinen Rückzug aus der Universität nie als Nachteil empfunden. Er hatte keine pädagogischen Ambitionen, es mangelte ihm auch an rhetorischer Begabung, öffentliche Auftritte strengten ihn an. Nur wenn er zwischen den getürmten Büchern in seinem Arbeitszimmer saß und seine Wissensmosaike millimetergenau zusammensetzte, fühlte er sich sicher und am richtigen, an dem für ihn im Leben vorgesehenen Platz, was Johanna seit einigen Jahren "mit dem Rücken zur Welt" nannte, womit sie, wie er vermutete, vor allem aber mit dem Rücken zu ihr meinte. Dabei tat er, was er all die Jahre getan hatte, seit sie zusammenlebten. Er hatte die Welt immer gelassener betrachtet als Johanna, was sie mit ihrem zur Erregung neigenden Temperament zwar hin und wieder aufgebracht hatte, von ihr aber zwanzig Jahre lang als eine zu ihm und seinem Beruf gehörige Wesensart akzeptiert, wenn nicht sogar bewundert wurde, jedenfalls hatte sie das so oft zu ihm gesagt: Sie bewundere seine Fähigkeit, sich den Verhältnissen zu entziehen, statt sich, wie sie, an ihnen zu verschließen. (Monika Maron: Ach Glück, S. 95)


Maron, Monika: Ach Glück [2]

  Am Tisch neben ihm saß inzwischen ein junges Paar, das augenscheinlich die Nacht miteinander verbracht hatte. Sie verknotete ihre Finger ineinander und tauschten dazu Blicke, die ihre Hände in Arme und Beine verwandelten und ihre züchtigen Berührungen in heimliches, ganz unzüchtiges Treiben. Er fühlte sich gestört. Diese alltägliche sexuelle Ungeniertheit löste misanthropische Anfälle in ihm aus. (Monika Maron: Ach Glück, S. 50)


Maron, Monika: Ach Glück [3]

  Johanna verachtete Männer, deren sexuelle Leidenschaft sich nur noch an der Generation ihrer Töchter entzünden konnte, sie hielt sie für Verräter mit inzestuösen Phantasien. Sobald sie von einem fünfzigjährigen Mann hörte, der seine fünfzigjährige Frau verlassen hatte, um mit einer Dreißigjährigen ein Kind zu zeugen, zählte sie die Namen einiger ihrer Freundinnen auf, die sie samt und sonders für klug und schön erklärte und die alle, seit sie die Fünfzig überschritten hätten, meistens aber schon früher, allein lebten, weil sie in den Augen gleichaltiriger Männer auf den erotischen Abfallhaufen gehörten. (Monika Maron: Ach Glück, S. 38)


Maron, Monika: Ach Glück [4]

  Ein Plong weckte Johanna aus dem Halbschlaf, und diesmal teilte der Pilot persönlich mit, daß man demnächst eine Schlechtwetterzone mit einigen Turbulenzen durchfliegen werde, weshalb das Anlegen der Sicherheitsgurte geboten sei. Seine Stimme klang furchtlos und gelassen wie alle anderen Pilotenstimmen, an die Johanna sich erinnerte. Ganz sicher gehört das zur Ausbildung, dachte sie, bestimmt werden Pilotenstimmen trainiert wie Schauspielerstimmen. Es konnte kein Zufall sein, daß alle Piloten der Welt diese beruhigenden, unerschütterlichen Stimmen hatten, die ihnen wahrscheinlich nicht einmal drei Sekunden vor dem Absturz versagen würden, was bedeutete, daß man dem Versprechen, das in so einer Pilotenstimme lag, keineswegs vertrauen konnte.. (Monika Maron: Ach Glück, S. 100)


Maron, Monika: Ach Glück [5]

  Igitt, igitt, sagt der Graf, ein guter Mensch, entsetzlich, nichts ist schlimmer als ein guter Mensch. In meiner Familie väterlicherseits wimmelt es nur so von guten Menschen. Eine Base meines Vaters, eine häßliche alte Vettel übrigens, war ein besonders guter Mensch. Sobald sie hörte, jemand hätte Krebs oder läge im Sterben, reiste sie dorthin, fünfhundert Kilometer fuhr sie, um einen Menschen sterben zu sehen, aus reiner Güte. Ihr größtes Glück war es, als sie einmal ihre Nachbarin, deren Mann von einem Zug überfahren worden war, ins Leichenschauhaus begleiten durfte. Schlimm, schlimm, schlimmm. Das Wunderbare an Rosa ist, sagt Bruno, daß sie es nicht schafft, ein guter Mensch zu sein, weil sie sich dabei so langweilt; darum will ja auch die Kirche nicht das Himmelreich auf Erden, weil es auf der Erde interessant bleiben soll. (Monika Maron: Die Überläuferin, S. 114)


Maugham, William S.: Oben in der Villa

  Am liebsten wäre sie wieder umgekehrt und hätte daheim auf der Terrasse zu Nacht gespeist. Da war es an einem Juniabend noch hell, und nach dem Diner sitzenzubleiben, bis die milde Nacht sie nach und nach umhüllte, war ein Genuß, dessen Mary nie überdrüssig wurde. Sie hatte dabei ein herrliches Gefühl des Friedens - nicht etwa eines inhaltlosen Ruhens, dem etwas von Stumpfheit, von Teilnahmslosigkeit innewohnt, vielmehr eines tätigen, anregenden Friedens, in dem der Geist wachsam und frisch ist und alle Sinne rasch ansprechen. (William S. Maugham: Oben in der Villa, S.16)


Maugham, William S.: Oben in der Villa [2]

  Die Fürstin San Ferdinando war eine geborene Amerikanerin, eine ältere Dame von herrischem Wesen, mit straffgewelltem, stahlgrauem Haar. Seit vierzig Jahren lebte sie in Italien und hatte in all der Zeit nie ihre Heimat besucht. Ihr Gatte, ein römischer Principe, war vor einem Vierteljahrhundert gestorben. Ihre zwei Söhne dienten im italienischen Heer. Geld hatte sie wenig, dafür aber eine beißende Zunge, die vor ihrer angeborenen Gutmütigkeit Wache hielt. Eine Schönheit war sie wohl nie gewesen. In ihrer aufrechten Haltung, mit ihren lebhaften Augen, den entschlossenen Zügen wirkte sie heute vermutlich attraktiver als in jungen Jahren, da sie, wie gemunkelt wurde, ihrem Gemahl keineswegs treu gewesen war. Doch schadete dies ihrer gesellschaftlichen Stellung, die sie sich selber geschaffen hatte, in keiner Weise; sie war mit jedem bekannt, den sie zu kennen wünschte, und alle freuten sich, ihre Bekanntschaft zu machen. (William S. Maugham: Oben in der Villa, S.17)


Maugham, William S.: Oben in der Villa [3]

  Hätte jedoch irgendwer eine solche Frau gefragt, was sie nun eigentlich an dem Mann finde, so wäre sie gewiß um die Antwort verlegen gewesen. Er sah keineswegs gut aus, es war nichts Vornehmes an ihm, ja er sah aus wie irgendein Automechaniker und trug seine modischen Anzüge, als wären es Overalls und als sei es ihm gänzlich gleichgültig, welchen Eindruck er machte. Es war geradezu aufreizend, daß er anscheinend nichts ernst nahm, selbst die Liebe nicht. Er ließ nur zu deutlich erkennen, daß er von einer Frau nichts wollte als nur das eine. Sein gänzlicher Mangel an allem, was man Gefühl und Empfindung nennt, war unerträglich beleidigend. Und doch war an ihm etwas Mitreißendes. Hinter der Rauheit seiner Manieren lag eine Art Sanftheit, eine erregende Wärme, die sich hinter Spott verbarg, ein instinktives und sonderbar schmeichelhaftes Verstehen des Weibes als eines vom Manne völlig verschiedenen Wesens; sein Mund war sinnlich, und seine grauen Augen blickten zärtlich. Man verstand die alte Fürstin, wenn sie mit ihrer gewohnten Ruppigkeit den Standpunkt vertrat: "Natürlich ist er ein böses Stück, ein ganz fauler Kunde, aber wenn ich dreißig Jahre jünger wäre und er bäte mich, mit ihm durchzugehen, ich würde mich keinen Augenblick besinnen, auch wenn ich wüßte, daß er mich in einer Woche hinauswirft und ich für den Rest meines Lebens unglücklich bin." (William S. Maugham: Oben in der Villa, S. 19f.)


Maugham, William S.: Vor der Party

  Eine der vielen Unvollkommenheiten des wirklichen Lebens besteht darin, daß es selten eine abgeschlossene Geschichte liefert. Irgendein Vorfall hat das Interesse wachgerufen, die Leute, die darin verwickelt sind, stecken in des Teufels Küche, und man fragt sich, was in aller Welt weiter geschehen wird. Und dann geschieht meistens gar nichts. Die unvermeidliche Katastrophe, die man voraussah, war doch nicht unvermeidlich, und die große Tragödie verläuft schließlich, ohne jede Rücksicht auf künstlerische Ansprüche, in einer bloßen Gesellschaftskomödie. (W. Somerset Maugham: Vor der Party. Erzählungen, S. 13)


Maugham, William S.: Fußspuren im Dschungel

  Obgleich nicht so groß wie Carruthers, der ohne Schuhe sechs Fuß maß, war er doch nicht klein; aber er war breitschultrig und stämmig gebaut, so daß er eher gedrungen wirkte. Er war nicht dick, aber gut genährt, und man traute ihm einen herzhaften Appetit zu. Noch jung, dreißig vielleicht oder einunddreißig, hatte er bereits etwas Massiges, das sich mit der Zeit ins Fleischiges auswachsen würde. Gegenwärtig war er ein handfester Bursche. (W. Somerset Maugham: Fußspuren im Dschungel. Erzählungen, S. 27)


Maugham, William S.: Fußspuren im Dschungel [2]

  Sie war eine Frau in den Fünfzigern (obgleich es im Orient, wo die Menschen schnell altern, schwer ist, das Alter zu bestimmen) und hatte weißes, sehr ordentlich frisiertes Haar; und eine ständige Geste bei ihr war, daß sie mit einer ungeduldigen Handbewegung eine lange Haarsträhne zurückstrich, die ihr immer wieder in die Stirn fiel. Man wunderte sich, warum sie diesem Übel nicht mit ein paar Haarnadeln abhalf. Ihre blauen Augen waren groß, aber blaß und ein wenig müde; ihr Gesicht durchfurcht und fahl; es mußte der Mund sein, der ihm seinen Ausdruck von spöttischer, aber zugleich toleranter Ironie verlieh. Man fühlte, daß man es mit einer Frau zu tun hatte, die wußte, was sie wollte, und sich niemals scheute, es auszusprechen. Sie war eine schwatzhafte Spielerin (was viele Leute ablehnen, wogegen ich aber nichts einzuwenden habe, weil ich nicht einsehe, warum man sich am Spieltisch benehmen soll wie bei einem Begräbnis), und zeigte sich bald, daß sie es trefflich verstand, ihre Mitmenschen aufs Korn zu nehmen. Ihr Witz war ziemlich scharf, aber so amüsant, daß bloß ein Schwachkopf sich beleidigt fühlen konnte. Und wenn sie hie und da eine dermaßen beißende Bemerkung fallen ließ, daß man seinen ganzen Humor aufwenden mußte, um ihre Komik zu würdigen, fand sie es anderseits durchaus in der Ordnung, daß man ihr mit gleicher Münze heimzahlte. Ihr großer, schmaler Mund verzog sich zu einem trockenem Lächeln, und ihre Augen leuchteten, wenn einem das Glück eine Antwort eingab, die die Lacher gegen sie aufbrachte. (W. Somerset Maugham: Fußspuren im Dschungel. Erzählungen)


Maugham, William S.: Fußspuren im Dschungel [3]

  Mrs. Tower war während meiner Abwesenheit von der allgemein grassierenden Einrichtungswut befallen worden. Mit der Unbarmherzigkeit, die ihrem Geschlecht eigen ist, hatte sie Stühle geopfert, auf denen sie jahrelang bequem gesessen hatte, Tisch, Kommoden und Dekorationen, auf denen ihre Augen, seitdem sie verheiratet war, friedfertig geruht hatten, Bilder, die ihr ein Menschenalter lang vertraut gewesen waren; sie hatte sich einem Sachverständigen überliefert. (W. Somerset Maugham: Fußspuren im Dschungel. Erzählungen, S. 47)


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