Allgemeine Fundstücke  / [M]


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Maupassant, Guy de: Auf dem Lande

  Dicht beieinander am Fuß einer Anhöhe standen, ganz in der Nähe eines kleinen Badeortes, zwei strohgedeckte Bauernhäuser. Die Bauern mußten hart arbeiten, um dem schweren Boden die Frucht abzuringen und ihre Kinder großzuziehen. Jeder hatte vier. Vor beiden Türen wimmelte es vom frühen Morgen bis zum Abend von dem kleinen Volk. Die beiden ältesten waren sechs Jahre, die beiden jüngsten etwa fünfzehn Monate. Heirat und Geburten hatte es in beiden Häusern immer ungefähr zur gleichen Zeit gegeben. Schon die beiden Mütter hatten Mühe, aus dem Gewimmel ihre Sprößlinge herauszufinden. Für die Väter war ein Versuch einfach hoffnungslos. Die acht Namen tanzten in ihren Köpfen durcheinander, und wenn sie eins ihrer Kinder rufen wollten, mußten sie oft dreimal ansetzen, ehe sie den richtigen trafen. (Guy de Maupassant: Meisternovellen. Bd. 3, S. 127)


Maupassant, Guy de: Miß Harriet

  Ihren lieben Gott dachte sie sich als einen sonderbaren, gutherzigen Mann, eine Art Dorfphilosophen ohne großen Einfluß und große Gewalt, denn sie stellte ihn sich immer vor als untröstlich über das viele Unrecht, das unter seinen Augen begangen wurde, ohne daß er es hindern konnte. Sie selbst stand mit ihm natürlich auf bestem Fuße. Sie kannte als gut mit ihm Vertraute seine Geheimnisse und seine Verdrießlichkeiten. Sie sagte: 'Gott will es' oder 'Gott will es nicht', wie ein Unteroffizier dem Rekruten sagt: 'Der Hauptmann hat es befohlen'.


Maupassant, Guy de: Das Glück

  Als das Mahl beendet war, trat ich hinaus und setzte mich vor die Tür. Und beim Anblick der melancholisch düsteren Landschaft überkam mich wieder dies Gefühl der Beklemmung, ein trübsinnige Stimmung, wie sie uns Weltenbummler manchmal an tristen Abenden, in trostlos einsamen Gegenden befällt - als ob man am Ende aller Tage wäre, am Ende des eigenen Daseins, der ganzen Welt. In solchen Momenten wird einem die große Einsamkeit bewußt, in der wir, jeder von uns, das Daseins zubringen, die Verlorenheit unseres Herzens, das sich sein Leben lang in leere, nichtige Träume flüchtet und sich von ihnen umgaukeln und belügen läßt, bis es aufhört zu schlagen. (Guy de Maupassant: Meisternovellen. Bd. 3, S. 229)


Maupassant, Guy de: Das Brot der Sünde

  Monsieur Sauvetanin ließ Anna nicht ein Sekunde aus den Augen; auch in ihm glühte sichtlich das Feuer, das leichte Fieber der Erwartung, die sich in allen Männern, selbst in nicht mehr ganz jugendfrischen, älteren Semestern regt, sobald sie sich galanten Schönheiten gegeübersehen, gerade als wären solche Damen schon von Standes und Berufs wegen verpflichtet, sich jedem männlichen Wesen mit einem Teil ihrere selbst hinzuschenken. (Guy de Maupassant: Meisternovellen. Bd. 3, S. 271)


Maupassant, Guy de: Bel-Ami

  Sie war ein bißchen zu fett, noch schön, in dem gefährlichen Alter nahe dem Verfall. Sie hielt sich durch Pflege, Sorgfalt, Hygiene und Hautsalben. Sie schien in allem besonnen, maßvoll und vernünftig, eine Frau, deren Wesen schnurgerade ist wie ein französischer Garten; er überrascht nirgends, und doch gewinnt man ihm einen gewissen Reiz ab. Sie verfügte über Verstand, einen feinen, zurückhaltenden und sicheren Verstand, der ihr die Phantasie ersetzte, über Güte, Hingabe und ein stilles, weitherziges Wohlwollen, (Guy de Maupassant: Bel-Ami, S. 139)


Maupassant, Guy de: Bel-Ami [2]

  Plötzlich sinnlich geworden unter den Küssen des schönen Burschen, der ihr Blut so heftig entzündete, umschlang sie ihn in ungeschickter Brunst und ernster Beflissenheit, so daß Du Roy belustigt an Greise denken mußte, die lesen lernen wollen. Statt ihn in den Armen zu erdrücken und mit dem tiefen, schrecklichen Blick zu verzehren, die manche Frauen haben, die herrlich sind in ihrer letzten Liebe, statt ihn mit stummem, bebendem Munde zu beißen und ermüdet, doch unersättlich, unter ihrem schwellenden, heißen Fleisch zu begraben, tollte sie wie ein loses Mädchen und lispelte in vermeintlicher Schalkhaftigkeit: "Lieb dich so, mein Kleiner, lieb dich so. Sei schön lieb mit deinem Frauchen." - Er mußte sich sehr beherrschen, um nicht fluchend seinen Hut zu nehmen und die Türe hinter sich zuzuschlagen. (Guy de Maupassant: Bel-Ami, S. 312)


Maupassant, Guy de: Novellen 1875-1881 [1]

  Als sie hinausgingen, trafen sie auf einen Gärtner, und Patissot fragte: "Gehört das Monsieur Meissonier schon lange?" Der Mann antwortete: "Oh, Monsieur, was denken Sie! Das Grundstück hat er schon 1846 gekauft, aber das Haus!!!, das hat er seitdem fünf- oder sechsmal niedergerissen und wieder aufgebaut... Ich bin sicher, da hat er an zwei Millionen reingesteckt, Monsieur!" Und Patissot wurde, während er weiterging, von einer riesigen Hochachtung für diesen Mann ergriffen, nicht so sehr wegen seiner großen Erfolge, seines Ruhmes und seines künstlerischen Könnens, sondern weil er so viel Geld zu seinem Spaß aufwandte, während die gewöhnlichen Bürger sich jeden Spaß versagen, um Geld anzuhäufen. (Guy de Maupassant: Novellen 1875-1881, S. 231)


Maupassant, Guy de: Novellen 1875-1881 [2]

  "Monsieur", begann er, "wenn der Winter mit Kälte, Regen und Schnee kommt, rät Ihnen Ihr Arzt alle Tage: 'Halten Sie Ihre Füße warm, hüten Sie sich vor Erkältung, vor Schnupfen, Husten und Brustfellentzündung.' Dann treffen Sie tausend Vorsichtsmaßregeln, Sie legen Flanell an, tragen warme Überröcke, festes Schuhwerk, was Sie dennoch nicht immer davor bewahrt, zwei Monate das Bett zu hüten. Aber wenn der Frühling kommt mit seinen Blättern und Blüten, mit seinen warmen, weichen Winden, seinen Gerüchen vom Land her, die einen in Wirrnis, in grundlose Rührung versetzen, kommt niemand und sagt: 'Monsieur, hüten Sie sich vor der Liebe! Sie liegt überall im Hinterhalt; sie lauert an allen Ecken; all ihre Fallstricke sind gespannt, all ihre Waffen sind geschärft, all ihre Schändlichkeit sind vorbereitet! Hüten Sie sich vor der Liebe! ... Hüten Sie sich vor der Liebe! Sie ist gefährlicher als Schnupfen, Husten oder Brustfellentzündung! Sie kennt keine Gnade und läßt einen Dummheiten begehen, die nie mehr gutzumachen sind.' Ja, Monsieur, ich sage Ihnen, die Regierung müßte jedes Jahr riesige Plakate anschlagen lassen mit den Worten: 'Der Frühling kommt. Französische Bürger, seid auf der Hut vor der Liebe!' So wie an einer Haustür steht: 'Vorsicht, frisch gestrichen!' Und da die Regierung das nicht tut, treten ich an ihre Stelle und sage Ihnen: Hüten Sie sich vor der Liebe; sie ist im Begriff, nach Ihnen zu schnappen, und ich haben die Pflicht, Sie zu warnen, so wie man in Rußland einem Passanten sagt, daß seine Nase erfriert." (Guy de Maupassant: Novellen 1875-1881)


Maupassant, Guy de: Novellen 1875-1881 [3]

  Dort riecht man mit vollen Nüstern den ganzen Abschaum der Welt, das ganze distinguierte Pack, den ganzen Schimmel der Pariser Gesellschaft: eine Mischung aus Modehändlern, Schmierenschauspielern, drittrangigen Journalisten, Adligen unter Kuratel, undurchsichtigen Börsenspekulanten, anrüchigen Boulevardiers, verkommenen alten Lebemännern; ein verdächtiges Sammelsurium aller schrägen Existenzen, halb entehrt, Gauner, Schufte, Zuhälter, Glücksritter mit würdiger Haltung großtuerischer Miene, die zu sagen scheint: Den ersten, der mich Lump nennt, erschlage ich. (Guy de Maupassant: Novellen 1875-1881, S. 424)


Maupassant, Guy de: Novellen 1875-1881 [4]

  Gibt es einen mächtigeren Trieb als die Neugier der Frau? Oh, wissen, kennenlernen, berühren, wovon man geträumt hat! Was täte sie dafür nicht? Wenn die fiebrige Neugier einer Frau einmal erwacht ist, wird sie alle Tollheiten, alle Unvorsichtigkeiten, alle Kühnheiten begehen, vor nichts zurückschrecken. Ich spreche von den Frauen, die echtes Weib, die von der Sinnesart mit dreifachem Boden sind, an der Oberfläche scheinbar vernünftig und kühl, doch in jenen drei Geheimfächern stecken: im ersten stets rege weibliche Unruhe; im nächsten List im Gewand der Aufrichtigkeit; jene List der Frömmler, sophistisch und erschreckend; im letzten schließlich bezaubernde Niedertracht, erlesene Lüge, köstliche Falschheit, all die schlimmen Tugenden, die den dummgläubigen Liebhaber in den Selbstmord treiben und die übrigen entzücken. (Guy de Maupassant: Novellen 1875-1881, S. 454)


Maupassant, Guy de: Novellen 1875-1881 [5]

  Sein ganzes Leben hatte er sitzend verbracht. Da er Ruhe und Stille liebte, war er Junggeselle geblieben, und alle Bewegungen, aller Lärm waren ihm verhaßt. Die Sonntage brachte er im allgemeinen mit der Lektüre von Abenteuerromanen hin, oder er fertigte sorgfältig Linienblätter an, die er dann seinen Kollegen überreichte. Er hatte in seinem ganzen Daseins nur dreimal umzugshalber je acht Tage Urlaub genommen. Doch manchmal, an hohen Feiertagen, fuhr er mit einem Vergnügungszug nach Dieppe oder Le Havre, um seine Seele an dem großartigen Schauspiel des Meeres zu erheben. Er war jenes gesunden Menschenverstandes voll, der an Dummheit grenzt. (Guy de Maupassant: Novellen 1875-1881, S. 199)


Maurer, Jörg: Felsenfest

  "Und sie - die hat doch eine Goschn! Die kann verhandeln. Die tatat alle über den Tisch ziehen!" (Zweimal tatat, das müsste vielleicht erklärt werden. Das a wird zweimal hell ausgesprochen wie in Latte macchiato, also fanfarenartig, und das hat durchaus seinen Grund, denn hier haben wir es mit dem oberbayrischen reduplikativen Konjunktiv (>Doppelmoppler<) zu tun, der die Sache nicht etwa zweifelhafter macht, sondern im Gegenteil fanfarenartig verstärkt: "Die tat alle über den Tisch ziehen": es ist möglich, dass sie das macht; "die tatat alle über den Tisch ziehen": sie macht es irgendwann ganz sicher.) (Jörg Maurer: Felsenfest)


Mauriac, François: Fleisch und Blut [1]

  Und schnell, als ob sie Eile hätte, ihren Gesprächspartner nicht länger in einer falschen Vorstellung von der sozialen Bedeutung einer Gonzales zu belassen, unterrrichtete sie ihn davon, daß sie, Tochter eines spanischen Granden und Witwe eines bedeutenden Bankiers von Bayonne, sich jetzt ihr Brot selbst verdienen müsse. Madame Gonzales drückte sich weitschweifig aus, mit wollüstiger Gesprächigkeit, wie eine Schwatzbase, die seit zwei Tagen niemand mehr hatte, an den sie das Wort hätte richten können. Sie legte in ihre Rede die Selbstgefälligkeit einer Dame, deren Manie es ist, die Leute durch das Gemälde ihrer vergangenen Reize zu blenden und durch die Schaustellung ihres gegenwärtigen Unglücks zu erweichen. Sie erhob den Anspruch, zugleich die glücklichste und die unglücklichste Frau gewesen zu sein; bewunderte, daß ihr Mann sich ruiniert hatte, um ihr ein königliches Leben zu bereiten; versicherte aber, daß sie nach dem Eintritt der Katastrophe ihren Bekanntenkreis durch die Leichtigkeit in Erstaunen versetzt habe, mit der sie ihren und ihrer Tochter Lebensunterhalt verdiente. (Francois Mauriac: Fleisch und Blut, S. 17)


Mauriac, François: Fleisch und Blut [2]

  "Wollen Sie ein wenig Musik?" Jeder drängte sich hinzu, Marcel öffnete das Piano. Firmin Pacaud suchte eine Partitur; Bertie neigte sich zu Frau Gonzales und flüsterte: "Das ist mehr, als erwartet werden konnte." "Sogar viel mehr", flüsterte die rätselhafte Dame. Madame Castagnede setzte sich zurecht, zeigte das ausdruckslose Gesicht, das sie in Konzerten zur Schau trug, schickte sich an, mit dem Kopf im Gegentakt zu nicken und sich bei den Pausen zu fragen, ob es nun zu Ende sei. (Francois Mauriac: Fleisch und Blut, S. 58)


Mauriac, François: Fleisch und Blut [3]

  Zunächst konnte er sich nicht vorstellen, daß er eines Tages sich nicht mehr mit Frauen vergnügen sollte: und dem opferte er alles. Keine Zeitung, kein Buch reizten ihn. Selbst die Geschäfte waren ihm nur eine Geldquelle, damit er seinen Hunger befriedigen konnte. Das Wohlleben interessierte ihn nur deswegen, weil es ihm eine vorübergehende Erwärmung zuteil werden ließ. "Das" für alle Ewigkeiten nicht mehr zu haben! Er hatte Lust, zu schreien. Andererseits waren ihm von seiner wohlbehüteten hugenottischen Kindheit her unbestimmte religiöse Schrecken zurückgeblieben. Bei der langen und üblen Ausschweifung seines Lebens war ihm der Gedanke gekommen, Gott könne ihn an einer Ecke dieses ekelhaften Alters erwarten. (Francois Mauriac: Fleisch und Blut, S. 62)


Mauriac, François: Fleisch und Blut [4]

  Wir stehen für immer im Leben, und wenn Claude sich in das dunkle Wasser werfen würde, dann würde es nicht den Teil von ihm dem Atlantik zutragen, der litt und verzweifelte. Im Gegenteil, er würde diese Hoffnungslosigkeit mit in die Ewigkeit hinübernehmen. Kein Ausweg war möglich. Der Tod ist auf das Leben geworfen wie eine Arche auf den Fluß, und wenn der Schatten der Wehre einmal überwunden ist, dann fließen die Wasser ewig im Licht. Der Zeit und dem Raum entgehen, den grünen und blauen Erscheinungen, dem harten Boden, dem festen Holz, den Steinen, dem Gras: das heißt nicht dem Leben entgehen. Es ist den Menschen nicht gegeben, davonzugehen. (Francois Mauriac: Fleisch und Blut, S. 102f.)


Mauriac, François: Therese Desqueyroux

  Hat sie sehr gelitten auf dieser Reise zu den italienischen Seen? Nein, nein; sie hat das Spiel gespielt: sich nicht verraten. Ein Verlobter läßt sich leicht anführen; ein Ehemann dagegen nicht! Jeder ist imstande, verlogene Worte zu finden; die Lügen des Körpers fordern ein anderes Können. Begierde, Lust, selige Erschlaffung darzustellen ist nicht jedem gegeben. Therese gelang es, ihren Körper zu solchen Finten zu bewegen, und sie fand bitteres Vergnügen daran. Ihre Phantasie half ihr zu der Vorstellung, es hätte diese Welt der sinnlichen Erfahrungen, in die ein Mann sie einzudringen zwang, vielleicht auch für sie ein mögliches Glück gehabt - doch welches Glück? Wie wir uns angesichts einer verregneten Landschaft ausmalen, welchen Anblick sie im Sonnenschein böte, so malte Therese sich die Wollust aus. (Francois Mauriac: Die Tat der Therese Desqueyroux, S. 38f.)


Mauriac, François: Der Jüngling Alain

  Es herrschte die Einsamkeit und die Stille des Mittags. Sie streifte mit einer raschen Bewegung das Oberteil des Badeanzugs ab, entblößte in aller Keuschheit ihre mageren Schultern und eine kaum knospende Brust. Was ich dabei empfand, war nicht, was Donzac vermuten wird: ein faunisches Vergnügen. Nein, so kleine Mädchen bringen mich noch nicht auf schlechte Gedanken. Ich glaube zu fühlen, wie die Faust, die meine Kehle zusammenschnürte, sich plötzlich öffnete (wenn ich geahnt hätte!), es war, als ob jemand seine Hände über meine blinden Augen legte und dann wieder wegzöge und ich könnte mit einem Schlag sehen. Schon ein einziges Wesen wie dieses hier war ein Wunder, und es gab Millionen davon auf der Welt - dieser Welt, die ich nicht kannte und die mich niemand kennenzulernen zwingen würde, wenn ich es vorziehen sollte, in einem Zimmer zu bleiben: dort, wo meine Bücher sind und wo die anderen Menschen nicht sind. (Francois Mauriac: Der Jüngling Alain)


McCullers, Carson: Spiegelbild im goldnen Auge

  Leonora war auf dem Kaminvorleger im Wohnzimmer eingeschlafen. Der Hauptmann sah auf sie hinab und lachte in sich hinein. Sie lag auf der Seite. Er gab ihr einen kleinen scharfen Tritt in den Hintern. Sie murmelte etwas von einem Truthahn, der gefüllt werden müsse, wachte aber nicht auf. Der Hauptmann beugte sich zu ihr hinunter, schüttelte sie, redete auf sie ein und brachte sie endlich auf die Beine. Aber wie ein Kind, das man nachts noch einmal auf den Armen zur Toilette trägt, besaß auch Leonora die Gabe, im Stehen weiterzuschlafen. Als der Hauptmann sie dann zur Treppe zog, waren ihre Augen geschlossen, und sie murmelte immer noch etwas vom Truthahn. "Glaub ja nicht, daß ich dich jetzt auch noch ausziehe", sagte der Hauptmann. Aber Leonora blieb genau so auf dem Bett sitzen, wie er sie hingesetzt hatte. Er beobachtete sie mehrere Minuten lang, schmunzelte wieder und zog ihr dann die Kleider aus. Er zog ihr aber kein Nachthemd an, weil er in dem Durcheinander der Kommode keines finden konnte; außerdem liebte Leonora es, im 'Rohzustand' zu schlafen, wie sie es nannte. (Carson McCullers: Spiegelbild im goldnen Auge)


McEwan, Ian: Ein Kind unserer Zeit

  Sie gehörte zu einer ehrwürdigen Tradition von Frauen in der theoretischen Physik, sagte aber von sich selbst, daß sie nie eine einzige Entdeckung gemacht habe, auch keine unbedeutende. Ihre Aufgaben seien Reflexion und Lehre. Entdeckungen seien zum neuen Fingerhakeln der Wissenschaft geworden und außerdem etwas für die Jungen. Es habe in diesem Jahrhundert eine wissenschaftliche Revolution gegeben, und fast niemand, auch unter Wissenschaftlern, denke sie zu Ende. Während der kalten Abende eines enttäuschenden Frühlings saß sie mit ihm am Feuer und erklärte ihm, wie die Quantenmechanik die Physik und überhaupt alle Wissenschaft weiblicher, sanfter machen werde, weniger hochmütig, unbeteiligt, zugänglicher für eine Teilhabe an der Welt, die sie beschreiben wolle. (Ian McEwan: Ein Kind unserer Zeit, S. 63)


McEwan, Ian: Ein Kind unserer Zeit [2]

  Jahrelang hatte er sich eingeredet, im tiefsten Herzen zu den Entwurzelten zu gehören, daß Geld zu haben nur ein netter Zufall sei und er jederzeit wieder mit all seiner Habe in einem einzigen Sack die Straßen treten könne. Doch die Zeit hatte ihn an seinen Platz genagelt. Er war einer von denen geworden, die sich beim Anblick der abgerissenen Armen nach der Polizei umschauten. Er war jetzt auf der anderen Seite. (Ian McEwan: Ein Kind unserer Zeit, S. 155)


McEwan, Ian: Ein Kind unserer Zeit [3]

  Sie saßen ein paar Minuten in behaglichem Schweigen. Aus der Küche, wo Stephens Mutter einen Braten brutzelte, kamen die beruhigenden Geräusche einer auf- und zugehenden Backofentür, eines Bratensaft schöpfenden schweren Löffels. Später kam sie auf Drängen seines Vaters heraus, um ihren Sherry bei ihnen zu trinken. Sie zog die Schürze aus, bevor sie sich setzte, und legte sie zusammengefaltet auf ihren Schoß. Die zahlreichen kleinen Sorgen, die mit der Zubereitung eines dreigängigen Essens einherzugehen pflegten, belebten ihr Gesicht. Sie lauschte mit einem Ohr immer zum Küchenfenster, was das Gemüse wohl machte. (Ian McEwan: Ein Kind unserer Zeit, S. 132)


McEwan, Ian: Ein Kind unserer Zeit [4]

  Die gute Laune stellte sich beim Kaffee ohne weiteres wieder ein, als die Rede auf das Begräbnis eines älteren Verwandten kam, der vor einer Woche auf dem Friedhof von Wimbledon beigesetzt worden war. Stephens Mutter erzählte die Geschichte mit Unterbrechungen, um sich die Tränen abzutupfen. Ein kleiner Junge, ein Urenkel des Verstorbenen, hatte während der Feier einen Teddybären ins Grab geworfen, und da lag er nun rücklings auf dem Sarg und starrte mit nur einem Auge, weil das andere fehlte, zu den Trauernden empor. Der Kleine machte fürchterliches Theater und übertönte das Geleier des Vikars. Ein paar Leute prusteten los, und die Familie verteilte böse Blicke. Niemand mochte hinuntersteigen und das Ding herausholen, und so wurde es mit dem Toten begraben. "Und mehr betrauert", ergänzte Stephenes Vater, der sich mit breitem Grinsen die Geschichte noch einmal angehört hatte. (Ian McEwan: Ein Kind unserer Zeit, S. 138)


McEwan, Ian: Saturday

  Er biegt in die Paddington Street ein und beugt sich über das draußen auf einer schräggestellten, weißen Marmorplatte ausgebreitete Fischangebot. Auf einen Blick sieht er alles, was er braucht. Welche Fülle der sich leerenden Meere. Wie rostiger Industrieschrott liegen Krabben und Hummer in zwei Holzkisten auf dem Fliesenboden neben der offenen Tür, doch im Knäuel der kriegerisch wirkenden Panzer ist deutlich Bewegung zu erkennen. Die Scheren tragen schwarze Trauerbänder. Zum Glück für die Fischhändler und ihre Kunden haben Meeresgeschöpfe keine Stimmen, noch sind sie in der Lage, Schallwellen auszulösen, sonst würde von diesen Kisten lautes Geheul ausgehen. Doch selbst die Stille der sich träge bewegenden Menge ist bedrückend. Er sieht weg, schaut auf das blutleere weiße Fleisch der ausgenommenen, silbrigen Körper mit den klaglos blickenden Augen und auf den rosig keuschen Tiefseefisch, der in handlichen Filets vor ihm hingeblättert liegt wie die Pappseiten ded ersten Bilderbuchs eines Kleinkindes. (Ian McEwan: Saturday, S. 175)


McEwan, Ian: Zwischen den Laken [1]

  ... hatte Latterly vor Jahren in England kennengelernt, als er an einer immer noch nicht abgeschlossenen Doktorarbeit über George Orwell saß, was für ein ungewöhnlicher Amerikaner er war. Schlank, außerordentlich blaß, feines schwarzes gelocktes Haar, Rehaugen wie eine Rennaissanceprinzessin, lange gerade Nase mit engen schwarzen Schlitzen: Terence war von geradezu ungesunder Schönheit. Oft wurde er von Schwulen angesprochen und einmal, in der Polk Street in San Francisco, buchstäblich gestürmt. Er stotterte gerade so, daß es einnehmend war für die Leute, die von so etwas eingenommen werden, und in seinen Freundschaften war er so intensiv, daß er ihretwegen zuweilen in undurchdringliche Schwermut verfiel. Es dauerte einige Zeit, bis ich mir eingestand, daß ich Terence eigentlich gar nicht mochte, aber da war er bereits in meinem Leben, und ich akzeptierte die Tatsache. Wie alle zwanghaften Monologisten interessierten ihn die Gedanken anderer Leute herzlich wenig, aber seine Geschichten waren gut, und nie erzählte er diesselbe zweimal. Regelmäßig vernarrte er sich in Frauen, die er mit seiner labyrinthischen Ungeschicklichkeit und seinem schwindsüchtigen Eifer vertrieb und die neuen Stoff für seine Monologe lieferten. (Ian McEwan: Zwischen den Laken. Erzählungen, S. 180f.)


McEwan, Ian: Abbitte

  Diesmal hielt sie kurz inne, schaute aus dem Fenster in die Dämmerung hinaus und fragte sich, wo ihre Schwester sein mochte. Im See ertrunken, von Zigeunern vergewaltigt, von einem Auto angefahren, dachte sie ganz routiniert, war es doch ein verläßlicher Grundsatz, daß nichts je so geschah, wie man es sich vorstellte, weshalb ihr dies als wirksame Methode galt, das Allerschlimmste schon einmal auszuschließen. (Ian McEwan: Abbitte)


McEwan, Ian: Abbitte [2]

  Um Wachtmeister Vockins sprechen zu können, würde sie erst mit seiner Frau reden müssen, einem Plappermaul, das gern über Hühnereier und derlei Dinge schwatzte - Futterpreise, Füchse und daß die neumodischen Tragetüten doch viel zu dünn seien. Ihr Mann dagegen weigerte sich beharrlich, ihr jenen Respekt zu erweisen, den man von einem Polizisten eigentlich erwarten durfte. Vielmehr pflegte er Platitüden von sich zu geben, die wie hart erkämpfte Weisheiten aus seinem zugeknöpften Brustkorb quollen: Für ihn regnete es nie, es schüttete nur; Müßiggang war aller Laster Anfang, und ein fauler Apfel verdarb die ganze Ernte. (Ian McEwan: Abbitte)


McEwan, Ian: Abbitte [3]

  Wie geschickt dieser Mr. Marshall alle wieder beruhigt hatte. Ob er in Frage kam? Nur schade, daß er nicht besser aussah, seine eine Gesichtshälfte glich einem vollgestopften Schlafzimmer. Vielleicht würde sie mit der Zeit ja ein wenig eckiger wirken, das Kinn einer Käsekante gleichen. Oder einem Stück Schokolade. Falls er wirklich die ganze britische Armee mit Amo-Riegeln belieferte, könnte er außerdem ungeheuer reich werden. Doch Cecilia, die in Cambridge diesem modischen Snobismus verfallen war, hielt einen Menschen mit einem Abschluß in Chemie für ein unvollkommenes menschliches Wesen. Ihre eigenen Worte. Drei Jahre lang auf dem College herumlümmeln und Bücher lesen, die sie ebensogut hätte zu Hause lesen können - Jane Austen, Dickens, Conrad, sie alle standen unten in der Bibliothek in vollständigen Gesamtausgaben. Wir war sie bloß darauf verfallen, daß diese Beschäftigung - Bücher zu lesen, die man gemeinhin doch nur zum Vergnügen las - sie anderen überlegen machte? (Ian McEwan: Abbitte)


McEwan, Ian: Abbitte [4]

  Als Fiona, die mit Briony auf einem Zimmer schlief, ihren Teller von sich schob und verkündete, daß sie "klinisch unfähig" sei, mit Maggi gewürztes Gemüse zu essen, blieb die Heimschwester neben ihr stehen, bis sie den letzten Bissen runtergeschluckt hatte. Die Umstände machten Fiona zu Brionys Freundin: Am ersten Abend des Einführungskurses bat sie Briony, ihr die Fingernägel der rechten Hand zu schneiden, und erklärte, daß sie mit links keine Schere halten könne, außerdem habe ihr bislang stets ihre Mutter diesen Gefallen getan. Sie hatte rotes Haar und Sommersprossen, was unwillkürlich Brionys Mißtrauen weckte, doch war Fiona im Gegensatz zu Lola laut und lebenslustig, hatte Grübchen auf dem Handrücken und einen enormen Busen, der die anderen Mädchen zu der Bemerkung veranlaßte, daß ihr gar nichts anderes übrigbliebe, als eines Tages Stationsschwester zu werden. (Ian McEwan: Abbitte)


McEwan, Ian: Solar [1]

  Wenn er zu Besuch kam, braute sich am Herd ein Tropensturm zusammen. Die Palette ihrer Speisen war pikant und ganz nach seinem Geschmack. Das Gesunde daran wurde mühelos durch reichliche Nachschläge wettgemacht. Sie selbst aß nur wenig, sah ihm aber glühend vor Begeisterung beim Essen zu und meinte, die scharfen Gewürze würden sein Fett verbrennen und ihn zu einem feurigen Liebhaber machen - oder aber: Sie mäste ihn, damit er nie mehr davonlaufen könne. Letzteres kam der Wahrheit näher. Nach einer solchen Mahlzeit hing er wortkarg schwitzend im Sessel und brauchte eine halbe Stunde, um sich zu erholen; keine Rede davon, dass er sich schlanker fühlte oder auch nur die leiseste Erregung verspürte. (Ian McEwan: Solar)


McEwan, Ian: Solar [2]

  Parks, dessen Familie ursprünglich aus Saint Kitts stammte, roch immer nach Pfefferminz. Über dem klugen, ledrigen Gesicht des älteren Schwarzen lag ein silbriger Schimmer. Sein Kopf ragte vor wie der einer Schildkröte und wackelte freundlich, wenn Beard etwas sagte. Er war so alt wie Beard, aber eine Handbreit größer, und hielt sich in Form, wie er erzählte, indem er jeden Morgen zwischen sechs und sieben, bevor er den ersten Patienten empfing, im Schwimmbad seine Bahnen zog. Für Beard war es unvorstellbar, um diese Tageszeit nass zu sein, oder auch nur wach; mit solchen Heldentaten würde er niemals mithalten können, eine so grausame Schinderei war ein zu hoher Preis dafür, seinen Body-Mass-Index zu senken. (Ian McEwan: Solar)


Menasse, Eva: Quasikristalle [1]

  ... bekam man am Schulanfang Claudias Mutter öfter zu sehen. Sie war jung, denn sie hatte Claudia in einem skandalösen Alter bekommen, das ungefähr mit dem Ende ihrer eigenen Schulzeit zusammengefallen sein musste. (Eva Menasse: Quasikristalle) Dazu war sie hinreißend hübsch, ein ungeschminkter Engel. Und sie war unkompliziert und herzlich, so wie es keine andere ihnen bekannte Mutter war, weil die Mütter ansonsten auf kratzbürstigen Sicherheitsabstand zwischen sich und ihren halbwüchsigen Konkurrentinnen achteten. Vielleicht (...) war Claudias Mutter, die jeder Lizzie nennen und duzen durfte, der Grund, warum Xane und sie Claudia erduldeten. (...) Und während man sich bei Lizzie - oder Frau Denneberg - wie in einem heiteren französischen Film fühlte, wenn sie einem eiskalte Melonenstückchen in den Holundersaft tat, so empfanden die Mädchen Claudias Gastfreundschaft, deren Pfeiler Vollkornkekse und eine selbstgetöpferte Teekanne waren, als plump und belastend. An Claudia war das Drama der schlechten Kopie zu besichtigen. (...) Aber deshalb beschützten sie sie. Sie, von denen man annehmen hätte können, dass sie dieses warmherzige, ungeschickte, nach sämtlichen Jugendstandards immens peinliche Mädchen quälen oder zumindest kalt verachten müssten, hatten es vor langer Zeit zur Freundin erklärt. Die Richtung gab die bewunderte Lizzie Denneberg vor, die ihre Tochter mit der unerschütterlichen Nachsicht einer Kindergärtnerin behandelte und von der sie damals glaubten, dass diese insgeheim unter Claudias Begriffsstutzigkeit ebenso leide wie sie. (Eva Menasse: Quasikristalle)


Menasse, Eva: Quasikristalle [2]

  Am ersten Schultag, dem Fest der geschmückten Schultüten, hatte Judiths Mutter wieder einmal die Haare ihrer Tochter verleugnen wollen. Sie begann frühmorgens mit der Prozedur, die kaltes Wasser, Zitronensaft, scharfe Kämme und ein Brenneisen erforderte. (...) Im Auto hielt Judith ihren malträtierten Kopf unter der Jacke versteckt, Judiths Mutter weinte lautlos, Judiths Vater spielte den unbeteiligten Chauffeur. (...) Judith hatte ihre halbleere Schultüte, von der die Papiergirlanden in Fetzen hingen, mit kerzengeradem Rücken weg von ihrer Familie in das Schulhaus hineingetragen, in einen Klassenraum, der noch nach Farbe roch. Sie überhörte tapfer das erste Pippi-Langstrumpf- Gezischel. (Eva Menasse: Quasikristalle)

Menasse, Eva: Quasikristalle [3]

  Er stellte ehrfurchtsvolle Fragen, die erkennen lassen sollten, dass er Bernays' Bücher bis in die Fußnoten gelesen hatte, und würde Bernays fraglos ein reiches Feld zur Selbstdarstellung bieten. Der spürte zwar, dass er von einem Streber eingewickelt wurde. Trotzdem: Für die vielen Stunden, die man miteinander verbringen würde, war ein Stichwortgeber keine schlechte Sache, redete Bernays sich ein. Und ließ zu, dass der Streber mit Mario in heftige Konkurrenz trat. Knappenstreit. Liebesdienerhändel. (Eva Menasse: Quasikristalle)


Menasse, Eva: Quasikristalle [4]

  Nach all den Erkenntnissen, die wir in den letzten sechs Monaten gewonnen haben, muss ich Ihnen zur IVF raten. Da hatte sie Tränen in den Augen. Es fällt manchen so schwer, vom natürlichen Weg abzuweichen. Während es inzwischen vereinzelt andere, oft ziemlich Junge, gibt, die ohne wahrnehmbaren Grund kommen, drei Monate lang nicht schwanger geworden, und schon sitzen sie erwartungsfroh da. Als ob die Generation Wunschkaiserschnitt bei Kinderwunsch automatisch die gleichnamige Klinik aufsucht, so, wie sie das Smartphone-Navi befragt, wenn sie keinen Supermarkt findet. (Eva Menasse: Quasikristalle)


Menasse, Eva: Quasikristalle [5]

  Dieser Architekt war ja auch nicht sauber. Das schien eine rein technische Opposition zu sein, alles und jedes zu hinterfragen und probeweise umzukehren, um geistig in Bewegung zu bleiben, wie er das wahrscheinlich genannt hätte. Man könnte es geistigen Zappelphilipp nennen, ohne jeden Mehrwert. Und solche wie Moni hatte Bernays wahrlich oft genug gesehen. Der Starrsinn, mit dem sie auf ihrer blankpolierten Trennlinie zwischen Schwarz und Weiß, zwischen garantiert und unmöglich beharrte, war bei beschränkter Intelligenz die einzige Möglichkeit, angstfrei den moralischen Kurs zu halten. (Eva Menasse: Quasikristalle)


Menasse, Robert: Ich kann jeder sagen

  Mein Leben seitdem läßt sich erst recht in beschämend wenigen Worten vollständig beschreiben: Pünktlichkeit, Freundlichkeit und jener Fleiß, der seine Objekte in derselben harmonischen Geschwindigkeit sich vermehren sieht, wie er sie wegerledigt. Ich habe nicht den Wunsch, eine Autobiographie zu schreiben, aber der Gedanke, daß, hätte ich den Wunsch, diese schon mit dem Kauf von Papier fertiggestellt wäre, da sie füglich nur aus leeren Seiten bestehen müßte, irritierte mich sehr. Diese Unzufriedenheit ist unverständlich, denn ich habe keine Sorgen. Aber sie ist verständlich, denn ich bin nie glücklich gewesen.(Robert Menasse: Ich kann jeder sagen, S. 16)


Menasse, Robert: Ich kann jeder sagen [2]

  Ich saß also in einer ungeheizten Wohnung und hatte die Sinnkrise. Ich fragte mich, ob mir mein Studium so viel bedeutete, daß ich auch bereit war, es durch Jobs selbst zu finanzieren. Philosophie! Und was dann? Ich war von den Bedenken meines Vaters nun selbst schon angekränkelt. Ich ging in Vorlesungen und fragte mich danach bei Durchsicht meiner Mitschriften, ob ich beim Mitschreiben oder der Professor beim Vortragen deliriert hatte. Ich machte noch zwei oder drei Prüfungen, die lediglich Triumphorgien der Professoren waren, die, nur wenige Jahre zuvor mit Tomaten beworfen, sich nun bei der nächsten Studentengeneration ungestraft dafür rächen konnten: "Brav gelernt, Herr Kollege, aber ich kann Ihnen nur ein 'genügend' geben, weil: Sehr gut ist der liebe Gott, gut bin ich, und dann kommt lange nichts." (Robert Menasse: Ich kann jeder sagen, S. 156/60)


Mensching, Steffen: Jacobs Leiter [1]

  Wie kann man es zu Tücht'gem bringen
bei des Grames Träumereien,
Das jammernde 'Ach Gott' läßt nichts gelingen,
wer schaffen will, muß fröhlich sein.
Wohl Keime wecken mag der Regen,
der in die Scholle niederbricht,
doch Goldenkorn und Erntesegen
Drum hoch den Kopf, ein Lustig Gesicht!
wenn früh morgens der Wecker grausam gellt.
Ein armseliger und trauriger Wicht,
der nicht selbst sein Leben erhellt.
(Steffen Mensching adaptiert in seinem Roman Jacobs Leiter Fontane)


Mensching, Steffen: Jacobs Leiter [2]

  Laptop, mein Schoßhund, eine Maschine mehr, die ich benutze, ohne zu wissen, wie sie funktioniert. Computer in der Neuen Welt schreiben kein S-Zett und keine Umlaute. Meiner könnte es, er kann alles, wenn er will, nur weiß ich nicht, wie ich seinen Willen brechen, ihm klarmachen soll, daß er sein Wissen anwendet. Störrisches Gerät. Ich begreife die Gebrauchsanweisung nicht und tröste mich mit dem Gedanken, daß ich sie in deutsch auch nicht verstanden hätte. (Steffen Mensching: Jacobs Leiter, S. 9)


Mensching, Steffen: Jacobs Leiter [3]

  Warum ängstigt mich der Gedanke, Großvater wäre Spitzel gewesen, Provokateur, Kriegsverbrecher, ein Nazi? Damit will ich nichts zu tun haben. Schweine, Feiglinge, Mörder. Ich nicht. Ich möchte zu den Guten gehören, zu den Gegnern. Aber ich gehöre nicht zu ihnen. Immer wollte ich bei den Partisanen sein, obwohl ich zu den Deutschen gehörte, lieber ging ich mit den Indianern unter als mit den Cowboys zu siegen. Ich liebte sie nie, die Weißen, Bleichgesichter, ihren breiten Gang, die falsche Selbstsicherheit. Ich war Hegelianer, schon bevor ich lesen konnte, einmal, da war ich sicher, würde der Weltgeist die Gerechtigkeit zum Tanz führen, ein früher Kindergartenirrtum. Es gibt Augenblicke, in denen man sein Leben in klarem Licht sieht. (Steffen Mensching: Jacobs Leiter, S. 55)


Mensching, Steffen: Jacobs Leiter [4]

  Ich sage dir was, wenn man alleine lebt, ist das wichtigste, daß man Ordnung hält. Macht dir jemand sauber? Ich soll jemanden bezahlen, damit er meine Vasen zerbricht? Jack lacht. Das mache ich allein billiger. Es geht nicht um Staubsaugen und Geschirrspülen, Eremiten brauchen Regeln. Männer verwahrlosen zu schnell. Weshalb überleben die Ladies ihre männlichen Gefährten? Frauen achten mehr auf ihr Äußeres. Die Eitelkeit als Lebensretter. Eine Frage der Physiologie. Wer weiß. (Steffen Mensching: Jacobs Leiter, S. 292)


Mensching, Steffen: Jacobs Leiter [5]

  Die Ozean-Überquerung im Zwischendeck gerät zu einer Tortur. Fanny, 21 Jahre alt, glaubt sterben zu müssen. Ihre Konstitution, ohnehin nicht die robusteste, ist dem ewigen Auf und Ab der Wellen nicht gewachsen. Zwar hatte Jacobi, der wußte, was ihr bevorstand, sie dringend angehalten, nur im Vollbesitz ihrer Kräfte sich fühlend die Expedition zu wagen, doch wollte ihr, an Reisefieber und Abschiedsschmerz leidend, in den Tagen der Vorbereitung nur mühsam gelingen, die Mahlzeiten regelmäßig einzuhalten. Jetzt liegt sie auf der Schiffspritsche, während ein Matrose, von Marie, der Frankfurter Reisebekanntschaft, die sich zumindest auf den Beinen halten kann, ans Lager kommandiert, ihr dreimal täglich schwarzen Tee einflößt. Ein vierter Passagier sei der Auszehrung erlegen. Die übliche Quote, meint der Seemann. Da es an Bord regelmäßig zu Geburten käme, bliebe die Anzahl der Passagiere bei Abfahrt und Ankunft relativ stabil. (Steffen Mensching: Jacobs Leiter, S. 305)


Mensching, Steffen: Lustigs Flucht [1]

  Noch heute achte ich, der ich ein unregelmäßiges, müßiges, ja chaotisches Leben führe, peinlich genau darauf, wenigstens am Abend ein wenig feste Nahrung zu mir zu nehmen und ein Glas heißen Tee zu trinken. Der Glaube, die Fesseln der Vergangenheit gelöst zu haben, ist eine schöne Illusion. Dies bemerke ich jedesmal, wenn ich eine Tomate aufschneide. Dann ist mir für einen Augenblick so, als könnte ich kaum über die Tischkante schauen, und ich sehe durch das Teeglas, in dem der Löffel einen Knick macht, das fröhliche Gesicht meines Vaters, der sich die Hände reibt und nach einer Scheibe Brot langt. Wenn ich die Tomate dann koste, weiß ich wieder, daß sich die zeiten geändert haben. (Steffen Mensching: Lustigs Flucht, S. 19)


Mensching, Steffen: Lustigs Flucht [2]

  In meine Oberschulklasse ging ein Mitschüler, den ein auffälliger Name zu meinem Leidensgenossen machte: Bernd Nievoll. Er gehörte bis zur Jugendweihe zu den besten Schülern, erst in der Pubertät begann er den Forderungen zum Opfer zu fallen, die durch seinen Namen an ihn gestellt wurden. Es verging keine Feier, wo Nievoll nicht Hänseleien ausgesetzt war, wieviel Alkohol er denn nun wirklich vertragen würde. Bernd, eigentlich von stiller, zurückhaltender Natur, sah sich genötigt nachzuweisen, daß er mehr schlucken konnte als ein Pferd. Er trank Wodka aus der Flasche, kippte sich Korn ins Bier und schaffte mit fünfzehn seine erste Alkoholvergiftung. Mit zweiundzwanzig kam er zum Entzug in eine Klinik. Ihn rettete, wie es so oft geschieht, eine Frau. Sie hieß Sand, mein ehemaliger Schulkamerad heiratete sie, nahm ihren Namen an, wurde Bernd Sand, in dieser Ehe trocken und Vorsitzender eines Vereins Anonymen Alkoholiker. (Steffen Mensching: Lustigs Flucht, S. 110f.)


Mensching, Steffen: Lustigs Flucht [3]

  Ich stopfte alle auffindbaren Kleidungsstücke in die Trommel, wählte das 30-Grad-Programm, um die Gefahren der Verfärbung oder des Eingehens so gering wie möglich zu halten, und nahm vor dem Bullauge auf den Kokosmatratzen Platz. Eine Havarie, zum Beispiel eine überlaufende Waschmaschine, mußte unbedingt vermieden werden. Walle, walle manche Strecke, daß zum Zwecke Wasser fließe. Die Einspritzung funktionierte tadellos. Der Automat begann zu rumpeln. Von meinem Beobachtungsposten auf dem Küchenboden konnte ich ins Zimmer sehen, den Fernseher im Blick. Das Waschprogramm war aufregender als das Fernsehprogramm. Die Socken tanzten im Schaum. Die Boxershorts drängten sich immer wieder ans Schaufenster, offenbar besaß diese Art Unterhose eine Neigung zur Repräsentation. (Steffen Mensching: Lustigs Flucht, S. 153)


Metcalfe, John: Mr. Meldrums Manie

  Ging ihm sein Geschäft wieder auf die Nerven? Mr. Meldrum, der seinen Wohlstand nicht zu schätzen wußte, hatte sich vor seiner Firma immer eingeengt und beschwert gefühlt, und wenn er andererseits an Männer wie John Masefield, Hegel, Heliogabal und Edison dachte und an den bedeutenden Beitrag, den sie zum Fortschritt der Menschlichkeit geleistet hatten, dann wurde sein Gefühl äußerster Minderwertigkeit akut. Sein eigener Beruf schien ihm dann viel zu frivol und vulgär - versorgte er doch das gesamte Downtown-Manhattan mit "seltenen spanischen Delikatessen." (John Metcalfe: Mr. Meldrums Manie)


Meyrink, Gustav: Walpurgisnacht [1]

  Nach und nach nahm das Festmahl den Charakter einer seltsamen, aber überaus komischen, allgemeinen Betrunkenheit an. - Keiner kümmerte sich mehr um den anderen - jeder lebte, sozusagen ein Leben für sich. Der fürstliche Zentralgüterdirektor Dr. Hyacinth Braunschild (als solcher hatte sich der joviale ältere Herr, schwer bezecht, alsbald dem Pikkolo vorgestellt) war auf einen Stuhl gestiegen und hielt dort unter zahlreichen Bücklingen eine, zumeist aus "Böhs" bestehende Huldigungsanrede an "Seine Durchlaucht, seinen allergnädigsten Gönner und Brotherren", wobei ihm nach jedem längeren Satz das Gigerl mit dem Monokel allemal einen Zigarrenring als Orden verlieh. Daß der Herr fürstliche Zentralgüterdirektor bei solchen Anlässen ncht infolge Gleichgewichtsverlustes vom Sessel herabstürzte, hatte er lediglich der Umsicht des "Notars" zu verdanken, der - wie weiland Siegfried mit der Tarnkappe bei König Gunther - hinter ihm stand und achtgab, daß die Anziehungskraft der Erde ihre Amtgewalt nicht ungebührlich mißbrauchte. (Gustav Meyrink: Walpurgisnacht)


Meyrink, Gustav: Walpurgisnacht [2]

  Der Herr kaiserliche Leibarzt hatte in der verflossenen Nacht einen Tobsuchtanfall bekommen, sämtliche junge und alte "böhmische Liesels", Zrcadlos, Mandschus und "Grüne Fröhsche" zum Teufel gejagt - kurz: einen Energiesturm aus seiner Brust heraufbeschworen, der ihn befähigte, in weniger als einer Stunde alles, was sich in Schränken und Kommoden für den Karlsbader Aufenthalt Geeignetes vorfand, in die Schlünde der Felleisen und Ledertaschen hineinzustopfen - etwa wie ein wirklicher Pinguin Fische in die Schnäbel seiner Jungen - und schließlich die dickgeschwollenen Koffer, denen die Rockschöße, Halsbinden und Unterhosen nur so zum Maul heraushingen, so lange zu behüpfen und zu beflattern, bis ihr Widerstand endgültig gebrochen war und die Riegel seufzend ins Schloß knipsten. Nur ein Paar Pantoffeln mit eingestickten Tigerköpfen und Vergißmeinnichtkränzen aus Glasperlen sowie ein Nachthemd hatte er zurückbehalten und beides vor Ausbruch seiner Raserei sorgfältig mit Bindfaden am Kronleuchter befestigt, damit sie sich nicht vor seinem blinden Wüten verkröchen und dann wochenlang unauffindbar seien. (Gustav Meyrink: Walpurgisnacht)


Milosz, Czeslaw: Tal der Issa

  Sie hat so oft ihre Krankheit wiederholt, daß sie im Sterben liege, so jeden Schmerz übertrieben, wie die Märchenprinzessin, die klagte, daß sie eine Erbse durch sieben Federkissen spürte. Und der schon bekannte hypochondrische Seufzer brachte ihr vielleicht eine gewisse Linderung, da er vertraut war, in einen normalen Ablauf eingereiht. Solange wir Beweise geben können, daß wir über unsere eigene Vernichtung Herr sind, indem wir von ihr sprechen, glauben wir, daß sie nie erfolgen wird. (Czeslaw Milosz: Tal der Issa, S. 194)


Mirbeau, Octave: Nie wieder Höhenluft

  "Da stand die Mutter und war gerade dabei, eine Kohlsuppe zu kochen... "Ich wünsche nicht, daß du bei mir zu Hause Kohlsuppe machst... Ich hab's dir schon zigmal gesagt... das verpestet die ganze Wohnung... Und wenn ich einen anderen Mann als nur meinen Liebhaber mitgebracht hätte, welchen Eindruck würde ich dann machen bei diesem Gestank wie auf dem Klosett? ... Hast du das endlich begriffen?" Und an mich gewandt, fügte sie hinzu: 'Man hat, Herrgott noch mal den Eindruck, als sei hier ein ganzes Kürassierregiment zum Furzen eingerückt..." (Octave Mirbeau: Nie wieder Höhenluft oder Die 21 Tage eines Neurasthenikers, S. 15)


Mirbeau, Octave: Nie wieder Höhenluft [2]

  "Ich bin der Erfinder einer neuen Form menschlicher Fortpflanzung." "Ach!" "Ja... Es handelt sich um die sogenannten Stellogenese... Sie ist eine Form der Empfängnis, die mir sehr am Herzen liegt... Ich kann mich einfach nicht mit dem Gedanken anfreunden, daß ich... ich, Clara Fistule... aus der Tierhaftigkeit eines Mannes und den prostitutionellen Gefälligkeiten einer Frau gezeugt worden sein soll... Auch war ich nie gewillt, die zwei verworfenen Kreaturen, die das bürgerliche Gesetz als meine Eltern bezeichnet, als solche anzuerkennen." (Octave Mirbeau: Nie wieder Höhenluft oder Die 21 Tage eines Neurasthenikers, S. 20)


Mirbeau, Octave: Nie wieder Höhenluft [3]

  Clara Fistule ist keine Frau, wie Sie angesichts seines femininen Vornamens vielleicht glauben könnten. Er ist aber auch nicht ganz und gar ein Mann; er ist eine Art Zwischenwesen zwischen Mensch und Gott; ein Zwischenmensch, so könnte Nietzsche ihn nennen. Ein Dichter, das versteht sich von selbst. Aber er ist nicht nur Dichter, er ist auch Bildhauer, Musiker, Philosoph, Maler, Architekt, er ist einfach alles... 'Ich vereine in mir die vielfältigen Intellektualitäten des Universums", erklärt er, 'aber das ist ziemlich ermüdend, und allmählich werde ich es leid, das erdrückende Gewicht meines Genies ganz allein zu tragen.' Clara Fistule ist noch nicht einmal siebzehn und doch ist er, o Wunder!, bereits allen Dingen bis auf den Grund gegangen. Er kennt das Geheimnis der Quellen und das Mysterium der Abgründe. Abyssus abyssum fricat. Sie werden sich ihn gewiß sonderbar hochgeschossen und blaß, mit einer Stirn, deformiert von den Erschütterungen des Denkens, und mit Lidern, versengt von Träumen, vorstellen. Weit gefehlt: Clara Fistule ist ein dicker, schwerer und massiger Junge, mit der kräftigen Statur eines Mannes aus der Auvergne und mit Wangen, die vor rotglühender Gesundheit strahlen. Er ist sich der materiellen Solidität seines Knochenbaus nicht einmal bewußt und hält sich gern für körperlos. So sehr er die Mischgeschlechtlichkeit predigt und überall von dem Grauen, männlichen Geschlechts zu sein und vom Abschaum, eine Frau zu sein tönt, schwängert er dennoch heimlich alle Obstfrauen seines Viertels. (Octave Mirbeau: Nie wieder Höhenluft oder Die 21 Tage eines Neurasthenikers, S. 18f.)


Mirbeau, Octave: Nie wieder Höhenluft [4]

  Monsieur Isodor-Joseph Tarabustin, Lehrer am Lycee von Montauban, ist mit seiner Familie eingetroffen, um eine Saison in X zu verbringen... Monsieur Tarabustin leidet an einem Katarrh an der Eustachischen Röhre; Madame Rose Tarabustin an einer Kniegelenkshydrarthose; der Sohn, Louis-Pilate Tarabustin, an einer Rückgratverkrümmung; eine sehr moderne Familie, wie man sieht. Zusätzlich zu diesen eingestandenen und im übrigen ehrbaren Krankheiten haben sie noch andere, die sie an den Quellen des Lebens selbst angreifen. Aus welch unreinen Erbteilen, in welch schmutzigen Leidenschaften, in welch geizhalsigen und heimlichen Ausschweifungen, in welchen ehelichen Kloaken müssen Monsieur und Madame Tarabustin, er so gut wie sie, nur gezeugt worden sein, um am Ende jenen allerlezten Vertreter mißwüchsiger Menschheit, jene deformierte und von Skrofeln zerfressene Mißgeburt zuwege zu bringen, die der junge Louis-Pilate darstellt? Mit seiner lehmfarbenen und faltigen Haut, seinem zickzackförmigen Rücken, seinen verdrehten Beinen, seinen schwammartigen und weichen Knochen wirkt dieses Kind, als sei es siebzig Jahre alt. Es weist sämtliche Merkmale eines debilen und schrulligen Greises auf. Befindet man sich in seiner Nähe, so leidet man richtig darunter, daß man es nicht töten, nicht von seinen Leiden erlösen kann. (Octave Mirbeau: Nie wieder Höhenluft oder Die 21 Tage eines Neurasthenikers, S. 51)


Möring, Marcel: In Babylon [1]

  Sophies Abscheu vor Amerika saß tief. Genauso wie Manny sich sein Leben um den Satz herum eingerichtet hatte, es komme nur darauf an, die Dinge kleiner zu machen, so gründete sich ihre Abneigung auf die amerikanischen Dimensionen. Sie haßte das Große, das Viele, das bis obenhin Gefüllte, das 'Besser-kannst-du's-doch-nicht-haben". Amerika, das war für sie: Mangel an Bescheidenheit. Die Größe der Kühlschränke, der Autos, der Milchkartons, der Biergläser und der Steaks löste in ihr eine Wut aus, die keiner von uns verstand. (Marcel Möring: In Babylon, S. 224)


Möring, Marcel: In Babylon [2]

  Überlege dir eine Art Ausbildung für dich selber, so daß du die Möglichkeit hast, dich zwischen verschiedenen Techniken zu entscheiden, und nicht dadurch eingeengt wirst, daß du zufällig Talent hast." "Na ja", sagte Sophie, "Talent ist ja immerhin schon was, ich meine..." "Talent, Soof, ist der Fluch jedes Menschen, der wirklich etwas erreichen will. Talent ist das größte Handicap, das man haben kann. Warum, glaubst du, gibst du frustrierten Hausfrauen Malunterricht anstatt im Städtischen Museum auszustellen? Du hast nur Talent." Sophie sah ihn mit einem Blick an, der dem Begriff Gefriertrocknen eine neue Deutung hinzufügte. (Marcel Möring: In Babylon, S. 98)


Möring, Marcel: In Babylon [3]

  Wir, mein Vater und ich, hatten den Leitenden Ingenieur besucht, der es immer sehr zu schätzen wußte, wenn mein Vater vorbeikam. Wir brachten nicht nur Zigarren mit, jene verschwundene holländische Gewohnheit, das Eis zu brechen, sondern darüber hinaus teilten die beiden Männer auch die gleiche fanatische Liebe für Maschinen. Der Ingenieur war ein kleiner, gepflegter Groninger. Seine Arbeitsanzüge waren zwar mit Fett und Öl beschmiert, sahen aber so aus, als habe er sie an diesem Morgen gewaschen und gestärkt angezogen. Den schmuddeligen Lappen, der immer aus seiner Tasche hing, wechselte er beim geringsten Anlaß von der rechten in die linke Hand und führte ihn dnach zu einem sich hin und her oder auf und ab bewegenden Messinggestänge, auf dem ein kleiner Fettspritzer saß, den nur er und kein anderer sah. (Marcel Möring: In Babylon, S. 160)


Möring, Marcel: In Babylon [4]

  Das Unbedeutende, das, was man vergißt, das Unwichtige. Was sichtbar ist und was wir als Historie betrachten, sind die Geschichten von Königen und Generälen und Ministern und Erzherzögen und Terroristen. Was diese Geschichten jedoch trägt, das Fundament, das ist das Läppische, jemand, der etwas auf dem Gebiet der Matratzen erfindet, ein Kind, das seiner Mutter einen Gulden aus dem Portemonnaie stiehlt, der neue Junge in der Schule, die Ehe, die in die Brüche geht... Es gibt eine sichtbare Welt, die wir in den Zeitungen finden und im Radio hören, in den Film und das Fernsehen beherrscht, und daneben eine verborgene, und das ist dann diejenige, die die sichtbare sieht und denkt: Dort findet das wahre Leben statt. (Marcel Möring: In Babylon, S. 181)


Möring, Marcel: In Babylon [5]

  "Der Vorteil der modernen Physik dagegen besteht darin, zumindest wenn man sie so benutzt, wie ich das tun möchte, daß man eine Erklärung für die Zivilisationskomponente in unserem Dasein finden kann. Das heißt: eine Antwort auf die Frage, warum es uns einfach nicht gelingen will, einen Zustand der Stabilität zu erreichen." Der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik war Onkel Hermans Antwort auf die Frage, die ihn nicht losließ: Warum gibt es kein Gleichgewicht? "Entropie", schrieb Onkel Herman, "ist meine Antwort auf die Frage, warum es kein Gleichgewicht gibt. Wir gehen an unserer eigenen Entropie zugrunde. Je weiter wir unsere Gesellschaft entwickeln, um so feiner wird das System, um so fortschrittlicher und subtiler die Organisation, um so größer die Kontrollprobleme und damit auch die Entropie. Wir neigen dazu, die Welt, uns selbst, die Art und Weise, wie wir alles organisieren, zu verbessern, und dadurch verlieren wir die Dinge immer mehr aus dem Griff." (Marcel Möring: In Babylon, S. 244)


Möring, Marcel: In Babylon [6]

  "Hast du dir meine Mutter mal richtig angeschaut?" fragte ich. "Sie kümmert sich um alles. Und wenn ich 'alles' sage, dann meine ich: die ganze Welt. Meine Mutter sorgt nicht nur dafür, daß ungeheure Vorräte an Konserven, eine Reserve an Toilettenpapier, mit der ein ganzes Waisenhaus fünf Jahre lang auskäme, und genug Reinigungsmittel im Haus sind, um zumindest schon mal ganz Holland saubermachen zu können, sondern sie nimmt sich auch der ganzen Welt an. Jeden Abend, bevor sie schlafen geht, spricht sie mit Gott, und dann erzählt sie ihm, was alles noch zu tun ist. Wenn andere Leute meine Mutter für eine Ungläubige halten, dann vor allem deswegen, weil sie Gott ernsthaft kritisiert. Er macht seinen Job nicht gut. Er räumt seine Autos nach dem Spielen nicht auf. Er wäscht sich nicht hinter den Ohren. Er hört nicht auf meine Mutter." (Marcel Möring: In Babylon, S. 373)


Möring, Marcel: In Babylon [7]

  "Ich werde dir was erzählen." "Ein Märchen." Ich lachte. "Nein. Vielleicht. Das letzte Kapitel von Onkel Hermans Biographie." "Das letzte?" Sie zeigte auf den Papierstapel, der auf dem Beistelltisch lag. "Das ist doch noch viel mehr?" "Ja. Aber es ist noch nicht ganz fertig. Und chronologisch gesehen müßte es auch viel früher kommen." "Ein sehr chronologischer Typ bist du nie gewesen." "Alles andere als das. Chronologie dient der Reihenfolge, Chaos dem Verständnis." (Marcel Möring: In Babylon, S. 421)


Moor, Margriet de: Kreutzersonate

  Sie kam durch die Glastür herein. Sie winkte uns, ging aber gleich weiter in den Speisesaal. Ich erinnere mich, daß ich mich dazu berufen fühlte, aus meinem Pflichtgefühl heraus, das nicht älter war als dieser eine umnebelte Nachmittag, ihr enges Kleid und ihre Pumps zu registrieren und meinem Reisegefährten mitzuteilen, versehen mit dem Kommentar, daß sie sehr schön sei, wie jede Frau, die eine heimliche Liebe hegt: lebendig, kapriziös, gequält, zurückhaltend, still, apathisch, flehend, klagend, gehetzt, maßlos, unermüdlich, unbesorgt, tollkühn, leidenschaftlich, überdreht wie eine Melodie auf der g-Saite und panisch wie ein Tremolo auf dem Steg, daß sie, kurz gesagt, so schön sei wie die Noten in ihrem Kopf, mit denen sie nun schon tagelang herumlief. (Margriet de Moor: Kreutzersonate, S. 50)


Moor, Margriet de: Kreutzersonate [2]

  Ob sie wohl eine Ahnung davon hat, dachte ich, wie ernst es ihm ist? Ob sie wohl weiß, daß ihn in den letzten zwanzig Jahren keine Frau mehr derart durcheinandergebracht hat? Ich war damals, in dem Moment, davon überzeugt, daß Suzanna Flier sich auf das Liebesabenteuer mit dem Blinden eingelassen hatte, wie eine Frau sich nun mal auf ein Liebesabenteuer einläßt, spielerisch und leidenschaftlich, ein kleiner Wirbel, um zu wissen, daß ein Mann sie begehrt. Das eigene Schicksal mit dem eines anderen zu verbinden ist wieder etwas ganz anderes. (Margriet de Moor: Kreutzersonate, S. 58)


Moor, Margriet de: Sturmflut [1]

  Drei Tage, es sind einfach nur drei Tage vergangen, vorvorgestern, vorgestern, gestern, ich habe noch nie gehört oder irgendwo gelesen, daß die Zeit, dieses mirakulöse Maß, uns einzig und allein, indem sie verstreicht, ihren Manipulationen aussetzt, ihren unmißverständlichen Nebenwirkungen, die allerdings keinem Menschen verraten, woher sie kommen und wie sie wirken. (Margriet de Moor: Sturmflut, S. 210)


Moor, Margriet de: Sturmflut [4]

  Eines schönen Morgens im Mai 1962 erwachte in einem Amsterdamer Schlafzimmer ein Mann, der sich privat wie auch beruflich nur als zufrieden und glücklich bezeichnen konnte, mit den unsterblichen Worten im Kopf: Meine Frau versteht mich nicht. Verdutzt drehte er sich auf die Seite. Armanda schlief noch, auf dem Rücken, Kinn in die Höhe gereckt, eine Haltung, die sie sich nach dem Lesen eines Zeitschriftenartikels über Doppelkinne eines mit spielender Leichtigkeit angewöhnt hatte. (Margriet de Moor: Sturmflut, S. 236)


Moor, Margriet de: Sturmflut [3]

  "Wermut und Gift! Beständig denkt meine Seele daran und ist tief gebeugt." Gott! Armanda richtete ihren Blick auf den Pfarrer, der da oben auf seiner Kanzel einen alles andere als unscheinbaren Eindruck machte. Wie meinen Sie das? Beängstigend weit vorgelehnt, war hier jemand im Begriff, Jeremias Klagelied zu wiederholen, zu bearbeiten und fachmännisch auf den speziellen Fall des heutigen Tages zuzuschneiden. Was ich meine, ist, es wird allmählich Zeit, daß du damit aufhörst. Armanda darauf noch, gewitzt: Womit? Weißt du genau. Wermut und Gift, all diese elenden Gedanken, die eine Seele, auch deine, wirklich nicht großmütiger machen! Denk außerdem an die Kleine, die heute mittag daheim geblieben ist! Nadja? Ja, genau. Soll sie etwa in einer derart miesepetrigen Umgebung aufwachsen? Gott hat uns deine Schwester genommen, und damit verfolgt er eine Absicht. Stop. Paß auf. Die Grausamkeit Gottes ist ein großes Tabu. Laß also deine Schmalspurempörung und bedenke, daß du seine Beweggründe nicht verstehst. Die Summe aller Unzurechnungsfähigkeit ist Gott. Der dir heute also einen simplen Befehl erteilt. Laß sie gehen, leb du weiter. (Margriet de Moor: Sturmflut, S. 179)


Moor, Margriet de: Der Jongleur

  Ein später Abend Anfang Dezember. So ein Abend, an dem über manchen Kneipen ein Hauch von Verbitterung liegt, der merkwürdigerweise nicht einmal etwas Verletzendes hat. Der Wirt - Fresse a la "Is was?" - hatte nicht zu klagen. Die Bude war voll. Die übliche Kundschaft - Schlitzohren, Betrüger, Gorillas, ehemalige Krankenkassenbeitragskassierer, Bahnsteigelichter, Trödler, Spezialisten für Fenster- und Türbeschläge - kurzum Kleinkriminelle aller Fakultäten. (Margriet de Moor: Der Jongleur, S. 121)


Moore, Christopher: Die Bibel nach Biff

  Ich weiß nicht genau, was ich mir von der Arbeit als Steinmetz erwartet hatte, aber ich weiß, dass noch keine Woche vergangen war, bis Josua Zweifel an seiner Entscheidung bekam, nicht Zimmermann zu werden. Große Steine mit kleinen Eisenmeißeln zu behauen, ist sehr harte Arbeit. Wer konnte das ahnen? "Sieh dich um, siehst du irgendwo Bäume?", äffte mich Josua nach. "Steine, Josh, Steine." "Es ist nur schwer, weil wir nicht wissen, wie es geht. Es wird schon noch einfacher werden." Josua sah meinen Vater an, der mit nacktem Oberkörper auf einen Stein von der Größe eines Esels einschlug, während ein Dutzend Sklaven darauf wartete, den Brocken anzuheben. Er war von grauem Staub bedeckt, und Ströme von Schweiß zogen dunkle Linien zwischen den Muskeln an Rücken und Armen. "Alphäus", rief Josua, "wird die Arbeit einfacher, wenn man erst weiß, wie es geht?" "Deine Lungen verkleben vom Steinstaub, die Augen werden trübe von der Sonne und den kleinen Splittern, die der Meißel aufwirft. Du steckst deine Lebenskraft in steinerne Bauten für Römer, die dir dein Geld in Form von Steuern nehmen, um damit Soldaten zu ernähren, die dein Volk an Kreuze nageln, weil es frei sein will. Dein Rücken bricht, die Knochen knarren, deine Frau schreit dich an, und deine Kinder quälen dich mit offenen, bettelnden Mäulern wie gierige, kleine Vögel im Nest. Jeden Abend gehst du so müde und fertig ins Bett, dass du betest, der Herr möge den Todesengel schicken, dass er dich im Schlaf holt, damit du keinen neuen Morgen mehr erlebst. Es hat auch seine Schattenseiten." "Danke", sagte Josua. Er sah mich an, zog eine Augenbraue in die Höhe. (Christopher Moore: Die Bibel nach Biff)


Moore, Christopher: Die Bibel nach Biff [2]

  Kamele beißen. Ein Kamel kann dich vollkommen grundlos anspucken, treten, niedertrampeln, dir ins Gesicht brüllen, rülpsen oder furzen. Günstigstenfalls sind sie stur, schlimmsten- falls aber einfach unfassbar übellaunig. Wenn man sie provoziert, dann beißen sie. Wenn man einem Kamel eine dehydrierte Amphibie bis auf Ellbogenlänge in den Po schiebt, fühlt es sich provoziert, umso mehr noch, wenn diese Prozedur heimlich vonstatten geht, während es schläft. Kamele sind nicht leicht zu überlisten. Sie beißen. (Christopher Moore: Die Bibel nach Biff)


Mora, Terezia: Alle Tage

  Manchmal verdichten sich, wie Eiter, die Dinge. Die immer etwas merkwürdigen, sogenannten alltäglichen und scheinbar langsamen Prozesse, mit denen wir uns annähern, sagen wir: dem Leben-bis-wir-sterben, werden plötzlich beschleunigt und kommen außer Takt. Das kann man nicht erklären, sagte eine langjährige Geliebte zu einem arbeitslosen Schornsteigfeger, oder er hat es einfach nicht begriffen. Wie Liebe kommt und geht. Es schien, er wollte gar nicht, daß sie fortdauerte, er wollte nur eine Erklärung, jenseits von "weil du oder ich so oder so bist / bin, weil das und das passiert ist." Denn es ist ja nichts passiert, und jeder ist, wie er ist, darum geht es nicht. Das kann man nicht erklären, sagte die Geliebte. Kurz darauf heiratete sie einen, den sie erst wenige Wochen kannte, und der Schornsteinfeger zündete vier Dachstühle und einen Kiosk an. (Terezia Mora: Alle Tage, S. 249)


Mora, Terezia: Alle Tage [2]

  Ihr Umfeld registrierte eine gewisse, nennen wir es: Veränderung ihrer Persönlichkeit. Mal ertrug sie alles (Fernsehprogramme, Baustelle direkt vor dem mit einer Plane verhängten Krankenzimmerfenster) mit einer an Apathie grenzenden Geduld, dann wieder war sie, und kaschierte es kaum, voller Unmut (Direktor zu Besuch, sie nickt, jaja, bald gesund, aber mit den Händen wedelt sie schon, pack die Blumen da hin und verzieh dich), hinzu kamen die zeitweilige Reduktion ihres Wortschatzes (Was ist das für ein unglaublicher Mist/Müll/Scheiß!), nie gekannte körperliche Ausbrüche (versucht mit einem Buch den Abfalleimer unter dem Waschbecken zu treffen) sowie knappe, kategorische Befehle, Neins und Jas, und wenn sie etwas wiederholen muß, dann tut sie es das zweite Mal brüllend, kurz: eine handfeste postoperative Depression. Was ist los? Was ist nur los hier? Als sie hinter der Plane auftauchte, war die Stadt wie umgekrempelt. Gibt es eigentlich eine einzige Ecke in dieser Stadt, an der nicht mit Höllenlärm irgendwelche Gruben ausgehoben werden? Die netten Bäume in ihrer Straße hatten das Laub verloren - Wohin ist der Herbst verschwunden? Wieso muß hier der Sommer neuerdings nahtlos in den Winter übergehen? -, standen da, klappernde Reisigbesen. Ohne Blätter konnte man sehen, wie rabiat sie zurechtgestutzt worden sind, damit sie nicht zu hoch, zu breit, zu rund für diese nette Straße werden. Warum mußte mir auch der Schleier von den Augen fallen? (Terezia Mora: Alle Tage, S. 265)


Morante, Elsa: La Storia [1]

  Einmal kam eine gestreifte Katze, die so mager war, daß sie wie das Gespenst einer Katze aussah. Trotzdem gelang es ihr mit der Kraft der Verzweiflung, das Papier, das das Fensterglas ersetzte, zu durchstoßen und ins Zimmer zu kommen, um nach etwas Eßbarem zu suchen. Natürlich vermieden es die Mäuse, sich bei ihrer Ankunft blicken zu lassen. Und Useppe hatte ihr nichts anderes anzubieten als einen Rest von gekochtem Kohl. Doch die Katze beschnüffelte das Dargebotene mit jenem aristokratischen Stolz, den sich auch verwahrloste Katzen zu bewahren wissen, und ohne sich herabzulassen, die Gabe zu probieren, ging sie mit emporgerichtetem Schwanz davon. (Elsa Morante: La Storia, S. 274)


Morsbach, Petra: Dichterliebe [1]

  ... erhält den Bescheid, ich müsse einen schriftlichen Antrag stellen. Ohne den gebe man Kontodaten nicht heraus. Noch einen Antrag - das verkrafte ich nicht. "Formlos", beschwichtigt Sidonie. "Sie brauchen die Unterschrift." Wie schreibt man einen formlosen Brief? "Zwei Sätze!" sagt Sidonie, "Das kriegen wir hin!" Ich zücke Block und Papier. Werte Genossen! kritzele ich. "Bei uns heißt es: Sehr geehrte Damen und Herren!" bemerkt Sidonie sanft. "Es ist doch sicher nur einer", gebe ich zu bedenken, "und wahrscheinlich eine Frau!" "Woher wissen wir das? Sehr geehrte Frau! beleidigt vielleicht den Lehrling?" "Sehr geehrte Herren! beleidigt die Sekretärin." "Sehr geehrte Damen und Herren! schadet wirklich niemandem." "Hab's geschrieben. Weiter?" "Ich bitte Sie, mir ..." "Mit ich fängt man keinen Brief an. Nicht mal an einen Computer. Darf ich Sie bitten ... ausnahmsweise ... untertänigst ..." "Untertänigst?" "Höflichst!" "Das geht nicht", sagt sie unerwartet fest. "Man kann nur entweder unhöflich oder höflich sein. Höflichst ist Heuchelei." Offenbar will sie Sprachbewußtsein demonstrieren. "Die ganze Anrede ist Heuchelei. Wir ehren die doch nicht, und schon gar nicht sehr!" "Wir schreiben ja nur, daß sie allgemein geehrt sind, nicht von uns." "Und wofür?" "Für ihre Stellung in der Gesellschaft. Festes Monatsgehalt..." Wir seufzen. "Na gut. Darf ich Sie ausnahmsweise bitten ... Weiter?" "... mir die Kontobewegungen auf meinem Konto ..." "Zweimal das Wort Konto im selben Satz, das kann ich stilistisch nicht verantworten." "... die Bewegungen meines Kontos..." "Warum?" "Weiß nicht. Ich bevorzuge den Genitiv." (zweifelnd) "... die Bewegungen meines Kontos... Das Konto selbst bewegt sich ja nicht, nur die Summen!" "Welche Summen?" "Die Bewegungen meines Kontos ...", wiederholt Sidonie prüfend. "Klingt irgendwie unanständig." "Aber wenn wir schreiben: die Bewegungen auf meinem Konto, werden die sich fragen, was für Bewegungen?" "Stimmt. Auf meinem Konto bewegt sich ja nichts." (Petra Morsbach: Dichterliebe)


Morsbach, Petra: Dichterliebe [2]

  Zisler war als Jugendlicher Nazi gewesen, und zwar nicht irgendeiner, sondern besonders schneidig, ein Reiter-Nazi mit Tätowierung und Lederstiefeln. Im russischen Antifa-Lager aufgeklärt, schämte er sich und wurde Kommunist. Nach der Heimkehr war er zunächst staatsfroher Dichter, dann DDR- Kritiker, Unterzeichner der Biermann-Petition, Buddhist, katholisch; zwischendurch jeweils Alkoholiker. Danach ein fanatischer Vegetarier, der nur Äpfel aß: "Wissen Sie, was Hunger ist?" Plötzlich wurde er fett wie ein Delphin und fragte die Dichterin Broda, eine Blutwurststulle im Mund: "Was halten Sie von der Gnade?" (Petra Morsbach: Dichterliebe)


Morgner, Irmtraud: Trobadora Beatriz

  Regelmäßig erschien Lauras Mutter mit frisch frisiertem Haar zu Blitzbesuchen, um den Enkel zu besichtigen. Der Vater konnte den Wachstumsprozeß des Enkels nur viermal im Jahr beobachten, weil er der Reichsbahn, bei der er einundfünfzig Jahre im Dienst stand, nicht noch zusätzlich Geld in den Rachen zu werfen bereit war - Johann Salman benutzte Züge prinzipiell nur mit Freifahrschein. Seine Frau Olga hatte die Großmutterschaft prinzipienlos gemacht, das ärgerte ihren Mann. Derart, daß er vor und nach den Enkelreisen nicht sprach. Er konnte tagelang schweigen, wenn er sich ernstlich ärgerte. Das heißt: über Geldausgaben. Die Anschaffung seines letzten Anzugs, die Olga nach monatelangen Vorbereitungen durchgesetzt hatte, kostete ihr vier stumme Tage. Olga Salman hatte also eine sprachliche Fastenzeit hinter sich, wenn sie bei ihrer Tochter eintraf, mithin Nachholebedürfnisse. (Irmtraud Morgner: Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura, S. 263)


Morgner, Irmtraud: Trobadora Beatriz [2]

  Olga Salman hatte die heitere Hoffnung auf eine heitere Wendung in ihrem Leben bereits wieder verlassen, sobald die Bittschrift sie verlassen hatte. Die Kraft, heitere Hoffnungen zu halten, war ihr verlorengegangen. Sie konnte nur noch finstere Hoffnungen halten. Nicht weil ihr Leben besonders schwer gewesen wäre. Seine Leere hatte die Frau verbittert. Und gezeichnet: die Mundwinkel waren abgesunken. Jegliche Neugier hatte sie verloren. An Fernsehprogrammen interessierte sie nur noch der Wetterbericht. Ein Rest von Kauflust war noch geblieben, er regte sich beim Anblick von Stoffen. (Irmtraud Morgner: Trobadora Beatriz, S. 608)


Morgner, Irmtraud: Trobadora Beatriz [3]

  Wibke war noch keine Frau, als Valeska sie kennenlernte. Wollte aber schnellstens eine sein. Dömonisch bemaltes Kindergesicht. Zigarettengeräucherte Reden, mit "Frustration" und ähnlichen Modewörtern reichlich versetzt, miederungehindertes Brüstchenschwenken im Pullover, kostbar abgewetzte Jeans. Wenn sie vergaß, sich angestrengt lässig zu benehmen, um Abgebrühtheit zu suggerieren, und ihre außenpolitische Belesenheit zutage ließ, war der schöne menschliche Entwurf deutlich. Eine mit sich unzufriedene Oberschülerin. (Irmtraud Morgner: Trobadora Beatriz, S. 677)


Mortier, Erwin: Marcel

  Cecile, Schwester Marie-Cecile, durfte als einzige Lebende in der Vitrine stehen. Sie trug einen Kranz aus weißen Lilien. Es war der Tag, an dem sie den Schleier genommen hatte. Feierlich posierte sie im Klostergarten, eine kränkliche Braut des Herrn, kurz bevor das Herbarium Seiner Ewigkeit sie verschlang. (...) "Eine Dachlatte in einer Kutte", fluchte mein Vater manchmal. Er konnte sie nicht ausstehen. (...) Sie hatte ihr Flüstern, ihr mausgraues Frömmeln jahrelang kultiviert, ein anämisches Nagetier des Herrn. (...) Schwester Cecile schenkte den Kaffee ein und belästigte mich mit Herz-Jesu-Andachtsbildchen. (...) Einmal im Monat rollte Schwester Cecile eine Schar alter Leute in die Kapelle und rief den Heiligen Geist so ekstatisch an, daß hin und wieder jemand aus dem Rollstuhl stürzte und sabbernd auf dem Boden lag. (Erwin Mortier: Marcel)


Mortier, Erwin: Marcel [1]

  Das Haus glich allen anderen Häusern in der Straße: ein wenig schief, abgesackt nach zwei Jahrhunderten Bewohnung, Sturm und Krieg. Über der Hecke zwischen zwei Schornsteinen ein krummes Rückgrat aus Dachziegeln. Die Fenster saßen mehr oder weniger betrunken in der Fassade, und neben der Tür hing ein Paar mit Petunien bepflanzter Holzschuhe. Die meisten Zimmer beherbergten eine Vorhölle der Finsternis, kühl im Sommer, im Winter feuchtkalt. In einigen Räumen speicherten die Steine den Geruch ganzer Generationen von Mittagessen, vor allem in der Küche, wo ein fettiger Belag an der Decke haftete. Der Keller bewahrte auf, der Dachboden vergaß. (Erwin Mortier: Marcel, S. 5)


Mulisch, Harry: Das Attentat

  Die Zeit verstrich. Er wurde früh grau, aber nicht kahl wie sein Vater. Während um ihn herum das Äußere der Menschen in dem Maße verproletarisierte, wie das Proletariat verschwand, trug er weiterhin englische Sakkos und karierte Hemden mit Krawatte. Allmählich kam er in ein Alter, in dem er alte Leute kannte, die er schon gekannt hatte, als sie so alt waren wie er jetzt. Die Entdeckung überraschte ihn und ließ ihn sowohl alte als auch junge Menschen und vor allem sich selbst mit anderen Augen sehen. Eines Tages war er älter als sein Vater je geworden war, und er fühlte sich, als hätte er eine Übertretung begangen, die ihm eine Zurechtweisung eintragen könnte. - "Quod licet lovi, non licet bovi!" Während er früher nie ein Sprichwort gebraucht hätte - etwa "Was geschehen ist, ist geschehen", oder "Das bessere ist des Guten Feind", oder "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr"-, kam er nun in ein Alter, in dem solche Sprichwörter präzis seine Ansichten wiedergaben. Er entdeckte, daß es nicht einfach nur peinliche Klischees waren, sondern daß darin auch die geballte Lebenserfahrung ganzer generationen zum Ausdruck kam - zugegeben: in der Regel ziemlich betrübliche Wahrheiten: sie enthielten nicht die Weisheit der Himmelsstürmer - denn die waren nie weise-; und zu den Himmelsstürmern hatter nie gehört, das war verhindert worden. (Harry Mulisch: Das Attentat, S. 175)


Mulisch, Harry: Augenstern

  Immer öfter suchte ich Abwechslung in der Stadt. In den engen Gassen hatte ich bald ein gutes Cafe entdeckt, und es dauerte nicht lange, bis ich sie alle kennen lernte: den englischen Dichter und den schwedischen Maler, den französischen Philosophen und den amerikanischen Romanautor. Ich war offentsichtlich nicht der Einzige, der den Weg in den Süden zu finden gewußt hatte. Wie überall an den Stränden des Mittelmeeres, in Positano, auf Ibiza, hatte es auch hier angefangen: wir waren die Quartiermacher der künftigen touristischen Müllabladeplätze. (Harry Mulisch: Augenstern, S. 45)


Mulot, Sibylle: Einen Mann für sich allein

  Andrea erzählte jetzt von einem merkwürdigen Flug. Der Pilot hatte irgendwann in der Luft festgestellt, daß er die falsche Landkarte mitgenommen hatte, war aber nicht bereit, umzukehren. Das wäre doch eine Schande, meinte er fröhlich lachend. Fortan ging er bei jeder Ortschaft im Sturzflug herunter und umkreiste das Ortsschild so lange, bis Andrea oder Giovanni es entziffert hatten. Das ganze war wie der Alptraum einer Achterbahn. Nach Lektüre des zehnten oder zwölften Ortsschildes brachte der Pilot die Maschine nicht mehr hoch und landete fröhlich lachend auf einem Dorfanger. Giovanni und Andrea waren völlig benommen. Das kleine Flugzeug wurde gleich vom ganzen Dorf umringt. Giovanni stieg als erster aus, noch immer komplett beduselt, ging herum, schüttelte allen die Hand und sagte laut und deutlich seinen Nachnamen: Foscal. Foscal. Foscal. Gestatten, Foscal. Die Dorfbewohner lachten. Sie dachten, sie hätten ein neues Wort für Guten Tag gelernt, schüttelten sich selbst fleißig die Hände, verbeugten sich voreinander und sagten unentwegt Foscal, Foscal, Foscal. Giovanni wußte nicht, was er davon halten sollte. "Er dachte, er wäre in einem Dorf gelandet, wo alle Menschen Foscal hießen, wie er selbst", sagte Andrea grinsend. Plötzlich hatte der Pilot keine Lust mehr gehabt, weiterzufliegen. Giovanni und Andrea war nichts anderes übriggeblieben, als im Dorf ein Auto mit Chauffeur zu mieten. (Sibylle Mulot: Einen Mann für sich allein, S. 142)


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