Allgemeine Fundstücke  / [R_1]


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Raabe, Wilhelm: Drei Federn [1]

  Als ein unendlich angenehmer, wenn auch etwas verbissener junger Mann ging ich aus seinem Prozessuarium hervor, alt an Erfahrung, ein nicht übler Schachspieler, fähig, den stärksten Punsch zu brauen und zu vertragen. Daß mir sehr viele Leute aus dem Weg gingen, ergötzte mich mehr, als es mich kümmerte; ich hatte mir vorgenommen, nicht allzu zuvorkommend gegen die Menschheit zu sein, und darf mit gutem Gewissen sagen, daß sich niemand in dieser Hinsicht über mich zu beklagen haben wird. (Wilhelm Raabe: Drei Federn, S. 18)


Raabe, Wilhelm: Drei Federn [2]

  Sie hatte ein Herz voll Liebe und wußte damit nirgend hin; sie liebte die Blumen, und ihr Vater kaufte dieselben nur bündelweise, sackweise, getrocknet, zerrieben oder zerstampft - sie bekam alles im Leben nur in solcher Form: das Elternhaus, die Liebe, den Ehestand. Sie versuchte es, ihr volles Herz dem Jugendfreunde zu geben. (das schwächste Leben hat eine Epoche, wo es der Welt, welche es noch nicht genug fürchtet, gegenüber wagt) und zerschellte damit am Felsen. Sie saß machtlos, mutlos in eintöniger Arbeitsamkeit in ihrem Winkel; sie konnte sich nicht wehren, als sie ihre erste Liebe aufgeben sollte; sie konnte nur in ihr Herz hinein weinen, und das ist viel schlimmer, als wenn es einem erlaubt ist, sich die Augen auszuweinen. Verwundet im Innersten, im Innersten verblutend, zurückgestoßen von allen Seiten, von allen Seiten belächelt und verhöhnt, wußte sie sich keinen Rat, und als mein Vater zu ihr kam, da war's zu spät, sie zu heilen. Das Schicksal kann ganz im stillen, ganz leise, leise, viel grausamer und erbamungsloser sein als in dem Donner, mit welchem es dann und wann über die Welt hinfährt. Es kann sogar grausam sein in der Hülfe, welche es in der letzten, höchsten Not darbietet oder von ferne zeigt. (Wilhelm Raabe: Drei Federn, S. 61)


Raabe, Wilhelm: Drei Federn [3]

  Im Verhältnis zu dem langen, strengen, kampfvollen Leben, welches mein Teil auf Erden gewesen war und welches ich nicht in diese Bogen legen kann, wie ein junges Mädchen ein Vergißmeinnicht in ihrem Stammbuch aufbewahrt, war das, was heute an diesem zweiten November 1861 geschah, wenig bedeutend; aber es jagte mich aus meinem letzten Versteck. Zum erstenmal gab ich etwas auf das Urteil der Welt, zum erstenmal fürchtete ich, mich lächerlich zu machen; ich erhängte mich nicht. Ob ich diese Furcht vor dem Urteil anderer Leute auch morgen, übermorgen, in vier Wochen noch haben würde, war freilich eine zweite Frage. (Wilhelm Raabe: Drei Federn, S. 179)


Raabe, Wilhelm: Der Schüdderump [1]

  Die Last aller dieser Titel und Würden, welche alle, bis auf die Malteserritterschaft und den Papst Honorius, dem Chevalier ungemein "plausibel" erschienen, hat nicht in der vorteilhaftesten Weise auf den Charakter des Fräuleins eingewirkt. Es fühlt sich selbstverständlich leicht in seiner Würde gekränkt und ist etwas zänkischer Natur. (...) In den sonnigeren Momenten seiner Existenz beschäftigt sich das Fräulein mit allerhand leider meistens vergeblichen Versuchen, von der Höhe des Daseins herabzusteigen und sich dem gemeinen Volke, dem Rest der Menschheit, soweit er durch die Bauern von Krodebeck vertreten wird, zu nähern und von "wohltätigem Einfluß" auf ihn zu sein. Adelaide Klotilde Paula von Saint-Trouin hat das heftige Bedürfnis, gute Lehren zur unrichtigen Zeit und an dem unrichtigen Orte zu erteilen, wie sie immer noch imstande ist, eine Stunde nach Mitternacht plötzlich die Gitarre am blauen Bande umzuhängen und zum Entsetzen sämtlicher Bewohner des Lauenhofes zu beginnen... (...) Die gnädige Frau geht so resolut an ihre Erbauung wie an ihre Arbeit, bringt einen merkwürdig scharfen und geraden Blick sonntags in die Kirche mit und hat häufig nach der Predigt ihrerseits ihrem frommen Seelenhirten den Text gelesen. Der Chevalier und das Fräulein sind katholischen Bekenntnisses, wovon jedoch der Chevalier nie Gebrauch macht, während das Fräulein sich häufig eines etwas enzyklopädistischen Anhauches nicht erwehren kann, was nicht immer vollständig zu ihren Verpflichtungen gegen den Papst Honorius den Dritten paßt. (Wilhelm Raabe: Der Schüdderump)


Raabe, Wilhelm: Der Schüdderump [2]

  Es war ein ziemlich heißer Tag; aber es war ein schöner und, sozusagen, nahrhafter Tag. Die Harzberge erhoben sich lachend im blaugrünen Glanz, über den Feldern und Wiesen lag jenes Flimmern und Zittern, welches auch über den Werken der großen Dichter liegt und überall die Sonne zur Mutter hat. Jeder Bauer verspürte den Tag wie einen Handschlag auf das Versprechen einer guten Ernte; jede Bäuerin schwitzte mit Behagen in den Abend hinein. Selbst aus den Ställen erklang das Gegrunz der Schweine wie ein mit Mühe unterdrückter behaglicher Jubel über die schönen Würste und fetten Schinken, welche die lieben Tiere für den Winterkohl des Jahres mit Selbstgefühl in der Stille heranbildeten. Gutmütig heiter sprudelten die Dorfbrunnen trotz der Wärme hervor, in den Baumgärten wälzten sich die Kinder im hohen Grase; die Hühner und Gänse gackerten und schnatterten im Schatten der Ackerwagen und der Hecken. (Wilhelm Raabe: Der Schüdderump)


Raabe, Wilhelm: Der Schüdderump [3]

  Die Frau Adelheid von Lauen war eine kluge Frau, und wer das bisher nicht merkte, dem wird kaum zu helfen sein. Sie war vielleicht das klügste Weib auf viele Meilen in der Runde, jedenfalls aber sämtlichen Bewohnerinnen Krodebecks und des Lauenhofes doppelt gewachsen in Hinsicht auf Verstand und den guten Willen, bemeldeten Verstand zu gebrauchen. Wenn wir sie nicht stets und überall zuerst hervortreten und frisch ihre Meinung sagen ließen, so handelten wir dabei ganz nach ihrem Sinne; denn sie pflegte im Leben keineswegs eher auf der Bühne zu erscheinen, als bis es Zeit und ihr Stichwort gefallen war. War dann aber ihre Zeit wirklich gekommen, so kannte sie jedesmal ihre Rolle durch und durch, griff munter und tapfer mit beiden Händen in die jedesmalige Komödie oder Tragödie des Tages ein und wußte Hindernisse, vor denen andere Leute ratlos stillstanden, ungemein schnell aus dem Wege zu räumen. (Wilhelm Raabe: Der Schüdderump)


Raabe, Wilhelm: Der Schüdderump [4]

  ... erhalten wir leider vor allen Dingen die Gewißheit, daß der Junker von Lauen nicht der Mann war, um dem dunkeln Fuhrmann in die Zügel zu fallen und die Speichen der schwarzen Räder rückwärts zu drehen. Seine Erziehung hatte ihn nicht fähig gemacht, einer Welt, wie sie ihm jetzt entgegenstand, mit Aussicht auf Erfolg den Kampf anzubieten; und unklare Gefühle haben, selbst in Verbindung mit dem besten Willen, stets sehr wenig gegen die offenkundigen Geheimnisse des Erdenlebens ausgerichtet. (Wilhelm Raabe: Der Schüdderump)


Raabe, Wilhelm: Alte Nester [1]

  Eine Blume, die sich erschließt, macht keinen Lärm dabei (...). Auf leisen Sohlen wandeln die Schönheit, das wahre Glück und das echte Heldentum. Unbemerkt kommt alles, was Dauer haben wird in dieser wechselnden lärmvollen Welt voll falschen Heldentums, falschen Glücks und unechter Schönheit. (...) Viel Glück habe ich wohl nicht gehabt, aber doch dann und wann mein Behagen, meine Belustigung und meine Ergötzlichkeiten; und das alles ist gleichfalls ganz natürlich und ziemlich unbemerkt gekommen und gegangen - so daß es heute in den gegenwärtigen stillen, nachdenklichen, überlegenden Stunden nichts Erstaunenswürdigeres für mich gibt als mein unleugbar vorhandenes Wohlgefallen nicht nur an der Welt, sondern auch immer noch an mir. (Wilhelm Raabe: Alte Nester)


Raabe, Wilhelm: Alte Nester [2]

  Ist es möglich, daß die Sonne so hell und der Mensch so sorglos sein kann? (...) Unser Behagen an dem guten Tage, an der guten Stunde war wieder einmal auf das Höchste gestiegen, als Jule Grote den Kopf in die Tür steckte und uns benachrichtigte: "Es steht ein Mann draußen, der will die jungen Herrschaften sprechen; und hier ist ein Brief für dich, Just. Der Landbriefträger von Bodenwerder hat ihn auch eben gebracht; aber er hatte es eilig, und was darin steht, wußte er nicht." "Hurra!" riefen Just, Ewald und ich, die Mädchen sahen lächelnd auf und nach der Tür. Daß uns da etwas Unangenehmes oder gar noch etwas viel Schlimmeres kommen könne, fiel uns nicht in den Sinn. Die ganze Welt: die Erde, dieser treffliche Bau, dieser herrliche Baldachin, die Luft, dies wackere umwölbende Firmament, dies majestätische Dach, mit goldenem Feuer aufgelegt, - war alles in zu guter Ordnung, als daß wie uns auch nur den allergeringsten Riß durch es hätten vorstellen können. (...) "Was ist denn?" fragten die beiden Mädchen immer noch lachend; doch schon im nächsten Augenblick hatten sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Vetter Just Everstein zu richten, der mit seinem jetzt geöffneten Briefe in der Hand wortlos und mit offenem Munde dasaß, dann sich über die Stirn strich wie einer, dem der kalte Angstschweiß ausbricht, wieder das Geschreibsel ansah, aber doch nur, als ob er den Inhalt desselben träume, dann die Hand schwer auf den Tisch und auf seinen Teller fallen ließ, daß die Scherben davon nach allen Richtungen hin auseinanderflogen, und zuletzt aufstand und starr dastand und in jenen Riß blickte, der einem jeden zu irgendeiner Stunde mehr oder weniger durch sein Universum gegangen ist.


Raabe, Wilhelm: Alte Nester [3]

  Was ich dann trieb? Ich war stark im Griechischen und Lateinischen. Einer Lieblingsneigung wegen hatte ich mich auf das Auffinden und Nutzbarmachen mittelalterlicher Geschichtsquellen geworfen, und man hat mich draußen eine Zeitlang schändlicherweise im Verdacht gehabt, Doktordissertationen aus vielerlei Fächern im Vorrat anzufertigen, auf Lager zu halten und sie bei sich bietender Gelegenheit gegen jedes Honorar unter dem Siegel der Verschwiegenheit (Diskretion selbstverständlich) zu verschleißen. (...) Aber es nennen sich manche Leute Geschichtsforscher und edieren Monographien, Volk- und Völkerhistorien und haben seltsamerweise vor den Quellen gerade eine so groß Scheu wie vielleicht in ihrer Jugend vor dem Quellwasser, wenn es am Sonnabendabend zu einer gründlichen Reinigung ihrer Person verwendet werden sollte. (...) (Wilhelm Raabe: Alte Nester)


Raabe, Wilhelm: Alte Nester [4]

  "Die könnte Geschichten aus ihrer Seele erzählen, gegen die wir beide, Fritz, alle unsere Erlebnisse still zusammenpacken könnten", flüsterte mir einmal der Vetter zu, mit dem Daumen über die Schulter auf die soeur ignorantine an dem Fenster hindeutend. "Was meinst du, wenn die am Jüngsten Gericht ihre auf Erden verschluckten Tränen auf einmal fließen läßt?!" "Ja, Just", sagte ich, "aber es läuft alles in einen Strom. Ich kann es dir nicht sagen, was für einen Damm das letzte Tribunal dagegen aufbauen wird, um nicht mit Sessel, Bank und grünem Tisch weggeschwemmt zu werden." (Wilhelm Raabe: Alte Nester)


Raabe, Wilhelm: Alte Nester [5]

  Wie hülflos die Mehrheit der Menschen eigentlich den Lebensgeschäften gegenübersteht, erfährt sie dann und wann auch, wenn sie's mal versucht, anderen zu helfen. Das ist die ungemütliche Wahrheit, die einem jeden, der von sich selber schreibt, ganz von selber aus der Feder läuft, wenn er sich nicht recht zusammennimmt, das heißt mit gehaltenem Nachdruck lügt. Dachstuben-Philosophen und Wüsten-Anachoreten sollen aber nichtsdestoweniger auch in Zukunft berechtigt sein, über die tägliche Witterung und deren Einfluß auf ihre Konstitution zum allgemeinen Besten so genau als möglich Buch zu führen, um heiklen persönlichen Kriminationen dadurch schlau aus dem Wege zu schleichen. (Wilhelm Raabe: Alte Nester)


Regener, Sven: Neue Vahr Süd

  Suppe zu essen, hatte Frank immer schon als unangenehm empfunden, man konnte soviel falsch machen dabei, und wenn man nicht schlürfen durfte, und bei seiner Mutter durfte man nicht schlürfen, und die Suppe außerdem heiß war, und bei seiner Mutter war sie immer sehr heiß, dann mußte man dauernd pusten und das wiederum nicht zu stark und nicht zu schwach, und den Mund verbrannte man sich schließlich doch, und das machte ihn immer aggressiv, das Schlürf-Verbot ist eine der dümmsten Erfindungen der bürgerlichen Gesellschaft, dachte er, das macht aggressiv, wiewohl er sich nicht sicher war, ob es nicht einfach bloß eine Erfindung seiner Mutter war, da müßte man sich mal erkundigen, dachte er, während er pustete und löffelte und sich den Mund verbrannte und sich zugleich mit seiner Mutter anschwieg, obwohl das vielleicht sowieso in eins zusammenfällt, die bürgerliche Gesellschaft und die eigene Mutter. (Sven Regener: Neue Vahr Süd, S. 628)


Reimann, Brigitte: Franziska Linkerhand [1]

  Die Großmutter blätterte in einem Prachtband, Hitler in Berchtesgarden, zeigte nur in einer Mundkrümmung das pikierte Erstaunen eines Laien, der unterm Mikroskop ein ekelerregendes, wenngleich interessantes Insekt betrachtet: Führer im Berghof, Führer mit Wolfshund Prinz, Führer mit blondem Dirndl auf dem Arm, immer vor der Hochzeitsreisen-Landschaft, immer landesväterliches Lächeln unterm Schnurrbärtchen, Sendungsblick unter der humoristischen Haartolle. "Wat et nit all jibt", sagte sie. "Er soll in Berlin gefallen sein", sagte Linkerhand. (Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand)


Reimann, Brigitte: Franziska Linkerhand [2]

  Nachts erwachte sie von einem unbekannten Schmerz, der stumpfe Nadeln in ihren Kinderrücken bohrte, und fand einen Blutfleck im Laken. Zuerst, mit einer Regung von Stolz, dachte sie, daß sie nun dem Verheißenen Land der Erwachsenen nähergekommen sei; dann fiel ihr ein, sie müßte es ihrer Mutter sagen, weil es sich, Familienknigge, so gehörte, sah schon nönnisch gesenkte Lider und Runzeln angewiderter Dezenz auf der Nase, müßte sich anvertrauen - auch so ein Wort aus dem Mutter-ist-die-beste-Freundin-der- Tochter-Katechismus - anvertrauen einer Frau, die noch das sündige Fleisch ihres Halses hinter Stehbündchen zwängte, Franziskas Schulmappe nach verräterischen Zettelchen durchsuchte, keinen zweideutigen Scherz duldete und sich ihren Kindern stets tadellos gekleidet zeigte, zugeknöpft und gepanzert gegen Gedanken über ihre anstößig diesseitige Existenz... (Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand)


Reimann, Brigitte: Franziska Linkerhand [3]

  Auf einmal sah ich Django. Mein Schreck. Der tanzt nicht mehr mit hochgekrempelten Hosen und barfuß auf dem Pflaster, der geht nicht mehr in die Kneipe von Dame Pia Maria, Fischbrötchen fressen, muß er auch nicht, ich sag ja nicht, daß die alten Fischbrötchen und aufgekrempelte Hosen Jugend ausmachen - ach, Django, mein Zigeuner, mein Spießgesell, der Hindemith glatt an die Wand komponieren wollte, er hat Fett angesetzt, in der Art, wie hagere Leute verfetten, locker, schwammig, nicht durchwachsen, und über der Stirn ist sein schwarzes krauses Haar ausgegangen, das sah ich, als er den Hut abnahm. Django mit Hut, das ist einfach das Letzte! Er war elegant, von der soliden Allerweltseleganz einer mittleren Gehaltsstufe. Er zog den Hut, er lächelte höflich und unsicher, er hatte mich nicht erkannt. "Django -", sagte ich und wurde rot, weil mir auf einmal zumute war, als hätte ich was unpassend Vertrauliches gesagt - so sah er mich an, weißt du, indigniert, wie ein Erwachsener, der von einem anderen, fremden Erwachsenen mit dem albernen Spitznamen aus der Schulzeit angeredet wird.


Reimann, Brigitte: Franziska Linkerhand [4]

  Sie kramte in ihrer Handtasche und warf ein Päckchen Pall Mall auf den Tisch. "Mögen Sie so was?" Nach dem ersten Zug wurde Franziska schwindlig, sie mußte sich an der Tischkante festhalten, das ganze Lokal drehte sich um sie. "Gut?" fragte Gertrud. "Die haut den dicksten Eskimo vom Schlitten." Gertrud schob die Zigaretten über den Tisch, Franziska zu, die errötete, pikiert war, ich nehme kein Trinkgeld, unglaublich, von einem Tippmädchen, dann aber begriff, daß Gertrud ihr Versöhnung anbot, daß sie ein uraltes Ritual wiederholte, mit einer Geste, die mühelos die tausend Jahre zusammenraffte zwischen einer indianischen Friedenspfeife und dem Päckchen Pall Mall. (Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand)


Reimann, Brigitte: Franziska Linkerhand [5]

  Die Pension, Rosenthaler Platz, Wilhelm-Pieck-Straße, Reinhardtstraße etwa, und das Waschbecken, unterm Spiegel den feierlichen Aufmarsch von Rasierpinsel, Zahnbürste, Mundwasser, Seifenbüchse aus gelbem oder grauem Kunststoff, und die Tischdecke, kariert, von der Farbe einer Brandmauer im Herbstregen, den schweren Glasascher, in dem ein Zigarettenstummel liegt, das Kerngehäuse eines Apfels, ein Zellophankügelchen, die zerknüllte Hülle einer Tablettenschachtel, und dem Fenster gegenüber das Bett, von dem er die Decke zurückgeschlagen hat, und ihn selbst, auf der Bettkannte sitzend, in leichten Lederpantoffeln, Protokolle oder ein hektografiertes Hauptreferat lesend... (Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand)


Reimann, Brigitte: Franziska Linkerhand [6]

  Er sah sie ungläubig an. Soviel Unwissenheit. Sie standen ein paar Schritte hinter Schafheutlin, mitten in der Menge, die unaufhörlich kreiste und schwankte wie von einem Schneebesen durcheinandergequirlt, aber als Schafheutlin den Kopf drehte, fiel sein Blick sofort, ohne suchen zu müssen, auf Franziska, als wäre sie allein hier, der letzte Gast in einem Wartesaal nach Mitternacht. (...) Die Unschuld der weißen Schlehenbüsche, deren Dornen ihm die Hände zerkratzt haben. Die Unschuld der Steine, an denen er sich die Füße blutig gerissen hat. Die Unschuld der Ägypterin, deren Blick ihn jetzt aus den Augen ihrer tausend Jahre jüngeren Schwester trifft. (Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand)


Remarque, Erich Maria: Arc de Triomphe

  Joan richtete sich auf. "Ravic", sagte sie. "Du weißt, daß es nicht wahr ist, daß man nur einen Menschen lieben kann. Es gibt Menschen, die können nur das. Sie sind glücklich. Und es gibt andere, die durcheinander geworfen werden. Du weißt das." Er zündete sich seine Zigarette an. Ohne hinzusehen, wußte er, wie Joan aussah. Blaß, die Augen dunkel, still konzentriert, fast flehend fragil - und nie umzubringen. Sie hatte ebenso ausgesehen an dem Nachmittag in ihrer Wohnung - wie ein Engel der Verkündung, voll von Glauben und schwebender Überzeugung, der vorgab, einen retten zu wollen, während er einen langsam ans Kreuz zu schlagen versuchte, damit man ihm nicht entkam. (Erich Maria Remarque: Arc de Triomphe, S. 282/83)


Remarque, Erich Maria: Der schwarze Obelisk [1]

  Die Sonne scheint in das Büro der Grabdenkmalsfirma Heinrich Kroll & Söhne. Es ist April 1923, und das Geschäft geht gut. Das Frühjahr hat uns nicht im Stich gelassen, wir verkaufen glänzend und werden arm dadurch, aber was können wir machen - der Tod ist unerbittlich und nicht abzuweisen, und menschliche Trauer verlangt nun einmal nach Monumenten in Sandstein, Marmor und, wenn das Schuldgefühl oder die Erbschaft beträchtlich sind, sogar nach dem kostbaren, schwarzen schwedischen Granit, allseitig poliert. Herbst und Frühjahr sind die bestens Jahreszeiten für die Händler mit den Utensilien der Trauer - dann sterben mehr Menschen als im Sommer und im Winter -; im Herbst, weil die Säfte schwinden, und im Frühjahr, weil sie erwachen und den geschwächten Körper verzehren wie ein zu dicker Docht eine zu dünne Kerze. (Erich Maria Remarque: Der schwarze Obelisk, S. 7)


Remarque, Erich Maria: Der schwarze Obelisk [2]

  Georg Kroll ist knapp vierzig Jahre alt; aber sein Kopf glänzt bereits wie die Kegelbahn im Gartenrestaurant Boll. Er glänzt, seit ich ihn kenne, und das ist jetzt über fünf Jahre her. Er glänzt so, daß im Schützengraben, wo wir im selben Regiment waren, ein Extrabefehl bestand, daß Georg auch bei ruhigster Front seinen Stahlhelm aufbehalten müsse - so sehr hätte seine Glatze selbst den sanftmütigsten Gegner verlockt, durch einen Schuß festzustellen, ob sie ein riesiger Billardball sei oder nicht. (Erich Maria Remarque: Der schwarze Obelisk, S. 9)


Remarque, Erich Maria: Der schwarze Obelisk [3]

  Ich reiße die Knochen zusammen und melde: Hauptquartier der Firma Kroll und Söhne! Stab der Feindbeobachtung. Verdächtige Truppenbewegungen im Bezirk des Pferdeschlächters Watzek." "Aha!" sagt Georg. "Lisa bei der Morgengeymnastik. Rühren Sie, Gefreiter Bodmer! Warum tragen Sie vormittags keine Scheuklappen wie das Paukenpferd einer Kavalleriekapelle und schützen so Ihre Tugend? Kennen Sie die drei kostbarsten Dinge des Lebens nicht?" "Wie soll ich sie kennen, Herr Oberstaatsanwalt, wenn ich das Leben selbst noch suche?" "Tugend, Einfalt und Jugend", dekretiert Georg. "Einmal verloren, nie wieder zu gewinnen! Und was ist hoffnungsloser als Erfahrung, Alter und kahle Intelligenz?" "Armut, Krankheit und Einsamkeit", erwiderte ich und rühre. "Das sind nur andere Namen für Erfahrung, Alter und mißleitete Intelligenz." (Erich Maria Remarque: Der schwarze Obelisk, S. 9)


Remarque, Erich Maria: Der schwarze Obelisk [4]

  Alles, was Niebuhr angerichtet hat, ist durch den Tod weggewischt. Er ist ein Ideal geworden. Der Mensch, der immer ein erstaunliches Talent zur Selbsttäuschung und Lüge hat, läßt es bei Todesfällen besonders hell glänzen und nennt es Pietät. Das erstaunlichste aber ist, daß er das, was er dann behauptet, selbst bald so fest glaubt, als hätte er eine Ratte in einen Hut gesteckt und gleich darauf ein schneeweißes Kaninchen herausgezogen. (Erich Maria Remarque: Der schwarze Obelisk, S. 21)


Remarque, Erich Maria: Der schwarze Obelisk [5]

  Die Pfarrer beider Bekenntnisse haben morgens in der Kirche zelebriert; jeder für seine Toten. Der katholische Pfarrer hat den Vorteil dabei gehabt; seine Kirche ist größer, sie ist bunt bemalt, hat bunte Fenster; Weihrauch, brokatene Meßgewänder und weiß und rot gekleidete Meßdiener. Der Protestant hat nur eine Kapelle, nüchterne Wände, einfache Fenster, und jetzt steht er neben dem katholischen Gottesmann wie ein armer Verwandter. Der Katholik ist geschmückt mit Spitzenüberwürfen und umringt von seinen Chorknaben; der andere hat einen schwarzen Rock an, und das ist seine ganze Pracht. Als Reklamefachmann muß ich zugeben, daß der Katholizismus Luther in diesen Dingen weit überlegen ist. Er wendet sich an die Phantasie und nicht an den Intellekt. Seine Priester sind angezogen wie die Zauberdoktoren bei den Eingeborenenstämmen; und ein katholischer Gottesdienst mit seinen Farben, seiner Stimmung, seinem Weihrauch, seinen dekorativen Gebräuchen ist als Aufmachung unschlagbar. Der Protestant fühlt das; er ist dünn und trägt eine Brille. Der Katholik ist rotwangig, voll und hat schönes, weißes Haar. (Erich Maria Remarque: Der schwarze Obelisk, S. 93)


Remarque, Erich Maria: Der schwarze Obelisk [6]

  "Ich bin fromm erzogen worden", seufzt Bambuss. "Ich bin mit der Angst vor der Hölle und der Syphilis groß geworden. Wie kann man da bodenständige Lyrik entwickeln?" "Du könntest heiraten." "Das ist mein dritter Komplex. Angst vor der Ehe. Meine Mutter hat meinen Vater kaputtgemacht. Durch nichts als Weinen. Ist das nicht merkwürdig?" "Nein", sagen Hungermann und ich unisono und schütteln uns darauf die Hand. Es bedeutet sieben weitere Jahre Leben. Schlecht oder gut, Leben ist Leben - das merkt man erst, wenn man gezwungen wird, es zu riskieren. (Erich Maria Remarque: Der schwarze Obelisk, S. 171)


Remarque, Erich Maria: Der schwarze Obelisk [7]

  Frau Kroll steckt ihren grauen Kopf heraus. "Wollt ihr einen frischen Rollmops und eine Gurke dazu?" "Unbedingt! Mit einem Stück Brot. Das kleine Dejeuner für jede Art von Weltschmerz", erwidert Georg und reicht mir mein Glas. "Hast du welchen?" "Ein anständiger Mensch in meinem Alter hat immer Weltschmerz", erwidere ich fest. "Es ist das Recht der Jugend." "Ich dachte, man hätte dir die Jugend beim Militär gestohlen?" "Stimmt. Ich bin immer noch auf der Suche nach ihr, finde sie aber nicht. Deshalb habe ich einen doppelten Weltschmerz. So wie ein amputierter Fuß doppelt schmerzt." Das Bier ist wunderbar kalt. Die Sonne brennt uns auf die Schädel, und auf einmal ist, trotz allen Weltschmerz, wieder einer der Augenblicke da, wo man dem Dasein sehr dicht in die grüngoldenen Augen starrt. ich trinke mein Bier andächtig aus. Alle meine Adern scheinen plötzlich ein Sonnenbad genommen zu haben. "Wir vergessen immer wieder, daß wie nur kurze Zeit diesen Planeten bewohnen", sage ich. "Deshalb haben wir einen völlig irrigen Weltkomplex. Den von Menschen, die ewig leben. Hast du das schon gemerkt?" "Und wie! Es ist der Kardinalfehler der Menschheit. An sich ganz vernünftige Leute lassen grauenhaften Verwandten auf diese Weise Millionen von Dollars zukommen, anstatt sie selbst zu verbrauchen." (Erich Maria Remarque: Der schwarze Obelisk, S. 157f.)


Remarque, Erich Maria: Der schwarze Obelisk [8]

  Die Damen begrüßten sich wie lächelnde Kriminalpolizisten. "Welch hübsches Kleid, Gerda", gurrte Renee. "Schade, daß ich so etwas nicht tragen kann! Ich bin zu dünn dazu." "Das macht nichts", erwidert Gerda. "Ich fand die vorjährige Mode auch eleganter. Besonders die entzückenden Eidechsenschuhe, die du trägst. Ich liebe sie jedes Jahr mehr." Ich sehe unter den Tisch. Renee trägt tatsächlich Schuhe aus Eidechsenleder. Wie Gerda das im Sitzen sehen konnte, gehört zu den ewigen Rätseln der Frau. Es ist unverständlich, daß diese Gaben des Geschlechts nie besser praktisch ausgenützt worden sind - zur Beobachtung des Feindes in Fesselballons bei der Artillerie oder für ähnliche kulturelle Zwecke. (Erich Maria Remarque: Der schwarze Obelisk, S. 182)


Remarque, Erich Maria: Der schwarze Obelisk [9]

  "Da sehen Sie es", sagte Heinrich bitter zu Riesenfeld. "Dadurch haben wir den Krieg verloren. Durch die Schlamperei der Intelektuellen und durch die Juden." "Und die Radfahrer", ergänzt Riesenfeld. "Wieso die Radfahrer?" fragt Heinrich erstaunt. "Wieso die Juden?" fragt Riesenfeld zurück. Heinrich stutzt. "Ach so", sagt er dann lustlos. "Ein Witz." (Erich Maria Remarque: Der schwarze Obelisk, S. 193)


Remarque, Erich Maria: Der schwarze Obelisk [10]

  "Haben Sie schon beobachtet, daß Priester und Generäle meistens steinalt werden?" frage ich Wernicke. "Der Zahn des Zweifels und der Sorge nagt nicht an ihnen. Sie sind viel in frischer Luft, sind auf Lebenszeit angestellt und brauchen nicht zu denken. Der eine hat den Katechismus, der andere das Exerzierreglement. Außerdem genießen beide größtes Ansehen. Der eine ist hoffähig bei Gott, der andere beim Kaiser." (Erich Maria Remarque: Der schwarze Obelisk, S. 119)


Remarque, Erich Maria: Der Funke Leben [1]

  "Die Flieger sind fort. Sie haben die Stadt bombardiert." "Das hast du nun schon oft genug gesagt", knurrte jemand aus dem Dunkel. Ahasver blickte auf. "Vielleicht werden sie ein paar Dutzend von uns zur Strafe dafür erschießen." "Erschießen?" Westhof kicherte. "Seit wann erschießen sie hier?" Der Schäferhund bellte. Ahasver hielt ihn fest. "In Holland erschossen sie nach einem Luftangriff gewöhnlich zehn, zwanzig politische Gefangene. Damit sie keine falschen Ideen bekämen, sagten sie." "Wir sind hier nicht in Holland." "Das weiß ich. Ich habe auch nur gesagt, daß in Holland erschossen wurde." "Erschießen!" Westhof schnaubte verächtlich. "Bist du ein Soldat, daß du solche Ansprüche stellst? Hier wird erhängt und erschlagen." (...) "Glaubt ihr, daß wir heute Abend Essen kriegen?" fragte Ahasver. "Verdammt!" antwortete die Stimme aus dem Dunkel. "Was willst du noch? Erst willst du erschossen werden und dann fragst du nach Essen?" (Erich Maria Remarque: Der Funke Leben)


Ribeiro, Joao Ubaldo: Der Heilige, der nicht...

  Der Teufel Beremoalbo, das war ein ganz widerlicher Teufelskerl, einer von den Schlimmsten, die hier je aufgetaucht sind, außerdem hat der hier schändlich gehaust, und dann stieß er so ein Pfeifen aus und ein höllisches Lachen hohohoho, mit einem Teufelshauch, als ganz, ganz anders. Er kam zu den Leuten an die Tür, und auf seinen Lippen explodierte jeder Buchstabe: "Guten Abend. Mein Name ist Beremoalbo." Und dann gute Nacht Matilde, da kam nur noch eine Scheußlichkeit nach der andern, in Windeseile. Die Milch wurde sauer, Frauen hatten Fehlgeburten, Kinder bekamen Durchfall, die Rinder kriegten Würmer, das Wasser faulte in den Tonkrügen, Nagelgeschwüre, alte Jungfer entehrt, Dach vom neuen Haus geweht, alles, was nur denkbar ist. Der Kerl hatte eine scheußliche Stimme, eine dunkle Grabesstimme, es hörte sich schauerlich an so mitten in der Nacht, "mein Name ist Beremoalbo", man muß sich das vorstellen. (Joao Ubaldo Ribeiro: Der Heilige, der nicht an Gott glaubt, S. 94)


Rinser, Luise: Kriegsspielzeug [1]

  Vor einigen Jahren hörte ich bei einer Tagung der Katholischen Akademie in München zum Thema "Frau und Priestertum" einen hinter mir sitzenden jungen Kleriker zu seinen beiden Amtsbrüdern ziemlich laut sagen: "Pfui Teufel, eine menstruierende Frau am Altar". Ich wandte mich um und wies ihn darauf hin, daß es Frauen noch nie in den Sinn kam, öffentlich zu sagen: Pfui Teufel, ein Mann am Altar, der nachts eine Pollution hatte. Wie unheimlich tief wir noch in Atavismen stecken. Wie unheimlich mächtig das Patriarchat noch ist, auch wenn der Mann noch so abgewirtschaftet hat. (Luise Rinser: Kriegsspielzeug. Tagebücher 1972-1978)


Rinser, Luise: Kriegsspielzeug [2]

  Streitgespräch mit einem Erzkonservativen. Es geht um den Begriff des Sozialismus heute. Schon mischen sich Emotionen in unsre Diskussion, da fährt, mitten im Satz, ein Blitz auf mich herunter: die Erkenntnis von der profunden Torheit dieses Streits. Was wollen wir denn erreichen? Daß der andre auf gleiche Art das Gleiche denkt? Sollten alle gleich denken? Das wäre schrecklich: das Leben stünde still vor Langeweile, vor Spannungs-Mangel. Leben ist, wo Spannung ist, und Spannung ist zwischen Spruch und Widerspruch. Der Spruch heißt: beharren, der Widerspruch: Weitergehen. (Luise Rinser: Kriegsspielzeug. Tagebuch 1972-1978, S. 38)


Rinser, Luise: Kriegsspielzeug [3]

  Platons 'Gastmahl' wieder einmal gelesen. (Zum ersten Mal las ich es 1929 in einer Reclamausgabe, die ich noch besitze, Name und Jahreszahl sind darin vermerkt. Ich war achtzehn.) Jedesmal bin ich von einer andern Stelle betroffen. Dieses Mal ist es der Satz Albikiades in seiner Lobrede aus Sokrates: "Von ihm wurde ich oftmals in eine Stimmung versetzt, in der mir das Leben unerträglich schien, wenn ich so bliebe, wie ich bin." Ich kenne keine größere Qual, als zu erfahren, daß ich einen Rückschritt gemacht habe, und keine heißere Angst als die, "stehenzubleiben." (Ich spreche nicht von meiner literarischen Arbeit, obgleich sie mit dem andern zusammenhängt.) (Luise Rinser: Kriegsspielzeug. Tagebuch 1972-1978, S. 162)


Rinser, Luise: Kriegsspielzeug [4]

  Ich habe mich der schwierigen Gnade, "geistige Unruhe" genannt, ausgesetzt. Konkret heißt das: ich habe alles Neue, auch wenn es mir nicht gefiel, aufgenommen, es intensiv durchlebt, aber nicht eingenistet, sondern bin hindurchgegangen, immer bereichert. (...) Es ist bequemer, sich ein für allemal irgendwo einzunisten und zu sagen: so, ich bin angekommen, und da bleibe ich. Aber das zu tun, bedeutet sich der Sünde der geistigen Trägheit schuldig machen und sich vom wirklichen Leben abschneiden. (Luise Rinser: Kriegsspielzeug. Tagebuch 1972-1978, S. 97f.)


Rinser, Luise: Winterfrühling [1]

  Lernen wir nur unter äußerstem Druck die Liebe? Geschieht die Mutation des Menschengeschlechts nur durch Katastrophen? Warum erschrecke ich bei dem Gedanken, daß Katastrophen notwendig sind? Weil ich ein Bild sehe: in wenigen Jahren vielleicht sitzen die paar Überlebenden so beisammen in Höhlen unter den radiumverseuchten Trümmern der alten Welt. Nicht erschrecken: die Überlebenden leben. Sie lernen die Liebe. Äußerste Not als die große Chance für die Evolution. Man muß in die Ferne denken dürfen. Ins Grenzenlose. In neue Geist-Räume muß man sich vorwagen, damit man den Schmerz des Augenblicks erträgt. (Luise Rinser: Winterfrühling. 1979-1982, S. 100)


Rinser, Luise: Winterfrühling [2]

  Was ist Phantasie? Der Blick hinter den Vorhang der plumpen äußeren Wirklichkeit, das Sehen der In-Bilder, denen die äußeren Dinge nachgebildet sind und die nur bestehen, weil sie in der Phantasie vorgebildet sind. Sagen Sie: Leben Sie nur mit greifbar nützlichen Gegenständen? Wissen Sie, daß der Mensch sterben muß, läßt man ihn nicht träumen? Die Seele verhungert in der puren Faktizität, die Menschheit verhungert an ihrem Mangel an Mythen und Phantasie, an echten Utopien und Religionen. (Luise Rinser: Winterfrühling. 1979-1982, S. 108)


Rinser, Luise: Winterfrühling [3]

  Unser aller geheimer und offener Wunsch, der Eigenverantwortung enthoben zu sein, einem Kollektiv- Gewissen gehorchen zu dürfen, zu dienen ohne zu denken, aufgehoben zu sein in der Ordnung, nicht so entsetzlich frei zu sein, so fehlbar durchs eigene Gewissen, so scharf gefordert zu einsamen Entscheidungen, so dem Zweifel hingeworfen. Einen Führer wollen wir, einen Papst, einen Guru, einen guten Diktator. Was wir wollen, das ist der Messias, der uns zurückführt ins Paradies, in den Erden-Mutterschoß, in die frühe Kindheit. (Luise Rinser: Winterfrühling. 1979-1982, S. 177)


Rinser, Luise: Den Wolf umarmen [1]

  Sie konnte wunderbar erzählen, sie liebte es, ihre Geschichten auszuschmücken mit allen Einzelheiten, sie war die geborene Erzäherlin. Das Talent hat sie mir vererbt. Sie hat es mir später mißgönnt, als ich mir damit einen Namen machte. Sie fand meine Bücher nie lobenswert. Sie ignorierte sie, auch wenn sie sie las. Nun, das Schicksal hat ihre Gene mir so gebündelt übergeben, daß ich Schriftstellerin werden mußte. Eben sagt mir mein Vatter, daß meine Mutter später mit mir und meinen Büchern schier geprahlt hat. Später, ja später, als ichs nicht mehr brauchte. (...) (Luise Rinser: Den Wolf umarmen, S. 56)


Rinser, Luise: Den Wolf umarmen [2]

  Offenbar fehlte meinem Vater doch etwas in dieser Ehe: Wärme. Manchmal sagte er zu meiner Mutter: "Du kalte Sailer", und das schnappte das Kind auf. Vaters Mutter war die Wärme in Person. Suchte er in seiner Ehefrau die Mutter? Die fand er nicht. Das einzige, was sie nicht geben konnte: naturhaft mütterliche Wärme. Meine Mutter war nicht gefühlsarm, das nicht, aber das Gefühl saß in ihrem Gehirn, es setzte sich ohne Umweg über das Herz in Tat um: sie hätte sich in Stücke zerreißen lassen für ihren Mann. Wenn er seine Depressionen hatte, kochte sie ihm seine Lieblingspeisen und redete ihm die Schatten weg. Aber mitgelitten hat sie nie. Das konnte sie nicht. das war meine Sache: ich litt, wenn er litt. Und er litt viel. Nicht nur an seinem Buckel. Er war im Zeichen der Fische geboren: in der dunklen Meerestiefe. Sein Reich war undurchschaubar. Das Himmelslicht drang nur gebrochen bis dort hinunter, wo der Fisch sich zwischen Steinen und Algen verbarg. Ein stummer Fisch. Oft sagte der Vater: "Trappist hätte ich werden sollen." Ich meine, er hätte es werden können: er war schweigsam, still, fromm, ein Beter, ein Einsamer. (Luise Rinser: Den Wolf umarmen, S. 57)


Rinser, Luise: Den Wolf umarmen [3]

  Mein Vater und ich hatten außer dem Interesse für Politik noch etwas gemeinsam: die Musik. Daß wir sie gemeinsam hatten, schloß uns immer wieder einmal ab gegen die stock-unmusikalische Mutter. Er gab mir früh Klavierstunden. Wozu braucht sie das? sagte die Mutter. Sie soll mir lieber im Haushalt helfen und kochen lernen, ein Mädchen muß kochen können. Sie mochte auch nicht, wenn der Vater mit Kollegen musizierte. Es gab einmal eine junge Lehrerin im Haus, die gut sang. Mein Vater begleitete sie am Klavier. Die mit ihrer Singerei, sagte die Mutter. Einen Seitensprung in ein fremdes Bett hätte sie vielleicht verziehen, aber daß ihr Mann sich mit dieser Singperson am hellen Tag bei offener Zimmertür in ein Reich begab, das ihr verschlossen war, das konnte sie nicht dulden. Da entglitt er ihr. Das war ein Ehebruch. (Luise Rinser: Den Wolf umarmen, S. 79f.)


Rinser, Luise: Den Wolf umarmen [4]

  "Wer die Magenfrage löst, der hat das Problem der Demokratie gelöst", so hatte der Münchner Polizeipräsident gesagt. War er ein Zyniker oder nur einfach ein Realist oder ein Pessimist durchs Berufserfahrung? Auf jeden Fall: er hat recht behalten. Und Adenauer, der erste Bundeskanzler, dachte nicht anders. So begann das neue alte Leben. Das Kriegsende war ein Graben, der ganz rasch zugeschaufelt, glattgewalzt und überbaut wurde mit Kasernen, Warenhäusern, Fabriken, Banken, Kirchen und Reihenhäusern für zufriedene mürrische Bürger. Die vertane Chance. Die nicht-gelernte Schicksalaufgabe. Kein radikaler Neubeginn, sondern nur ein weiterer Akt im bürgerlichen Trauer-Lustspiel. (Luise Rinser: Den Wolf umarmen, S. 404)


Rinser, Luise: Den Wolf umarmen [5]

  Wofür müssen Kinder ihren Eltern eigentlich dankbar sein? Nicht das Kind ist verantwortlich für sein Dasein. Kann es dafür, daß ein Mann und eine Frau den Beischlaf vollziehen, bei dem sie, meist wenigstens, nichts denken und nur ihre Lust haben? Dafür Dankbarkeit fordern? Oder dafür, daß diese Eltern dann das Gezeugte und Geborene ernähren? Das ist ihre Pflicht, staatlich geregelt. Mir ist es nie in den Sinn gekommen, von meinen Kindern Dankbarkeit zu verlangen. Wofür auch. Vielleicht hätte ich sie um Verzeihung bitten müssen, daß ich sie einer bösen Zeit ausgesetzt habe. (Luise Rinser: Den Wolf umarmen, S. 58)


Rinser, Luise: Wachsender Mond [1]

  Als Kind mußte ich Kohlweißlinge jagen und die Raupen vom Kohl zwischen zwei Brettchen zerquetschen. Eine häßliche Arbeit. Ich drückte mich, wo ich konnte. Heute rette ich jeden Falter in meinem Garten. Immer weniger gibt es. Die schönen großen, Pfauenauge und Trauermantel und andre mittelmeerische, gibt es nicht mehr. Überlebt haben bis jetzt die Kleinen und Kleinsten. Klein sein, damit das Schicksal einen übersieht. (Luise Rinser: Wachsender Mond. 1985-1988)


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