Allgemeine Fundstücke  / [R_3]


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Rossbacher, Verena: Verlangen nach Drachen

  ... habe ich dir je erzählt von der These, daß die Fähigkeit, Tränen, salzige Trännen hervorzubringen, ein Relikt aus unseren Zeiten als Fische ist? Wir tragen sozusagen noch immer unseren Ursprung in uns, jede Traurigkeit, die wir durch Tränen zum Ausdruck bringen, ist eigentlich eine Traurigkeit darüber, nicht mehr im Paradies, nicht mehr im Meer, nicht mehr zu Hause zu sein, es ist die große Traurigkeit, die sich in jeder kleinen manifestiert. Die große, unendliche, unstillbare Traurigkeit. (Verena Rossbacher: Verlangen nach Drachen, S. 194)


Rossbacher, Verena: Verlangen nach Drachen [2]

  ... was sind Mieze Schindler und Belzsche Bulpe? Klara steckte sich zwei weitere Erdbeeren in den Mund und reihte die Blätterkränze vor sich auf dem Tisch, klingt nach was Ordinärem. So heißen die Erdbeersorten. Mieze Schindler war die über alles geliebte Frau des großen Erdbeerzüchters Schindler, sie backte, wenn man seinen Tagebucheintragungen Glauben schenken darf, die köstlichsten, sinnenverwirrendsten Erdbeertorten und er hatte sein Leben quasi diesen Torten und also ihr verschrieben, hängte seinen Beruf als Seidenhändler an den Nagel und züchtete fortan nahezu fanatisch Erdbeeren, Tag und Nacht, sommer wie winters, er züchtete Erdbeeren sozusagen so geläufig, wie ein anderer atmet. Mize Schindler ist zweifellos der gelungendste seiner Versuche, heutzutage leider vom modernen Markt verschwunden, da kaum transportfähig, die Früchte sind einfach zu gut, um weite Strecken überstehen zu können, zu reif, zu weich, zu saftig, zu süß. (Verena Rossbacher: Verlangen nach Drachen, S. 193)


Rossbacher, Verena: Schwätzen und Schlachten [1]

  Und in einem Text ist alles möglich, es ist die eigentliche Welt des Konjunktivs, weil es Fiktion ist, darf man alles, ausgedacht kann man alles machen. (...) Sydow angelte sich ein paar Blätter von der Rückbank, begann zu lesen. Er schaute auf, links, du Trottel, Stanjic bremste ab, fuhr im Rückwärtsgang zurück, Sydow hielt sich am Handgriff, wenn ihr bei dir zu Hause alle so Auto fahrt, wunderts mich nicht, dass ihr mit den Nerven am Ende seid und als einzigem Ausweg dem Konjunktiv frönt. Wenn ich nicht ein so schlechter Autofahrer wäre, würde ich gut Auto fahren, wenn ich nicht so dumm wär, kämen mir die besten Ideen, wenn die Berge hier nicht so hoch wären, wär das Land schön flach, wenn – Jaja, Stanjic fuhr an den Rand und stellte den Blinker ein, er schaute auf die Liste und ging nach hinten zum Kofferraum und holte die Sandwichpakete raus, wenn du nicht gleich das Maul hältst, stopf ich’s dir. Indikativ. Auch der Indikativ hat seine Vorzüge, nicht wahr?


Rossbacher, Verena: Schwätzen und Schlachten [2]

  Wir traten aus dem Waldweg heraus auf das Plateau. Ringsum die Berge, fluoreszierender Schnee auf den Gipfeln, tollende Dohlen, ein Bussard in nachdenklicher Schraube. (...) Bussarde sind nicht nachdenklich, sagte mein Lektor streng, das ist Quatsch. Bussarde schrauben sich womöglich hartnäckig, womöglich eisern, aber ohne Nachdenken in den Himmel, spähen hinab, sichten eine kleine Mahlzeit in eifrigem Getrappel, zwecklosem Gehoppel, zögern nicht, denken keinen Fingerbreit nach und fallen wie Hallodris immer dem Schnabel nach wieder nach unten, den Kopf erwartungsfroh gereckt – so viel zu den Bussarden. (Verena Roßbacher: Schwätzen und Schlachten)


Rossbacher, Verena: Schwätzen und Schlachten [3]

  Ich könnte sagen, ich bin ganz schön attraktiv, ich back dir was back du mir was. Frederik. Ich könnte sagen, willst du dir meine Plätzchensamlung ansehen? Frederik? Ich könnte sagen, dass ich Kinder mag, ich könnte sagen, dass ich das Kindermachen mag. Frederik? Ich könnte sagen, ich bin eher ein Machertyp, Plätzchen, Kinder, ganz egal, ich bin einfach ein Macher. Frauen finden Männer attraktiv, die was machen. Frederik! Nicht so diese Luschen, die denken, bei der ersten Bewegung ist ihre Frisur im Eimer, und nichts auf die Reihe kriegen, sich die Finger brechen beim Kekseausstechen. Frauen wollen Männer, die was reißen. Fre- de-rik. Mehlpackungen aufreißen, Kleider zerreißen, das Herz aus dem Leib herausreißen und ihnen schenken. Vergiss es einfach, okay? Hm. Hat sie schon einen Macher? Ja. Ernsthaft? Zeig ihn mir und ich zerreiß ihn in der Luft, Mehlpackungen oder wen von der Konkurrenz, ganz egal, um meine Frisur ist mir nicht bange. Frisur? Haare auf dem Kopf ist noch keine Frisur. (Verena Roßbacher: Schwätzen und Schlachten)


Rossbacher, Verena: Schwätzen und Schlachten [4]

  Woher kennst du Räuber und ihre Frauen, flüchtest du jetzt mangels Frau in mediale Welten, schaust du jetzt immer Fernsehen. Das ist sehr gefährlich. Experten warnen dringend vor der Flucht der Männer in mediale Welten, neulich las ich in der Zeitung, dass über zwei Drittel aller Zwanzigjährigen noch nie eine Freundin – Unsinn. Habe ich vielleicht einen Fernseher? Ich bin schlimmer als meine Oma, wenn ich wo einen Fernseher einschalten soll, geh ich hin und drück dort den Knopf am Gerät, weil ich die Fernbedienung immer verkehrt herum halte. Darum schaue ich auch immer nur einen Sender, bis wer sich erbarmt und mir umschalten kommt. Ich kenne Räuber nicht aus der medialen Welt, ich kenne sie noch von Ronja Räubertochter. Wolltest du als Kind auch immer Ronja Räubertochter heiraten? Nein. Ich wollte Pippi Langstrumpf heiraten. Weil du ein Masochist bist. Ich wusste, dass du das sagen würdest. Wollte ich aber gar nicht. Ich wollte, wie alle vernünftigen Jungs, das Aschenbrödel heiraten, die aus dem Film. Frühe Flucht in mediale Welten? Ja. Ich bin betroffenes Zweidrittel, vor mir warnt die Expertenwelt. Ich war zwanzig, hatte noch nie eine Freundin gehabt und mich in der medialen Welt verirrt und Aschenbrödel war schon vergeben. Das macht gefährlich, wegen generellem Triebstau sowieso und nicht ausgetragenen Konkurrenzkämpfen mangels realem Konkurrenten noch dazu. (Verena Roßbacher: Schwätzen und Schlachten)


Rossbacher, Verena: Schwätzen und Schlachten [5]

  Das wäre dann mit Sicherheit eine, die andauernd Käfer rettet, damit man nicht auf sie tritt, bei politisch inkorrekten Witzen anfängt zu weinen und Yogakurse besucht. Es ist nicht verwerflich, einen Yogakurs zu besuchen. In Kombination mit den Käfern und dem Weinen bei Witzen schon. Sie besuchen die Yogakurse. Das sind die, die sich, wenn sie sich auf einen Stuhl setzen, nicht einfach auf einen Stuhl setzen, nein, sie zentrieren sich. Suchen mit den Gesäßbacken die richtige Position, schaukeln und graben sich mit dem Hintern wohlig zurecht, immer mit diesem ekelhaft verklärten Gesicht der Yogapraktizierer, sie sagen Sachen wie: Wenn die Traurigkeit kommt wie eine Woge, betrachte ich sie und gehe mit ihr mit, bis sie... (Verena Roßbacher: Schwätzen und Schlachten)


Rossbacher, Verena: Schwätzen und Schlachten [6]

  Onkel Dagobert konnte sich ein Geschirrtuch um die Hüften binden und sah keinen Deut albern aus dabei, eher sah er so aus, als würde er im nächsten Moment lossteppen oder sich einem Segeltörn anschließen. Er konnte eine Jagdgesellschaft anführen zum vielfältigen Tieretöten oder auch den Tee aufgießen, wenn die Jagdgesellschaft ohne ihn lustig gewesen war, seine Autorität hätte kein Mensch je infrage gestellt, weder als Jäger noch als Mann. Er sah aus, als würde er gleich lossteppen, dabei war durchaus möglich, dass dieser Umstand niemals eintreten würde. Er war ein Stepper und musste das nicht durch unablässiges lästiges Steppen unter Beweis stellen, er war ein Jäger und ein Mann, bis hinein in die eleganten Fingerspitzen, so einer muss nicht andauernd einem Schwein hinterherhechten oder sich per Liane von einem Baum zum nächsten schwingen. (Verena Roßbacher: Schwätzen und Schlachten)


Rossbacher, Verena: Schwätzen und Schlachten [7]

  Ich ging in Simons Küche. Akkurat quadratisch, die Wände schulterhoch mit kleinen Mosaiken zu aperiodischen Mustern gepflastert, frei nach dem Darb-i-Imam-Schrein von 1453 im Iran – haha! Von wegen. Hier ist das einfach kunterbuntes Chaos, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit aus den dunklen, den schwärzesten Siebzigern und definitiv keinem Gott zum Wohlgefallen, aber wenn man sichs mit dem großen Uhrmacher nicht verscherzen will, puzzelt man besser was aperiodisches, das kann er dann in der Unendlichkeit herumschieben, wie er lustig ist, freut sich wie ein Kind. (Verena Roßbacher: Schwätzen und Schlachten)


Rossbacher, Verena: Schwätzen und Schlachten [8]

  Wegen solcher Lappalien, sagte er streng, geht man übrigens nicht ins regionale Pilzdezernat. Wenn du im regionalen Pilzdezernat aufkreuzt, um intime Interna über die große, fröhliche Familie der Boviste geflüstert zu bekommen, nimmt dich da, wenn du später dann einmal schwer vergiftet vom Pilzragout anwankst und dem Schnauzbart die Reste auf den Schreibtisch kotzt, kein Mensch mehr ernst. Wenn du, sagte er bedächtig, nachdem du dich dort vorher schon mit törichten Fragen zu den Bovisten lächerlich gemacht hast, schwer vergiftet anwankst und dem Dezernenten auf den Tisch kotzt, schaut der gar nicht erst hoch von seinem Pilzmagazin, blättert gemütlich um und sagt: schön, sagt er dann, nach Hause gehen, sagt der dann nur, weiterkotzen. (Verena Roßbacher: Schwätzen und Schlachten)


Rossbacher, Verena: Schwätzen und Schlachten [9]

  Am Morgen nach dem Frühstück, fuhr Frau von Sydow fort, gings zum Baumschlag, die Herren möchten diesmal doch bitte einen wählen, der ins Zimmer passe, sie lege Wert darauf, den noch von ihrem Großvater höchstselbst bepinselten Engel auf der Spitze zu platzieren. Sydow bezweifelte, ob dieser Engel der allgemeinen Hebung der Ästhetik dienlich sein würde. Er war vom Uropa höchstselbst bepinselt und auch von eigener Hand gedrechselt und grinste feist, es war ein Engel wie ein versoffener Schwerenöter. (...) Er würde morgen also auf jeden Fall dabei sein beim Baumschlag, er würde sagen: Nein nein, der ist nicht zu groß, das ist haargenau, was meine Oma sich vorgestellt hat, passt perfekt, jede Wette! (...) Im Übrigen will ich auch den Baum schlagen, ich werde dort gebraucht, sie schleppen dir sonst todsicher einen an, der doppelt so hoch ist wie die Decke. Oder, dachte er, wenn er die fleißig zechenden Onkel betrachtete, sie wissen nicht mehr, wie eine Tanne aussieht und wir feiern dieses Jahr unter einer Ulme, kann gut sein. (Verena Roßbacher: Schwätzen und Schlachten)


Rossbacher, Verena: Schwätzen und Schlachten [10]

  Wie heute früh mit dem Auto, reinweg gar nichts ist passiert. Meine Oma hat gesagt, die Leute wären kreischend auseinandergesprungen und die Bäuerin auf dem Markt hätte mit entsetztem Blick ihre Kohlköpfe an den Busen gedrückt, als du wie ein Wahnsinniger auf sie zugerast seist. Das war einmal, weil ich den Rückwärtsgang verwechselt habe. Sonst lief alles wie am Schnürchen. Ja, meine Oma meinte bloß, sie frage sich, wo du eigentlich den Führerschein gemacht hast. In Österreich, da fahren alle so, sagte Stanjic. Das habe ich ihr auch gesagt, sie riet mir daraufhin, im Rahmen meiner Gesundheitsvorsorge dieses Land weiträumig zu umfluren. (Verena Roßbacher: Schwätzen und Schlachten)


Rossbacher, Verena: Schwätzen und Schlachten [11]

  Es herrschte eine Bombenstimmung, und einmal geht noch, rief Onkel Jodok begeistert nach jedem Stück, er war ein Tanzbär, ein Salonlöwe, er war das rotnasige Rentier und noch in der Volltrunkenheit ein Musikfreund vor dem Herrn. (...) Jodok war ein Salonlöwe und Tante Hildegard eine Partynudel, zusammen waren sie der Schrecken eines jeden Fetenmuffels, der Leib gewordene Albtraum eines jeden Festtagverweigerers, sie stupsten sich mit den Hüften und stoben auseinander, sie hüpften und eierten eifrig tanzend in die Knie und kamen wieder hoch, und das alles mit diesen schweren und behäbigen altdeutschen Leibern, die eher auf ein Bild von Bruegel gepasst hätten. Dazwischen trubelte der Rest, jeder Sydow konnte feiern bis zum Umfallen, es lag ihnen im Blut, Jodok und Hildegard mochten der nimmermüde Kern sein des allgemeinen Spektakelns, aber hier ließ sich niemand lumpen, Tante Inge vollführte mit konsequent adretter Frisur komplizierte Schrittkombinationen um sich selbst herum, ein Paar, dessen Namen Frederik nicht kannte, zog in einer flotten irischen Jig juchzend diagonal eine Schneise durch den Salon, Onkel Dagobert – Sydow war sich nicht sicher, es in dem Getümmel richtig auszumachen, ihm schien, Onkel Dagobert werfe mit hinreißender Leichtigkeit seine Oma in die Luft. Weihnachten, Fest der Stille und der Besinnung? Nicht im säkularisierten Osten, hier kann man ohne sich zu genieren Hotdog mampfend eine Kirche besichtigen und den Pfarrer ungestraft fragen, ob er unter dem Talar eine Unterhose trägt, hier kann man zum Lobpreis von Christi Geburt eine Polonaise veranstalten und keiner findet das bedenklich. (Verena Roßbacher: Schwätzen und Schlachten)


Roth, Joseph: Rechts und Links [1]

  Die Frau Bernheim hatte neben dem Ehrgeiz, "fürstlich" zu wohnen und eine "königliche Erscheinung" abzugeben, auch noch den, eine "bescheidene Frau" zu sein. Wenn sie vor Weihnachten überflüssige Stickereien an überflüssigen Decken anbrachte, um irgend jemanden zu "überraschen", so war sie überzeugt, eines jener Opfer zu bringen, das die Tugend der Sparsamkeit bestätigt, und sie bereitete sich einen süßen, angenehmen Schmerz, der fast so wohltat wie Weinen. "Sieh her, Felix", sagte sie, "die Frau Lang macht das sicher nicht selbst." "Du brauchst es ja auch nicht zu tun-" erwiderte Felix. "Wer soll's denn machen? Willst du ein Vermögen dafür bezahlen?" "Ich kann überhaupt darauf verzichten." "Ja, und wenn's nicht da wäre, würdeste du ein Gesicht machen! "Sieh lieber die Knöpfe an meinem Winterrock nach - heute ist mir einer heruntergefallen!" "Gib ihn her!" sagte darauf die Frau Bernheim erfreut. "Auf die Lisi ist ja doch kein Verlaß! Alles, alles muß man selber machen!" Und mit einem heieren Seufzer, der die Arbeit schwerer erscheinen läßt, soe kostbarer macht und das Gewissen der Arbeiterin beruhigt, begann Frau Bernheim, den Knopf zu befestigen. (Joseph Roth: Rechts und Links, S. 20)


Roth, Joseph: Rechts und Links [2]

  Die Mädchen konnten Paul Pernheim keineswegs einschüchtern. Er wurde mit der Zeit ein flotter Tänzer, ein angenehmer Plauderer, ein wohldressierter Sportsmann. Im Laufe der Monate und Jahre wechselten seine Neigungen und seine Talente. Ein halbes Jahr galt seine Leidenschaft der Musik, einen Monat dem Fechten, ein Jahr dem Zeichnen, ein Jahr der Literatur und schließlich der jungen Frau eines Bezirksrichters, deren Bedarf an Jünglingen in dieser nur mittelgoßen Stadt kaum gedeckt werden konnte. In der Liebe zu ihr vereinigte er alle seine Talente und Leidenschaften. Für sie malte er Landschaften und weiße Kühe, für sie focht er, komponierte er, dichtete er Lieder über die Natur. Schließlich wandte sie sich einem Fähnrich zu, und Paul versenkte sich, um "sie zu vergessen", in die Kunstgeschichte. Ihr beschloß er nun sein Leben zu widmen. Er konnte bald Menschen sehn, keine Straße, kein Stückchen Feld, ohne einen berühmten Maler und ein bekanntes Bild zu zitieren. In der Unfähigkeit, etwas unmittelbar aufzunehmen und einfach zu bezeichnen, übertraf er schon in jungen jahren alle Kunsthistoriker von Rang. (Joseph Roth: Rechts und Links, S. 11f.)


Roth, Joseph: Rechts und Links [3]

  Sie lebte gefangen im Haus. Er schickte ihr Schneider und Kaufleute, aber nicht einen einzigen Gast. Er wollte keine Menschen sehn. Die Menschen waren wie Häuser und Waren. Er handelte mit ihnen, während des Tages, in seinem Büro. Sie war jung, sie zählte ihre Jahre. Zweiundzwanzig. Sie warf ihm diese geringe Zahl vor, als wäre ihre Jugend seine Schuld. Einmal sah er sie weinen. Er verstand. Aber er saß, ungeschickt und mächtig, vor dem kleinen Jammer einer kleinen Frau. Er fürchtete sich vor seinem eigenen Mitleid. Er haßte die Zärtlichkeiten, die der Trost befahl. Er war nicht imstande, ein Elend zu ermessen an dem Menschen, der es im Augenblick empfand. Er konnte niemals verstehn, daß die geringen Ursachen, die einen Schmerz erzeugen, weder den Umfang noch die Tiefe des Schmerzes bestimmen. Er maß das Unglück Lydias an dem absoluten Unglück der Welt. (Joseph Roth: Rechts und Links, S. 141)


Roth, Joseph: Rechts und Links [4]

  Sie besaß einen animalischen Haus- und Familieninstinkt, er war die Quelle ihrer Vorsicht, ihrer Klugheit und auch ihrer Güte, die allerdings ihre Grenze an dem dichten Drahtgitter des Gartens fand. Außerhalb des Gitters begann ihre Härte, ihre Unerbittlichtkeit, ihre Blindheit und ihre Taubheit. Sie unterschied zwischen Armen, die auf irgendeine Weise einen Zutritt in ihr Haus bekamen, und den Bettlern, die sich nur in den Straßen aufhielten. Und sie verstand ihre Wohltätigkeit dermaßen zu organisieren, daß ihr Herz nur an bestimmten Stunden betimmter Tage zu funktionieren brauchte. (Joseph Roth: Rechts und Links, S. 21)


Roth, Joseph: Rechts und Links [5]

  Als Paul seiner Mutter schrieb, daß er kein Geld geben könne, da er Theodors wegen schon eine so hohe Schuld auf sich genommen habe, und es wäre doch einfach, den Mietpreis für Theodors Zimmer jeden Monat nach Ungarn zu schicken, erwiderte Fraun Bernheim entrüstet, daß sie nicht daran denke, noch mehr Opfer für ihre Kinder zu bringen. "Ich habe Euch meine ganze Jugend geopfert", schrieb sie. Sie glaubte manchmal wirklich, daß sie ohne ihre Söhne nur ganz langsam alt geworden wäre. Blut sei kein Wasser, schrieb sie ferner, und ein Bruder müssen dem andern helfen. (Joseph Roth: Rechts und Links, S. 76)


Roth, Joseph: Rechts und Links [6]

  Auch Nikolai Brandeis machte die Erfahrung, daß der Mensch in einer einzigen Stunde - die ihm gar nicht wichtig erscheint - imstande ist, was man seinen "Charakter" nennt, so vollkommen zu verändern, daß er vor dem Spiegel treten müßte, um sich zu überzeugen, daß seine Physiognomie noch die alte geblieben sei. Seit jener Veränderung, die er selbst erlebt hatte, pflegte Brandeis zu sagen, daß die Menschen sich nicht entwickeln, sondern inr Wesen wechseln. Er dachte an einen der Wahnsinnigen seines heimatlichen Dorfes, der nicht müde geworden war, allen Leuten die sterotype Frage zu stellen: "Wieviel bist du? Bist du einer?" Nein, man war nicht einer. Man war zehn, zwanzig, hundert. Je mehr Gelegenheiten das Leben gab, desto mehr Wesen entlockte es uns. Mancher starb, weil er nichts erlebt hatte, und war sein ganzes Leben nur einer gewesen. (Joseph Roth: Rechts und Links, S. 82)


Roth, Joseph: Rechts und Links [7]

  Er fühlte sich in der neue Zeit wie zuhause, und er konservierte seine Jugend und seine Gesundheit, nur um eine noch neuere zu erleben. Wenn er in einer der populärwissenschaftlichen Zeitschriften, die er abonnierte und die er mit einer verschwiegenen Geilheit las, als wären sie Pornographie, die Voraussage einer totalen Sonnenfinsternis in Mitteleuropa zu Ende des dritten Jahrtausends sah, so erschütterte ihn die Unmöglichkeit, tausend Jahre zu leben. (...) Er las mit Begeisterung am Ende eines jeden Jahres die Bilanz der Unglücksfälle und hielt alle überfahrenen Fußgänger für schuldig. Langsam sein und keine Geistesgegenwart haben hieß für ihn, ein Verbrechen gegen das Tempo begehen, das er verehrte. (Joseph Roth: Rechts und Links, S. 111)


Roth, Joseph: Rechts und Links [8]

  Haben sie schon einmal darüber nachgedacht, warum ich so reich geworden bin? Sie halten mich für einen großen Kaufmann? Nicht wahr? Sie irren sich, Herr Oberst! Ich verdanke alles der Widerstandslosigkeit und der Ohnmacht der Menschen und der Einrichtungen. Nichts in dieser Zeit wehrt sich gegen Ihren Druck. Versuchen Sie, einen Thron zu erlangen, und es wird sich ein Land finden, das Sie zum König ausruft. Versuchen Sie, eine Revolution zu machen, und Sie werden das Proletariat finden, das sich erschießen läßt. Bemühen Sie sich, einen Krieg hervorzurufen, und Sie werden die Völker sehen, die gegeneinander ausziehn. (Joseph Roth: Rechts und Links, S. 136f.)


Roth, Joseph: Rechts und Links [9]

  Denn es ist in einer Zeit, in der die Wahrheiten selten werden, nichts so glaubhaft wie ein Gerücht; und je billiger und abenteuerlicher es klingt, desto bereitwilliger empfängt es die Phantasie der romansüchtigen Menschen. Paul Bernheim gehörte zu den gläubigsten Empfängern romanhafter Gerüchte. Er sammelte sie, wie er Anekdoten sammelte, in einem ledergebundenen Büchlein mit Goldschnitt, in das er verborgen zu schauen pflegte, bevor er zu erzählen begann. Sauber geschieden waren in seinem Gehirn die sogenannten Geschichten von der sogenannten Wirklichkeit. Aber es machte ihn glücklich, wenn eine Geschichte in die Wirklichkeit hineinspielte. (Joseph Roth: Rechts und Links, S. 143)


Roth, Joseph: Rechts und Links [10]

  Wenn Carl Enders in die Lage geriet, ein Bild zu kaufen, so achtete er darauf, daß es seinem Verstand und seinen Sinnen widerspreche. Dann war er sicher, ein modernes und wertvolles Kunstwerk gekauft zu haben. Eine lange Übung hatte ihn dazu gebracht, daß seine Wertschätzung automatisch anfing, wo ein Gegenstand sein Mißfallen erregte, und daß er ein empörtes Mißtrauen allem entgegenbrachte, was ihm gefiel. Dieser Methode verdankte er den Ruf, einen "unfehlbaren Geschmack" zu besitzen, und also fuhr er fort, seinem echten Geschmack zuwiderzuhandeln. (Joseph Roth: Rechts und Links, S. 150)


Roth, Joseph: Die zweite Liebe [1]

  Am Morgen erwachte er zugleich mit der Langeweile. E gähnte laut, mit einer schallenden Stimme zuerst, die wie aus einem Trichter kam, dann einem Heulen ähnlich wurde und schließlich in eine Art tremolierendes Winseln ausging. Also schien er den ersten, furchtbar schmerzlichen Schlag von der Langeweile erhalten zu haben. Denn sein Gähnen war nichts anderes als ein herzzerreißender Schmerzenslaut, ein Urschmerzenslaut, die hilflose Klage eines tödlich verwundeten Tiers, von einer grausamen amelodischen Willkür. (Joseph Roth: Die zweite Liebe. Geschichten und Gestalten, S. 84)


Roth, Joseph: Die zweite Liebe [2]

  Der Mensch im Nebenzimmer schien zu warten, ob sich nicht Stimmen von selbst melden würden, ohne seine Aufforderung. Aber es kamen keine. Die Stille war noch stiller als zuvor. Da fing der Mensch zu singen an, falsch, aus seiner unwilligen Kehle, ein Potpourri aus allen Schlagern der letzten zehn Jahre. Er sang sie eigentlich gar nicht, er rief sie nur zu Hilfe. Das, was er sang, verhielt sich zu den richtigen Melodien nur, wie etwa das Stimmen der Instrumente zum Konzert. In seinem Gedächtnis lagen die richtigen Melodien wahrscheinlich zwar aufgestapelt, aber auf dem Weg durch seine Kehle verwandelten sie sich in hilflose Hilferufe. Offenbar dachte er dabei an schöne Abende in der Bar, an zutunliche Mädchen und alle Vorsichtsmaßregeln, die in der Welt gegen die Einsamkeit getroffen werden. (Joseph Roth: Die zweite Liebe. Geschichten und Gestalten, S. 86)


Roth, Joseph: Die zweite Liebe [3]

  [Blues hören] ...saß er jetzt auf dem Bettrand mit leis verträumten Augen. Die fremde, mittels technischer Vollkommenheit entlehnte Wehmut tat ihm wohl, als wäre es seine eigene. Vielleicht war er sogar traurig geworden, vielleicht weinte er sogar. Ja, es ist möglich, daß die Trauer eines fremden schwarzen Volkes, an der er selbst nicht unbeteiligt war, ihm eine eigene, eine Originaltrauer, vortäuschte, deren er kaum fähig gewesen wäre. Und wie andere Menschen sich einen Apparat anschaffen, um sich zu erheitern, so hatte sich der Nachbar Negerplatten gekauft, um sich sozusagen zu ertrauern. Und ich glaubte zu verstehen, warum er so rastlos nach Geräuschen gesucht hatte, einen ganzen Vormittag lang, und warum die Stille ihn so peinigte. Die schöne,weiche, stille Abteilung des menschlichen Herzens, in der sonst die Trauer schlafen soll, war leer: ausgeräumt. Er war ein Mensch dieser Zeit. Er genoß das Leben. Es belustigte ihn. Er erzeugte Geräusche und kostete sie aus. Angst hatte er vor der Stille. (Joseph Roth: Die zweite Liebe. Geschichten und Gestalten, S. 87)


Roth, Joseph: Die Rebellion

  Dennoch litt Herr Arnold an einer chronischen und, wie man sieht, unbegründeten Unzufriedenheit. Er selbst wußte freilich Gründe genug. Einerseits regten ihn die Zeitverhältnisse auf. Er hatte von seinen Ahnen einen ausgeprägten Sinn für Ordnung geerbt, und ihm war, als gingen die Tendenzen der Gegenwart dahin, diverse Ordnungen zu stören. Andererseits näherte er sich jenem Alter eines Familienvaters, in dem eine weibliche Abwechslung zur Erhaltung des inneren Gleichgewichts nötig wird. Dieser Liebesdrang aber verursachte eine gewisse Unsicherheit, welche die Ordnung des Tags und noch mehr der Nacht zu sprengen drohte, und teilte sich allmählich der ganzen Tätigkeit des Herrn Arnold mit, beeinflußte die große Abschlüsse und sogar die Erledigung der Korrespondenz. (Joseph Roth: Die Rebellion, S. 241)


Roth, Joseph: Zipper und sein Vater

  Wenn sie sprach, wurde sie schön. Eine braune Röte kam in ihr Gesicht, ein goldener Glanz in ihre braunen Augen, sie bewegte den kleinen Kopf mit so kunstvoller Heftigkeit, daß ihre Haare in geregelter Wirre in ihre Stirn fielen und an ihrer Heiterkeit teilnahmen. So fand sie oft Gelegenheit, ihre empfindliche Hand, die ein eigenes Gehirn zu haben schien, an das Haar zu führen - eine Bewegung, die jede Frau schön macht. Denn es ist eine intime Bewegung. Sie ist wie der Beginn einer Entkleidung. (Joseph Roth: Zipper und sein Vater)


Roth, Joseph: Zipper und sein Vater [2]

  Sie paßten nicht zueinander, nein, sie paßten nicht zueinander. Aber, wie es so ist, man dachte niemals daran, daß sie zueinander nicht paßten. Es geht uns gewöhnlich so, wenn wir ältere Ehepaare betrachten. Sie stellen ein Fait accompli dar, es ist nicht mehr an ihrer Gemeinsamkeit zu zweifeln. Sie haben schon Kinder, große Kinder. Nichts mehr ist übriggeblieben von den Widerständen, die sie in der ersten Zeit ihrer Ehe gegeneinander zu Felde geführt haben wie Waffen. Beide haben ihre Schärfen abgewetzt, ihre Munition verbraucht. Sie sind zwei alte Feinde, die aus Mangel an Kampfmitteln einen Waffenstillstand schließen, der aussieht wie ein Bündnis. Und man weiß nichts mehr von ihrer alten Feinschaft. Aber in den Augenblicken, die wir fremde Beobachter nicht kennen, gebrauchen sie noch gegeneinander die übriggebliebenen Reste der Waffen, oder sie verwenden andere Geräte, Geräte des Friedens, zum häuslichen Kampf. Sie haben noch aus der Zeit, als ihre Feindschaft jung gewesen, verschiedene Mittel des Hasses, die sich nicht abnützen: ein Lächeln, das gerade dort einsetzt, wenn es den andern schmerzt; ein Wort, das an eine längstvergangene wüste Szene erinnert und das, wieder hervorgeholt, vernarbte Wunden aufreißt; eine Art, einander anzuschauen, die beide erstarren läßt, plötzliche Bewegung, die ihre umnebelte, eingeschlafene Feindschaft jäh erwecken, wie abgeschossene Rakten eine dunkle Situation im Krieg erhellen und seine ganze Schrecklichkeit. So war es mit dem Ehepaar Zipper. Das Angesicht der Frau Zipper wird mir immer in Erinnerung bleiben. Es lag hinter einem feuchten Schleier. Es war, als lägen ihre Tränen, immer bereit, vergossen zu werden, schon über ihrem Augapfel. Sie trug lange blaue Schürzen, die sie einer Krankenschwester zweiter Klasse ähnlich machten. (Joseph Roth: Zipper und sein Vater, S. 441)


Roth, Joseph: Zipper und sein Vater [3]

  Die Träne, die eine Frau aus dem Volk über eine plumpe Tragik vergießt, hat eine gröbere Beschaffenheit als jene, die sie im Anblick einer echten, also stilleren Trauer verlieren könnte. In diesem Stück war Erna nun unmittelbar die Ursache der Stimmungen, die das Publikum beherrschten. Sie spielte ihre Rolle gewiß glaubhafter, als sie der Autor geschrieben hatte. Aber gerade weil sie so außerordentlich geeignet war, die plumpen Absichten eines plumpen Schriftstellers so zu verfeinern, daß sie fast wie künstlicherische erschienen, erkannte ich die Erna aus dem Literatencafe, ertappte ich sie geradezu. Sie besaß etwa die Fähigkeiten einer geschickten Vorstadtmodistin, mit billigem Material nahezu vornehme Wirkungen im Schaufenster zu erzielen. Eine doppelte Möglichkeit zu gefallen. Die Leute sind von der Billigkeit des Stoffs angezogen und von dem falschen Beweis, daß er trotzdem vornehm sein kann. Im Leben war Erna zart. Auf der Bühne erschien sie gebrechlich, aber mit Grazie. Im Leben war sie elastisch und widerstandsfähig. Im Spiel war sie spröde und hilflos. In der Gesellschaft von Männern benahm sie sich so, daß jeder sich mit ihr beschäftigen mußte, ja, daß jeder glaubte, sie hätte ihm ein Amt zugewiesen. Auf der Bühne sah sie so aus, als würden sie alle Männer verlassen, so, daß jeder männliche Gast im Parkett ihr zu Hilfe auf die Bühne hätte eilen mögen. Am Nachmittag sprach sie mit einer tiefen Stimme, die aus dem Herzen zu kommen schien. Am Abend mit einer hohen, hellen, die aus der Angst kam. Die wohlüberlegte Koketterie, mit der sie sich bei Tag klug und geistreich machte, verwandelte sich am Abend in eine andere, aus der eine edle, stille, demütige Einfalt kam. Sprach man mit ihr und kam die Rede auf einen ihr unangenehmen Gegenstand, so wich sie aus, mit der Elastizität eines Gummiballons, der scheinbar nachgibt und die Luft, das Material seines Widerstandes, verbergen kann, ohne sich merklich zu verändern. Spielte Erna aber, so schien es, daß sie sich mit einer wonnigen Ahnungslosigkeit gerade den Gefahren aussetzte, die sie am Tag so vorausschauend abzuwehren wußte. Man hatte Angst um sie. Man wollte ihr zurufen: Gehen Sie nicht! Sagen Sie das nicht! Nehmen Sie sich in acht! Lügen Sie ein bißchen! Ihr, die sich immer in acht nahm und die meistens log, nicht weil sie so viel zu verbergen hatte, sondern weil sie genau wußte, daß die Lüge reizvoller ist als die Wahrheit, auch wenn man diese kennt und jener nicht glaubt. (Joseph Roth: Zipper und sein Vater, S. 510f.)


Roth, Joseph: Zipper und sein Vater [4]

  Sie schlug die Augen im Dialog auf wie im Gebet. Aber es mußte doch schließlich auffallen, daß dieser Blick, der ewig zum Himmel gewandt war, auch wenn es im Text hieß: "Ein Glas Wasser, bitte!", aus einer großen Gleichgültigkeit kam, aus der Seele eines Menschen, der den Himmel mit einem Gartenzaun verwechseln konnte. Man mußte doch hören, daß die Gabe immer flehen zu können, die Fähigkeit des Betens ausschloß! (Joseph Roth: Zipper und sein Vater, S. 511)


Roth, Joseph: Zipper und sein Vater [5]

  Es waren ihre Kollegen aus den benachbarten Villen, lauter Lieblinge des Publikums, dämonische, sarkastische, lyrische, Verführer - und plebejische Typen, Schwerenöter und unwiderstehliche Bezwinger des Schicksals. Ach, wie sahen sie gleichmäßig aus und harmlos! Sie waren nicht geschminkt, es leuchteten keine Lampen, es befahl kein Regisseur. Sie hatten niemanden zu gehorchen als der Sitte, die ihnen befahl, zweimal innerhalb von fünf Jahren zu heiraten und dreimal in einem Jahr bestohlen zu werden. Wenn man sie sah, wie sie Karten spielten, Buki-Domino, wie sie panierte Schnitzel aßen und nach den wehenden Blättern des Salats schnappten, so verstand man nicht, was sie eigentlich dazu trieb, Schauspieler zu sein, durch weite, von Lärm erfüllte, wüste Ateliers zu hasten, in merkwürdigen Kostümen, was sie veranlaßte, Tränen zu vergießen und Throne aus Pappendeckel zu besteigen, auf Pferden zu galoppieren und auf Schiffen unterzugehen; weshalb sie ferner ihr privates Leben in den Glasvitrinen ausstellten, in den Zeitungen druckten, Biograpen mitteilten, einen Klatsch um sich selbst erzeugten, logen und dementierten, sich verliebten - ohne an die Liebe zu glauben - und sich trennten, ohne an die Trennung zu glauben. (Joseph Roth: Zipper und sein Vater, S. 516)


Roth, Joseph: Zipper und sein Vater [6]

  Ich erinnerte mich, daß ich P. immer gemieden hatte aus Angst vor der Höhe, auf der er sich befand und von der es eisig auf mich herabwehte. Schließlich lebt man, ist jung, hat Hoffnungen, möchte zwar ewig dasein, fühlt sich aber dennoch glücklich innerhalb des beschränkten Himmelsrunds, das über ein paar Jahrzehnte menschlichen Lebens gestülpt ist, und will am liebsten nichts wissen, von der Geringfügigkeit, der Bedeutungslosigkeit eines Worts, das man spricht, einer Handlung, die man begeht, eines Schmerzes, den man erleidet. Es war, wenn man mit P. sprach, als blickte man in die Milchstraße und erlebte an hunderttausend Sonnen und an Millionen Planeten das Schicksal, das unserer Sonne und unserer Erde einmal beschieden ist. Seine Unerbittlichkeit war nicht hart und nicht grausam, denn man fühlte, daß sie notwendig war. Aber man mußte wahrscheinlich sehr alt geworden sein, um mit P. überhaupt sprechen zu können. (Joseph Roth: Zipper und sein Vater, S. 541)


Roth, Joseph: Der heilige Trinker [1]

  Dieser kaiserliche Uhrensammler befahl eines Tages seinen Beamten in Galizien, daß sie den Junden deutsche Namen verpassen sollten. Die Beamten, die schon von Berufs wegen nicht viel Phantasie entwickeln durften, behalfen sich bei der Namensgebung mit sehr einfachen Methoden. Zuerst kamen Farben an die Reihe; die Juden erhielten Namen wie Schwarz, Weiß, Grün, Roth; Gelb, Braun und so weiter. Als schon zu´viele Farben herumliefen, hängte man noch ein Wörtchen an die Farben an: Grünstein, Goldstein, Blaustein, Rothstein oder auch Einstein, Ohrenstein, Ehrenstein oder ähnlich. Dann verteilte man Sterne: Morgenstern, Sonnenstern, Glühstern, Unstern oder einfach nur Stern. Man behängte die Juden auch mit Ortsnamen, unabhängig davon, ob sie aus den betreffenden Ortschaften kamen oder nicht. Es entstanden die Familien Czernowitzer, Kattowitzer, Lemberger, Kracauer, Lubliner, Warschauer und noch viele andere, quer durch die Landkarte Galiziens. Manche Beamte machten sich einen Spaß daraus, den Juden "lustige" Namen zu geben, die für die Betroffenen weniger lustig waren. Oder möchten Sie Stuhlgang heißen? Und nun kam Roths Witz: "In Brody war ein besonders bösartiger Beamter tätig, der jedoch im Ruf stand, bestechlich zu sein. Jizchok, der älteste Sohn der Familie, ging mit Herzklopfen aber vollgefülltem Beutel ins Gemeindehaus. Als er nach Hause kam, fragte ihn sein Vater: 'Nun, wie heißen wir?' 'Schweißloch', antwortete der Sohn, sichtlich beschämt. Der Vater schlug die Hände über dem Kopf zusammen. 'Schweißloch? Ein scheußlicher Name! Habe ich dir nicht gesagt, du sollst den Goj schmieren? Wozu hast du das viele Geld mitgenommen?' Der Sohn winkte ab: 'Hast du eine Ahnung, Tate, wieviel Geld allein das 'w' gekostet hat?'" (Géza von Cziffra: Der heilige Trinker. Erinnerungen an Joseph Roth, S. 43)


Roth, Joseph: Der heilige Trinker [2]

  In dieser Zeit, in den Jahren 1919-1920, entwickelte sich Roth unter den Fittichen von Egon Erwin Kisch und vor allem durch die tätige Hilfe eines anderen Pragers, Karl Tschuppik, zu einem ausgezeichneten Journalisten, dessen Berichte aber nicht sachlich und trocken waren, sondern farbig und dichterisch, manchmal allerdings auf Kosten der Tatsachen. Wenn man ihm das mal gelegentlich vorwarf, pflegte Roth sich zu verteidigen: "Es kommt nicht auf die Wahrheit an, sondern auf die innere Wahrheit." Roth hatte seinen eigenen Stil. Er ahmte niemand nach, auch nicht den Kritiker und Essayisten Alfred Polgar, dessen Art zu schreiben er besonders liebte. Roth vergötterte Polgar geradezu und konnte manchmal, seinem Idol zuliebe, ausfallend werden. Sie trafen sich meistens im 'Central' oder im 'Herrenhof' an einen Stammtisch, lauter prominente Journalisten und der 'kleine Roth', der es auch einmal werden wollte. Dort geschah es, daß ein anderer junger Journalist sich auf den Stuhl setzen wollte, von dem Alfred Polgar einige Minuten vorher aufstand. Roth fuhr den jungen Mann an: "Halt! Auf dem Stuhl saß Alfred Polgar. Die Sitzfläche muß von seinem Hintern noch warm sein. Bevor Sie sich setzen, küssen Sie den Stuhl in tiefer Verehrung !" (Géza von Cziffra: Der heilige Trinker. Erinnerungen an Joseph Roth, S. 43)


Roth, Joseph: Der stumme Prophet

  "Sie wissen nicht, Sie wissen nicht", sagte Grünhut. "Sie sind jung. Glauben Sie vielleicht, daß Sie noch zweimal in die Lage kommen werden, zu sagen: ich fahre weit weg? Glauben Sie, das Leben ist unendlich? Es ist kurz und hat ein paar armselige Situation zu verschenken, und die muß man zu schätzen wissen. Zweimal können Sie sagen: ich will, einmal: ich liebe, zweimal: ich werde, einmal: ich sterbe. Das ist alles. Sehen Sie mich an. ich bin gewiß kein beneidenswerter Mann. Aber ich will nicht sterben. Ich kann vielleicht doch noch einmal sagen: ich will, oder: ich werde. Keine große Aussicht vorhanden, aber ich warte." (Joseph Roth: Der stumme Prophet, S. 47)


Roth, Joseph: Barbara

  Philipp hatte keine besondere Vorliebe für einen Beruf, er hatte überhaupt keine Liebe. Am bequemsten war ihm noch die Theologie. Man konnte Aufnahme finden im Seminar und hatte vor sich ein behäbiges und unabhängigges Leben. So glitt er denn, als er das Gymnasium hinter sich hatte, in die Kutte der Religionswissenschaft. Er packte seine kleinen Habseligkeiten in einen kleinen Holzkoffer und übersiedelte in die engbrüstige Stube seiner Zukunft. Seine Briefen waren selten und trocken wie Hobelspäne. (...) Er erzählte von seiner Promotion, zeigte sein Doktordiplom und stand selbst dabei so steif, daß er aussah wie die steife Papierrolle und seine Kutte mit dem Zylinder wie eine Blechkapsel. (...) Zeitweilig verfiel er in einen näselnden, fetten Ton, den er seinen Lehrern abgelauscht und für seine Bedürfnisse zugeölt haben mochte. (Joseph Roth: Barbara)


Roth, Joseph: Barbara [2]

  Barbara war 16 Jahre alt. Sie kam zu einem Onkel, einem dicken Schweinehändler, dessen Hände wie die Pölsterchen "Ruhe sanft" oder "Nur ein halbes Stündchen" aussahen, die zu Dutzenden in seinem Salon herumlagen. Er tätschelte Barbara die Wange,, und ihr schien es, als kröchen fünf kleine Ferkelchen über ihr Gesicht. Die Tante war eine große Person, dürr und mager wie eine Klavierlehrerin. Sie hatte große, rollende Augen, die aus den Höhlen quollen, als wollten sie nicht im Kopf sitzen bleiben, sondern rastlos spazierengehen. Sie waren grünlichhell, von jener unangenehmen Grüne, wie sie die ganz billigen Trinkgläser haben. Mit diesen Augen sah sie alles, was im Hause und im Herzen des Schweinhändlers vorging, über den sie übrigens eine unglaubliche Macht hatte. Sie beschäftigte Barbara, "so gut es ging", aber es ging nicht immer gut. Barbara mußte sich sehr in acht nehmen, um nichts zu zerbrechen, denn die grünen Augen der Tante kamen gleich wie schwere Wasserwogen heran und rollten kalt über den heißen Kopf der Barbara. Als Barbara 20 Jahre alt war, verlobte sie der Onkel mit einem seiner Freunde, einem starkknochigen Tischlermeister mit breiten, schwieligen Händen, die schwer und masiv waren wie Hobel. Er zerdrückte ihre Hand bei der Verlobung, daß es knackte und sie aus seiner mächtigen Faust mit Not ein Bündel lebloser Finger rettete. Dann gab er ihr einen kräftigen Kuß auf den Mund. So waren sie endgültig verlobt. (Joseph Roth: Barbara)


Roth, Joseph: Karriere

  Er war ein ausgezeichneter, prompter und verläßlicher Buchhalter. Gabriel Steiglecker liebte seinen Beruf. Die grüne Tinte bevorzugte er vor der blauen und vor dieser die rote. Aber am liebsten war ihm die violette. Alle Buchhalter der Welt schrieben Zahlen in schwarzer Kaisertinte. Gabriel Stieglecker schrieb grundsätzlich violette Zahlen. Er behauptete, von der violetten Tinte bestimmt zu wissen, daß sie dauerhafter sei als die andere und mit einer unerreichbaren Intensität durch die Poren des Papiers dringe. Ja, es sei sogar anzunehmen, daß mit violetter Tinte geschriebene Ziffern noch lange nach dem völligen Zerfall des Papiers wie transparante Bilder in der Luft fortbeständen. Was die von Gabriel Stieglecker geschriebenen Ziffern selbst betrifft, so ist zu bemerken, daß sie niemals mit andern zu verwechseln waren. Sie hatten persönliche Note, einen Charakter, waren Individualitäten. Die 3 hatte keinen Bauch, die 2 keinen Buckel, die 7 keinen Schwanz. Sondern alle Ziffern hatten 'Linie', waren zart und schlank wie moderne Frauen und konnten an künstlerischem Schwung nur von Modellzeichenungen in den neuesten Modezeitschriften übertroffen werden. (Joseph Roth: Karriere)


Roth, Joseph: Karriere [2]

  Sicherlich würde ihn der Chef, zumindest Herr Reckzügel junior, in das Chefzimmer rufen. Und das Zimmer, ja, das war es, was Gabriel eigentlich fürchtete. Es war eine Doppeltür. Die erste war aus Holz, und die zweite war gepolstert. Sie erinnerte so von ungefähr an eine Kassaschranktür, nur war sie lautlos und vornehm. Wenn man die Tür nur ansah, fühlte man schon weiche Müdigkeit. Sitzend auf gepolsterten Lederstühlen, war man in den vorhypnotischen Zustand versetzt, in den man unbedingt fallen mußte, wenn der Herr Reckzügel jemanden anredete. (Joseph Roth: Karriere)


Roth, Joseph: Das Kartell

  Kein Wunder, daß ganz Massachusetts sie kannte. Die ältliche Miß Lawrence, die flach war wie ein Dielenbrett, konnte logisch sein, konsequent und unerbittlich wie ein algebraisches Lehrbuch. Niemand wagte mit ihr zu diskutieren. Mit ihrer haarscharfen Logik spaltete sie jeden Gegner in zwei Hälften von wunderbarer Ebenmäßigkeit. - Die noch junge, aber lederne Miß Esther Smith kannte alle Denker dreier Jahrhunderte auswendig und goß Bottiche von zwingenden Zitaten über die Köpfe ihrer Feinde, daß sie in die Knie sanken und um Gnade flehten. - Miß Ethel Fisher, die Tochter des Wursthändlers Fisher, war gefürchtet wegen ihrer geradezu übermännlichen Grobheit. Ihre Worte waren wuchtig und klotzig wie die Hämmer, mit denen die Arbeiter ihres Vaters die Pferdehäute zu Wurst faschiertem. Aber was waren sie alle gegen die übernatürlichen Eigenschaften der Miß Sylvia! Miß Sylvia war von einer siegverheißenden Glorie umstrahlt. Von ihrem Wesen ging Sieg aus. Sie atmete Sieg. (Joseph Roth: Das Kartell)


Roth, Joseph: Der blinde Spiegel

  Rührung überfällt uns in der klaren Nachtluft, wenn die Sehnsucht aus den blauen Gründen zu uns kommt und am Fenster der Pfiff einer weitrollenden Lokomotive hängenbleibt, auf dem Bürgersteig gegenüber liebesdurstig eine Katze schleicht, in einem Kellerfenster verschwindet, hinter dem der Kater lauert. Groß und sternenreich ist der Himmel über uns, zu hoch, um gütig zu sein, zu schön, um nicht einen Gott zu erhalten. Die nahen Kleinigkeiten und die ferne Ewigkeit haben einen Zusammenhang, und wir wissen nicht, welchen. Vielleicht wüßten wir ihn, wenn die Liebe zu uns käme; sie ist mit den Sternen verwandt und mit dem Schleichen der Katze, mit dem Pfiff der Sehnsucht und mit der Größe des Himmels. (Joseph Roth: Der blinde Spiegel)


Roth, Joseph: Das reiche Haus gegenüber

  Ich war um jene Zeit, in der ich das Folgende erlebt habe, nicht reich und nicht arm. Es ging mir nicht so schlecht, daß ich etwa im Anblick reicher Häuser und Menschen dem Neid anheimgefallen wäre, den man den Trost der Armen nennen könnte. Es ging mir andererseits nicht so gut, daß ich den Anblick des Reichtums gleichgültig hätte bleiben können. Ich befand mich vielmehr gerade in jener Situation, in der man die Nähe des Reichtums freiwillig aufsucht, in einer Art geheimer uhnd sorgfältig vor sich selbst verschwiegener Hoffnung, daß man einmal oder sogar bald selbst sich seiner wird bedienen können. (...) Ich fand ein kleines Hotel, das sich von all den andern, die ich früher bewohnt hatte, nur dadurch unterschied, daß es in einem reichen Viertel stand. Meine Nachbarn waren herabgekommene Reiche, welche die Nähe des Geldes nicht aufgeben wollten, weil sie offenbar glaubten, sie brauchten in einem geeigneten Augenblick weniger Zeit und Umwege, es wieder zu erreichen. (Joseph Roth: Das reiche Haus gegenüber)


Roth, Joseph: Die Kapuzinergruft

  Es war Sitte in unserem Haus, während des Essens die Speisen zu loben, auch, wenn sie mißraten waren, und von nichts anderem zu sprechen. Auch durfte das Lob keineswegs etwa banal sein, eher schon kühn und weit hergeholt. So sagte ich zum Beispiel, das Fleisch erinnerte mich an ein ganz bestimmtes, das ich von sechs oder acht Jahren, ebenfalls an einem Dienstag, gegessen hätte, und das Dillenkraut sei geradezu, heute wie damals, mit dem Beinfleich vermählt. Völlige Sprachlosigkeit spielte ich vor den Zwetschgenknödeln: "Bitte, genau die gleichen, sobald ich zurück bin", sagte ich zu Jacques. "Wie befohlen, junger Herr!" sagte der Alte. (Joseph Roth: Die Kapuzinergruft, S. 79)


Roth, Joseph: Die Kapuzinergruft [2]

  Wir gewöhnten uns alle an das Ungewöhnliche. Es war ein hastiges Sich-Gewöhnen. Gleichsam ohne es zu wissen, beeilten wir uns mit unserer Anpassung, wir liefen geradezu Erscheinungen nach, die wir haßten und verabscheuten. Wir begannen unsern Jammer sogar zu lieben, wie man treue Feinde liebt. Wir vergruben uns geradezu in ihn. Wir waren ihm dankbar, weil er unsere kleinen besonderen persönlichen Kümmernisse verschlang, er, ihr großer Bruder, der große Jammer, demgegenüber zwar kein Trost standhalten konnte, aber auch keine unserer täglichen Sorgen. Man würde meiner Meinung nach auch die erschreckende Nachgiebigkeit der heutigen Geschlechter gegenüber ihren noch schrecklicheren Unterjochern verstehen und gewiß auch verzeihen, wenn man bedächte, daß es in der menschlichen Natur gelegen ist, das gewaltige, alles verzehrende Unheil besonderen Kummer vorzuziehen. Das ungeheuerliche Unheil verschlingt rapide das kleine Unglück, das Pech sozusagen. Und also liebten wir in jenen Jahren den ungeheuren Jammer. (Joseph Roth: Die Kapuzinergruft, S. 143)


Roth, Joseph: Stationschef Fallmeraye

  Nach allem, was Menschen voneinander wissen können, wäre es unmöglich gewesen, Fallmerayer ein ungewöhnliches Geschick vorauszusagen. Dennoch erreichte es ihn, es ergriff ihn - und er selbst schien sich ihm sogar mit einer gewissen Wollust auszuliefern. Seit 1908 war er Stationschef. Er heiratete, kurz nachdem er seinen Posten auf der Station L. an der Südbahn, kaum zwei Stunden von Wien entfernt, angetreten hatte, die brave und ein wenig beschränkte, nicht mehr ganz junge Tochter eines Kanzleirats aus Brunn. Es war eine "Liebesehe" - wie man es zu jener Zeit nannte, in der die sogenannten "Vernunftsehen" noch Sitte und Herkommen waren. Seine Eltern waren tot. Fallmerayer folgte, als er heiratete, immerhin einem sehr maßvollen Zuge seines maßvollen Herzens, keineswegs dem Diktat seiner Vernunft. Er zeugte zwei Kinder - Mädchen und Zwillinge. Er hatte einen Sohn erwartet. Es lag in seiner Natur begründet, einen Sohn zu erwarten und die gleichzeitige Ankunft zweier Mädchen als eine peinliche Überraschung, wenn nicht als eine Bosheit Gottes anzusehen. (Joseph Roth: Stationschef Fallmerayer)


Roth, Joseph: Die Büste des Kaisers

  Franz Xaver erhob sich. Er sah in der Mitte der länglichen Bar eine größere, heitere Gesellschaft. Sein erster Blick verriet ihm, daß alle Typen, die er haßte, obwohl er bis jetzt keinem einzigen ihrer Vetreter näher begegnet war, an jenem Tisch vertreten waren: blondgefärbte Frauen in kurzen Röcken und mit schamlosen (übrigens häßlichen) Knien, schlanke und biegsame Jünglinge von olivenfarbenem Teint, lächelnd mit tadellosen Zähnen wie die Propagandabüsten mancher Dentisten, gefügig, tänzerisch, feige, elegant und lauernd, eine Art tückischer Barbiere; ältere Herren mit sorgfältig, aber vergeblich verheimlichten Bäuchen und Glatzen, gutmütig, geil, jovial und krummbeinig, kurz und gut: eine Auslese jener Art von Menschen, die das Erbe der untergegangenen Welt vorläufig verwalteten, um es ein paar Jahre später an die no ch moderneren und mörderischen Erben mit Gewinn abzugeben. (Joseph Roth: Die Büste des Kaisers)


Roth, Joseph: Perlefter [1]

  Dennoch kann ich nicht umhin, zu erzählen, daß ich meine Achtung vor Alexander Perlefter zum ersten Mal verlor, als ich von dem großen mazedonischen König Alexander hörte, der den gordischen Knoten mit dem Schwerte zerhieb, und als ich mir vorstellte, daß der Herr Perlefter etwas ähnliches niemals getan hätte. Im Gegenteil: Alexander Perlefter liebte, wie ich schon einmal erzählt habe, nicht die entschiedenen Handlungen und die unwiderruflichen Entschlüsse. Er ging nicht gerne in jene Gegenden, aus denen keine geraden und bequemen Wege zurückführen. Er liebte es, auf den Brücken zu verweilen, die das Hier mit dem Dort verbinden und demjenigen, der sie betritt, es gestatten, sich weder für das Hier noch für das Dort zu entscheiden. Alexander Perlefter ging immer über Brücken. Alles, was er erreichte, hatte er seiner vorsichtigen Natur zu verdanken. Er war das Resultat seiner eigenen Erfahrungen. Er blieb vorsichtig. (Joseph Roth: Perlefter. Fragmente und Feuilletons aus dem Nachlaß)


Roth, Joseph: Perlefter [2]

  Die körperliche Größe Perlefters war unbestimmt. Er konnte ganz klein gewachsen scheinen und wiederum sehr groß. Wenn er unglücklich war, aber auch, wenn er vorgab, es zu sein, sank er in sich zusammen, wie ein Körper aus schlaffem Gummi. Er konnte manchmal auf einem kleinen Kinderstuhl Platz finden und ein anderes Mal einen großen ledernen Klubsessel ausfüllen. (...) Er hatte einen runden und kahlen Kopf und über dem Nacken eine kleine glänzende Beule, so, daß es aussah, als hätte das Gehirn in seiner natürlichen Schale keinen Platz gefunden und sich eine Art Nebengelaß selbst geschaffen. (Joseph Roth: Perlefter. Fragmente und Feuilletons aus dem Nachlaß)


Roth, Joseph: Perlefter [3]

  Perlefter besaß trotz allem eine Art Majestät, wie den meisten Menschen, denen es gut geht. Es war nicht die Majestät der Größe, aber einfach die des Wohlergehens. Er sah ganz unschuldig aus, wenn er sich freute, wie ein pauspäckiges Kind. Und dennoch schlummerte schon die Bitterkeit in seiner Freude. Und ebenso, wie er die entschiedenen Taten nicht liebte, hatte er keine entschiedenen Empfindungen. Wenn er sich freute, machte er sich zugleich Sorgen. Wenn er tief bekümmert war, hoffte er schon. (Joseph Roth: Perlefter. Fragmente und Feuilletons aus dem Nachlaß)


Roth, Joseph: Perlefter [4]

  Der Redakteur Philippi war die letzte Instanz, und er war es mit Recht. Denn er bekleidete bei einem der größten Blätter die Stelle eines Handelsredakteur. Niemand konnte ihm etwas nachsagen. Allen konnte er etwas nachsagen. Dennoch tat er es nicht oft. Er sah sehr dumm aus und war sehr schlau. Er trug einen kleinen gepflegten Spitzbart von unbestimmter, ein bißchen grünlicher Farbe. Seine großen sanften braunen Augen standen wie tote lackierte Kugeln. Er sprach nur, wenn er gefragt wurde. Sommer und Winter trug er Gummischuhe. Ein Zwicker baumelte an einem dünnen Bändchen über der geblümten Weste mit Perlmutterknöpfchen. Er saß gerne am äußersten Stuhlrand. Es war, als wollte er am Sitz sparen. Er war ein Junggeselle. Man munkelte etwas von einem intimen Verhältnis mit der Wirtschafterin und zwei unehelichen Söhnen. Dieser Handelsredakteur war unbedingt geheimnisvoll. Man hätte ihn bestimmt nicht geliebt, wenn man ihn nicht so oft gebraucht hätte. Ja, man liebte ihn wahrscheinlich gar nicht, aber man brauchte ihn sehr oft. Er hatte "Einfluß". Er war die vornehmste Bekanntschaft Perlefters. Man gab ihm oft und laut den Titel "Redakteur", der gar kein Titel war. Oder man tat, als wüßte man nicht, daß er nicht Doktor war und nannte ihn Herr Doktor. Er lehnte beide Titel ab. Er lächelte dumm, mit seinen glotzenden Kugelaugen, aber seiner Dummheit war nicht zu trauen. Man sagte von ihm, daß er ein Ehrenmann sei. Er machte keine Geschäfte. Er lebte wirklich sehr bescheiden, er trug immer die Gummischuhe, um Stiefel zu sparen und weil seiner Meinung nach die Straßen so schmutzig waren. (Joseph Roth: Perlefter. Fragmente und Feuilletons aus dem Nachlaß)


Roth, Joseph: Perlefter [5]

  Ja, es ist sogar mir selbst rätselhaft geblieben, woher Perlefter den Mut nahm, Vergnügen zu suchen, die eigentlich Gefahren bedeuteten und, was noch schlimmer ist: sich Gefahren auszusetzen, die Geld kosteten. Denn sie kosteten Geld. Perlefter war keineswegs so verführerisch, daß sich ihm die Frauen an den Hals geworfen hätten, nein! Perlefter mußte alles weit über den Wert bezahlen. Und dennoch scheint es in der menschlichen Natur begründet zu sein, daß ihr Trieb zur Liebe stärker ist, als ihr Trieb zur Sparsamkeit. Wahrscheinlich verlieren selbst so ängstliche Menschen wie Perlefter jede Angst, wenn die Stunde ihrer Leidenschaft geschlagen hat. Und gewiß ist die Tugend eines Mannes nicht seine verläßlichste Begleiterin. Das ganze kunstvolle und mühselige Gebäude der Sittlichkeit stürzt in einer einzigen Stunde zusammen. Wunderbar ist nur, wie leicht es sich wieder zusammenfügen und erheben kann. Perlefter hatte oft jene Stunden, die man "schwache" nennt und die eigentlich seine stärksten waren. Perlefter hatte Verlangen nach Frauen. Zum Glück gab es in der Welt Frauen, die Verlangen nach Geld hatten. Und zum Glück besaß Perlefter Geld. (Joseph Roth: Perlefter. Fragmente und Feuilletons aus dem Nachlaß)


Roth, Joseph: Perlefter [6]

  Die Familie war überzeugt, daß Perlefter schwer arbeitete, daß er nicht schlief, daß er unaufhörlich um das tägliche Brot kämpfte, daß ihm jede Ausgabe neue Sorgen machte. Deshalb machte die Familie keine einzige Ausgabe ohne Sorgen. Es gab in diesem Hause keine Freude, an deren Seite nicht nicht der Gram stand; kein Fest ohne Schmerz; keinen Geburtstag ohne Krankheit; keinen Wein ohne Wermut. Man kochte, buk, schaffte Wäsche und Kleider an, Möbel, Teppiche und Schmucksachen --, aber nichts von all den Dingen in Ausmaßen, die wenigstens eine leise Ahnung von Überfluß hätten aufkommen lassen. Es reichte niemals und nirgends. Es gab einen guten Kuchen, aber in so dünnen Scheiben, daß man seine Qualität gar nicht schmeckte. Man kaufte gutes Fleisch und zerhackte es in winzige Portionen. Man kochte eine Suppe, die Aufsehen erregt hätte, wenn man dazu gekommen wäre, sie zu kosten. (Joseph Roth: Perlefter. Fragmente und Feuilletons aus dem Nachlaß)


Roth, Philip: Tatsachen [1]

  Die Kurse, zu denen ich mich hingezogen fühlte, verkörperten in typischer Weise all das, was der Markt als wertlos verachtete, und da lebte ich nun inmitten seiner begeistertsten Anhänger - der unrebellischen Söhne und Töchter des Amerika des Stats quo zu Beginn der Ära Eisenhower - in der Gewißtheit, daß es der Geist war und nicht das Geld, was dem Leben Sinn gab, und studierte mit tödlichem Ernst Literaturwissenschaft, Modernes Denken, Shakespeare für Fortgeschrittene und Ästhetik. (Philip Roth: Tatsachen. Autobiografie eines Schriftstellers, S. 78)


Roth, Philip: Tatsachen [2]

  Meine Mutter glaubte, daß sich bei Sandy und mir die künstlerischen Neigungen aus jener genetischen Anlage herleiteten, die die einsame Laufbahn meines Onkels Mickey bestimmt hatte, und soweit ich das beurteilen kann, hatte sie recht. Als Frau von ausgeprochen häuslicher Erfahrung und wohltuender Weltfremdheit, ermutigend selbstsicher bis an die äußersten Grenzen unserer gesellschaftlicher Welt, jedoch jenseits davon bei aller Achtbarkeit zunehmend unsicher, war meine Mutter uneingeschränkt stolz auf meine ersten veröffentlichten Erzählungen. Sie hatte keine Vorstellung davon, daß an ihnen etwas ernstlich Anstößiges sein könnte, und wenn sie in der jüdischen Presse auf Artikel stieß, in denen angedeutet wurde, daß ich ein Verräter sein, verstand sie nicht, wovon meine Verleumder überhaupt sprachen. Als sie einmal im Zweifel war - nachdem eine herabsetzende Bemerkung sie erschütterte hatte, die ihr bei einer Hadassah- Versammlung zu Ohren gekommen war -, fragte sie mich, ob es möglicherweise wahr sein könne, daß ich ein Antisemit sei, und als ich lächelte und verneinend den Kopf schüttelte, war sie völlig zufriedengestellt. (Philip Roth: Tatsachen. Autobiografie eines Schriftstellers, S. 143f.)


Roth, Philip: Tatsachen [3]

  Trotz alldem, was wir Juden nicht essen durften - außer im chinesischen Restaurant, wo das Schweinefleisch als blinder Passagier in der Frühlingsrolle daherkam, und an der Jersey-Küste, wo die Muscheln sich ungesehen in den Tiefen der Chowder-Suppe tarnten - trotz all unserer Tabus und Verbote und der Selbstverleugnung, der wir uns rühmten, pulsierte durch unser tägliches Leben doch ein entschieden nicht zu unterdrückendes Ungestüm, das sogar den quälenden Verdruß, in die Hebräisch-Schule gehen zu müssen, während man doch "auf dem Platz" sein und Left End und First Base hätte spielen können, in ein unvorhersehbar paradoxes Theater verwandelte. (Philip Roth: Tatsachen. Autobiografie eines Schriftstellers, S. 146)


Roth, Philip: Tatsachen [4]

  Was immer es sonst für meine Generation bedeutet haben mag, als Jude in Amerika aufzuwachsen - woran ich mich aus meiner Zeit in der Hebräisch-Schule noch erinnern kann, ist, daß es meist unterhaltsam zuging. Ich glaube nicht, daß ein englisches jüdisches Kind unbedingt so empfunden hätte, und es versteht sich, daß östlich von England als Jude aufzuwachsen für Millionen jüdischer Kinder tragisch war. Und das verstanden wir offenbar, auch ohne daß man es uns hätte sagen müssen. (Philip Roth: Tatsachen. Autobiografie eines Schriftstellers, S. 147)


Roth, Philip: Tatsachen [5]

  Menschen, die zivilisiert sind, lassen sich immer dazu bereden, irgendwie zu sein, wie sie gar nicht sein wollen, und zwar von Menschen, die nicht zivilisiert sind. Menschen sind schrecklich schwach. Ich weiß, es ist eine bequeme analytische Formulierung, daß man nichts tut, ohne es zu wollen. Doch dabei übersieht man die Tatsache, daß Menschen eben auch schwach sind und sich von irgendeinem Punkt an Dinge einfach gefallen lassen. Ich fürchte, ich bin eine Autorität auf diesem Gebiet. (Philip Roth: Tatsachen. Autobiografie eines Schriftstellers, S. 224)


Roth, Philip: Tatsachen [6]

  "Manchmal glaube ich, daß Männer Frauen gegenüber eine tiefsitzende Neurose haben", sagte Maria zu mir. "Es ist eher eine Art von Verdacht, ich würde kein Geld drauf wetten, aber ich glaube - verzeih den kindischen Charakter dieser Bemerkung-, aber dadurch, daß ich alle möglichen Bücher gelesen habe, und aufgrund von Erfahrung habe ich tatsächlich das Gefühl, Männer haben vor Frauen ein bißchen Angst. Und daß sie sich deshalb so verhalten, wie sie sich verhalten." (Philip Roth: Tatsachen. Autobiografie eines Schriftstellers, S. 227)


Roth, Philip: Operation Shylock [1]

  Aharon repräsentierte für mich jemanden, der in seiner Reifezeit von der schlimmstmöglichen Grausamkeit erschüttert worden war und es trotzdem geschafft hatte, seine Gewöhnlichkeit wiederzuerringen, und zwar durch seine Außergewöhnlichkeit; er war jemand, dessen Sieg über die Vergeblichkeit und das Chaos und dessen Wiedergeburt als ein harmonischer Mensch und bedeutender Schriftsteller eine Leistung darstellten, die für mich an das Wundersame grenzte, und das um so mehr, als sie aus einer inneren Kraft erwuchs, die für das bloße Auge ganz und gar unsichtbar war. (Philip Roth: Operation Shylock. Ein Bekenntnis, S.59)


Roth, Philip: Operation Shylock [2]

  Ihre unmittelbare physische Realität war so stark und erregend - und verwirrend -, daß es fast so war, als säße man dem Mond gegenüber am Tisch. Sie war etwa fünfunddreißig Jahre alt, eine sinnlich gesund aussehende Frau von kreatürlicher Weiblichkeit, und es wäre nicht unpassend gewesen, ihr um den festen, rosigen Hals das Band mit dem ersten Preis der Landwirtschaftsmesse zu legen - das war eine biologische Siegerin, das war jemand, der gut beieinander war. (Philip Roth: Operation Shylock. Ein Bekenntnis, S.97)


Roth, Philip: Zuckermans Befreiung [1]

  Während der Arbeit zu pfeifen, war in seiner Familie sehr beliebt gewesen, und sein Vater hatte, nachdem ein Jahrzehnt lang "Bei mir bist du schön" sein Lieblingssong gewesen war, jahrelang "Zena, Zena" gepfiffen. "Dieses Lied", erklärte Dr. Zuckerman seiner Familie, "wird mehr Sympathie für die Sache der Juden wecken als sonst etwas in der Geschichte der Menschheit." Sogar die Plattenaufnahme hatte sich der Fußpfleger besorgt - so ungefähr die fünfte Schallplatte seines Lebens. Nathan, damals Collegestudent im zweiten Jahr, verbrachte die Weihnachtsferien zu Hause, und jeden Abend wurde nach dem Essen "Zena, Zena" gespielt. "Das ist das Lied", sagte Dr. Zuckerman, "das den Staat Israel auf die Landkarte bringen wird." Unglücklicherweise hatte Nathan in seinem "Humanities"-Kursus gerade etwas über den Kontrapunkt gelernt, und als Dr. Zuckerman den Fehler beging, seinen ältesten Sohn jovial zu fragen, wie ihm denn diese Musik gefiele, erhielt er die Antwort, Israel Zukunft werde durch die internationale Machtpolitik bestimmt und nicht dadurch, daß man die Gojim mit "jüdischem Kitsch" füttere. (Philip Roth: Zuckermans Befreiung, S. 149)


Roth, Philip: Zuckermans Befreiung [2]

  Henry war der brave Sohn, aber billig war ihn das nicht zu stehen gekommen - jedenfalls neigte Nathan zu dieser Meinung. Von allen Männern in der Familie Zuckerman war Henry der größte, der dunkelste und der bei weitem attraktivste - ein dunkelhäutiger, viriler Wüsten-Zuckerman, dessen Gene (was in dieser Sippe einzigartig war) sich anscheinend schnurstracks von Judäa nach New York begeben hatten, ohne den Umweg über die Diaspora zu machen. (Philip Roth: Zuckermans Befreiung, S. 239)


Roth, Philip: Zuckermans Befreiung [3]

  Mrs. Zuckerman schwankte, als sie am Grab stand, aber da sie während der Krankheit ihres Mannes abgemagert war und jetzt nur noch knapp hundert Pfund wog, war es für Henry und Nathan kein Problem, sie auf den Beinen zu halten, bis der Sarg hinabgesenkt worden war und sie alle vor der Gluthitze in den Schatten fliehen konnten. Hinter sich hörte Zuckerman Essie zu Mr. Metz sagen: "All diese Worte, all diese Grabreden, all diese Zitate - ganz gleich, was sie aussagen, es ist eben doch endgültig vorbei." Als Essie vorhin aus der Limousine gestiegen war, hatte sie Nathan ihren Kommentar zu der letzten Fahrt des Mannes im Leichenwagen gegeben: "Man fährt spazieren und bekommt nichts von der Gegend zu sehen." Ja, Essie und er waren diejenigen, die einfach alles aussprachen. (Philip Roth: Zuckermans Befreiung, S. 246)


Roth, Philip: Professor der Begierde [1]

  Wie kann mein Verlangen nach diesem Schoß, der da so aufreizend auf den Mund des heulenden Mobs zuzuckt, wie kann mein Verlangen nach diesen langen und knabenhaft kräftigen Beinen, die beim Brückemachen kaum merklich zittern, während ihr seidiges Haar (dem sie ihren Spitznamen verdankt) von hinten über den Boden der Turnhalle fegt - wie kann mein Verlangen, das auch noch auf die leisesten Pulsschläge ihres Seins gerichtet ist, 'bedeutungslos' oder 'trivial', 'unter' meiner oder ihre Würde sein. (Philip Roth: Professor der Begierde, S. 34)


Roth, Philip: Professor der Begierde [2]

  In diese Richtung gehen auch meine Argumente gegenüber Silky persönlich, und mit ihrer Hilfe hoffe ich mit der Zeit (ach, der Zeit! diese stundenlangen Streitgespräche, die man hätte nutzen können, sich gegenseitig zu einem ozeanischen Orgasmus hinaufzusteigen!) den Weg freizumachen für jene durchdringenden erotischen Freuden, die ich immer noch nicht kennengelernt habe. Statt dessen muß ich Logik, Witz, Aufrichtigkeit und - jawohl - auch literarisches Wissen, muß ich jeden vernünftigen Überredungsversuch wie letzten Endes auch alle Würde hintanstellen, muß ich zuletzt erbärmlich und verzagt wie ein streunender Köter bei einer Hungersnot vor Silky winseln, bis diese, die vermutlich noch nie zuvor jemand so unglücklich gesehen hat wie mich, mir gestattet , Küsse auf ihr nacktes Zwerchfell herabregnen zu lassen. (Philip Roth: Professor der Begierde, S. 34)


Roth, Philip: Professor der Begierde [3]

  Obgleich mein Ordinarius, Arthur Schonbrunn, ein gutaussehender, außerordentlich soignierter Mann mittlerer Jahre ist, der über einen nie versagenden Charme und eine stets gleichbleibende Gewissenhaftigkeit verfügt - das gewandteste und anmutigste Gesellschaftstier, das ich je erlebt habe - ist seine Frau Deborah jemand, für den ich mich nie recht habe begeistern können, nicht einmal, als ich Arthurs Lieblingsstudent war und sie häufig die sehr warmherzige und großzügige Gastgeberin spielte. In jenen ersten Jahren in Stanford verbrachte ich sogar einen bestimmten Teil meiner Zeit damit, mir vorzustellen, was einen Mann von so betonter Liebenswürdigkeit, der so unermüdlich und aus den hehrsten Prinzipien heraus gegen die sich häufenden politischen Angriffe auf den Lehrstoff der Universität Front machte - was nur einen so gewissenhaften Mann an eine Frau binden könne, deren Lieblingsbeschäftigung in der Öffentlichkeit es war, die Rolle einer etwas überkandidelten Dame zu spielen, deren bestrickender Charme in rücksichtsloser und frecher 'Offenheit' bestand. (Philip Roth: Professor der Begierde, S. 149)


Roth, Philip: Professor der Begierde [4]

  Obgleich Claire den Hörer auf der anderen Seite des Küchentisches ans Ohr hält, kann ich verstehen, was als nächstes kommt. Das kommt daher, weil mein Vater an Ferngespräche genauso herangeht wie an so viele andere Dinge, die über seinen Horizont gehen - in dem Glauben nämlich, daß die elektrischen Wellen, die seine Stimme hierhertragen, es ohne seine rückhaltlose und uneingeschränkte Unterstützung nicht schaffen würden. Nicht ohne harte Arbeit. (Philip Roth: Professor der Begierde, S. 276)


Roth, Philip: Jedermann [1]

  Wenn die Kundinnen sie darum baten, legten die Mädchen probeweise einzelne Schmuckstücke an und führten sie ihnen vor, und wenn wir Glück hatten, kauften die Frauen am Ende etwas. Wie mein Vater zu sagen pflegte: Wird ein Schmuckstück von einer hübschen jungen Frau getragen, bilden andere Frauen sich ein, sie sähen mit diesem Schmuck auch so aus. Manche Hafenarbeiter, die bei uns Verlobungs- oder Eheringe für Freundinnen kaufen wollten, waren so verwegen und nahmen die Hand einer Verkäuferin, um den Stein aus der Nähe zu begutachten. Auch mein Bruder hielt sich gern in der Nähe dieser Mädchen auf, und das schon lange bevor er auch nur ahnen konnte, was ihm daran so besonders gefiel. (Philip Roth: Jedermann, S. 15)


Roth, Philip: Jedermann [2]

  Sein Vater war in den letzten zehn Jahren seines Lebens fromm geworden, und seit er im Ruhestand lebte und seine Frau verloren hatte, hatte er sich angewöhnt, mindestens einmal täglich die Synagoge zu besuchen. Lange vor Beginn seiner letzten Krankheit hatte er den Rabbiner gebeten, die Beisetzungsfeier auf hebräisch abzuhalten, als sei das Hebräische die stärkste Antwort, die man dem Tod geben könne. (Philip Roth: Jedermann, S. 53)


Roth, Philip: Jedermann [3]

  Er hatte Kramer, der in einem Slum bei Neptune aufgewachsen war, noch gut in Erinnerung: ein stämmiger, kahlköpfiger, eigensinniger Mann mit einem ausgeprägt forschen Gang. (...) ... bis ihn ein Hirntumor niederstreckte und er sich von seiner Frau im Rollstuhl durchs Dorf schieben lassen mußte. Selbst noch im Ruhestand hatte er das Gebaren eines allmächtigen Mannes an den Tag gelegt, der sein ganzes Leben einer wichtigen Mission gewidmet hatte, doch in diesen elf Monaten vor seinem Tod schien er vollkommen verwirrt, betäubt von seiner Schwächung, betäubt von seiner Hilfslosigkeit, betäubt von der Vorstellung, daß der Sterbende, der da gelähmt im Rollstuhl saß - ein Mann, der nicht mehr in der Lage war, einen Tennisball zu schmettern, ein Segelboot zu steuern, ein Flugzeug zu fliegen oder auch nur eine Seize des "Monmouth County Bugle" zu redigieren -, seinen Namen trug. (...) Viele Leute kannten Kramer und bewunderten ihn, wollten ihm auf der Straße hallo sagen und sich nach seinem Befinden erkundigen, aber oft mußte seine Frau abweisend den Kopf schütteln, wenn er sich wieder einmal in der tiefsten Verzweiflung befand - der ätzenden Verzweiflung eines Mannes, der einst hochgemut im Mittelpunkt von allem gestanden hatte und sich jetzt im Mittelpunkt von nichts befand. Der jetzt selbst ein Nichts war, nichts als eine unbewegliche Null, die zornig auf die Gnade der absoluten Auslöschung wartete. (Philip Roth: Jedermann, S. 86f.)


Roth, Philip: Jedermann [4]

  Nach allem, was er ihr durch seinen Verrat an Phoebe angetan hatte, wollte sie ihn immer noch lieben. So war sie schon seit ihrem zehnten Lebensjahr - rein und vernünftigt, besudelt allein von ihrem verschwenderischen Edelmut, arglos jedlichen Kummer vermeidend, indem sie die Fehler aller, an denen ihr etwas lag, ignorierte und die Liebe über alles stellte. Indem sie Vergebung zu Ballen packte wie Heu. (Philip Roth: Jedermann, S. 103)


Roth, Philip: Jedermann [5]

  Als Nancy sich nach seiner Arbeit erkundigte, erklärte er ihr, er habe "eine irreversible ästhetische Vasektomie" hinter sich. "Irgend etwas wird dich schon wieder in Gang bringen." sagte sie und quittierte seine hyperbolische Ausdrucksweise mit einem absolvierenden Lachen. Sie war durchdrungen vom freundlichen Wesen ihrer Mutter, von der Unfähigkeit, sich von den Bedürfnissen eines anderen abzuwenden, von der tagtäglichen staubgeborenen Lebensfreude, die er katastrophal unterschätzt und weggeworfen hatte - weggeworfen, ohne auch nur ansatzweise zu erkennen, worauf er in der Folge alles verzichten mußte. (Philip Roth: Jedermann, S. 102)


Roth, Philip: Das sterbende Tier [1]

  Sie ist eine von denen, die impressionistische Kunst überwältigend finden, doch einen kubistischen Picasso muß sie lange und eingehend - und stets mit einem Gefühl qualvoller Verwirrung - betrachten und sich die allergrößte Mühe geben, ihn zu verstehen. Sie wartet auf die überraschende neue Empfindung, den neuen Gedanken, das neue Gefühl, und wenn diese sich nicht einstellen, verurteilt sie sich dafür, daß sie unfähig ist, daß es ihr mangelt... mangelt an was? Sie verurteilt sich dafür, daß sie nicht einmal weiß, woran es ihr mangelt. Beim Anblick eines auch nur entfernt modernen Kunstwerks ist sie nicht nur verwirrt, sondern auch enttäuscht von sich selbst. Sie hätte so gerne, daß Picasso für sie bedeutsamer wäre, daß er vielleicht ihr Leben verändern würde, doch vor dem Proszenium des Genies hängt ein Schleier, der ihr die Sicht nimmt und ihre Verehrung ein bißchen auf Distanz hält. Sie gibt der Kunst in all ihren Erscheinungsformen weit mehr, als sie zurückbekommt - eine Ernsthaftigkeit, die nicht ohne einen gewissen ergreifenden Reiz ist. (Philip Roth: Das sterbende Tier, S. 12)


Roth, Philip: Das sterbende Tier [2]

  Die Eifersucht. Die Ungewißheit. Die Angst, sie zu verlieren, obgleich ich gerade auf ihr lag. Es waren Obesessionen, wie ich sie in meinem an Erfahrung reichen Leben nie gekannt hatte. Bei Consuela geschah, was bei keiner anderen geschehen war: Mein Selbstvertrauen sackte beinahe sofort in sich zusammen. Wir gingen also miteinander ins Bett. Es passierte ganz schnell, weniger wegen meiner Berauschtheit als vielmehr wegen ihres Mangels an Komplexität. (Philip Roth: Das sterbende Tier, S. 35)


Roth, Philip: Das sterbende Tier [3]

  Carolyn war noch immer schön: ein strahlendes Gesicht mit ausgeprägten Zügen, auch wenn ihre ziemlich großen Tränensäcke unter den blaßgrauen Augen inzwischen pergamenten und faltig waren, und zwar, wie ich vermutete, nicht so sehr wegen ihrer chronischen Schlaflosigkeit als vielmehr infolge jener Häufung von Enttäuschungen, wie man sie in den Biographie erfolgreicher berufstätiger Frauen in den Vierzigern, deren Abendessen meist in Plastik verpackt von einem Immigranten an die Tür ihrer Manhattaner Wohnung geliefert wird, nicht selten findet. (Philip Roth: Das sterbende Tier, S. 55f.)


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