Allgemeine Fundstücke  / [R_2]


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Rothmann, Ralf: Flieh, mein Freund! [1]

  Seit ich hier war, bekam jedes Gespräch immer gleich einen erzieherischen Kick, als wollte er angesichts meiner plötzlichen Volljährigkeit seine ganze verpatzte Vaterschaft nachholen. Ich konnte mich kaum retten vor mündlichen, schriftlichen und sogar auf den Anrufbeantworter gesprochenen, garantiert gutgemeinten Ratschlägen - bis zum Erbrechen wattiert mit so verlogenen Behutsamkeiten wie 'Ich schlage vor, daß du... Vielleicht solltest du... Paß mal auf, wäre es nicht gut, wenn du...' Und so weiter. Das war wohl sein pädagogischer Eros, der da mit ihm durchging. (Ralf Rothmann: Flieh, mein Freund! S.44)


Rothmann, Ralf: Flieh, mein Freund! [2]

  Mein Vater ist ein sogenannter Streß-Esser. Jedenfalls sagt er das. Wenn anderen angeblich Kreativen nichts mehr einfällt, brauchen sie Kaffee, Zigaretten, Schnaps oder eine Nase Kokain. Oder sie toben sich im Rotlicht aus. Mein Daddy aber braucht einen Keks, und zwar - weil ihm oft nichts mehr einfällt - ziemlich oft. Und er kriegt ihn, immer, zu jeder Tages- und Nachtzeit, und sollte ihm der Stoff einmal ausgehen: Frau Umbreit hat im Keller ein riesiges, aplhabetisch geordnetes Lager eingerichtet: Von A., gleich Anis, bis Z, gleich zuckerfrei. Für Reuetage. (Ralf Rothmann: Flieh, mein Freund! S. 13)


Rothmann, Ralf: Flieh, mein Freund! [3]

  Aber in der Gegend, in der ich aufgewachsen bin, in dieser halbtoten Zechensiedlung im Ruhrpott, wo jeder Tag so grau war wie der andere und kein Abend ohne Familiendrama oder Besäufnis verging, kaum eine Nacht ohne Schlägerei - in der Einöde war die katholische Kirche mit ihrem Ewigen Licht im Weihrauchduft, ihren Silberkelchen auf weißem Leinen, den üppigen Rosengestecken und atemberaubenden Priestergewänden das einzig wirklich Schöne - jedenfalls für mich. Wenn ich nach einer miesen, schlecht zensierten Woche still im leeren Kirchenraum saß und ein überraschend tiefes, den ganzen Körper aufrichtendes Durchatmen mir klarmachte, wie krumm und gedrückt ich wieder in der Landschaft hing, konnten mir schon mal die Tränen kommen. Und wenn ich sonntags, nach einem rotgoldenen Hochamt voller Kerzen, Blumen und Gesang, auf meinem Bett lag und die Augen schloß, flackerte die ganze Pracht hinter meinen Lidern in hauchzarten Nachbildern weiter. Voll geil. Seitdem ist für mich das Schöne und das, naja, Göttliche ein und dasselbe. (Ralf Rothmann: Flieh, mein Freund! S. 22.f)


Rothmann, Ralf: Flieh, mein Freund! [4]

  Die Werbebranche ist schließlich nicht das letzte, sie ist das allerletzte. Wildfremden Menschen irgendwelchen Dreck unterzujubeln, der einen selbst nicht die Bohne interessiert - tiefer kann ein Mensch doch gar nicht sinken. Du hast Ideen, bist kreativ, weißt dich in Worten und Bildern überdurchschnittlich gut auszudrücken - und dann stellst du diese Vorzüge, diese Gottesgaben in den Dienst eines Kühlschrankfabrikanten? Damit der noch mehr Geld verdient und dir etwas davon abgeben kann? Rattenhaft. Das einzige, was so einer wie Onkel Umsatz wirklich verkauft, ist seine Seele. (Ralf Rothmann: Flieh, mein Freund! S. 33f)


Rothmann, Ralf: Flieh, mein Freund! [5]

  Nur Mathematik war seit jeher mein Problemfach - was ich mir eigentlich als Vorzug anrechnete. Die Mathe-Asse fand ich nämlich durch die Bank zum Würgen, besonders die stillen, vornehmen aus gutem Haus, in deren Gesichtern ich immer eine randlose Brille sah, obwohl sie gar keine trugen. Mathe war Macht, und du konntest noch so geil Französisch sprechen, Aufsätze vorlesen, bei denen der ganze Raum die Luft anhielt, oder Kunstblätter vorlegen, die alle vom Hocker rissen - nie war der stumme Respekt der Lehrer, das unausgesprochene "Donnerwetter, aus dir wird was werden!" so eindringlich wie nach einer überragenden Mathe-Leistung. Sie war die Krönung, wie Turmspringen nach einer Stunde Schwimmen, und bezeichnenderweise waren die Superrechner meistens auch die besten und elegantesten Springer. Die standen wie eine Eins auf dem Brett, breiteten die Arme aus und schrieben mit dem ganzen Körper eine schlanke, zehn Meter tiefe Gleichung voller Wirbel, Pirouetten und rechtwinkliger Querverweise in die gekachelte Luft, und wenn sie dann geräuschlos eintauchten ins Blau, war das die denkbar glatteste, kaum ein Bläschen oder eine Wasserbewegung verursachende Lösung. Vollkommenheit. (Ralf Rothmann: Flieh, mein Freund! S. 38)


Rothmann, Ralf: Flieh, mein Freund! [6]

  Sie roch nach Wein und Rauch und Veilchenparfüm und hatte bekiffte Pupillen, und so ein Kuß stand ihr überhaupt nicht zu. Blitzschnell, als hätte sie geahnt, daß ich die Tür öffnen würde, griff sie mir in die Haare, drängte sich an mich und schnappte, die Augen fast schon geschlossen, nach meinem Mund. Sie sog die Unterlippe etwas ein, wobei sie einen kleinen, wohligen Laut von sich gab, und natürlich hätte ich sie sofort wegstoßen müssen; doch diese Zärtlichkeit hatte etwas Autoritäres, wie Aprikosen, und ich fühlte, wie mir die Herzränder schmolzen. Nur mühsam konnte ich den Kopf wegdrehen, denn sie hielt mich fest umklammert, sogar mit einem Bein, rieb den Stoppelschopf an meinem Hals, und ich zischte "He! Hör auf! Du bist meine Mutter!" "Ah ja?" - Sie trat einen Schritt zurück, musterte mich schmunzelnd und sagte: "Tatsächlich ... Hast du ein Glück." (Ralf Rothmann: Flieh, mein Freund! S. 41)


Rothmann, Ralf: Flieh, mein Freund! [7]

  Ich bin nicht nur schüchtern; das ginge ja noch. Ich bin gleichzeitig immer geil. Brandgeil. Eine fatale Mischung. Das ist wie auf dem Streckbett, damit kommst du in Teufels Küche. Und dann werde ich melancholisch, weil ich alle Mädchen haben möchte und keins kriege, verfluche das Leben und die Liebe, diesen Fleischmarkt, und hoffe, daß ich bald fünfzig bin und fett, und alles ist vorbei... Also, schräger kann ein Reh kaum in der Wildnis stehen. Dabei bin ich trotz aller Geilheit nur ein mäßiger Liebhaber, glaube ich. Nicht, daß ich Probleme mit der Potenz, mit der Erektion hätte. Im Gegenteil. Ich kriege zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten einen Ständer, deswegen trage ich auch keine Boxershorts. Ich kriege einen Ständer, wenn ich aufwache, ich kriege einen Ständer, wenn ich esse. Ich kriege einen Ständer, wenn ich mich langweile, und ich kriege eine Ständer, wenn ich im Streß bin. Sogar beim Scheißen kriege ich oft einen Ständer, und manchmal werde ich nachts wach und muß pinkeln und habe gleichzeitig ein Rohr, das sich partout nicht legen will, auch nicht nach einem kalten Guß. Dann muß ich mich abknicken vor dem Klo, damit ich mein Wasser lassen kann; ein pinkelnder rechter Winkel. (Ralf Rothmann: Flieh, mein Freund! S. 55)


Rothmann, Ralf: Flieh, mein Freund! [8]

  Also, ich weiß nicht, ob das rüberkam, aber meine Mutter ist nicht gerade ein Hausfrauentyp. Wenn ich ihr damals, fast noch in ihrer Mädchenzeit, in einem Schlafsack bei Brokdorf nicht zufällig passiert wäre, hätte sie bis heute keinen Nachwuchs. Kinder sind nicht ihr Ding. Früher, in der Antike oder so, wäre sie bestimmt eine gute Priesterin gewesen. Hätte eine Riesentüte geraucht, sich mit einer Schlange gegürtet, einen benebelten Tanz hingelegt und den Leuten das Blaue vom Himmel runterorakelt. Aber die Antike ist nun mal vorbei, die Priesterinnen tanzen in Peep-Shows, und das Orakel flimmert in der Ecke und hat vierzig Programme, die dir alle dasselbe sagen: Krieg dein Leben erfolgreich auf die Reihe, singe nach, was die da oben vorsingen, bekreuzige dich vor deiner Slip-Einlage und bring den Hund zum Einschläfern ins Tierheim, bevor du in die Ferien fährst. (Ralf Rothmann: Flieh, mein Freund! S. 125f.)


Rothmann, Ralf: Flieh, mein Freund! [9]

  Als die Hähnchen warm waren, wollte Mary plötzlich Tee. Sie hatte sich bis zum Kinn in das Plaid gewickelt und war ziemlich maulig drauf. Wie Frauen halt sind, Gefangene ihrer Befindlichkeit. - Kurz bevor Vanina ihre Tage kriegte, war immer Tränenstufe eins angesagt. Dann brauchtest du nur zu knurren, weil sie den Schlüssel wieder nicht fand oder dauernd die CD-Regler verwechselte, schon heulte sie los. Oder einfach so, grundlos. Oder sie brach einen Streit vom Zaun wegen irgendwelcher Vorfälle in der Steinzeit - nur damit sie hinterher weinen konnte. Also auch grundlos. Und am nächsten Tag war alles bloß prämenstrual. Arme Miezen. Manchmal denke ich wirklich, die kritischen Jahre einer Frau beginnen mit der Geburt. (Ralf Rothmann: Flieh, mein Freund! S. 205)


Rothmann, Ralf: Flieh, mein Freund! [10]

  Der leckt sich die Lippen, während er andächtig abschreitet, was nur profane Abstinenzler Regal nennen würden. In Wahrheit ist es natürlich ein Heiligtum, ein Tabernakel der Trunksucht; voll von Geist, von Erleuchtung in Flaschen, und ordentlich aufgereiht nach dem Preis, also dem Alkoholgehalt, scheinen die verschiedenen Sorten die Karriere eines leidenschaftlichen, noch bürgerlichen Trinkers zu illustrieren. Leichte, spritzige Sektsorten oder Designer-Weine mit frühlingsfarbenen Etiketten, abgelöst von blumigen oder kräftigen oder charaktervollen Traditionstropfen für den Sommer des Erfolgs, dem rasch - oh Hanglage! - die eine oder andere herbstlich-melancholische Sherrystunde schlägt, ehe dann - ach Umsatzstief! - den ersten Hieben des frostigen Schicksals mit Whisky in kantigen Flaschen begegnet wird. Und am Ende des langen Scherbenwegs glüht siebzigprozentiger "Stracks"-Rum wie Höllenfeuer. (Ralf Rothmann: Flieh, mein Freund! S. 241)


Rothmann, Ralf: Flieh, mein Freund! [11]

  "Wir nehmen uns zu wichtig, weißt du. Wir sind eitel noch in der Demut. Denn sobald du Zuneigung oder Anerkennung willst, bist du schon der Falsche. Du steckst fest in deinem kleinen Ego wie ein Frosch im Einmachglas, hälst das für die Welt und wirst nie erfahren, welche Wunder auf dich warten, draußen. Dann bist du einer wie alle in deiner synthetischen Generation, wo man das Jungsein mit Autoschlüsseln und Handy am Gürtel und geiler bunter Mitgliedskarte so trostlos professionell betreibt, daß einem angst werden kann. Kaum ein wirklich freudvolles Gesicht sieht man in euren Clubs, auf euren Love-Parades." (Ralf Rothmann: Flieh, mein Freund! S. 262)


Rothmann, Ralf: Messers Schneide [1]

  Kaum bringe ich etwas zur Sprache, bringt mich meine Sprache zum Schweigen, und was ich beim Namen nenne, heißt meistens ganz anders. Meine Notizen bersten vor Einfällen, die beim zweiten Lesen nichts als Reinfälle sind, intellektuelle Teppichfransen, Gänseblümchen-Reflexionen. Völlig verirrt in meinen Gedankengängen, gelingt mir kein einfacher Satz mehr. Schreib, sagte mir neulich ein älterer Kollege, ein guter Gast, schreib von deiner Generation, erzähl mir, was sie bewegt, was sie lähmt, diese Video-Brut. Gut, habe ich gesagt, gib mir mal die Telefonnummer meiner Generation. So einer redet auch immer davon, eine Spur zu hinterlassen; er will eine Spur hinterlassen mit seinem Werk. Als ich ihm vorschlug, Baggerführer zu werden, verließ er wortlos mein Lokal. - Wenn ich überhaupt noch Vorstellungen habe, dann Honorarvorstellungen. Und nicht gegen die Phantasielosigkeit anzukämpfen ist das Schwierige, sondern dagegen, vor Phantasielosigkeit moralisch zu werden. In dem Maß, in dem mir die Felle davonschwimmen, lasse ich kein gutes Haar an den anderen. Früher hatte ich immer Angst, nicht auf der Höhe der Zeit zu sein - und sei es, um von dort auf andere hinabzusehen. Heute weiß ich, daß diese Angst die Höhe der Zeit ist. (Ralf Rothmann: Messers Schneide, S. 65f.)


Rothmann, Ralf: Messers Schneide [2]

  Wie eine Verhöhnung von irgendwoher kam es ihm vor, daß diese mittlerweile so vertraute Frau wieder zum Geheimnis werden sollte unter seinen Augen. Er hatte sehr gut ohne sie gelebt, solange er sicher sein konnte, daß sie ihn begehrte. Ihre vermeintliche Abkehr aber riß ihn aus einem ungeahnten Element, brachte sein Chaos durcheinander. Wo gestern noch ein umsichtiger Verkehrsteilnehmer ging, stolperte jetzt das geborene Unfallopfer. Ein Lastwagenfahrer, den Oberkörper weit zurückgereckt, trat auf die Bremse, die Ladung unter der Plane schlug um. Ein Schuhverkäufer, den er versehentlich anrempelte, ließ einen Stapel Kartons in die Auslage eines Obstladens stürzen. Entschuldigungen stammelnd, sammelte Assen alles ein, der Mann verschränkte die Arme vor der Brust und musterte ihn wortlos. Eine Frau in einer weiten Satin-Bluse, unter der er die Brustwarzen sah, streckte ihm die Zunge heraus. Durch die automatischen Glastüren der Einkaufshallen traten vollbepackte Menschen und spähten, nichts als Kaufwut im Gesicht, bereits nach einer nächsten Gelegenheit. Daß jedem irgendeine Krankheit anzusehen war, Herzbeschwerden, Kreislaufschwächen, Geld, fand er auch wieder tröstlich; um sich an ihnen aufzurichten, erklärte er sie kurzerhand zu Krüppeln. Unvorstellbar, eine zärtliche Sehnsucht hinter diesen Mienen. Haßfratzen, dachte er und sah im nächsten Augenblick, in einem Schaufensterspiegel, sein eigenes, haßverzerrtes Gesicht. (Ralf Rothmann: Messers Schneide, S. 73f.)


Rothmann, Ralf: Messers Schneide [3]

  Nach dem nächsten Cognac hatte er das Gefühl, ihnen auf die Schliche gekommen zu sein, doch das mußte geheim bleiben. Die Stirn geneigt, beobachtete er sie wie einer, der mehr wußte, als gut für ihn war. Er benahm sich betont unauffällig, das heißt, er stierte nach wie vor auf seine Lieblingsstellen. Und tatsächlich: wie sie schimmerten unter seinem düsteren Blick, schienen die Frauen sich überhaupt nicht vorstellen zu können, daß man sie anders als begehrlich betrachtete: Hexen in Engelsgestalt, die ihn ins Dunkle, Dröge drücken wollten mit ihren Hüften, in eine Hölle aus Heim und Herd. (Ralf Rothmann: Messers Schneide, S. 86)


Rothmann, Ralf: Stier [1]

  Ich frage mich, ob dieser Rudi eigentlich eine Seele besaß, und hatte Schwierigkeiten, mir etwas, das ich mir so hauchzart wie Perlmutterglanz dachte, in diesem blutunterlaufenden Fettklops vorzustellen. Besonders an den Montagen, in den Pausen, wenn er sich furzend auf der Bank neben dem Ölofen ausstreckte und die Brotdose unter den Kopf legte, um eine Viertelstunde zu schlafen, wenn sich sein zweites Kinn über das erste schob und ich den schurkischen Kindermund, die geplatzten Äderchen, das ganze durchsoffene Wochenende in seinem Gesicht betrachtete, wurde mir Rudi zum Inbegriff dessen, was ich nicht sein und werden wollte, eine panierte Schweineseele. (Ralf Rothmann: Stier, S. 80)


Rothmann, Ralf: Stier [2]

  Ihre Mutter aß nichts, hatte aber sehr rasch sehr viel getrunken; auf Stirn und Wangen lag ein unguter Glanz. Die Hände im Nacken verschränkt und das Becken wiegend, als säße sie auf einem Wasserkissen, blickte sie in die Menge der essenden, tanzenden, plaudernden Gäste und sah ihnen offenbar nach, daß sie nie die Klasse besitzen würden, ihr, Irene Sommers, Format auch nur zu ahnen. Doch sobald irgendein Mann den Blick erwiderte, bekamen ihre Züge etwas Strenges, Schneidendes, und das Augenblau wurde zur eisigen Mitte eines Kreises, in dem Unerwünschten Kränkung und unsterbliche Blamage drohten. (Ralf Rothmann: Stier, S. 210)


Rothmann, Ralf: Stier [3]

  ... und lächelte dann, wie nur er es konnte: Jenes Lächeln, bei dem man unwillkürlich dachte, es sei die Lösung für alles, die Goldader seines Wesens. Etwas von der Essenz aller Menschlichkeit lag darin, und man atmete augenblicklich freier, als wäre es ein stärkendes, ein herzstärkendes Mittel - auch wenn es eigentlich nicht wahr sein konnte, dieses Lächeln, auch wenn es eine Lüge war, und zwar die großartigste, die es gibt: Die weiße Lüge, daß leben leicht sei. (Ralf Rothmann: Stier, S. 186)


Rothmann, Ralf: Stier [4]

  Ich arbeitete nicht ungern in dem Krankenhaus, mein Vertrag sah fünfundzwanzig Wochenstunden bei passabler Bezahlung vor, und der Milieuwechsel ging ohne größere Schwierigkeiten oder nennenswertes Befremden vonstatten. Zunächst wunderte ich mich natürlich darüber, wie wenig Wesen hier vom Sterben gemacht wurde, wie alltäglich der Tod war; die Ärzte unterschrieben den Schein und gingen dann essen. Und am Anfang brachte ich noch Pflegepläne und Dienstabläufe durcheinander in der Meinung, hier würden Menschen behandelt, Leidende, denen man in ihrer Not auch einmal eine Viertelstunde zuhören sollte. Bis man mir beibrachte: Irrtum. Hier wurden keine Menschen, sondern Krankheiten behandelt, Krankheiten mit zeitraubenden, sperrigen und möglichst ruhigzustellenden Personen drumherum, und es war unkollegial und verdächtig: Wollte man sich vor der übrigen Arbeit drücken? Ich begann zu verstehen, warum Ärzte und Pfleger wenigstens ebensoviel Alkohol tranken wie zum Beispiel Maurer, wenn auch feineren, Sekt, Cognac, Wein, und daß der Unterschied zum Bau womöglich gar nicht so groß ist. Auch hier wurden oft nur Gewichte bewegt, Drainagen gelegt und Schäden kostengünstig ausgebessert; auch hier arbeitete man mit Meißel und Säge, schnitt auf, riß ab, warf weg, hatte laufend Termine, Labortermine, Operationstermine, Revisionstermine im Nacken und wußte nichts mehr von Zeit, die einmal alle Wunden heilte. Und schließlich betrat auch ich die Zimmer mit jenem Ausdruck im Gesicht, der die Patienten von vornherein abschrecken sollte, Extrawünsche zu äußern, blickte auf die Uhr und sagte: Wie geht es uns denn... Dann wollen wir mal... Was haben wir da..., zack. ich wusch die Kranken, wie es alle taten, "wie man Bänke wäscht"; und wie alle sah auch ich eines Tags keine Leidenden mehr in den Betten, sondern den Herzinfarkt, den Ulcus oder das Carzinom, und hatte ich einen Toten in die Pathologie zu schieben, war das nicht mehr Frau Grimm oder Herr Sander, es war ein Exitus. - Kai, bring den Ex weg! (Ralf Rothmann: Stier, S. 362f.)


Rothmann, Ralf: Stier [5]

  Mag es heute in vielen Hospitälern üblich sein, daß Ärzte und Pflegekräfte einander beim Vornamen rufen und duzen; zu meiner Zeit gab es noch eine Trennungslinie zwischen diesen Klassen des Personals, so fein wie das Profil von Oberarzt Voigt - und bei näherem Hinsehen konnte man nur froh darüber sein. Denn dieses Krankenhaus war ein Karrierepferch, in dem ein Schwein dem anderen die Ohren abbiß, und die Erfolgsleitern, die aus allen Fenstern in den Himmel wuchsen, wurden aus den Knochen der Patienten gezimmert. Wenn Dr. Voigt zum Beispiel sagte: Und bitte vergessen Sie nicht, meine Herren, die Frau liegt privat!, dann hieß das: Schleift sie durch, was es auch kostet. Und wenn sie hundertmal sterben will: Schleift sie durch, Jungs, jeder Tag, den sie hier liegt, bringt soundsovieltausend Mark; und falls die Leber nicht mehr mitmacht, baut ihr eine Ziegenleber ein, ihre Kasse zahlt den vierfachen Satz! Denkt an meine Bilanz, dann denke ich an eure... Und schon drängte man einander mit immer neuen Therapien und notfalls mit den Hüften von der Bettkante weg, und ich staunte, wie gemessen es dabei zuging; noch die Schweißausbrüche wirkten dezent. (Ralf Rothmann: Stier, S. 266)


Rothmann, Ralf: Stier [6]

  Wenn man die Operierten auch kaum ausmachen konnte unter den Schläuchen und Kabeln - hinter jeder Glaswand ging es um Leben oder Sterben. Und sah man die ruhig konzentrierten Handgriffe der Pflegekräfte, konnte man glauben, alles sei tatsächlich nur eine Frage des guten Willens und der Technik, ja mehr: Angesichts der hochaufgetürmten, fiependen, blinkenden Geräte - und mit einem Schluck "Amaretto" in den Adern - bekam man den etwas respektlosen Eindruck, daß hier nicht mit dem Tod gerungen, sondern geflippert wurde. (Ralf Rothmann: Stier, S. 277)


Rothmann, Ralf: Ein Winter unter Hirschen

  Auch in den anderen Häusern aß man zu Abend oder sah fern. Hier wohnen junge Menschen mit Kindern, und vor den Türen parken schnittige Kleinbusse und einige von den runden Dingern, die aussehen, als wären sie zum Lutschen. Ich werde immer etwas kleinlaut vor dem Lebensstil dieser Leute, genauer, vor ihrer Sorglosigkeit, was das Schuldenmachen betrifft. Das Dachgebälk kracht unter der Zinslast, und sie winken strahlend aus Chrom und Glas heraus und biegen um die Ecke, Richtung Sylt. Sogar die Hunde und Katzen, die sie uns manchmal zur Pflege bringen, kommen mir wie Designerware vor und sehen jedenfalls so aus, als hätten sie irgendwo im Fell eine Kreditkarte stecken. (Ralf Rothmann: Ein Winter unter Hirschen, S. 62)


Rothmann, Ralf: Ein Winter unter Hirschen [2]

  Meine erste Frage war: "Wo ist der Fernseher." Nur noch unser Philodendron stand da, neben einem niedrigen, mattschwarz lackierten Tisch mit dem erwähnten Teegeschirr darauf. An den beiden Rundkissen hingen noch die Preisschilder, und meine Frau hielt mir einen bunten Computer-Ausdruck hin, ein sogenanntes Feng-Shui-Gutachten samt Zeichnung, auf der unsere Räume wie nach einer Pfändung aussahen. Wozu auch ein Sofa? Sitzen ist Schwäche. Oder ein Sideboard? Man würde sein Glas einfach auf einen dieser unsichtbaren, das Zimmer durchziehenden Kraftströme stellen und zusehen, wie es sanft aus dem Raum glitt, in die Spülmaschine. Lesen konnte ich nichts auf dem Blatt, jedenfalls nicht die Schriftzeichen. Die Zahlen wohl. "Feng-Shui?" brüllte ich. "Feng-Shui?! Was heißt das! Fernseher weg?!" (Ralf Rothmann: Ein Winter unter Hirschen, S. 63)


Rothmann, Ralf: Wäldernacht

  Cordula, Ende dreißig, war Leiterin des Behindertenheims, unverheiratet und meistens allein. Obwohl eine Schönheit mit ihren goldblonden Haaren, den grünen Augen im sommersprossigen, von starken Wangenknochen dominierten Gesicht und diesem beunruhigenden Mund, konnte sie keinen Geliebten lange halten - was außer an ihrer orgiastischen Häuslichkeit (man hatte immer etwas Angst, in einen Kuchen hineingebacken zu werden) sicher auch an ihrer überüppigen Figur lag. Cordula war nicht nur schön; sie war gut dreißig Kilogramm zu schön, und jeder normal gebaute, durchschnittlich eitle Mann sah verschwindend neben ihr aus, wie ein Hemd. (Ralf Rothmann: Wäldernacht, S. 28f.)


Rothmann, Ralf: Wäldernacht [2]

  Die elementare Grammatik hatte wenig Chancen in einer Gegend, in der man "Erna, nimm dich schomma der Kaffee!" sagte. Oder, auf dem Fußballfeld: "Waller, schick mich die Kirsche! Schick se mich her! Steh doch frei, du lahme Ente!" Oder wenn unsere füllige, soeben erst von ihrem vierten Kind entbundene Nachbarin "Ker, Ker!" durch den Supermarkt rief. "Der Olle hat mich schon wieder ein angedreht. Getz is Schluß mit die Popperei, dat glaubse wohl!" - Hochsprache war hier Balanceakt, mancher geriet ins Wanken... (Ralf Rothmann: Wäldernacht, S. 43)


Rothmann, Ralf: Wäldernacht [3]

  Unter dem Baldachin, umhüllt von einem cremefarbenen, schwer mit Brokat bestickten Gewand, dessen Scharlachfutter manchmal herausblitzte, humpelte Pastor Maaßen in seinen orthopädischen Schuhen. Steinalt, die tränenden Augen stier und den gereckten Kiefer fest im Ewigen verkeilt, trug er die Monstranz wie eine goldene Fliegenklatsche vor sich her und würde zweifellos jeden damit niederhauen, der auch nur irrtümlich in seinen Weg träte. Immer noch gab er Religionsunterricht und trieb den Schülern allen Glauben an höhere Gerechtigkeit mit seiner Kasernenhofstimme aus. - Leichte Schläge auf den Hinterkopf fördern das Denkvermögen! hatte er stets behauptet und auch mir den Katechismus an den Schädel gedonnert, bis dunkle Punkte vor den Augen tanzten. (Ralf Rothmann: Wäldernacht, S. 115f.)


Rothmann, Ralf: Wäldernacht [4]

  Ohnehin gehörte er zu den Menschen, die immer irgendwie tätig sind, und wenn er nicht gerade von Sozialfall zu Sozialfall hastete, im Altenheim Sylvesterschwänke inzensierte oder an Manövern der freiwilligen Katastrophenwehr teilnahm, stand er in seinem Keller vor der Aluminiumstaffelei und malte Aquarelle oder "kleine Arbeiten auf Holz". Dazu kam die Familie, und es war ihm unbegreiflich, daß jemand vierundzwanzig Stunden am Tag auf dem Sofa liegen und nichts anderes tun konnte, als rauchend in die Luft zu gucken, ein Glas Wein nahebei. Er glaubte mir das nie. Sein Respekt vor Kunstschaffenden schien grenzenlos. Allein, daß sie Maler, Bildhauer oder Schriftsteller waren oder genannt wurden, machte sie geheimnisvoll in seinen Augen: Feuerköpfe, vogelfrei, Engel der Einbildungskraft, die noch schöpferisch sind, wenn sie Socken waschen. Und wer wollte ihm angesichts seines Alltags Vorwürfe machen aus dieser Romantisierung. (Ralf Rothmann: Wäldernacht, S. 22)


Rothmann, Ralf: Wäldernacht [5]

  Du kommst mich besuchen? Ich nickte vage. - Vielleicht später. Muß noch was abliefern. Inwzischen kannst du dich ja schon rasieren... Sie stand auf, schüttelte den Kopf, blickte mir drohend in die hintersten Gedanken und ließ ein halblautes Schweinigel! hören. Wobei sie ihre Hüfte etwas vorschob und den Busen durch tiefes Atmen betonte: Relief der Torschlußangst, die sich, abgesehen von ihrer Häuslichkeit, am deutlichsten im Sexuellen zeigte. - Das ödete sie zwar an; trotzdem zog sie jede Menge Tricks vom Leder, nahte ein möglicher Gatte. Das Studium entsprechender Literatur war kaum auszuschließen, denn was sie einem bot, von der Nebelwäsche über stets gebräunter Haut bis hin zu exorbitanten Fingerfertigkeiten, fand man sonst nur in eingeschweißten Magazinen. (Ralf Rothmann: Wäldernacht, S. 215)


Rothmann, Ralf: Wäldernacht [6]

  Der Wein war selbstverständlich ein Bio-Wein und die Lasagne, niemand hätte das erwähnen müssen, eine vegetarische. Alles in diesem Haushalt kam mir furchterregend gesund vor. An den Wänden klebten Reisstrohtapeten, Vorhänge und Teppiche, aus der Wolle natürlicher Hochlandschafe, waren mit Naturfarben getönt und die meisten Möbel biologisch abgebeizt und aufbereitet; vermutlich würden sie bald Zweige treiben. Wir aßen von toscanischen Steinguttellern, benutzten ungebleichte Recyclingservietten, und mein radioaktiver Hintern ruhte auf einem körpergerechten Roßhaarpolster mit Haltbarkeitsgarantie. (Ralf Rothmann: Wäldernacht, S. 220)


Rothmann, Ralf: Wäldernacht [7]

  Darum möchte ich einmal von dir wissen, warum du hier... Er schraffierte etwas im Hintergrund. So vielleicht, diese rote Fläche eingefügt hast, blutrot. Da war ich doch verblüfft. Das ist mir, um ehrlich zu sein, bis heute nicht klar. Abgesehen davon, daß es keine "Ohne Titel"-Bilder von mir gab: Die Rührung, die ich für Hiller in solchen Momenten empfand, machte mich auch wütend auf ihn. Sein treuer Glaube fing an, mich zu kränken. Diese Hochachtung sogenannter Künstler, da glich er dem belächelten Rutenkolk, entwuchs zu offenbar dem schlechten Gewissen einer Begabung, die aus Angst vor den Untiefen des Metiers, vor Alleinsein, Existenznot, Mißerfolg, einen planen Angestelltenweg gegangen war, der mit Sicherheit zum Rentenanspruch führte: Während die Sehnsucht Fett ansetzte und der Dämon im Bratrohr verkam. (Ralf Rothmann: Wäldernacht, S. 226)


Rothmann, Ralf: Milch und Kohle [1]

  Mein Vater nickte, zog etwas Knorpel zwischen den Zähnen hervor. "Die Sauce schmeckt". "Deftig, kräftig!" sagte Herr Karwendel. "Mit Gewürzen könnt ihr umgehen, was? Und mit Weibern." Seine Frau schwitzte. "Mein lieber Mann!" Sie lehnte sich zurück und blies die Backen auf. Der Kopf war rot. "Des ist so scharf... Ziagt dirs Hemd ins Möserl nei." Meine Mutter ließ die Gabel fallen. "Maria!" schrie sie, lachend. "Du altes Ferkel. Hier sitzt ein Kind!" "Ach wo". Sie wischte sich die Stirn. "Des hat a schon wos erlebt. Ge, Bua?" Meine Mutter, das Glas an den Lippen, sah mich rasch an. Herr Streep setzte sich wieder neben das Aquarium und öffnete die Bierflaschen. "Laß die Finger von dem Frauen, Simon. So viele Scheidungsgründe, wie die in petto haben, kannst du dir gar nicht ausdenken. Sogar die Liebe ist denen ein Scheidungsgrund." (Ralf Rothmann: Milch und Kohle, S. 61)


Rothmann, Ralf: Milch und Kohle [2]

  "Ja mei, sag amol, Liesel: Twist - wo hast'n du des glernt?" "Ach, das ist leicht, das muß man nicht lernen. Kannst du auch." "I? Na! Nimmer." "Doch, Marie. Schau her!" Zigarette im Mundwinkel, schob meine Mutter ihren Sessel zurück und stand auf. "Du stellst einen Fuß vor und tust, als würdest du mit der Schuhspitze eine Kippe ausdrücken, so. Und die Arme und Hände bewegst du, als würdest du dir mit einem Handtuch den Rücken abfrottieren, so. Das ist alles. Dabei gehst du runter, runter, und wieder hoch. Und dann den anderen Fuß vor, Kippe ausdrücken, Kreuz frottieren, runter, hoch, und immer schneller." (Ralf Rothmann: Milch und Kohle, S. 41)


Rothmann, Ralf: Feuer brennt nicht [1]

  In den geblümten Siebzigern war es eine Zeitlang besser, nicht nur weil er Geld verdiente und notfalls ins Bordell gehen konnte. Er probierte einiges aus in den qualmenden Lagern der Subkultur, ohne wirklich dazuzugehören; seine Freundin, die von ihren früheren Liebhabern Feuerchen genannt wurde, weil sie so sprühend kam, wollte auch von ihm Feuerchen genannt werden und trat dann bald zum Feminismus über. Und plötzlich war er wieder ein Problem, sein Schwanz, plötzlich gab es den Orgasmus nicht mehr, den er ihr so lange bereitet hatte; seine Zärtlichkeit sollte überdacht werden, und er machte den Fehler, mehr feministische Literatur zu lesen als jede Frau. Denn es half nichts. Wie einfühlsam er auch war, er blieb ein Mann und würde Frauen nie verstehen, wie sie verstanden werden wollten. Und wenn er sie doch so verstand, wollten sie eben anders verstanden werden. Sie waren ihm stets ein Lächeln voraus. (Ralf Rothmann: Feuer brennt nicht, S. 40)


Rothmann, Ralf: Feuer brennt nicht [2]

  ... meldet sich der Körper. Die üblichen Rückenschmerzen, die brennenden Augen, der Magen. Nicht, daß er wirklich krank wäre, es ist es nie gewesen; offensichtlich gute Gene, die Freude an Bewegung und reinem Essen und nicht zuletzt sein hypochondrisches Naturell haben ihn davor bewahrt. Aber nicht krank zu sein fühlte sich früher schwereloser an. Oder, genauer: Er hat weniger beachtet, daß er gesund war. Zudem ist ihm aus der Zeit, in der er unter anderem als Pfleger in einem Universitätsklinikum gejobbt hat, neben der Erinnerung an eine leichte Hepatitis auch eine fatale medizinische Halbbildung geblieben, die immer noch bewirkt, daß er jedes Ziehen oder Jucken für das erste Symtpom einer Krankheit hält, und zwar der schlimmstmöglichen, mit dem denkbar kompliziertesten Verlauf. Sich ein Fieber einzureden, bis das Quecksilber im Thermometer steigt, gehört zu seinen leichteren Übungen. (Ralf Rothmann: Feuer brennt nicht, S. 83)


Rothmann, Ralf: Feuer brennt nicht [3]

  Als wäre seine Seite im Buch des Universums die einzige ohne Wasserzeichen, verdächtigt er sich nach wie vor, das Wesentliche im Leben nicht begriffen zu haben; in schwachen Momenten, und besonders unter Menschen, kommt er sich dann durchaus haltlos vor, ohne rechte Kontur, und vielleicht ist das ein Grund dafür, daß er die Veranstaltungen des Alltags immer ernster nimmt und manchmal sogar zuläßt, daß sein Denken und Sprechen von einem Hintergrundgeräusch verzerrt wird, das ihn bei anderen stets befremdet oder gar angewidert hat, dem Knarren eines Standpunkts. Je absehbarer seine Zukunft wird, desto mehr Raum gibt er der Sorge um sie und entweiht jeden glücklichen Augenblick mit dem kleinlichen Wunsch nach einem noch schöneren nächsten. Während er ißt, überlegt er bereits, was er am nächsten Tag kochen wird. (Ralf Rothmann: Feuer brennt nicht, S. 188)


Rothmann, Ralf: Feuer brennt nicht [4]

  Lebenstüchtigkeit, auch so ein Wort. Selbst wenn die poetische Sicht der Dinge zwangsläufig eine gewisse Ineffizienz mit sich bringt, der Alltag will gemeistert werden und läßt ihn nicht selten schräg dastehen, auch und gerade vor seiner Frau. Was für ihn komplexe Probleme sind - Bankangelegenheiten, Behördengänge, Verhandlungen mit den Vermietern oder das Umtauschen von Fehlkäufen -, erledigt Alina mit einer Beiläufigkeit, die ihn immer wieder kleinlaut macht. (Ralf Rothmann: Feuer brennt nicht, S. 8)


Rothmann, Ralf: Feuer brennt nicht [5]

  Als sie noch miteinander umgingen, wechselte der die Geliebten fast vierteljährlich, was der Jüngere aus dem Verlies seiner Schüchternheit heraus nicht ohne Neid beobachtete. Richard war einer jener klassischen Charmeure, für die das Wort Verführung trotz der muffigen moralischen Aura nichts Problematisches hat und die Zierlichkeiten oder Komplimente anbringen wie Konditoren süße Kringel auf den Torten. Ohne je wirklich in Leidenschaft zu geraten, schrieb er Liebesgedichte am Fließband und war alles in allem davon überzeugt, daß zu einer fachgerechten Verführung nichts weiter als eine Flasche Wein, Kerzenlicht und ein Kaminfeuer gehören. Hauptvoraussetzung allerdings: Die Betreffende mußte große, am besten riesige Brüste haben. Der Blick konnte gemein oder das Lächeln falsch sein, ihr Wesen berechnend oder geldgierig, die Hüften durften mehr versprechen, als der Hintern schließlich hielt, doch wehe, der Schatten der Oberweite reichte nicht bis an sein Glas heran; ihre Silhouette war das Kronenrund seiner Sehnsucht, und wenn die Schöne kein Gehirn hatte, machte das auch nichts; er stopfte Blumen, Seidentücher und Konfekt in die Lücke und drückte sie, unablässig Schmeicheleien flüsternd, Richtung Bett. Im Übrigen gehörte er zu der Sorte Männer, die Frauen vergötterten und auf einen Sockel heben, damit sie nicht dauernd im Weg stehen. (Ralf Rothmann: Feuer brennt nicht, S. 241)


Rothmann, Ralf: Feuer brennt nicht [6]

  Doch selbst wenn er wie Charlotte den fast schon physikalischen Charakter ihrer Beziehung sieht - bei einer gewissen Distanz ist eine große Anziehung da, bei zu großer Nähe eine gewisse Abstoßung -, wünscht er sich manchmal mehr Zuwendung und ausschließliche Hingabe, als er auszusprechen wagt, und sei es nur jenes bißchen, das bewirkt, daß sie ihre Uhr abnimmt im Bett und nicht doch das Display des klingelnden Telefons checkt, während er schon in sie eindringt; daß sie ihn ebenfalls einmal massiert oder ihn kommen läßt ohne Gegenleistung und ihn zärtlich flüsternd bittet, noch nicht zu gehen, nicht gleich. Aber das hat sie bisher nie getan. Zu ihrem Sonntags-Ritual gehört es, nach dem Sex einen "Tatort" zu sehen. (Ralf Rothmann: Feuer brennt nicht, S. 259)


Rothmann, Ralf: Hitze [1]

  "Gratuliere", sagte DeLoo, der die Box entdeckt hatte. Er zog sie aus dem Gepäcknetz über dem Küchenschrank und griff in die Tasche, legte das Obst auf den Tisch. "Hier ist übrigens Ihr Dessert." Der Mann hörte auf zu kauen. Er schluckte hart, seine Augen wurden groß, quollen hevor, und die Gesichtshaut lief so rot an, daß die gewölbten Brauen silbern erschienen. (...) "Wollen Sie mich umbringen?! (...) "Wieso? Was erschreckt Sie denn an Kiwis?" "Haun Sie bloß ab!" krächzte der Alte, hustete wieder und griff nach dem Bier. "Von wegen Nachtisch. Ich wer mich nie an diesen elenden Westen gewöhnen. Sogar die Früchte sehen aus wie Handgranaten. (Ralf Rothmann: Hitze, S. 52)


Rouaud, Jean: Die ungefähre Welt [1]

  Im übrigen, und das ist wohl für niemanden ein Geheimnis, sind die Dinge dieser Welt so oft erzählt, beschrieben, untersucht, zur Schau gestellt und von allen Seiten beleuchtet worden, daß man sich schon nicht mehr die Mühe macht, sie zu betrachten. Man bildet sich ein, sie in- und auswendig zu kennen. Man summt ein heiteres Liedchen und schwört guten Glaubens, so sei Paris, wo Paris doch schon nicht mehr so ist, jedenfalls nicht ganz so, sondern bereits etwas anderes. Paris müßte in Trümmer gelegt, verwüstet, dem Erdboden gleichgemacht werden, bevor man auf die Idee käme, eine wehmütige Strophe hinzuzufügen, und das auch nicht gleich. (Jean Rouaud: Die ungefähre Welt, S. 23)


Rouaud, Jean: Die ungefähre Welt [2]

  Wir achten auf unsere Worte, wie wir es zu seinen Lebzeiten getan haben, und wenn wir uns früher einen sprachlichen Ausrutscher leisteten, dann nur, wenn wir Gewißheit hatten, daß er uns nicht hören konnte. Kein einziger Fluch in seiner Gegenwart, keine unpassenden Bemerkungen, keine zotigen Ausdrücke, kein Argot. Er selbst ist stets darauf bedacht, ein gutes Beispiel zu geben und sich nicht gehenzulassen. Er muß sich schon mit dem Hammer aus Versehen kräftig auf den Finger hauen, damit er außer sich gerät und eine donnernde Schimpfkanonade losläßt, in der es sich Gottes geheiligter Name gefallen lassen muß, mit der ganzen Palette von Lästerungen bedacht zu werden. (Jean Rouaud: Die ungefähre Welt, S. 74)


Rouaud, Jean: Die ungefähre Welt [3]

  War ich allein und drückte die Nase am Spiegel platt, hatte ich, sofern man selbst sein bester Richter sein kann, den Eindruck, daß mein Äußeres eher gewann, wenn ich die schreckliche Brille mit den dicken Gläsern nicht aufsetzte, und ich folglich mehr Trümpfe in der Hand hielt, wenn ich sie wegließ, ich meine mit Blick auf die quälende Frage: Wird sich je ein Mädchen für mich interessieren? Dies ist die einzige, die alleinige Frage, im Vergleich zu der alle anderen unbedeutend erscheinen, sogar das Los dieses Planeten, vorausgesetzt natürlich, daß letzteres an der Antwort der Frage nichts ändert. (Jean Rouaud: Die ungefähre Welt, S. 121)


Rouaud, Jean: Die ungefähre Welt [4]

  Im vergangenen Jahr, dem letzten in Saint-Cosmes, hast du die Lockerung des Reglements genutzt (die Internen der oberen Klassen durften vom Schlafsaal in Einzelzimmer umziehen), um heimlich mit dem Gitarrenspiel anzufangen, wie neunzig Prozent deiner Altersgenossen (die restlichen zehn Prozent haben im Rahmen ihrer Erziehung Klavierstunden erhalten). Die mäßigen Noten, die du im Verlauf jenes Jahres geerntet hast, künden davon, wie teuer dich deine Klampfe, dieser Ersatz für das Studium der Mathematik, zu stehen gekommen ist. Allzuteuer letztlich doch wieder nicht, wenn man das paradoxe Glücksgefühl berücksichtigt, sich so einzigartig wie alle Welt zu fühlen, seinem inneren Exil entrinnen und aus sich herausgehen zu können. Davon hattest du schon früher einmal ein klein wenig gekostet, als deine ironischen, gleichsam in einem unerschrockenen Samisdat verbreiteten Alexandriner, in denen du die Macken und Marotten der Lehrkräfte aufs Korn nahmst, hinter den hochgeklappten Pultdeckeln die Runde machten und dir unter deinesgleichen einen Sonderstatus einbrachten, nämlich den des offiziellen Möchtegernpoeten. (Jean Rouaud: Die ungefähre Welt, S. 149f.)


Rouaud, Jean: Die ungefähre Welt [5]

  Das Laken hatte bereits seinen Dienst getan, und wie es da aufgespannt und hell erleuchtet über dem Podium hing, waren sogar gewisse Flecken auszumachen, aber Gyf befand, es sei die schönste Leinwand, die er je gesehen habe, und sie lasse ihn an einen chinesischen oder koreanischen oder siamesischen Maler aus wer weiß welcher Dynastie denken, der den Pinsel in die Tränen seiner Geliebten getaucht habe. Dank des feinsinnigen Vergleichs und angesichts des ungeschönten Objekts begriff man schlagartig, daß Kunst allem voran ein Liebesakt ist. Übrigens bringe ihn das auf die Idee, eine Gemeinschaftsausstellung zum Thema "Die Wunder des Lebens" zu veranstalten, zu der jeder sein - ungewaschenes - Bettlaken mitzubringen hätte als Beweis dafür, daß das Schöpferische, von der besitzenden Klasse und ihrem verlogenen Kunsthandel vereinnahmt, in Wirklichkeit in jedermans Reichweite liege. (Jean Rouaud: Die ungefähre Welt, S. 259)


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