Allgemeine Fundstücke  / [S_1]


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Safier, David: Mieses Karma

  Am nächsten Morgen fand ich mich mit meinen Geschwistern in einem kleinen Drahtkäfig wieder. Der stand in einem kargen, fensterlosen Raum auf einem Holztisch, direkt neben einem Computer, der seine besten Jahre Ende der 90er gesehen hatte. Wir atmeteten Klimaanlagenluft. Es war Alex' neues Büro in einem ausgelagterten Forschungskomplex am Stadtrand. Ein trostloser Ort, der jeden Feng-Shui- Spezialisten in den Freitod treiben würde. (David Safier: Mieses Karma, S. 126)


Safier, David: Mieses Karma [2]

  Nina kam inzwischen richtig in Fahrt. Oder sie tat zumindest so. Nina hatte mir nämlich in einem stillen Moment gebeichtet, daß sie öfters mal einen Orgasmus vortäuscht: "Das ist besser, als dem Mann zu sagen: 'Lies mal ein gutes Buch zu dem Thema.' Oder: 'Ich mach lieber alleine weiter'. Ich selbst hatte nach dem Gespräch mit Nina bei meinem nächsten Frustsex ebenfalls versucht, einen Orgasmus vorzutäuschen. Es war bei einem Date mit dem Jurastudenten Robert, mit dem der Sex ungefähr so viel Spaß machte wie eine Netzhautspülung. Deswegen wollte ich auch lieber fernsehen. Ein Blick auf die Uhr verriet, daß in zwei Minuten Ally MeBeal kam, und ein gefakter Orgasmus schien mir das geeignete Mittel, noch rechtzeitig die Glotze anmachen zu können. Ich legte mich also voll ins Zeug. Aber ich war anscheinend eine schlechtere Schauspielerin als Nina, denn Robert fragte mich bei meinem Gestöhne nur: "Hast du einen Wadenkrampf?" (David Safier: Mieses Karma, S. 163)


Sand, George: Leone Leoni [1]

  Ich glaube (...), daß Leonis Liebe sich mit nichts vergleichen läßt, daß die Liebe bei ihm ihre höchste Kraft entfaltet und den schönsten Ausdruck findet. Den anderen Männern war er im Bösen wie im Guten überlegen. Seine Sprache war anders, seine Blicke waren anders, und er hatte auch ein anderes Herz. Ich hörte einmal eine Französin sagen, ein Blumenstrauß in seiner Hand verbreite einen betörenderen Duft als in der Hand eines anderen, und so war es mit allem. Er verlieh den alltäglichsten Dingen Glanz und ließ alles Abgelebte in neuem Licht erstrahlen. Ein unwiderstehlicher Zauber umgab ihn, und ich konnte und wollte mich dieser Macht nicht entziehen. Ich liebte ihn von ganzer Seele. (...) Um mich noch mehr zu befügeln, brachte er mir Bücher. Meine Mutter hatte nur Augen für den vergoldeten Einband, für das feine Velinpapier und die kunstvollen Stiche. Die Titel der Werke, die mir Kopf und Herz in Verwirrung stürzen sollten, beachtete sie wenig. Es waren schöne und keusche Bücher. Fast alle waren von Frauen geschrieben und schilderten das Leben von Frauen: Valeria, Eugenia von Rothelin, Mademoiselle von Clermont, Delphine. Diese ergreifenden und leidenschaftlichen Erzählungen, der Blick in eine Welt, die in meinen Augen die höchsten Ideale verkörperte, ließen meiner Seele Flügel wachsen, aber sie entfachten auch eine verzehrende Glut in ihr. Ich wurde romantisch - das größte Unglück, das einer Frau widerfahren kann. (George Sand: Leone Leoni, S. 32)


Sand, George: Leone Leoni [2]

  Wir Spanier geraten manchmal in einen Seelenzustand, der uns, wie ich glaube, ganz eigentümlich ist: Eine träge, feierliche Ruhe hält uns in ihrem Bann, die aber gar nichts gemein hat mit teutonischem Stumpfsinn oder dem Kaffeerausch der Orientalen, denn sie verhindert keineswegs das Denken. Unser Verstand ist klar, während man uns in solcher Entrücktheit findet. Wir wandern stundenlang auf ein und demselben Mosaikboden umher, in Zigarrenrauch gehüllt und gemessenen Schrittes, ohne auch nur um Haaresbreite von der Linie abzuweichen, und währenddessen vollzieht sich mühelos eine Arbeit, die ich unsere geistige Verdauung nennen möchte. In solchen Augenblicken reifen große Entschlüsse heran, die Wogen der Leidenschaft glätten sich, und kühne Taten werden ins Auge gefaßt. Nie ist ein Spanier ruhiger, als wenn er über einem Plan brütet - sei es in finsterer oder edler Absicht. (George Sand: Leone Leoni, S. 5)


Saramago, Jose: Hoffnung im Alentejo

  Die Natur erschafft ihre verschiedensten Kreaturen mit bewunderswerter Rücksichtslosigkeit. Sie erwägt, wer tot und wer verkrüppelt sei, und es gibt genug, die davonkommen, um die Resultate ihrer Geschäftsführung zu garantieren, so, auf doppelte Weise gesichert, sind das Zeugen und das Erhalten ihre Hauptaufgabe, und mit jenem reich bemessenen Spielraum der Ungenauigkeiten produziert sie die Abweichungen von dem, was man sagt, was man tut und was man ist. Die Natur zieht keine Grenzen, aber sie bedient sich ihrer. Wenn nach der Ernte Tausende von Ameisenvölkern nicht mehr dieselben Möglichkeiiten der Ernährung haben wie vordem, so gehen eben die Gewinne und Verluste alle zu Lasten der großen Buchführung des Planeten, keine einzige Ameise wird ohne ihren statistischen Anteil an Nahrung bleiben. Bei der Aufstellung des Saldos interessiert es wenig, daß sie millionenfach in Wassern ertranken, unter die Hacke kamen oder dem Wettpissen zum Opfer fielen: wer lebte, aß, wer starb, ließ seinen Teil dem anderen. Die Natur zählt keine Toten, sie rechnet mit Lebenden, und wenn es ihr zu viele werden, arrangiert sie ein neues Sterben. Das alles ist sehr einfach, ist sehr klar und gerecht, niemand im großen Reich der Tiere, ob Ameise oder Elefant, der dagegen anginge. (Jose Saramago: Hoffnung im Alentejo, S. 35f.)


Sartre, Jean-Paul: Die Wörter

  Zu jener Zeit war eine angesehene Familie es sich schuldig, wenigstens ein Kind von zarter Gesundheit zu haben. Ich war dazu sehr geeignet, denn bei meiner Geburt wäre ich beinahe gestorben. Man beobachtete mich, fühlte mir den Puls, maß meine Temperatur, ließ mich die Zunge herausstrecken. "Findest du nicht, daß er ein bißchen blaß aussieht?" - "Das liegt an der Beleuchtung." -"Er hat bestimmt abgenommen." - "Aber Papa, wir haben ihn erst gestern gewogen." Unter diesen prüfenden Blicken fühlte ich, wie ich ein Gegenstand wurde, eine Topfblume. Schließlich steckte man mich ins Bett. Ich erstickte vor Wärme, kochte langsam unter meinen Betttüchern und verwechselte meinen Körper und sein Unbehagen. Schließlich wußte ich nicht mehr, wer von den beiden eigentlich unerwünscht war. (Jean-Paul Sartre: Die Wörter, S. 52)


Schalansky, Judith: Der Hals der Giraffe [1]

  Das Jahr begann jetzt. Die Juniruhe war endgültig vorbei, die Zeit der brütenden Hitze und nackten Oberarme. Die Sonne knallte durch die Glasfront und verwandelte das Klassenzimmer in ein Treibhaus. In leeren Hinterköpfen keimte die Sommererwartung. Die bloße Aussicht darauf, ihre Tage nichtsnutzig zu verschwenden, raubte den Kindern jede Konzentration. Mit Schwimmbadaugen, fettiger Haut und schwitzigem Freiheitsdrang hingen sie auf den Stühlen und dösten den Ferien entgegen. Andere täuschten wegen des nahenden Zeugnisses Unterwürfigkeit vor und schoben ihre Bio-Leistungskontrollen aufs Lehrerpult wie Katzen erlegte Mäuse auf den Wohnzimmerteppich. (Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe)


Schalansky, Judith: Der Hals der Giraffe [2]

  Inge Lohmark gehörte nicht zu den Lehrern, die am Ende des Schuljahres einknickten, nur weil sie bald ihr Gegenüber verlieren würden. Sie hatte keine Angst davor, so ganz auf sich gestellt in die Bedeutungslosigkeit abzurutschen. Einige Kollegen wurden, je näher die Sommerpause rückte, von geradezu zärtlicher Nachgiebigkeit heimgesucht. Ihr Unterricht verkam zum hohlen Mitmachtheater. Ein versonnener Blick hier, ein Tätscheln da, Kopf-Hoch-Getue, elendiges Filmeschauen. Eine Inflation guter Noten, der Hochverrat am Prädikat 'Sehr gut'. Und erst die Unsitte, Endjahresnoten abzurunden, um ein paar hoffnungslose Fälle in die nächste Klasse zu hieven. Als ob damit irgendjemandem geholfen wäre. Die Kollegen kapierten einfach nicht, daß sie nur ihrer eigenen Gesundheit schadeten, wenn sie auf die Schüler eingingen. Dabei waren das nichts als Blutsauger, die einem jede Lebensenergie raubten. Sich vom Lehrkörper ernährten, von seiner Zuständigkeit und der Angst, die Aufsichtspflicht zu verletzen. Unentwegt fielen sie über einen her. Mit unsinnigen Fragen, dürftigen Eingebungen und unappetitlichen Vertraulichkeiten. Reinster Vampirismus. Inge Lohmark ließ sich nicht mehr auslaugen. Sie war dafür bekannt, daß sie die Zügel anziehen und die Leine kurz halten konnte, ganz ohne Tobsuchtsanfall und Schlüsselbundwerferei. Und sie war stolz darauf. Nachlassen konnte man immer noch. Hier und da ein Zuckerbrötchen aus heiterem Himmel. (Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe, S. 9)


Schalansky, Judith: Der Hals der Giraffe [3]

  Neuerdings sollte es nicht mal mehr Menschenrassen geben. Wer das leugnete, war blind. Daß ein Neger anders als ein Eskimo aussah, war ja wohl offensichtlich. Wenn es Rinderrassen gab, dann gab es auch Menschenrassen. Selbst Mendels Gesetze waren heute nur noch Regeln. Alles nur noch Syndrome, nach ihren Entdeckern benannt. Wie bei Inseln. Gehißte Fahnen in kranken Körpern. Durch Diagnosen unsterblich werden. Down, Marfan, Turner, Huntington. Ohne Hinweis mehr darauf, wie schlimm das alles war: Schwachsinn, Zwergenwuchs, Plattfüße, Unfruchtbarkeit. Der erbliche Veitstanz. Früher Tod. Das Leben mit vierzig vorbei. Als ob es sonst anders wäre. Das galt ja für alle. Zumindest für jede Frau. Ein Drittel der gesamten Lebensspanne für nichts und wieder nichts. Postreproduktives Überleben. Das gab es auch nur beim Menschen. Die Gene überwinterten in unserem Körper und warteten auf bessere Zeiten. Auf den Ausbruch, irgendwann. Herumgeschleppte Defekte. Genetik war dramatisch. (Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe, S. 112)


Schischkin, Michail: Venushaar

  Ein Ferkel mit lustigem Schwänzchen rennt in der Küche umher. Ich spiele mit ihm, wir sind Freunde geworden. Es grunzt so ansteckend! Bald grunzen wir im Duett, quietschen vor ferkeliger Lust. Dann sehe ich es auf dem großen Teller im Eßzimmer wieder, mit immer noch lustig geringeltem Schwanz. Ich heule und möchte am liebsten aus dem Zimmer rennen. Am schrecklichsten war, das weiß ich noch, als man mir das abgeschnittene Schwänzchen auf den Teller legen wollte - zur Beruhigung! (Michail Schischkin: Venushaar)


Schischkin, Michail: Venushaar [2]

  Bei Tisch darf man weder zappeln noch albern, die Hände gehören keinesfalls auf die Knie, sondern auf den Tisch, und das nicht irgendwie, sondern so, daß beide Zeigefinger den Tellerrand berühren. Seine Majestät tun es genauso, heißt es. Mama sagt, daß jeder Mensch im Leben ein Mal einen Baum pflanzen und einen Brunnen graben muß. Jedes Kind hat in unserem Vorgarten sein Streifenbeet, da pflanzen wir etwas und gießen fleißig. Ich komme jeden Tag und sehe nach, wie meine Erbslein sich ans Licht kämpfen, wie die grünen Sprösslinge wachsen. Eines Nachts klettern irgendwelche Lausbuben aus Temernik über den Zaun und zertrampeln alles. Mama will uns überreden, neu anzupflanzen, aber ich mag nicht mehr. Morgens trägt Mama den Mantel mit den weiten Ärmeln, in die hinein den Kopf zu stecken Spaß macht. Nach dem Frühstück trinken die Erwachsenen Kaffee, und wir Kinder kriegen von Mama ein Stück Zucker auf dem Löffelchen kredenzt, eingetunkt in den schwarzen Kaffee in ihrer Tasse. Ich versuche Mama die Hand abzulecken, denn sie nennt mich immer eine Schmeichlerin, ich verstehe: Speichlerin und will dem gerecht werden. ich mag es, wenn Mama Briefe schreibt, dann darf ich manchmal am Zeilenende das Ausrufezeichen setzen. (Michail Schischkin: Venushaar)


Schischkin, Michail: Venushaar [3]

  Heute habe ich Mama endlich gesagt, daß ich Schauspielerin werden will und nach dem Gymnasium an die Moskauer Schauspielschule gehe. Zuerst war sie sprachlos, dann brach es aus ihr hervor. Ich solle ja nicht glauben, daß sie mich gehen lasse, brüllte sie, die Strudel des Bohemelebens würden mich verschlucken, so drückte sie sich aus. Daraufhin erklärte ich ihr, daß ich das geruhsame bürgerliche Leben, bestehend aus Lug und Trug und Langeweile, für weitaus schlimmer halte - und daß ich mein Leben der Kunst weihen möchte. Sie stürzte zum Büfett, ihre Tropfen holen. "Was weißt du schon vom Theater! Alle träumen davon, eine Jermolowa oder Sawina zu werden, und was geschieht? Sie werden die Mätressen gut betuchter Mäzene und spielen arme Bauersfrauen mit Tausendrubelringen im Ohr. Oder Theaterschindmähren mit vierzig Rubeln Gnadenbrot!" (Michail Schischkin: Venushaar)


Schlink, Bernhard: Selbs Justiz

  Ich empfand eine unsaubere Mischung aus beruflichem Ehrgeiz, Respekt für den Gegner, keimender Eifersucht, klassischer Rivalität zwischen Jäger und Gejagtem, Neid auf Mischkeys Jugend. Ich weiß zwar, daß dies die Unsauberkeit der Welt ist, der nur die Heiligen entrinnen und die Fanatiker meinen, entrinnen zu können. Gleichwohl stört sie mich manchmal. Weil so wenige sie sich eingestehen, denke ich dann, nur ich litte unter ihr. Auf der Universität in Berlin hatte mein Lehrer Carl Schmitt uns Studenten eine Theorie vorgetragen, die reinlich zwischen dem politischen und dem persönlichen Feind unterschied, und alle waren überzeugt und fühlten sich in ihrem Antisemitismus gerechtfertigt. Schon damals hatte mich beschäftigt, ob die anderen die Unsauberkeit ihrer Gefühle nicht aushalten konnten und bemänteln mußten oder ob mein Fähigkeit, zwischen Persönlichem und Sachlichem gefühlsmäßig eine klare Grenze zu ziehen, unterentwickelt war. (Bernhard Schlink: Selbs Justiz, S. 83)


Schlink, Bernhard: Selbs Justiz [2]

  Es war die Zeit der Schulferien. Die Geschäfte und Straßen waren leerer, mein Autofahrerblick entdeckte an den unwahrscheinlichsten Stellen freie Parkplätze, und über der Stadt lag sommerliche Stille. Ich hatte aus den Ferien jene Leichtigkeit mitgebracht, die einen nach der Rückkehr die vertraute Umgebung zunächst neu und anders erleben läßt. Dies alles gab mir ein Gefühl des Schwebens, das ich noch auskosten wollte. Den Gang ins Büro verschob ich auf den Nachmittag. Bang spazierte ich zum 'Kleinen Rosengarten': Würde er wegen Betriebsferien geschlossen sein? Aber schon von weitem sah ich Giovanni mit der Serviette überm Arm im Gartentor stehen. "Du wiedär zurück von Griechän? Griechän nix gut. Komm, ich dich machän Gorgonzolaspaghetti." "Si, Ittaker prima." Wir spielten unser Deutscher- unterhält-sich-mit-Gastarbeiter-Spiel. (Bernhard Schlink: Selbs Justiz, S. 9)


Schlink, Bernhard: Selbs Justiz [3]

  Die Vorstellung, daß sich jemand selbst das Bein brach, war mir entsetzlich. Als ich ein kleiner Junge war, erzählte mir meine Mutter zur Illustration männlicher Willensstärke, Ignatius von Loyola habe sich das Bein, als es nach einem Bruch falsch zusammengewachsen war, selbst mit dem Hammer wieder gebrochen. ich habe Selbstverstümmler immer verabscheut, den kleinen Spartaner, der sich vom Fuchs den Bauch zerfleischen ließ, Mucius Scaevola und Ignatius von Loyola. Aber eine Million hätten sie meinetwegen alle kriegen können, wenn sie dadurch aus den Schulbüchern verschwunden wären. (Bernhard Schlink: Selbs Justiz, S. 100)


Schlink, Bernhard: Selbs Justiz [4]

  Mein alter Freund bei der Heidelberger Polizei ist Hauptkommissar Nägelsbach. Er wartet auf seine Pensionierung; seit er mit fünfzehn als Bote auf der Staatsanwaltschaft Heidelberg angefangen hat, hat er zwar schon den Kölner Dom, den Eiffelturm, das Empire State Building, die Lomonossow-Universität und das Schloß Neuschwanstein aus Streichhölzern gebaut, aber den Nachbau des Vatikans, der sein eigentlicher Traum und ihm neben dem Polizeidienst nur zuviel ist, hat er auf den Ruhestand verschoben. Ich bin gespannt. Mit Interesse habe ich die künstlerische Entwicklung meines Freundes verfolgt. Bei seinen früheren Arbeiten sind die Streichhölzer alle etwas kürzer. Damals haben seine Frau und er die Schwefelköpfchen mit der Rasierklinge abgetrennt; er wußte noch nicht, daß die Zündholzfabriken auch kopflose Streichhölzer abgeben. Mit den längeren Streichhölzern haben die späteren Bauten etwas gotisch Ragendes bekommen. Weil seine Frau ihm mit den Streichhölzern nicht mehr helfen mußte, begann sie, ihm bei der Arbeit vorzulesen. Sie fing mit dem Ersten Buch Mose an und ist gerade bei der 'Fackel' von Karl Kraus. Hauptkommissar Nägelsbach ist ein gebildeter Mann. (Bernhard Schlink: Selbs Justiz, S. 107)


Schlink, Bernhard: Selbs Justiz [5]

  Hesseler saß an seiner Schreibmaschine und tippte mühsam. Ich werde nie verstehen, warum man Polizisten nicht richtig Schreibmaschine schreiben beibringt. Es sei denn, die Verdächtigen und Zeugen sollen durch den Anblick des tippenden Polizisten gefoltert werden. Es ist eine Folter; der Polizist bearbeitet die Schreibmaschine hilflos und gewaltsam, sieht dabei unglücklich und verbissen aus, ist zugleich ohnmächtig und zum äußersten entschlossen - eine brisante und beängstigende Mischung. Und wenn man nicht zur Aussage bewogen wird, dann wird man jedenfalls davon abgehalten, die einmal gemachte, vom Polizisten in Form und Schrift gebrachte Aussage zu ändern, mag der Polizist sie noch so sehr verfremdet haben. (Bernhard Schlink: Selbs Justiz, S. 108)


Schmidt, Jochen: Abschied aus der Umlaufbahn

  Natürlich kann ich nicht wissen, ob ich nicht auch jetzt ein falsches Leben führe, weil meiner Zeit für das, was ich eigentlich bin, noch die Vorstellung fehlt. Wie jemand, der nie erfahren wird, daß er der Erfinder der Hängematte sein könnte, weil er in einer Gegend lebt, in der die Bäume nicht nah genug beieinanderstehen. Wenn ich uns am Abend in den Verkehrsmitteln sah, wo wir nicht das Recht genossen, uns wenigstens in den Kurven aneinanderzulehnen, kam es mir manchmal vor, als seien wir Geiseln, um deren Auslösung sich niemand mehr bemüht. Ich begrüße es natürlich, wenn die Menschen zu erschöpft sind, mich zu beachten, mit allem anderen habe ich schlechte Erfahrungen gemacht. (Jochen Schmidt: Abschied aus der Umlaufbahn)


Schmidt, Jochen: Müller haut uns raus [1]

  Jens gab in kürzester Zeit den gesparten Sold für Essen und Alkohol aus und begann danach, sich seine Brötchen von den Paletten zu klauen, die damals noch nachts vor der Kaufhalle abgestellt wurden. Er wollte an der Kunsthochschule Malerei studieren, aber ein Selbstbildnis beim Onanieren überzeugte seine Eltern nicht davon, daß sie ihn unterstützen mußten, sondern daß es Zeit für ihn war auszuziehen. Er schaffte seine ganze Habe in eine besetzte Wohnung, es war ja nur eine Matratze und viele Kassetten. Von seinen 100 Begrüßungsgeld kaufte er sich Schallplatten, aber nicht solche, die jeder gekauft hätte, sondern solche, auf deren B-Seite eine halbe Stunde lang die Geräusche von Fledermäusen zu hören waren. (Jochen Schmidt: Müller haut uns raus)


Schmidt, Jochen: Müller haut uns raus [2]

  Ich kannte ja ihr hohes Menschenideal, dem nur die Indianer gerecht wurden, die weisesten, schönsten, edelsten und friedlichsten Menschen auf der Welt, mit denen sie lieber gemeinsam verhungern wollte, als eine unphilosophische, korrumpierte Existenz im europäischen Denkgefängnis zu führen. Schon in den indianischen Sprachen hätten sich im Gegensatz zu allen anderen Sprachen die Wörter nicht von den Dingen entfremdet. Man könne in ihnen deshalb eigentlich nur beten und singen. Das indianische Denken stehe im Einklang mit der Welt, wir könnten kaum eine Ahnung davon bekommen. Alles drehe sich in diesem Denken um den Kreis, deshalb sei es auch nicht den Irrweg des europäischen Denkens gegangen, sondern immer wieder zu sich zurückgekommen. "Der Kreis", sagte sie, "im Kreis ist die Wahrheit." "Welche Wahrheit?" "Die des Kreises." "Und was ist mit dem Quadrat?" "Mach dich nicht lustig, das steht dir nicht zu." Sie borgte mir ein Buch mit Reden eines indianischen Medizinmannes, in denen tatsächlich viel vom Kreis die Rede war: Ernährungskreis, Lebenskreis, Tierkreis, Tipikreis, nur das Buch selbst war viereckig. (Jochen Schmidt: Müller haut uns raus)


Schmidt, Jochen: Müller haut uns raus [3]

  ... hatte sich die Katechetin damals in der Christenlehre redliche Mühe gegeben, uns die Bibel näherzubringen. Um uns zu ködern, las sie uns wochenlang aus den "Kindern von Bullerbü" vor, natürlich nicht aus dem Originalbuch, das niemand besaß, sondern aus einer mit Durchschlagpapier abgetippten, zerfledderten Version. Sie war sehr tolerant und sah großzügig darüber hinweg, wenn wir den Mädchen an den Haaren zogen, nur lutschen durften wir nichts, und wenn sie doch einmal bei jemandem einen Drops vermutete, mußte er ihr alles, was im Mund hatte, in die Hand spucken. Sie brachte uns auch bei, daß man beim Beten die Augen schloß. Sie konnte allerdings nicht kontrollieren, ob wir statt dessen heimlich Fratzen schnitten, weil sie sich als einzige daran hielt. (Jochen Schmidt: Müller haut uns raus)


Schmidt, Jochen: Zuckersand [1]

  Wenn ich Klara eine Freude machen will, reicht es, ihr einen Tee zu kaufen. Die Sorten werden inzwischen nicht mehr nach dem Inhalt klassifiziert, sondern nach emotionalen Zuständen oder seelischen Entwicklungsschritten, die der Tee unterstützen soll. "Erleuchtung", "Klarer Geist", "Ruhige Seele", "Loslassen", "refresh", "Einklang", "Hier & Jetzt", "Zeit zum Ankommen", "move on", "Frauen Balance" und "Frauen Power". Mir ist diese Einteilung noch viel zu ungenau. Ich hätte gerne ein Teesortiment für feinere Gefühlsnuancen: "Nicht abwarten können, was der Partner vom Geburtstagsgeschenk halten wird"-Tee "Dem Kind nachwinken, wenn es zum erstenmal alleine zur Schule geht"-Tee "Nach Wochen endlich wieder die Wohnung geputzt und sogar den Kühlschrank ausgewischt haben"-Tee "Plötzlich Angst bekommen, ohne seinen Partner nicht mehr leben zu können"-Tee "Sich auf eine neue Staffel der Lieblingsserie freuen, aber dann will der DVD-Player sie nicht abspielen, weil der Ländercode nicht stimmt"- Tee "Nicht vergessen können, wie jemand seinen Hund am Halsband gezerrt hat"-Tee. (Jochen Schmidt: Zuckersand)


Schmidt, Jochen: Zuckersand [2]

  "Was wär dir denn peinlich?" "Zum Beispiel mit einer Melone in der Hand U-Bahn zu fahren." "Das fände ich gar nicht peinlich." "Oder wenn man so strauchelt auf der Straße. Aber nicht, wenn man richtig hinfällt." "Wo wachsen eigentlich Melonen?" "An Bäumen? Aber dann müßte man sie pflücken, bevor sie runterfallen, weil sie sonst kaputtgehen." "Vielleicht pflanzt man die Melonenbäume in Sumpfgebieten, wo der Boden weich genug für die Landung ist?" "Aber dann wäre es eine geradezu unmenschliche Arbeit, die Früchte einzusammeln." "Nicht, wenn man spezielle, aus Palmwedeln geflochtene Sumpfschuhe benutzt." "Ich denke eher, daß die Melonenbäume im Wasser stehen wie Reispflanzen und die Melonen durch die Strömung zu einem Sammelpunkt getrieben werden." "Dafür könnte man auch dressierte Delphine verwenden. Die sind teilweise intelligenter als wir." "Dann würden sie das aber nicht machen." "Man muß es ihnen eben vorleben, Sanktionen bringen nichts." "Wichtig ist, daß man authentisch bleibt. Nur wer 'Ja' zu sich sagt, kann auch 'Nein' zu anderen sagen." (Jochen Schmidt: Zuckersand)


Schmidt, Olaf: Friesenblut [1]

  Damals hatten sie Friesisch miteinander gesprochen, eine klangvolle, dabei eigenartig kantenlose Sprache, anders als das Deutsche. Seine Mutter-, nein Großelternsprache. Eine Sprache, die es eigentlich gar nicht mehr geben durfte, die vergessene Zwillingsschwester des Englischen. Das Friesische hatte nicht wie das Angelsächsische vornehm geheiratet. Es war ledig geblieben und dämmerte nun in diesem entlegenen Winkel seinem Ende entgegen. Allerdings war schon vor Jahrhunderten sein baldiges Aussterben vorausgesagt worden. Aber es war zäh, das alte Tantchen. (Olaf Schmidt: Friesenblut, S. 24)


Schmidt, Olaf: Friesenblut [2]

  Olufs Vater war dagegen von dem unausstehlichsten Geize besessen, geradezu die fleischgewordene Mesquinerie. So soll eines Tages Brar das Kochbuch seiner Frau kurzerhand ins Feuer geworfen haben, weil ihm die darin empfohlenen Mengen an Butter und Eiern zu reichlich erschienen waren. Alle Tage gab es nichts als Graupenbrei mit Milch zu essen, dabei durfte der Brei nur wenig gesalzen werden, da der Hausvater Salz für giftig hielt. Nur am Weihnachtsabend war Reis zugelassen. Seinen Kindern gewöhnte Brar Braren eine sorgfältige, dabei außerordentliche kleine und zierliche Schrift an, um Papier und Tinte zu sparen. Aber als Kardinalsünde und unübertrefflichen Gipfel der Verschwendung verabscheute er das Rauchen von Tabak. Das Rauchen besorgt der Schornstein! Für seine Söhne bedeutete dieser Spruch, den der Alte bei jeder Gelegenheit anzubringen niemals müde wurde, die unerbittliche Verdammung zur Abstinenz. Nach Brar Brarens Hinscheiden sollen sich seine zahlreichen Söhne und Enkel indes dem Tabakgenuß mit geradezu pathologischer Passion ergeben und sich mit einem solchen Eifer ins Grab gepafft, geschnupft und gepriemt haben, daß ihr ziemlich synchroner Abgang eine Altonaer Tabaksfabrik, welche sich ganz auf die Belieferung der Utlande verlegt hatte, geradewegs in den Bankrott gestürzt haben soll. (Olaf Schmidt: Friesenblut, S. 40)


Schmitz, Hermann Harry: Die Taufe und andere... [3]

  Vor nichts in der Welt habe ich einen so gewaltigen Respekt wie vor jenen Männern, die hinter Schaltern thronen. Es ist merkwürdig damit! Solche Männer mögen uns in der elektrischen Bahn gegenübersitzen oder am selben Tisch ihr Bier trinken oder im Dampfbad neben uns schwitzen - ihre harmlosen Gesichter werden uns nicht beunruhigen oder auch nur den geringsten Eindruck auf uns machen. Wir werden ihnen vielleicht mit dem Ellenbogen in die Seite rennen oder ihnen auf die Füße treten oder ihnen mit der brennenden Zigarre in das Gesicht laufen und uns nur matt entschuldigen. Unsere Ehrfurcht ist gering. Aber es wird anders, wenn diese Menschen hinter ihrem Schalter sitzen. Sie erscheinen uns jetzt wie die Priester eines starren Prinzips, einer kosmischen Institution, die hinter der Schalterwand wie in heiligen Tempelnischen sitzen, abgesondert von der Welt. Nach ihrem ewig weisen Dünken lüpfen sie ab und zu ein wenig den Vorhang, der sie den fürwitzigen Augen der profanen Menge entzieht, um der Herde Begehr, die sich an dem geweihten Orte drängt, zu erkunden. Es gibt trotzige Menschen, die selbst vor Assessoren und Leutnants unbedingte Hochachtung haben, sich der Autorität der Schaltermänner aber demütig beugen. (Hermann Harry Schmitz: Von Männern, die an Schaltern sitzen)


Schmitz, Hermann Harry: Die Taufe und andere... [2]

  Vor nichts in der Welt hat der Mensch einen so unbedingten heiligen Respekt wie vor der Notbremse. Sie erscheint ihm wie eine geheimnisvolle unbekannte Kraft, die, von tollkühner Menschenhand gelöst, mit schwerer Vergeltung den übermütigen Täter trifft. Eltern weisen Kindern mit erhobenem Finger bedeutsam den geheimnisvollen Hebel, warnen sie, ihn zu berühren oder auch nur anzuschauen. Lepra oder Cholera oder die Pest erscheint den Menschen als leichter Schnupfen im Vergleich zu der Katastrophe der Auslösung der unheimlichen Gewalt der Notbremse. Die schreckliche Furcht basiert im Urgrunde auf einer atavistischen Veranlagung oder einer Infektion mit dem Respektbazillus, der uns schon von Jugend auf im Blute gärt, sich mit den Jahren fortgesetzt vermehrt und diese hektische Subordination und zitternde Scheu vor der amtlichen Verodnung hervorbringt. Protokoll! Amtliche Sistierung! Diese Worte sind Keulenschläge. Diese Worte lassen die Menschen mit Schauder überlaufen. (Hermann Harry Schmitz: Die Diva und die Notbremse)


Schmitz, Hermann Harry: Die Taufe und andere... [3]

  Es gab Suppe mit langen Fadennudeln. So lange Nudeln hatte ich noch nie gesehen. Die Dinger mit einer gewissen Grazie zu verschlingen, das ist nicht ganz leicht. Vom Löffel flutschten sie zurück in die Suppe oder auf das Tischtuch oder auf meine Rockaufschläge, viele blieben auch am Kinn und an den Backen hängen und bildeten einen wallenden Bart. Ich wurde nervös. Die Leute guckten schon. Der Junge mir gegenüber lachte laut und stopfte sich mit den Fingern die Nudeln klumpenweise in den Mund. Seine Mutter sagte, das sei ein echtes süddeutsches Gericht. Jetzt war mir ein Nudelwirrwarr auf den Boden gefallen, meine Füße verwickelten sich darin. Ich strampelte mit den Beinen, um mich aus der glitschigen Umschlingung zu befreien, trat dabei unter den Tisch, daß die Teller hochsprangen. Ich wurde immer nervöser. Jetzt hing mir eine lange Nudel zum Mund heraus, ich sog, sie hatte sich um einen Knopf verschlungen. Plötzlich sprang der Knopf ab, und das Ende der Nudel schnellte mir ins Gesicht. (Hermann Harry Schmitz: Die Taufe und andere Katastrophen, S. 110)


Schmitz, Hermann Harry: Die Taufe und andere... [4]

  Ich schätze Dickens ganz enorm, kann aber seine Verehrung für den altenglischen Kamin, dem er als Stimmungsstimulans in jedem seiner Romane ein begeistertes Lob singt, nicht teilen. Ich betrachte, seitdem meinem alten Freunde Dlany Trainenteer aus dem Staate Illinois am Kamin des Hotels Gletsch am Rhonegletscher die seltsame Sache passiert ist, jeden Kamin mit einem gewissen Grauen. Dem guten, sehr zertreuten Dlany waren nämlich die Beine, mit denen er ganz in Gedanken in den glimmenden Holzscheiten herumgestochert hatte, angekohlt. Als er sich dann endlich, durch den merkwürdig brenzlichen Geruch aufmerksam gemacht, erhob, war er drei Köpfe kleiner geworden. Er konnte einem leid tun, der brave Bursche; alle Hosen mußte er kürzen lassen. (Hermann Harry Schmitz: Die Taufe und andere Katastrophen, S. 115)


Schmitz, Hermann Harry: Die Taufe und andere... [5]

  Im Familienrat machte man eines Tages Ernst und beschloß definitiv, Onkel Bogumil in eine Trinkerheilanstalt zu schaffen. Das konnte so nicht weitergehen, Onkel Bogumil trank täglich zwanzig Flaschen Rheinwein und zwei Pullen dreisternigen Kognak. Das tat er nun schon seit vielen Jahren. Seine Nase bekam dabei das Aussehen eines Glühstrumpfes. Der Datterich am Morgen wurde chronisch; und wenn ihn der alkoholhafte Stumpfsinn überkam, konnte es schon sehr schlimm werden. Dann mochte es ihm gefallen, plötzlich an die Hängelampe zu springen und sich hin- und herzuschaukeln oder die Bilder von der Wand zu nehmen und die Farben abzuschlecken. Auch versuchte er, auf Schränke zu klettern. Stundenlang hüpfte er auf einem Bein im Zimmer herum, oder er war bemüht, sich auf den Kopf zu stellen. Sah er eine Fliege, so konnte er unbändig lachen. Er trieb noch anderes irres Zeug. (Hermann Harry Schmitz: Die Taufe und andere Katastrophen, S. 131)


Schnitzler, Arthur: Der Weg ins Freie [1]

  "Ich hab nämlich die Absicht weiter zu fahren, nach Ägypten, nach Syrien, wahrscheinlich auch nach Palästina. Ja, vielleicht ist es nur, weil man älter wird, vielleicht weil man soviel vom Zionismus liest und dergleichen, aber ich kann mir nicht helfen, ich möcht Jerusalem gesehen haben, eh ich sterbe." Frau Ehrenberg, zuckte die Achseln. "Das sind Sachen", sagte Ehrenberg, "die meine Frau nicht versteht, - und meine Kinder noch weniger. Was hast du davon, Else, du auch nicht. Aber wenn man so liest, was in der Welt vorgeht, man möcht selber manchmal glauben, es gibt für uns keinen andern Ausweg." "Für uns?" wiederholte Nürnberger. "Ich habe bisher nicht die Beobachtung gemacht, daß Ihnen der Antisemitismus auffallend geschadet hätte." "Sie meinen, weil ich ein reicher Mann geworden bin? Wenn ich Ihnen sagen möcht, ich mach mir nichts aus dem Geld, würden Sie mir natürlich nicht glauben, und Sie hätten Recht. Aber wie sie mich da sehen, ich schwör Ihnen, die Hälfte von meinem Vermögen gäb ich her, wenn ich die ärgsten von unsern Feinden am Galgen säh." "Ich fürchte nur", bemerkte Nürnberger, "Sie würden die Unrichtigen hängen lassen." "Die Gefahr ist nicht groß", erwiderte Ehrenberg, "greifen Sie daneben, erwischen Sie auch einen." (Arthur Schnitzler: Der Weg ins Freie)


Schnitzler, Arthur: Der Weg ins Freie [2]

  Sie sei doch eigentlich keine lyrische Natur. Georg fragte sie zum Scherz, ob sie nicht vielleicht die geheime Absicht habe zur Bühne zu gehen. "Mit dem bissel Stimme!" sagte Else. Nürnberger stand neben ihnen. "Das wäre doch kein Hindernis", bemerkte er. "Ich bin sogar überzeugt, daß sich sehr bald ein moderner Kritiker fände, der Sie gerade deswegen als bedeutende Sängerin ausriefe, Fräulein Else, weil Sie keine Stimme besitzen, der aber dafür irgend eine andere Gabe, zum Beispiel die der Charakteristik bei Ihnen entdeckte. So wie es heutzutage namhafte Maler gibt, die keinen Farbensinn haben, aber Geist; und Dichter von Ruf, denen zwar nicht das geringste einfällt, denen es aber gelingt zu jedem Hauptwort das falscheste Epitheton zu finden." (Arthur Schnitzler: Der Weg ins Freie)


Schnitzler, Arthur: Der Weg ins Freie [3]

  Heinrich stand am Klavier im Gespräch mit Nürnberger und bemühte sich, wie er es oftmals tat, ihn zu einer neuen Arbeit oder zu einer Herausgabe älterer Schriften zu bestimmen. Nürnberger wehrte ab. Der Gedanke, seinen Namen wieder in die Öffentlichkeit gezerrt zu sehen, im literarischen Wirbel der Zeit mitzutreiben, der ihm widerlich und albern zugleich erschien, erfüllte ihn geradezu mit Schaudern. Er hatte keine Lust, da mit zu konkurrieren. Wozu? Cliquenwirtschaft, die sich kein Mäntelchen mehr umnahm, war überall am Werke. Gab es noch ein tüchtiges, ehrlich strebendes Talent, das nicht jeden Augenblick gefaßt sein mußte, in den Kot gezogen zu werden; war noch ein Flachkopf zu finden, der sich nicht ausweisen konnte, in irgend einem Blättchen als Genie erklärt worden zu sein? Hatte Ruhm in diesen Tagen noch das geringste mit Ehre zu tun? Und übersehen, vergessen werden, was das auch nur ein Achselzucken des Bedauerns wert? Und wer konnte am Ende wissen, welche Urteile sich in der Zukunft als die richtigen erweisen würden? Waren nicht die Tröpfe wirklich die Genies und die Genies die Tröpfe? Es war lächerlich, sich mit dem Einsatz seiner Ruhe ja seiner Selbstachtung in ein Spiel einzulassen, in dem auch der höchstmögliche Gewinn keine Befriedigung versprach. (Arthur Schnitzler: Der Weg ins Freie)


Schnitzler, Arthur: Der Weg ins Freie [4]

  "Den letzten Akt lesen Sie mir morgen vor, Heinrich", sagte Nürnberger. "Ich denke nicht daran", erwiderte Heinrich lachend. "Wenn die zwei ersten Akte im Theater so durchgefallen wären, wie jetzt vor Ihnen, lieber Nürnberger, so könnte man das Ding doch auch nicht zu Ende spielen. Nehmen wir an, Nürnberger, Sie seien entsetzt aus dem Parkett ins Freie gestürzt. Den Hausschlüssel und die faulen Eier erlaß ich Ihnen." "Donnerwetter!" rief Georg aus. "Sie übertreiben wieder einmal, Heinrich", sagte Nürnbgerer. "Ich habe mir nur erlaubt, einige Einwendungen vorzubringen", wandte er sich an Georg, "das ist alles. Aber er ist ein Autor!" "Es kommt alles auf die Auffassung an", sagte Heinrich. "Es ist schließlich auch nichts andres als eine Einwendung gegen das Leben eines Mitmenschen, wenn man ihm mit der Hacke den Schädel einschlägt, nur eine ziemliche wirksame." Er deutete auf sein Manuskript und wandte sich zu Georg. "Wissen Sie, was das ist? Meine politische Tragikkomödie. Kranzspenden dankend verbeten." (Arthur Schnitzler: Der Weg ins Freie)


Schulte, Michael: Zitroneneis [1]

  Unvergeßlich jene Tage, an denen man ein altes, vergriffenes Buch findet oder eine neue Frau kennenlernt. Würde man öfter und systematischer die Antiquariate durchforsten, wäre die Privatbibliothek schon wesentlich reichhaltiger, wäre man weniger schüchtern, würde man gut und gern doppelt so viele Frauen kennen als man kennt, hätte man sich mit doppelt so vielen Frauen zerstritten, könnte man auf eine farbigere Biografie zurückblicken. Oft sieht man in der Kneipe eine Frau, allein sitzend, vielleicht sogar alleinstehend, deren Bekanntschaft zu machen man äußerst geneigt ist, man bestellt noch ein paar Bier, trinkt sich Mut an, und ist man schließlich beherzt genug, sich der Dame zu nähern, verfügt man gerade noch über genügend Vernunft, um sich zu erinnern, daß der erste Eindruck von entscheidender Bedeutung ist, in anderen Worten, die Frau, die da an dem Tisch sitzt und ihren dritten Kamliientee trinkt, sieht nicht so aus, als sei sie verrückt nach schwankenden, lallenden Männern. (Michael Schulte: Zitroneneis, S. 7)


Schulte, Michael: Zitroneneis [2]

  Manchmal kommt man nicht umhin festzustellen, daß die Schöpfung alles andere als vollkommen ist. Aber man darf nicht ungerecht sein, manches ist durchaus gelungen. Der beste Einfall des Schöpfers war vielleicht, jedes Lebewesen mit der Fähigkeit des Schlafens auszustatten. Da hätte er ruhig mehr ins volle greifen sollen. Wenn die Menschen statt acht Stunden täglich zweiundzwanzig Stunden schlafen müßten, würden sie weniger Unheil anrichten. Es bliebe ihnen gerade Zeit, sich zu waschen, zu essen, abzuspülen und das Bett zu machen. (Michael Schulte: Zitroneneis, S. 38)


Schulte, Michael: Zitroneneis [3]

  Wenn ich am frühen Nachmittag aufwachte, war Clarissa schon längst aus dem Haus, um skizulaufen. Ich aß einen Teller in Milch eingeweichter Cornflakes, trank eine Tasse Kaffee und setzte mich dann an das verstimmte Klavier der Tante, um die Anthologie amerikanischer Lyrik in Töne zu setzen. Die meisten Lieder waren in trübem Moll gehalten, zuweilen bediente ich mich der Zwölftontechnik. Selbst die fröhlichsten Hochzeits- und Frühlingsgedichte hörten sich mit meiner Musik an, als wären sie von Käthe Kollwitz auf dem Totenbett vertont worden. (Michael Schulte: Zitroneneis, S. 128)


Schulte, Michael: Zitroneneis [4]

  Allerdings nervt es mich zuweilen, daß sie mir das Rauchen und Trinken abgewöhnen und frühes Aufstehen angewöhnen will. Zudem können wir uns nie am Wochenende sehen, da sie Freitag abend Frauengruppe hat und dann zwei Tage unerträglich ist. Angenommen, ich hätte Montag abend Männergruppe und wäre dann ebenfalls zwei tage unerträglich, könnten wir uns nur donnerstags sehen, da ich aber keiner Männergruppe angehöre, können wir uns immer von Montag bis Freitagabend sehen, das heißt, friedlich ist es nur mittwochs, denn am Montag und Dienstag wirkt die Frauengruppe noch immer nach, und ab Donnerstag heizt sich Charlotte psychisch schon wieder auf, um in die rechte Stimmung für die Frauengruppe am Freitag zu geraten. In anderen Worten, wir schlafen jeden Mittwoch zusammen. (Michael Schulte: Zitroneneis, S. 173)


Schulte, Michael: Zitroneneis [5]

  Ich sitze in der Küche, schaue aus dem Fenster, beobachte einen Hahnenkampf im Hof. In Indonesien haben die Tierschützer durchgesetzt, daß Hahnenkämpfe verboten wurden, aber in Deutschland hat es nie Hahnenkämpfe gegeben, darum sind sie auch nicht verboten. Früher bin ich im Sommer oft nach Spanien gefahren, um mir Stierkämpfe anzusehen, wie der junge Hemingway, aber inzwischen mache ich mir nichts mehr aus Stierkämpfen, wie der alte Hemingway. Ich mache mir auch nichts mehr aus Hahnenkämpfen, dennoch sehe ich zu, da ich nicht weiß, was mich sonst abhalten könnte, endlich meine Wohnung sauberzumachen. (Michael Schulte: Zitroneneis, S. 200)


Schulte, Michael: Zitroneneis [6]

  Mein Vater ist Bettnässer. Jeden Tag muß ich das Gummituch wechseln. Mein Vater hat das Zimmer neben dem Bad, und das Bett steht direkt neben der Badezimmertür. So verschütte ich am wenigsten, wenn ich das Gummituch zur Badewanne bringe, um es abzuwaschen. Unangenehm ist, daß ich jedesmal durch das Zimmer meines Vaters zu gehen gezwungen bin, wenn ich aufs Klo oder ins Bad muß. Sobald das Reihenhaus verkauft ist, werden wir wohl eine Wohnung mit zwei Badezimmern mieten. Allerdings, wenn mein Vater dann stirbt, brauche ich keine Wohnung mit zwei Badezimmern mehr. Entweder vermiete ich dann unter, oder ich ziehe um, oder ich heirate. (Michael Schulte: Zitroneneis, S. 217)


Schulte, Michael: Zitroneneis [7]

  Ich gehe nach Hause und schreibe einen Brief an den Bundestagsabgeordneten meines Wahlkreises und einen gleichlautenden an das Bundespostministerium, in dem ich vorschlage, die Höchstaufenthaltdauer in Telefonzellen gesetzlich zu begrenzen. In anderen Ländern wird diese Höchstaufenthaltdauer nicht durch Bestimmungen, sondern durch Sitten und Gebräuche geregelt. Wenn ich mich in Frankreich bei einem Dauertelefonierer beschwere, reicht dieser mir den Hörer, sagt: Dann reden Sie halt mit meiner Mutter weiter, und geht. (Michael Schulte: Zitroneneis, S. 225)


Schulte, Michael: Die endgültige Spülbürste [1]

  Nichts, außer dem Haupthaar, kann der Mensch an seinem Körper frei gestalten. Der Herr hat uns mit langen Haaren oder kurzen oder krummen Beinen ausgestattet, mit dicken oder flachen Bäuchen, mit kräftigen oder dürren Armen, mit ausladenden oder knorpeligen oder schnabelähnlichen Nasen, mit sehnigen oder fleischigen Ohren, ob es uns paßt oder nicht, man hat sich damit abzufinden. Und kurz bevor der Herr mit der Schöpfung des Menschen fertig war, dachte Er: 'O Gott, die Freiheit!' Und in letzter Sekunde versah Er den Menschen mit einem Schopf, den zu formen Er ihm überließ. Und mit Feuereifer stürzt sich der Mensch auf sein Haar, läßt es wachsen, schneidet es ab, färbt es, dreht, windet, stülpt, schnörkelt es um Stirn und Ohren, windet es zu Zöpfen, schnürt es zu Büscheln, stapelt und steckt es zu Türmen, oder läßt es verlottern und verfilzen, um seiner Gleichmut gegenüber der Schöpfung Ausdruck zu verleihen. (Michael Schulte: Die endgültige Spülbürste, S. 44)


Schulte, Michael: Die endgültige Spülbürste [2]

  Im Gegensatz zu den meisten Männern gehe ich ausgesprochen gerne einkaufen. Der Supermarkt ist eine Stätte der Begegnung. Wildfremde Menschen lächeln sich zu und kommen manchmal sogar ins Gespräch. Wenn mich eine Hausfrau interessiert, bleibe ich gewöhnlich vor den Salatgurken stehen, warte, bis die Hausfrau vorbeistreicht, und sage dann, halb Selbstgespräch, halb ihr zugewandt: "Schält man diese Dinger eigentlich oder nicht?" Das wirkt immer - der hilflose Mann, verloren in einer Welt, in der man nur mit praktischer Küchenerfahrung überleben kann. (Michael Schulte: Die endgültige Spülbürste, S. 64)


Schulte, Michael: Die endgültige Spülbürste [3]

  "Jeden Tag", sagte ich, "wird ein anderes festes oder flüssiges Nahrungsmittel als krebserzeugend erklärt; Schweinefleisch ist krebserzeugend, Fisch, Muscheln, Rindfleisch, Pflaumen, Erbsen sind krebserzeugend, ebenso Milch, Wein und Cola, aber haben Sie jemals gehört, daß Bier krebserzeugend sein soll? Bier ist so gesund, daß es eine Freude ist, vor allem das deutsche Bier, das nach mittelalterlichen Reinheitsgesetzen gebraut wird." Noch heute wird das Bier in gehobenen Kreisen als minderwertiges Getränk angesehen, nur weil es billig ist und von den kulturlosen Australiern hektoliterweise getrunken wird. Nach einer weitverbreiteten Meinung wurde das Bier von den alten, ebenfalls reichlich primitiven Germanen erfunden, die einzige Erfindung, neben einigem Kriegsgerät, dessen sich dieses rauhe Volk rühmen darf. Doch schon Jahrtausende früher, die alten Germanen wußten das nicht, hatten die alten Ägypter das Bier erfunden, eine Gesellschaft von erlesener Kultur und Lebensart. Die Pharaonen, da sind sich die maßgeblichen Archäologen, Ägyptologen und Altertumsforscher einig, bezechten sich mit Bier, während Wein den Sklaven und dem anderen Pöbel vorbehalten war. (Michael Schulte: Die endgültige Spülbürste, S. 113)


Schulte, Michael: Die endgültige Spülbürste [4]

  Der erste Spaziergang nach einer Krankheit - man öffnet die Haustür und kommt sich wie ein Strafgefangener bei wiedererlangter Freiheit vor. In Filmen scheint immer die Sonne, wenn der entlassene Gefangene auf die Straße tritt, und meistens eilt ihm irgendeine Verlobte entgegen, oder ein paar Kumpels holen ihn lachend in einem schwarzlackierten Citroen ab, schwärmen von alten Zeiten und weihen ihn ein, der neue Plan sei eine hundertprozentige Sache, nichts könne schiefgehen, alles werde wie am Schnürchen klappen, man habe extra auf ihn gewartet undsoweiter, doch der gerade entlassene Sträfling hat sich in der Einsamkeit seiner Zelle ganz fest vorgenommen, eine bürgerliche Existenz auszubauen, zu heiraten, sonntags in die Kirche zu gehen, den schlechten Umgang ein für allemal zu meiden, aber dann wäre der Film nach 10 Minuten zuende, wäre langweilig und ohne Zoff, weswegen er noch einmal, ein letztesmal den Tugendpfad verläßt, um an dieser todsicheren Sache teilzunehmen... (Michael Schulte: Die endgültige Spülbürste, S. 114f.)


Schulte, Michael: Die endgültige Spülbürste [5]

  Hätte mich jemand gefragt, warum ich nach New Old Silver Creek zurückgekommen sei, ich wäre die Antwort schuldig geblieben. Ich hasse alle Siedlungen mit weniger als 1 Million Einwohner, Kleinstädte mit ihrem Alltagsmief sind mir unerträglich, Kleinstädte mit ihren Normen und Vorurteilen, was auf dasselbe hinausläuft, mit ihren Gerüchten und Intrigen, die aus purer Langeweile gesponnen werden, ich liebe Großstädte, ich liebe Auspuffgase, Umweltverschmutzuntg, Verkehrslärm, überfüllte Straßen, überhöhte Mieten, unfreundliche Verkäufer und Kellner, streikende Müllabfuhr, Dreck, Gestank, Lärm, kurz, alle was man unter pulsierendem Leben versteht. Doch offenbar habe ich mein Schicksal nicht so recht in der Hand, denn immer weider verschlägt es mich in Kleinstädte und Marktflecken, von New Old Silver Creek nach West Orange und zurück, anstatt von New York nach Hong Kong, wie es mir eigentlich anstehen würde. (Michael Schulte: Die endgültige Spülbürste, S. 122)


Schulte, Michael: Elvis Tod

  Abgebrochener Versuch, die Hauptwörter dieses Buches zu kommentieren... // Der Architekt, der den Auftrag erhält, eine Satellitenstadt zu bauen, muß sich verpflichten, mindestens fünf Jahre in der von ihm geschaffenen Siedlung zu wohnen. // Das Buch, das meine Karriere am nachhaltigsten beeinflußt hat, sagte der Dichter, war das Sparbuch meiner Frau. Da mußte selbst der sonst so ernsthafte herzhaft lachen. // Der Vegetarier, den nach zwanzig Jahren fleischloser Kost plötzlich in einem Hotel ein unüberwindliches Verlangen nach einem Schnitzel überkam. Während er die Hotelhalle in Richtung Restaurant durchschritt, rief ihm der Portier mit gedämpfter Stimme nach: "der typische Gang eines Vegetariers, der beschlossen hat, endlich wieder einmal Fleisch zu essen." Diese Geschichte erzählte mir mein Großvater auf die Frage, was Menschenkenntnis sei.(Michael Schulte: Elvis Tod. Szenen aus meinem Leben, S. 87-94)


Schulte, Michael: Bambus, Coca-Cola, Bambus

  Egal, wo und in welchem Zustand man anderntags aufwacht, man weiß nur noch, daß man in den Stunden, ehe man einschlief, entsetzlich geistreich war, sich fähig glaubte, Weisheiten zu vermitteln, die in ihrer Prägnanz nie und nimmer ohne die gnädige Beihilfe des Alkohols zustandengekommen wären, daß man Persönliches preisgab, man weiß auch, daß man sich nicht zu schämen braucht, denn die Freunde im Trunk waren nicht minder geistreich und persönlich und unfähig zuzuhören, aber man schämt sich doch. (Michael Schulte: Bambus, Coca-Cola, Bambus, S. 23)


Schulte, Michael: Bisbee, Arizona

  Wenn Betsy Pope, dieses Bündel aus Energie, Geldgier, Charme und Größenwahn, in ihrer blonden Perücke und ihren Cowboystiefeln Main Street entlangschreitet, gehen die Straßenlaternen automatisch an und laden sich die Autobatterien auf, so sagt man wenigstens. Nicht selten ist ihr Ziel auf Main Street die First Interstate Bank, in der ich oft bescheiden und untertänig um einen Kleinkredit nachgesucht habe, um stets mit der Versicherung tiefsten Bedauerns abgewiesen zu werden. Betsy ist genauso pleite wie ich, aber ihre Technik Kreditwünsche zu äußern, unterscheidet sich wesentlich von der meinen. Wie ein Schneepflug dringt sie in die Bank, schiebt die niederen Angestellten zur Seite und walkt zum Schreibtisch des Direktors: "Honey", sagt sie, "ich brauche einen 20.000 Dollar Kredit. Es genügt, wenn ich die Piepen um drei Uhr haben." Der Direktor kommt nicht mal auf die Idee, ihre Forderung abschlägig zu behandeln. (Michael Schulte: Bisbee, Arizona, S. 92)


Schulte, Michael: Das Angebot der Woche [1]

  Der zweite Brief der Hausverwaltung - den ersten hatte er unbeantwortet gelassen - war eine Sammlung syntaktischer Drohgebärden, eine unmißverständliche Aufforderung, sich des Tiers hurtig zu entledigen, andernfalls... Herr Moltke unterbrach, genauer gesagt, beendete die Lektüre. Das Wort "andernfalls" rief Erinnerungen an seine Berufsjahre wach. Wie oft hatte er dieses Wort in den letzten Absatz seiner Schreiben fließen lassen, um behördlich gestützten Forderungen mit erfolgversprechendem Gewicht auszustatten! "Andernfalls" ist die wichtigste staatliche Verwaltungsvokabel, sie verbrieft weitgehend ein reibungsloses Zusammenleben, ertrotzt Recht und Ordnung, setzt Heerscharen von Juristen und Beamten in Lohn und Brot, verhindert und provoziert Kriege. Soziologisch gesehen und auf die menschliche Gesellschaft beschränkt, bedeutete Darwins Theorie vom Überleben der Stärksten und dem Untergang der Schwachen nichts anderes als der Umgang mit "andernfalls". Wer diesem Begriff die Stirn zu bieten vermag, wird seinen Platz behaupten. (Michael Schulte: Das Angebot der Woche. Katzengeschichten, S. 23)


Schulte, Michael: Das Angebot der Woche [2]

  Brian lag auf der Wiese hinter dem Haus und stellte fest, daß er die Schule haßte. Miss Ferguson, die Mathematiklehrerin, war offenbar nur zur Welt gekommen, um ihm das Leben schwer zu machen. Jedesmal, wenn es ein Gewitter gab, hoffte er, daß ein Blitz Miss Fergusson erschlagen möge. Er malte sich aus, wie sie auf der am Apfelbaum gelehnten Leiter stand, das Obst pflückte und in einem Korb schichtete, als plötzlich ein gewaltiger Blitzstrahl aus den Wolken fuhr und die Pädagogin zielsicher in zwei Hälften teilte. Man hat auch schon von übel ausgehenden Lebensmittelvergiftungen gehört, von tödlichen Stromschlägen während der Hausarbeit und von Lawinenunglücken; in der Halbwüste Südarizonas allerdings eher unwahrscheinlich. (Michael Schulte: Das Angebot der Woche. Katzengeschichten, S. 37)


Schulte, Michael: Die Flaschenpost des Herrn Debussy [1]

  Im Grunde meines Herzens bin ich Musiker, und welche Naturerscheinung böte akustisch etwas annähernd Großartiges! Und welche Naturerscheinung ist von solcher Gleichförmigkeit und Vielfalt in einem! Welche Naturerscheinung ist chemisch banalaer, doch zugleich rästselhafter, erotischer. Selbst wenn alle Rätsel des Lebens und des Kosmos erforscht sind, das Meer wird sein Geheimnis nicht preisgeben. (...) Die äußere Gestalt des Meeres läßt keine menschlichen Eingriffe zu. Jeden Wald kann man abholzen, jede Landschaft, jeden Garten verschandeln. Doch auf das Meer, Madame, kann niemand Gartenzwerge stellen. (Michael Schulte: Die Flaschenpost des Herrn Debussy, S. 40)


Schulte, Michael: Die Flaschenpost des Herrn Debussy [2]

  Dieses Land ist nichts für Miesepeter. Zu gerne würden die Immigrationsbeamten einen Blick in die Zukunft werfen, ein Futurugramm erstellen. Wenn die Genforschung mal weiter ist, wird sich jeder Einwanderer einer Untersuchung unterziehen müssen, um feststellen zu lassen, welche Erbanlagen er nach Amerika einschleppt, da möchte man ordentlich auf den Busch klopfen. Ich werde morgen ein blau-weiß-rot gestreiftes T-Shirt tragen und vom Betreten der Gangway an Kaugummi kauen, und ganz oben in meinem Koffer wird eine Bibel liegen. Das sollte genügen, um alle Zweifel zu zertreuen. (Michael Schulte: Die Flaschenpost des Herrn Debussy, S. 43)


Schulte, Michael: Die Flaschenpost des Herrn Debussy [3]

  Oft genug hatte ich unter hellhörigen Wohnungen zu leiden gehabt. Fernseher von oben, Ehestreit von nebenan, Violine von unten. Manchmal getrennt, oft gleichzeitig. Am schlimmsten war der Walddorflehrer Boris, der sein Töchterlein nur bei geöffneter Wohnungstür auf der Geige quietschen ließ. Als ich mich beschwerte, meinte er: "Das Kind muß sich entfalten." Jedes Mal, wenn sich das Kind entfaltete, ging ich die Treppe hinunter und knallte die Wohnungstür zu, was nur zu einer kurzen Unterbrechung der Bemühungen auf der Sperrholzstradivari führte. Der Boris grüßte mich nicht mehr, ich hielt einen Trinkhalm an sein Schlüsselloch und blies ihm schwangere Ameisen in die Wohnung. Das Verhältnis zu den anderen Mitbewohnern war nicht viel besser. Wenn die über mir den XY-Zimmermann volle Pulle verfolgten, legte ich meine übelsten Stockhausen- Platten auf. (Michael Schulte: Die Flaschenpost des Herrn Debussy, S. 30)


Schulte, Michael: Die Flaschenpost des Herrn Debussy [4]

  ...erreichte schließlich Timbuktu, ein widerliches Kaff, schlimmer als Puteaux vor den Toren von Paris, doch immerhin gab es Wasser da, weswegen Suzanne sofort den Aquarellkasten öffnete und mehrere afrikanische Impressionen in ihren Block malte, Marktszenen, die aus Kamelmist errichtete Häuser, Stillleben mit Melonen, die bei ihr wie grüne Fußbälle aussahen. Die Bilder wurden nach ihrer Rückkehr in einer Pariser Galerie ausgestellt und noch während der Vernissage allesamt zu gesalzenen Preisen verkauft, obwohl sie, wie in den Kritiken zu lesen stand, die schlechtesten seit Erfindung des Dachshaarpinsel waren. (Michael Schulte: Die Flaschenpost des Herrn Debussy, S. 35)


Schulte, Michael: Der Frühstücksdirektor

  Mitte Oktober eines jeden Jahres fing meine Hannoveraner Großmutter an, Weihnachtsplätzchen zu backen. In der Zeit zwischen Frühstück und Mittagessen und zwischen Mittag- und Abendessen stand sie in der Küche, schleppte Mehl, Zucker, Butter und Eier aus der Vorratskammer, knetete Teiggebirge durch, walzte den Teig flach und stach mit Blechförmchen Sterne, stilisierte Tannenbäume und Engel aus. Sie schob die Kuchenbleche in den vorgeheizten Backofen und wandte sich wieder den Teigmassen zu. In der Küche herrschten bald Temperaturen schlimmer als in der Hölle. Die Großmutter war rot abgelaufen und schwitzte wie ein Dampfkessel, aber je mehr Plätzchen fertig wurden, desto mehr geriet sie in Fahrt, räumte Bleche leer, schob Bleche nach, schichtete das Gebäck in Blechdosen, in alte Schuhkartons und Koffer. Vom ersten Advent an mußten Hilfskräfte eingestellt werden, Studentinnen, arbeitslose Bäckerinnen, Flüchtlingskinder aus der DDR, die Produktion war allein nicht mehr zu bewältigen. Die Küche glich einer sowjetischen Fabrik, in der man in letzter Minute den Fünfjahresplan zu erfüllen trachtete. Kurz vor Weihnachten wurden die Kekse in Schachteln gefüllt und an Verwandte, Freunde und Bekannte verschickt. Doch niemand erhielt nur eine einzige Sendung, der Gebäckstrom ergoß sich weltweit bis in den Juni des folgenden Jahres, obgleich die Plätzchen seit Anfang Januar steinhart geworden waren und allenfalls mit einem Vorschlaghammer hätten zerstrümmert werden können. (Michael Schulte: Der Frühstücksdirektor, S. 17)


Schulte, Michael: Goethes Reise nach Australien [1]

  Bei manchen Frauen, wenn sie so selbstbewußt über die Brücke gehen, denke ich, die könnte es sein. Aber dann traue ich mich nicht, sie anzusprechen. Es hätte ja doch keinen Sinn, denn würde die Frau mich abweisen, einfach weitergehen, wäre mein Annäherungsversuch umsonst gewesen, und ließe sie sich mit mir ein, wäre sie ein Flittchen und käme für mich nicht in Frage. Eine Heiratsanzeige aufzugeben, kommt für mich ebenfalls nicht in Frage. Ich bin gewarnt. Ein Bekannter von mir hat es auf diese Weise versucht. Er veröffentlichte eine Annonce, die etwa so lautete: Mann in mittleren Jahren, mittelgroß, ledig, in krisenfester Position, möchte eine Dame heimführen, die, wie ich, einfühlsam, gemütlich und treu ist. Gibt es das noch? Die Annonce war ein ungeheurer Erfolg. Der Mann erhielt über vierhundert Zuschriften. Nächtelang sortierte er die Briefe aus, immer störte ihn etwas, das Bild, die Schrift, der Beruf, das Alter. Am Ende blieb ein einziger Brief übrig. Bild, Schrift, Alter, Beruf, Wohnort, Körpergröße, Haarfarbe, Hobbies, Religion - alles stimmte. Diesen Brief wollte er beantworten. Er entwarf ein Schreiben nach dem anderen. Drei Monate lang. Schließlich hatte er einen Brief zuwege gebracht, der in Ton und Inhalt seinen Vorstellungen entsprach. Als er ihn abschicken wollte, mußte er feststellen, daß die Dame vergessen hatte, ihre Adresse anzugeben. Der Mann ging daraufhin nicht mehr zur Arbeit, ihm wurde gekündigt, er griff zur Flasche, trat in die kommunistische Partei ein und endete in der Gosse. (Michael Schulte: Goethes Reise nach Australien. Erzählungen, S. 17)


Schulte, Michael: Goethes Reise nach Australien [2]

  Slawata: In meinem Leben, ehrwürdiger Pater, habe ich unablässig die sieben Todsünden in vollen Zügen genossen. Es gibt keine Rettung für mich. Martinitz: Der Herr in seiner unendlichen Güte wird eine stinkende Ratte wie dich in Gnade aufnehmen, sofern du reuig bist und ein besseres Leben gelobst. Also erzähl, was du ausgefressen hast. Slawata: Ich bin von Anbeginn verderbt. Meine Eltern lebten in Sünde, und also bin ich eine uneheliche Liebesfrucht. Da ist sowieso Hopfen und Malz verloren. Martinitz: Sag das nicht, mein Sohn. Fahre fort. Slawata: Wie soll es Rettung geben für einen, der sich regelmäßig an Meßwein betrinkt und das Blut des Herrn nur nach dem Jahrgang beurteilt? Martinitz: Fahre fort, mein Sohn. Slawata: Schon als Kind habe ich die Kirche geschändet, wo ich nur konnte. Ich habe meine Gummiente im Taufbecken schwimmen lassen. (Michael Schulte: Goethes Reise nach Australien. Erzählungen, S. 70)


Schulte, Michael: Ich freu mich schon auf die Hölle [1]

  Bis heute liebe ich bayrische Blasmusik und somit auch Marschmusik - obwohl ich weiß, daß das Zeug grauenhaft ist. Ich kann mich sogar für Ernst Mosch und seine Original Oberkrainer begeistern. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als ich las, daß Gustav Mahler und Alban Berg ebenfalls alpenländischen Weisen zugetan waren. Gelänge es Biografen, das erste Musikerlebnis großer Komponisten zu ermittlen, würde sich manche Interpretationsfrage von selbst erledigen. Vermutlich sind Johann Sebastian Bach bereits kurz nach der Geburt wütende Orgelakkorde in die Säuglingsohren gebraust, und bei Bruckner wagt man sich gar nicht auszudenken, auf welchen Wirtshausbänken er strampelnd lag, während die Eltern sich biertrinkend an deftigen Polkas erfreuten. (Michael Schulte: Ich freu mich schon auf die Hölle. Szenen aus meinem Leben)


Schulte, Michael: Ich freu mich schon auf die Hölle [2]

  Meine Mutter bat um eine Abtreibung, was ich ihr nie übel genommen habe. Auf Abtreibung stand im "Dritten Reich" die Todesstrafe, und der Arzt war wohl der Meinung, es sei das geringere Übel, ein Leben zu retten, statt zwei auszulöschen. "Wer ist der Vater?", fragte er. "Ein Wehrmachtsoffizier." "Mogsdn?" "Ja." "Dann heiratst eam." Merkwürdigerweise gehorchte meine Mutter, die sich sonst nie etwas sagen ließ. Mein Leben verdanke ich also einem Gewitter in Salzburg und einem österreichischen Frauenarzt - eins. In Tiefenbach bin ich einmal vom Heuwagen gefallen, als er gerade in den Hof einbog, und der Wiggerl, der Sohn der Buchners, sprang in letzter Sekunde herbei und zerrte mich fort, mein Kopf war nur noch zehn Zentimeter vom rollenden Hinterrad entfernt - zwei. Als ich fünfzehn war, wäre ich um ein Haar im Mittelmeer ertrunken - drei. Also dreimal dem Tod knapp entronnen, das färbt auf die Lebenseinstellung ab, da darf man hemmungslos rauchen und berauschende Getränke in sich hineinkippen und wabbelnde, in fettäugigen Soßen schwimmende Schweinebraten verdrücken. (Michael Schulte: Ich freu mich schon auf die Hölle. Szenen aus meinem Leben)


Schulte, Michael: Ich freu mich schon auf die Hölle [3]

  ... sich in eine Frau aus feineren Kreisen verliebt, die er zu ehelichen gedachte, und seine Ersparnisse in ein Blütengebinde investiert, das ausgesehen haben muß wie ein Blumenstrauß für eine Mafiabeerdigung. Botanisch solcherart ausgerüstet, hielt er beim Vater der Frau um die Hand der heiß Begehrten an. Der Vater beschied ihm, seine Tochter werde nur einen Mann heiraten, der Abitur habe und ein Musikinstrument beherrsche, und war sicher, die Hürden hoch genug angelegt zu haben. Aber der Bauernlümmel aus dem Böhmerwald machte sein Abitur nach und erlernte das Mundharmonikaspiel, hielt erneut um die Hand der Tochter an, dem Vater fiel keine Ausrede mehr ein und er erteilte seinen Segen. (Michael Schulte: Ich freu mich schon auf die Hölle. Szenen aus meinem Leben)


Schulte, Michael: Ich freu mich schon auf die Hölle [4]

  Beide Großväter zählten zu jenen Typen, wie man sie in Deutschland selten findet - aufgeklärte Konservative. Beide waren leidenschaftliche Büchersammler, hoch gebildet und sehr belesen, beiden wäre es nie eingefallen, sich ohne Schlips mit diamantener Krawattennadel zu zeigen. Ich glaube, selbst wenn das Haus in Flammen gestanden hätte, sie wären ohne diese Attribute großbürgerlicher Kleiderordnung nicht auf die Straße getreten. Beider geistige Heimat war das neunzehnte Jahrhundert. (Michael Schulte: Ich freu mich schon auf die Hölle. Szenen aus meinem Leben)


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