Allgemeine Fundstücke  / [S_2]


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Steinbeck, John: Die Straße der Ölsardinen

  Doc war der alleinige Eigentümer, Direktor, Praktikant und Aufwärter des Western Biological. Er war klein von Gestalt, aber das täuschte! Er war verdammt stark und sehnig, und wenn ihn die Wut packte, konnte die Sache gefährlich werden. Er trug einen Bart. Sein Gesicht war eine Mischung aus Christus- und Satyrkopf, und das entsprach seinem innersten Wesen. Er hatte, so hieß es, schon manchem Mädchen aus einer Verlegenheit heraus- und in eine zweite hineingeholfen. Er hatte Hände wie eine Gehirnchirurg, einen kühlen Geist und ein warmes Herz. Wenn ihm ein Hund begegnete, griff er an seinen Hut. Dann sah der Hund zu ihm empor und lächelte. Doc konnte, wenn es sein mußte, alles und jedes töten, doch ohne wisseschaftlichen Grund keiner Fliege etwas zuleide tun. Vor einer einzigen Sache hatte er Angst: sein Kopf könnte naß werden; er trug daher, ob Sommer, ob Winter, einen wasserdichten Hut. Er konnte bis zur Brust durch einen Tümpel waten, ohne daß ihn die Nässe genierte, docvh ein Tröpfchen Regen auf seinen Scheitel regte ihn wahnsinnig auf. (John Steinbeck: Die Straße der Ölsardinen, S. 25f.)


Steinbeck, John: Die Straße der Ölsardinen [2]

  Hazel wuchs heran, besuchte vier Jahre lang die Grundschule und vier Jahre eine Hilfsschule und lernte in beiden nichts. In Hilfsschulen lernt man, so heißt es, Verbrechen und Laster. Aber da Hazel beim Unterricht nicht aufpaßte, hatte er beim Verlassen der Hilfsschule so wenig Ahnung von Lasterhaftigkeit und Verbrechertum wie von Bruchrechnung und Regeldetri. Hazel hatte eine besondere Vorliebe für Konversation - nicht etwas für deren Inhalt; er liebte vielmehr das Plätschern der Worte und stellte Fragen, nicht der Antwort wegen, sondern nur, damit es weiterplätscherte. (...) Während er krampfhaft nach einer Fragemöglichkeit Umschau hielt, denn er war ein langsamer Denker, stellte plötzlich Doc eine Frage. Das paßte Hazel gar nicht; denn dann mußte er in seinem Hirnkasten nach einer Antwort herumstöbern, und das war gerade, als müsse man in einem ungeordneten Muesum ohne Beschriftung und Katalog etwas Bestimmtes suchen. (John Steinbeck: Die Straße der Ölsardinen, S. 28f.)


Steinbeck, John: Die Straße der Ölsardinen [3]

  "Ich fand es schon immer merkwürdig", sagte Doc, "daß alles, was wir Menschen bewundern, Edelmut, Güte, Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Anstand, Mitgefühl, Herz, in unserem Gesellschaftssystem nur zu Fehlschlägen führt. Während alle Eigenschaften, die wir angeblich verachten, Härte, Raffsucht, Selbstsucht und Charakterlosigkeit, zum Erfolg beitragen. Jenen guten Eigenschaften gilt die Bewunderung der Menschen, doch was sie mit Vorliebe produzieren, sind die grundschlechten." (John Steinbeck: Die Straße der Ölsardinen, S. 109)


Steinbeck, John: Die Straße der Ölsardinen [4]

  Mary Talbot, das heißt Mrs. Tom Talbot, war eine aparte Erscheinung. In ihrem roten Haar spielten grünliche Lichter. Ihre Haut war wie Gold, durch welches ein zartes Grün schimmert, ihre Augen grün mit kleinen goldenen Tupfen, ihr Gesicht dreieckig: breite Stirn und Backenknochen, das Kinn schmal, nach unten spitz. Ihre Beine und Füße waren die einer Tänzerin, lang und schmal; beim Gehen schienen sie kaum den Boden zu berühren. Wenn Mary erregt war, und das war sie fast immer, schimmerte ihr Gesicht in rötlichem Gold. Ihre Urururururgroßmutter war als Hexe verbrannt worden. (John Steinbeck: Die Straße der Ölsardinen, S. 115)


Steinbeck, John: Die Straße der Ölsardinen [5]

  Sie konnte mit ihrer Fröhlichkeit ein ganzes Haus auf den Kopf stellen und handhabte diese Begabung als Waffe gegen die Niedergeschlagenheit, die ihren Tom bedrängte. Sie hielt es für ihre Pflicht, ihm die Verzagtheit vom Leibe zu halten: "Das weiß doch jeder, daß du noch einmal ganz, ganz großen Erfolg hast!" Sie selbst hatte jetzt schon Erfolge, denn sie jagte den Trübsinn zum Hause hinaus. Aber er drang immer von neuem ein und quälte Tom, daß er stundenlang vor sich hinbrütete, während sie ihre lustigen Einfälle aufsteigen ließ. (John Steinbeck: Die Straße der Ölsardinen, S. 116)


Steinbeck, John: Tagebuch eines Romans

  Manchmal, wenn ich schreibe, bin ich einer Art Bewusstlosigkeit nahe. Dann ändert die Zeit ihren Charakter, und Minuten verflüchtigen sich ins Gewölk einer Zeit, die etwas Einheitliches ist, eine einzige Zeitspanne. Ich habe schon gedacht, wenn wir von unserem Uhrzeigerdenken loskommen könnten, dann gäbe es es vielleicht überhaupt keine Zeitspannen mehr. Dann wäre die Weltgeschichte und alles, was ihr vorausging, nur ein Aufblitzen wie ein zerplatzender Stern, ewig und zeitlos. (John Steinbeck, Tagebuch eines Romans)


Steinbeck, John: Tortilla Flat [1]

  Senora Teresina Cortez lebte mit ihrer betagten Mutter und ihren acht Kindern in einem hübschen Häuschen am Rande jener tiefen Schlucht, die die Südgrenze von Tortilla Flat bildet. Teresina bot den angenehmen Anblick einer voll entwickelten Frau von nahezu dreißig Jahren. Ihre Mutter, früh gealtert, vertrocknet und zahnlos, ein Überbleibsel aus einer vergangenen Generation, war um die fünfzig Jahre alt. Es war lange her, daß sich jemand erinnerte, daß ihr Name Angelica war. Während der Woche gab es genug Arbeit für die Vieja, denn es war ihre Aufgabe, sieben von diesen acht Kindern zu essen zu geben, sie zu schelten und zu liebkosen, anzukleiden und zu Bett zu bringen. Teresina war mit dem achten beschäftigt und stellte sich bereits auf das neunte ein. Sonntags jedoch schlug die Vieja, gekleidet in schwarze Seide, die noch älter war als sie selbst, angetan mit einem düsteren, aber unverwüstlichen Strohhut, auf dem zwei "echte" Kirschen aus emaillierten Gips prangten, ihre Pflichten in den Wind und ging standhaft zur Kirche, wo sie so reglos wie die Heiligen in ihren Nischen dasaß. Einmal im Monat ging sie nachmittags zur Beichte. Es wäre interessant zu erfahren, was für Sünden sie beichtete und wo sie die Zeit hernahm, sie zu begehen; denn in Teresinas Haus kroch und krabbelte, stolperte und schrie es immerfort; bald wurde eine Katze getötet, bald fiel ein Kind vom Baum, und man konnte sicher sein, daß sich alle zwei Stunden irgendein Schrecknis solcher Art ereignete. Ist es daher zu verwundern, daß die Seele der Vieja von irdischen Dingen lösgelöst war und daß sie Nerven aus Stahl besaß. Jede Seele von anderer Beschaffenheit hätte ihren Körper zsichend wie eine hochfliegende Rakete verlassen. (John Steinbeck: Tortilla Flat)


Steinbeck, John: Tortilla Flat [2]

  Was ist ein Paisano? Eine Mischung aus spanischem, indianischem, mexikanischem und erlesenem kaukasischem Blut. Seine Vorfahren haben seit ein bis zwei Jahrhunderten in Kalifornien gelebt. Er spricht englisch mit dem Akzent eines Paisanos, und spanisch mit dem gleichen Akzent. Stellt man ihm eine Frage ob seiner Rasse, so pocht er entrüstet auf sein spanisches Blut und krempelt den Ärmel hoch, um zu zeigen, daß die weiche Innenseite seines Armes fast weiß ist. Wenn seine Hautfarbe einer stark gebräunten Meerschaumpfeife gleicht, so erklärt er dies damit, daß er sonnenverbrannt sei. (John Steinbeck: Tortilla Flat)


Steinfest, Heinrich: Der Umfang der Hölle [1]

  Ein Restaurant wie die "Manufaktur Orlog" war Reisiger noch nie untergekommen. Es war ihm sofort höchst unsympathisch. Nicht nur, weil es sich offenkundig um eine dieser Anstalten handelte, in denen man bereits für das Einatmen abgestandener Luft zur Kassa gebeten wurde und jeder noch so kleine Handgriff des Personals als übermenschlich galt, sondern vor allem auf Grund der artifiziellen Verbindung eines hochgestochenen modernen mit einem abgründig antiquarischen Stil. Es war somit dieser kunstgeschichtliche Impetus, der Reisiger augenblicklich das Gefühl gab, eine gastronomische Schreckenskammer betreten zu haben. (Heinrich Steinfest: Der Umfang der Hölle, S. 79)


Steinfest, Heinrich: Der Umfang der Hölle [2]

  "Ein Flugticket nach Linz", erklärte Pliska. "Samstag vormittag. Ich würde Sie von Linz abholen." "Linz?" fragte Reisiger, wie man fragt: Fieber? "Ja. Bobeck lebt in Österreich. Ich hoffe, das ist kein Problem für Sie." "Es ist..." Reisiger konnte nicht recht sagen, was er von diesen Leuten hielt, die nach Österreich gingen, wohl in der merkwürdigen Annahme, daß dort irgend etwas besser sei, die Luft ein wenig luftiger und die Wiesen mehr nach echter, wirklicher Wiese rochen, der Zufall des Lebens noch eine Spur zufälliger vonstatten ging, die Menschen vergnügter waren als etwa in Hamburg... Aber war das eine Kunst? Vergnügter als die Hamburger sein? War das ein Grund, sich in diesem Land niederzulassen, das von der Geschichte zurechtgestutzt worden war und aus diesem Zustand des Gestutztseins das Recht auf idyllische Kleinstaatlichkeit bezog? (Heinrich Steinfest: Der Umfang der Hölle, S. 59)


Steinfest, Heinrich: Der Umfang der Hölle [3]

  Der mächtige und in keiner Weise vertuschte, auch gar nicht vertuschbare Busen. In dem engen Kleid, dem engen Netz und dem runden Ausschnitt lag er schwer und mitteilsam. Diesem Busen mangelte jene feststehende, kuppelige, gleichmäßige Form, die an Soldatenhelme erinnerte und entweder auf ein jugendliches Gewebe oder einen operativen Eingriff zurückzuführen war. Vielmehr nahm er eine angelehnte Position ein, die seiner Schwere und Größe entsprach. Ein solcher Busen mußte auch ein wenig hängen, um überhaupt ernst genommen zu werden und nicht bloß als optische Skurrilität zu fungieren. (Heinrich Steinfest: Der Umfang der Hölle, S. 92)


Steinfest, Heinrich: Der Umfang der Hölle [4]

  Für Leo ergab sich der Sinn des Trinkens weniger dadurch, große Mengen in kurzer Zeit hinunterzustürzen und einen Zustand der Benommenheit zu erklimmen (als klettere man gipfelwärts auf einen auf dem Kopf stehenden Berg), sondern einfach darin, nie wirklich nüchtern zu sein. Diese mengenmäßige Beschränkung, die Art, wie er die Drinks gleich einem herzkranken Langstreckenläufer geordnet über den Tag verteilte, wurde ihm als Vernunft ausgelegt. (Heinrich Steinfest: Der Umfang der Hölle, S. 250)


Steinfest, Heinrich: Der Umfang der Hölle [5]

  Ohne diesen Kugelschreiber wäre Reisiger nicht aus dem Haus gegangen, so wie er auch schon zuvor niemals ohne Schreibgerät auf die Straße getreten war. Alles eine Frage der Sicherheit. Und zwar im engsten Sinne. Denn aus unerfindlichen Gründen war Reisiger der Überzeugung, daß irgendwann einmal eine Situation eintreten werde, in der sich der Besitz eines Schreibeinstruments als absolut notwendig erweisen und das Fehlen eines solchen Geräts zur persönlichen, wenn nicht sogar überpersönlichen Katastrophe führen würde. Nicht, daß Reisiger auch nur einen Schimmer davon besaß, von welcher Katastrophe die Rede hätte sein müssen. Es war die pure Intuition, die ihn diesbezüglich trieb. Und zwar von Jugend an. Wobei er wohl nicht der einzige war. Möglicherweise rüsteten sich Hunderttausende von Menschen Tag für Tag mit Kugelschreiben oder Wäscheklammern oder Teebeuteln oder einer ganz bestimmten Art von Schraubenschlüsseln aus, in Erwartung einer Konstellation, deren fatale Auswirkung sich etwa nur durch eine Wäscheklammer verhindern lassen würde. Es mochte Leute geben, welche die Vision in sich trugen, eines Tages mittels einer solchen Wäscheklammer die gesamte Menschheit zu retten. Und wer kann schon sagen, wie oft die Welt bereits von ihrem Untergang bewahrt worden war, weil solche Spinner existieren. (Heinrich Steinfest: Der Umfang der Hölle, S. 15)


Steinfest, Heinrich: Der Umfang der Hölle [6]

  Er war das, was man wohl einen "gut" gekleideten Mann nennt. Nicht mehr und nicht weniger. Seine Anzüge und Hemden und Krawatten paßten, aber auch nicht so sehr, daß es jemand verblüfft hätte. Es gibt solche Leute, die dadurch verblüffen, daß sie eine Krawatte oder ein Turnschuh oder eine simple Kappe in einer Weise tragen, als wäre jenes Kleidungsstück gleich einer Blüte oder einem Geweih aus ihnen herausgewachsen. Zu denen gehörte Reisiger nicht. (Heinrich Steinfest: Der Umfang der Hölle, S. 15)


Steinfest, Heinrich: Der Umfang der Hölle [7]

  ... war dann aber in jenes mittelgroße Unternehmen eingetreten, dessen Plattenspieler und Radiogeräte und CD-Player und Lautsprechersysteme es sich eigentlich verbaten, genau so, nämlich als Radiogeräte und Plattenspieler et cetera bezeichnet zu werden. Zu vollkommen waren sie gestaltet, zu sehr beruhte ihre Fähigkeit, ein bestimmtes Geräusch, einen bestimmten Klang an ein ganz bestimmtes williges Ohr heranzuführen, auf dem Prinzip der totalen Vereinnahmung und der totalen Hingabe. Es ging also nicht bloß um die originalgetreue Wiedergabe, was ohnehin kein Mensch ernsthaft zu beurteilen verstand, sondern um die radikale Konzentration, um das vollständige Eingespanntsein eines Zuhörers in den Klang und in das Geräusch wie in ein Ei. Man könnte sagen: Es ging um die Vernichtung des ganzen Menschen zu Gunsten seines Gehörs. (Heinrich Steinfest: Der Umfang der Hölle, S. 18)


Steinfest, Heinrich: Der Umfang der Hölle [8]

  Pliska rief also nicht etwa "Struppi" oder "Nero" oder "Churchill", sondern tatsächlich "Vier!", woraufhin ein eher kleiner Hund, den kurzen Schwanz hoch aufgerichtet, hinter dem Schreibtisch hervorkam. Er besaß ein schmales Gesicht, eine längliche Schnauze, stehende, blattartig spitze Ohren und offenbarte den für kleingewachsene Mischlingshunde typischen unmenschlich treuherzigen Blick. Ein Blick gleich einer devoten Anklage. Einer Anklage gegen eine Welt, in der das beste Essen auf hohen Tischen landete.. (Heinrich Steinfest: Der Umfang der Hölle, S. 54)


  • Steinfest, Heinrich: Der Umfang der Hölle [9]
  •   "Die Natur ist eine Illusion", postulierte Marzell. "Ein bloßer Hintergrund, wenn Sie so wollen. Großartig gestaltet, keine Frage, aber sicher nicht von fundamentaler Bedeutung. Ein Bühnenbild kann nicht das Stück ersetzen. Kostüme nicht die Figuren. Anders als mein verehrter Freund Bobeck, halte ich die Natur für auswechselbar. Wenn es Gott gefallen hätte, hätte er genausogut dumme Schimpansen und hochintelligente Meerschweinchen schaffen können. Ich bin mir sicher, der Mensch hätte in diesem Fall eine eingängie Beweislage geschaffen, die seine Abstammung vom Meerschweinchen begründet. (Heinrich Steinfest: Der Umfang der Hölle, S. 172)


    Steinfest, Heinrich: Der Umfang der Hölle [10]

      "Was machen Ihre Kinder?" "Die Tochter lebt in Toronto ... nein, in Vancouver, ich bringe diese Städte immer durcheinander. Sie brauchen nicht zu glauben, meine Tochter sei mir gleichgültig, nur, weil ich ein paar kanadische Dörfer nicht auseinanderhalten kann. Susanna war früher in Toronto, jetzt ist sie in Vancouver. So! Sie arbeitet als Stylistin. Ich weiß nicht wirklich, was ich mir darunter vorstellen muß. Es klingt immer, als bestünde ihr Job darin, aus Menschen erst richtige Menschen zu machen, wie in diesen Frauenmagazinen, wo man Waschweiber in Fotomodelle verwandelt." "Sind Waschweiber keine Menschen." "Ich weiß nicht", sagte Reisiger. "Wenn Sie's denn sind, wieso müssen Sie sich dann verwandeln?" Susanna seufzte. Sie schien ihre Frage zu bereuen. Weshalb sie wieder nach Reisigers Tochter fragte. "Ich weiß wenig von ihr", gestand Reisiger. "Sie lebt mit einem Mann zusammen, den sie ernsthaft ihren Verlobten nennt. Unglaublich. Zu meiner Zeit dachte man, die letzten Verlobten seien nach dem zweiten Weltkrieg ausgestorben." (Heinrich Steinfest: Der Umfang der Hölle, S. 168)


    Steinfest, Heinrich: Der Umfang der Hölle [11]

      "Aber Sie sind ja auch ein kräftiger Mann. Karate? Boxen?" "Ein wenig Boxen", gestand Reisiger, wie man Krampfadern gesteht. "Eine Sportart, die wieder in Mode gekommen ist", urteilte die Dame an seiner Seite, so eine Art in die Jahre gekommenes Modell. "Ich dachte", meinte Bobeck, "Frauen mögen das." "Männer denken das", antwortete die Frau, "immer dann, wenn sie schwitzen." (Heinrich Steinfest: Der Umfang der Hölle, S. 154)


    Steinfest, Heinrich: Der Umfang der Hölle [12]

      Diese Leute konnten als Punks oder Ladys auftreten, Haute Couture erstehen oder Billigware, schlank sein wie Cindy, fett wie Rosanne oder verkifft wie Kate, es ging ihnen so gut wie immer um das Erstehen einer Ware, um die Lust, ein Bankkonto zu leeren, Schulden zu machen, Bestellscheine auszufüllen, mit dem Finger auf Dinge zu zeigen und ihren Erwerb zu fordern, Verkäuferinnen und Verkäufern Beine zu machen, Stunden und Tage in Kaufhäusern, und noch lieber, in Einkaufszentren zuzubringen. Sie waren somit viel eher gute Konsumenten als jene Leute, die sich einbildeten, über einen eigenen Geschmack zu verfügen und also ewig auf der Suche waren nach einem bestimmten Stück, einem bestimmten Gegenstand, solcherart Unordnung schufen, Nerven strapazierten und Fußböden abtraten. Dabei blieben sie genaugenommen unproduktiv, da sich die Produktivität eines Konsumenten natürlich aus seinen Investitionen ergibt, und zwar aus einer raschen Folge derselbigen. Die Proleten , ob nun arme oder reiche, waren mit Sicherheit die besseren Konsumenten. Und die moderneren Menschen. (Heinrich Steinfest: Der Umfang der Hölle, S. 176)


    Steinfest, Heinrich: Der Umfang der Hölle [13]

      Susannas Verlobter war ein humorloser Mensch, der scheinbar immer nur sprach, wenn er etwas wirklich Wesentliches zu sagen hatte. Sein Kopf schien allein aus gescheiten Büchern zu bestehen. Er zitierte mehr, als daß er eine Meinung besaß. Er argumentierte wie mit einem Hammer, der sich aus den Namen großer Denker und großer Querdenker zusammensetzte. Gerade die Sparsamkeit, mit der er diesen Hammer einsetzte, besaß eine zermürbende Wirkung. (Heinrich Steinfest: Der Umfang der Hölle, S. 261)


    Steinfest, Heinrich: Der Umfang der Hölle [14]

      Reisiger betrat das Schiff mit einem unguten Gefühl, nicht etwa, weil dieses schwimmende Hotel einen schlechten Eindruck machte, ganz im Gegenteil. Auch sicher nicht deshalb, da man eine Route fuhr, die in etwa jenen Punkt kreuzte, an dem die Titanic untergegangen war, konnte niemand einen Schrecken einjagen. Umso mehr, als man seit damals in kleinmütiger Weise daran ging, das Abenteuer zu unterbinden und Eisbergen auszuweichen. Das war es also nicht. (Heinrich Steinfest: Der Umfang der Hölle, S. 264)


    Steinfest, Heinrich: Der Umfang der Hölle [15]

      "Meine Frau behauptet, Sie wären Ehremitglied der republikanischen Partei." "Mir ist jede andere Partei genauso unsympathisch. Aber ich sagte ja schon, wer im Ölgeschäft arbeitet, verhält sich eingleisig. In meiner Position gehört es einfach dazu, Republikaner zu sein. Diesem Haufen unmöglicher Leute anzugehören. Vulgäre Menschen, darunter viele Schwule. Die von der schrecklichen Sorte, die vor lauter Angst, entlarvt zu werden, sich markig geben und gegen alles Schwule wettern. (Heinrich Steinfest: Der Umfang der Hölle, S. 274)


    Steinfest, Heinrich: Der Umfang der Hölle [16]

      Alles bestand nun mal aus unglaublichen Verkettungen, und es war allein Unwissenheit, mitunter glückliche Unwissenheit, dies nicht zu erkennen. Was freilich am Resultat nie etwas änderte. Ob man sich nun auskannte oder nicht. Orakel etwa waren ausschließlich dazu da, bewußter als andere in sein Unglück zu stolpern. In Löcher fiel man, weil man anderen Löchern auswich. Wobei sich nachträglich immer herausstellte, daß das Orakel genau dieses Loch gemeint hatte, in das man gefallen war. Und nicht das, dem man ausgewichen war. Logisch. (Heinrich Steinfest: Der Umfang der Hölle, S. 295)


    Steinfest, Heinrich: Ein sturer Hund [1]

      In der schräg gegenüberliegenden Ecke des Tresen hatte soeben eine Frau auf einem der hohen Hocker Platz genommen. Und zwar mit einer Bewegung, die an das virtuose Erreichen eines Ziel erinnerte. Wie ein Pfeil, der einen anderen spaltet, um im Mittelpunkt zu landen. Die Frau war alleine, und man konnte spüren, daß sie es auch bleiben wollte. Sie besaß ein merklich breites Gesicht, das dieser Breite wegen unnatürlich groß erschien. Dieses physiognomische Übergewicht wirkte weit weniger irritierend als anziehend. Der slawische Typ, dachte Mortensen und meinte damit wohl eine gewisse bäurische Herbheit, als würden alle Slawen direkt aus dem Kartoffelacker herauswachsen. Und tatsächlich besaß ihr Gesicht eine strenge, wenn man so will eine landschaftliche Kontur. Aber als herb konnte man es wirklich nicht bezeichnen. Und noch weniger als bäurisch. Es war ein Gesicht, in dem eben alles Feine auch einen groben Anteil besaß und umgekehrt. Keines von den Kleinmädchengesichtern, aber auch keine von den Visagen, die allein von ihrer Fahlheit lebten. (Heinrich Steinfest: Ein sturer Hund, S. 33)


    Steinfest, Heinrich: Ein sturer Hund [2]

      War Moritz Mortensen ein Lügner? Nun, so konnte man das eigentlich nicht sagen. Er tat das, was die meisten Menschen taten, die angesichts eines wenig bedeutsamen Lebens das Gegebene mit leichter Übertreibung zu dramatisieren versuchten. Wer konnte oder wollte darauf verzichten? Wer machte nicht aus zwei Überstunden drei? Wer unterließ es, eine koventionelle Sauferei zu einem ultimativen Besäufnis umzudeuten? Wer versuchte nicht, den üblichen Unbill einer Urlaubsreise als abenteuerlichen Ritt durch die Fremde zu verkaufen? Wer erzählte nicht überall herum, einmal in einer Rockband gespielt zu haben? (Heinrich Steinfest: Ein sturer Hund)


    Steinfest, Heinrich: Ein sturer Hund [3]

      Die Frau trat gerade eben ins Freie. Sie hatte die Türe so weit aufgestoßen, daß auch Mortensen noch hindurchkam. Einen kurzen Moment standen sie nebeneinander, wie hingewürfelt, und als wüßten beide nicht, was sie eigentlich vorhatten. Als erste brach die Frau aus ihrer Unschlüssigkeit aus, bewegte sich nach rechts, die ansteigende Straße aufwärts. Mortensen sah ihr hinterher, betrachtete den hellen Mantel, der oberhalb der Kniekehlen endete. Betrachtete die Beine in den dunklen Strümpfen und fühlten sich bestätigt. Der Turmspringerinnentyp. Kräftig und schlank zugleich. Muskulös, aber nicht zu muskulös. Und derart elegant in der Art des Gehens, wie etwa Schwimmerinnen dazu niemals in der Lage waren. Für Mortensen war überdeutlich zu erkennen, daß diese Frau sich viele Jahre ihres Lebens über Trampoline und die Plattformen der Sprungtürme bewegt hatte. Jeder ihrer Schritte wirkte wie die Vorbereitung zu einem Abheben. (Heinrich Steinfest: Ein sturer Hund, S. 38)


    Steinfest, Heinrich: Ein sturer Hund [4]

      Im Gang stand eine etwa achtzigjährige Person, ein echtes Fräulein, nicht im Sinn einer unverheirateten Jungfer, sondern im Sinn einer überaus resoluten Person. Auch war der Begriff des Fräuleins in seiner ursprünglichen Bedeutung zu verstehen, als eine Verkleinerung von 'Herrin'. (...) Ihr dominantes Auftreten entsprach vielmehr der Überzeugung, daß es ohne eine gewisse Herbheit, Schärfe und Strenge für eine Frau nicht möglich gewesen wäre, das zwanzigste Jahrhundert seelisch wie köperrlich unbeschadet zu überstehen. (Heinrich Steinfest: Ein sturer Hund, S. 59/60)


    Steinfest, Heinrich: Ein sturer Hund [5]

      Wenn man einem Mann beim Putzen zusah, behauptete Frau von Wiesensteig, vergesse man mit einem Mal das Mindere dieser Arbeit, wobei dieses Mindere ja bloß historisch bedingt sei. Männer verstünden es, mit Würde an eine solche Tätigkeit heranzugehen. Ein Mann, sagte sie, der ein Fenster putzt, putzt ein Fenster. Eine Frau hingegen verwandelt diesen Vorgang in einen Akt der Selbstgeißelung. (Heinrich Steinfest: Ein sturer Hund, S. 64)


    Steinfest, Heinrich: Ein sturer Hund [6]

      Es existieren, ob maßgeschneidert oder nicht, immer zwei Arten von Anzügen. Jene Anzüge, die aussehen, als bestünden sie seit Anbeginn der Welt, ohne ihren stofflichen Reiz eingebüßt zu haben. Wogegen also der jeweilige Träger lang nach ihnen kommt, und dessen Ehrgeiz darin besteht, seinen Körper diesem Anzug anzupassen. Und andererseits gibt es die Mehrheit der Anzüge, die als zweite kommen und deren Aufgabe es eigentlich wäre, sich dem Träger anzugleichen. Was natürlich nicht funktioniert. Anzüge sind keine Chamäleons, ganz gleich, wieviel an ihnen herumgeschneidert wird. Ein Anzug paßt, oder er paßt nicht. Und Chengs Anzug paßte nun mal. Derart, daß man nicht umhin kam, den Mann bewundernd anzusehen, wie er da auf eine leichtgewichtige Art an der Theke stand, mit seinem vorhandenen Unterarm gegen die Kante gelehnt, während der Ärmel seines fehlenden Körperstücks so formvollendet in die Anzugstasche mündete, daß eben genau der Eindruck entstand, Markus Cheng habe seinen linken Unterarm einfach nur deshalb verloren, um sich derart makellos in diesen wunderbaren, tiefschwarzen Antug einzufügen. (Heinrich Steinfest: Ein sturer Hund, S. 118)


    Steinfest, Heinrich: Ein sturer Hund [7]

      "Ich höre praktisch jeden Tag damit auf", sagte der Kriminalist und gab Cheng Feuer. Während er die eigene Zigarette in Brand setzt, redete er am Filter vorbei: "Wenn ich in der Früh huste und das Waschbecken vollspucke und mir der Ekel kommt, höre ich damit auf. Und wenn ich abends mit den Nerven am Ende bin, fange ich wieder an. Ich bin also Raucher und Nichtraucher in Personalunion. " (Heinrich Steinfest: Ein sturer Hund, S. 210)


    Steinfest, Heinrich: Tortengräber [1]

      "Meine Mutter im Vorzimmer", wie man sagt: meine Schraube im Knochen. Eine pummelige, kleine Person Ende Siebzig trat ein. Goldbesticktes Kostüm. Zapfenartige Broschen. Die Perücke etwa in der Art eines Storchenhorstes. Lippenstift auch am Hals. Glatte Haut. Dicke Brille, Augen wie Saugnäpfe. Eine von diesen netten, betagten Damen, die mit den Backen lächelten, deren Münder aber aussahen, als hätte ihnen Gott mit einem stumpfen Schweizermesser die Bosheit ins Gesicht geschnitzt. Ihre Stimme hatte einen künstlichen, weichen Ton: eine lyrische Scharfrichterin. (Heinrich Steinfest: Tortengräber, S. 40)


    Steinfest, Heinrich: Tortengräber [2]

      Die Dame lächelte Cerny aus ihrem braungebrannten, im Gegensatz zum Körper etwas rundlichen Gesicht an, als hätte er Hauptrollen zu vergeben. Und daß sie dies tat, auf diese verfüherische Art zu lächeln, war mit ein Grund dafür, warum sie hier saß, tatsächlich auf dem Weg von einem Skiurlaub in den nächsten, und auf ihren Analytiker wartete: Sie litt unter einem gesteigerten Geschlechtstrieb. Das mag zwar den meisten, vor allem männlichen Menschen - die in bezug auf ihre Attraktionen sich etwas anderes als weibliche Tollheit auch gar nicht vorstellen wollen - nicht als psychisches Leiden erscheinen, aber Frau Resele hatte durchaus ihre Probleme. Einerseits, da die Eroberung und der rasche Verschleiß an Partnern, die sie im Vorfeld kaum einer kritischen Betrachtung unterzog, nur selten zu einer echten Befriedigung ihrer sexuellen Wünsche führten - was sie nicht weniger deprimierte als monogame Geschlechtsgenossinnen -, und sie andererseits aufgrund ihres Geburtsdatums, 1945, langsam in ein Alter kam, in dem, ob das nun gerecht war oder nicht, das Werben um Männer jüngeren Datums zur Lächerlichkeit und zur Ausnutzung führen konnte. (Heinrich Steinfest: Tortengräber, S. 105)


    Steinfest, Heinrich: Tortengräber [3]

      Auf jeden Fall waren Könner am Werk gewesen, vermutlich Ausländer, zumindest Gastarbeiter. Hiesige Killer gab es wenige, die älteren waren zufrieden mit Sparbuch und Gartenpflege oder zurückgekehrt in den mäßig bezahlten, aber weniger aufreibenden Polizeidienst, der Nachwuchs kaum der Rede wert, kleine Neonazis, die in Bosnien und Kroatien das Töten gelernt hatten, wie man lernt, Pflaumen zu entkernen. Wer sichergehen wollte, der bestellte im Ausland oder orderte bei einer der örtlichen mafiosen Dienstleistungsbetriebe, von türkisch bis ungarisch. Sparmeister, die dennoch Qualität forderten, begaben sich ins Amerikanisch- Polnische Institut, wo einige angegraute, in Österreich hängengebliebene Ostküstler unerwünschterweise herumlungerten, wehmütig den Schülerinnen nachsahen, ins nahegelegene Cafe M umzogen, wo sie - bekannt als Schnitzlerfraktion - eine Lesegruppe bildeten und sich der impressionistischen Stimmungsschwere der Jahrhundertwende hingaben. (Heinrich Steinfest: Tortengräber, S. 115f.)


    Steinfest, Heinrich: Tortengräber [4]

      Wiese hatte nicht gerade zu jenen Analytikern gehört, welche eine strenge Grenze zwischen Berufs- und Privatleben zogen und sich ihren Analysanden als blutleere, emotionsresistente, durch und durch geheilte, gefaßte sowie nicht faßbare Persönlichkeiten präsentierten, ein wenig wie Internisten, die bei ihren Patienten gerne den Eindruck hinterließen, selbst nie zu erkranken. Wiese, eher burschikos, draufgängerisch, mitteilsam, hatte es vermieden, als unbefleckter Zuhörer aufzutreten. Er besaß sogar die Chupze, während der Analysegespräche seine eigenen Eßstörungen aufs Tapet zu bringen, belog die Leute also nicht nur um ihre teuer bezahlte Zeit, sondern auch um ihre Rolle. Doch der zufriedene Teil seiner Kundschaft verließ die Praxis mit dem angenehmen Gefühl, die für exklusiv gehaltene persönliche Katastrophe könne nicht so schlimm sein, wenn der eigene Therapeut sich mit ähnlichen Schwierigkeiten herumplage. (Heinrich Steinfest: Tortengräber, S. 179)


    Steinfest, Heinrich: Tortengräber [5]

      Der Nichtwiener mag sich fragen: Wie ist das möglich? Wie kann einer sich als Anwalt ausgeben, in die mit Hafträumen ausgestattete Abteilung eines Spitals marschieren und dann auch gleich in die Zelle eines so wichtigen Verdächtigen, dort getrost seine Arbeit verrichten und wieder von der Bühne verschwinden, als hätte er nie existiert? Nun, wenn einer sich als Dr. Irgendwas ausgibt und dabei nicht aussieht wie ein Bademeister, kann er alles. Nicht wie ein Bademeister auszusehen - das ist die Schwierigkeit, an der so viele scheitern. (Heinrich Steinfest: Tortengräber, S. 196)


    Steinfest, Heinrich: Tortengräber [6]

      Damals, im Wohnzimmer Liepolds, hatte er in der Zeitung ihr Bild gesehen. Darauf hatte sie eine Sonnenbrille getragen. Eine solche trug sie auch jetzt. Was trotz Jahreszeit und fortgeschrittener Stunde nicht weiter auffiel. Sie entsprach diesem unterkühlten Typus, dem man in jeder Situation eine Sonnenbrille zugestand, weil nicht modische Gründe den Ausschlag gaben, sondern quasi hygienische - ein Atemschutz für die Augen. Sie war die Art Frau, die immer ein wenig nach eleganter Witwe aussah, welche soeben ein Imperium übernommen hatte. Sie war die Art Frau, von der behauptet wurde, sie kastriere Manager, auch wenn sie bloß die Pfündewirtschaft behob. (Heinrich Steinfest: Tortengräber, S. 222)


    Steinfest, Heinrich: Tortengräber [7]

      Ingrid Liepold jedoch hatte keine Sekunde gezweifelt, daß es sich bei der leicht vergammelten Gestalt um Graham Wedekind handelte, auch wenn sie ihn nie ungepflegt gesehen hatte, das war nicht seine Art gewesen. Seine Art war es gewesen, durchschnittlich und langweilig zu sein, Krimineller hin oder her. Vielleicht erkannte sie das einzig Markante an ihm, sein Kinn, obwohl ein Bart es verdeckte. Sein Wurmfortsatz im Gesicht, wie sie oft gesagt hatte. Oder seine Art, beim Gehen die Schultern heftig mitzubewegen, weshalb sein Gang maschinell anmutete. Sie hatte ihn geliebt, allerdings ohne große Begeisterung. Seine Bescheidenheit war ihr beizeiten auf die Nerven gefallen, seine Zurückhaltung, seine Unart, ihr in jeder Hinsicht den Vortritt zu lassen - aus Faulheit, so ihre Vermutung. Gutmütig waren Männer immer nur dann, wenn sie zu bequem waren, um etwas anderes als gutmütig zu sein. Gerne hatte er sie reden lassen. Aber sie war überzeugt gewesen, daß er nicht zuhörte, daß solche Mäner nur Beziehungen eingingen, um eben eine Stimme als Stimme um sich zu haben, natürlich auch, um nicht alleine vor dem Fernseher sitzen zu müssen, Männer, die nach einiger Zeit begannen, ihre Frau "Mama" zu rufen. Und ab dann auch keinen Sex mehr haben wollten, nicht mit einer Frau, die sie für ihre Mutter hielten. (Heinrich Steinfest: Tortengräber, S. 266)


    Steinfest, Heinrich: Tortengräber [8]

      Liepold redete wie aufgezogen, hauptsächlich von ihrer Mutter, die eigentlich nur noch atmen könne, indem sie stöhne und seufze und referiere, und der nichts leichter falle, als grundlos zu heulen. An manchen Tagen sei sie eine Kettenheulerin, an anderen nur noch belehrend. Solange Tante Mikl am Leben gewesen sei, habe ihre Mutter über ein ideales Opfer verfügt, eine gelähmte, alte Frau, die kaum noch hatte reden können, der aber das beste aller Hörgeräte besorgt worden war, um sich nicht entziehen zu können, wenn die Schwester ihr die Welt erklärte und den Marsch blies. Aber die Tante hätte es hinter sich. (Heinrich Steinfest: Tortengräber, S. 62)


    Steinfest, Heinrich: Tortengräber [9]

      Der Hundeausführer besaß die Gestalt eines Trinkers, der das Trinken so weit im Griff hatte, daß es ihn zwar umbringen würde, jedoch nicht wie ein irrer Schlächter jemanden umbringt, sondern wie ein gutmütiger Quacksalber, der auf die Wirkung seiner Medikamente vertraut. Der Mann trug eine kurze Stoffhose. Gehörte wohl zu denen, die mit der Eröffnung der Bäder am zweiten Mai - obwohl sie selbst nie ein Bad besuchten - in ihre kurze Hosen hinein - und so schnell nicht wieder herausstiegen. Er hatte dünne Beinchen, dünne Ärmchen, eine Fallgrube von einem Brustkorb, Haut wie feuchte Pappe und einen beträchtlichen sogenannten Bierbauch, einen wahren Knödel, der als der zentrale Ort dieses Menschen erschien, nicht weil dieser Mensch dumm war, sondern sich ehrlicherweise zwischen Geist und Körper entschieden hatte. (Heinrich Steinfest: Tortengräber, S. 272)


    Steinfest, Heinrich: Ein dickes Fell [1]

      Als Cheng am nächsten Morgen erwachte, konnte er sich zunächst einmal kaum rühren. Woran sicher nicht die Kartoffelzunge von Herrn Stefans Kaspreßknödel schuld war, eher die harte Matratze von Bertram Umlaufs japanischem Gästebett. Daß man neuerdings die Vorteile derartiger Matten in Frage stellte, wunderte Cheng gar nicht. Auch wenn es hieß, Millionen Japaner könnten nicht irren. Konnten sie doch. Ununterbrochen irrten Millionen. Das Irren von Millionen schien geradezu das Gesetz in der Welt zu sein. (Heinrich Steinfest: Ein dickes Fell)


    Steinfest, Heinrich: Ein dickes Fell [2]

      Hinter dem Park ragte das Hilton in die Höhe, das mit Abstand häßlichste Hilton der Welt, welches dennoch sehr gut an diese Stelle paßte, diesen ganzen Ort erst komplett erscheinen ließ. Vergleichbar einem wirklich schlechten Schauspieler, der aber in einer ganz bestimmten Rolle einen perfekten Eindruck vermittelt. Man denke an sämtliche Darsteller der ersten Star-Trek-Generation. (Heinrich Steinfest: Ein dickes Fell)


    Steinfest, Heinrich: Ein dickes Fell [3]

      Als Armbruster öffnete und Lyssa erblickte, zuckte er zusammen. Lyssa hingegen lächelte wie über einen gelungenen Trick ihrerseits und marschierte an ihrem Noch-Gatten vorbei in den Flur, schleuderte ihren Pelzmantel achtlos in den Müll, und wechselte sodann in den Wohnraum, wo sie sich eine Zigarette anzündete. Armbruster beeilte sich, einen Aschenbecher herbeizutragen. Er kannte die Unart seiner Frau, Asche zu verstreuen, wenn denn kein Behälter in unmittelbarer Nähe plaziert war. Da konnte ein Parkettboden noch so flehend glänzen. Lyssa Hiller war nicht einmal eine hübsche Frau. Eine Derbheit lag in ihrem Gesicht wie vergessenes Gemüse in einem Gefrierfach. (Heinrich Steinfest: Ein dickes Fell)


    Steinfest, Heinrich: Ein dickes Fell [4]

      ... faßte nach Ginette Rubinsteins Hand, die er in der Art eines Okkultisten betrachtete. Ohne freilich im Sinn zu haben, aus dieser Hand zu lesen. Er hielt derartiges für absoluten Schwachsinn. So besiegelt die Zukunft auch sein mochte, sie offenbarte sich nicht. Darin bestand nämlich ihr ganzer und einziger Sinn: sich nicht zu offenbaren. Nur darum konnte sie überhaupt bestehen. Eine offenbarte, eine in Innenhandflächen eingeschriebene Zukunft, wäre dann bloß noch eine noch einzulösende Gegenwart gewesen. Als ginge man ins Kino, aber nicht um den Film zu sehen, den man ja schon kannte, sondern allein, um sich die Eintrittskarte abreißen zu lassen. Was schön blöd wäre. (Heinrich Steinfest: Ein dickes Fell)


    Steinfest, Heinrich: Ein dickes Fell [5]

      "Ich verspreche Ihnen zu kommen und meinen Hund abzuholen", sagte Cheng und senkte seinen Blick. Allerdings ersparte er sich und Lauscher eine spezielle Verabschiedung, eine Zeremonie. Lebewesen, die von Anbeginn der Zeit füreinander bestimmt waren, bedurften keiner Zeremonie. Etwa im Unterschied zu Leuten, die heiraten, und die ja nie und nimmer füreinander bestimmt sind, schon gar nicht bei Anbeginn der Zeit. geheiratet wird immer das Falsche. Das ist das Gesetz. Und die Zeremonie bestätigte den Fehler. (Heinrich Steinfest: Ein dickes Fell)


    Steinfest, Heinrich: Ein dickes Fell [6]

      "Mein Liebling", sagte Ginette, als Cheng die Innenfläche seiner Hand langsam über die beiden Brustwarzen führte, die hart und glühend aus den Mitten zweiter Plätze aufragten, welche unpassenderweise als Höfe galten. Mehr als dieses "Mein Liebling" sagte sie nicht. Und das genügte ja auch. Ihr Stöhnen kam gleichmäßig und ohne einen Anflug von Bühnengeschrei. Erstens schlief gleich nebenan ihre Tochter. Und zweitens widersprach es Ginettes Stil, die Welt in Trümmer zu legen, nur um einen Orgasmus zu kriegen. (Heinrich Steinfest: Ein dickes Fell)


    Steinfest, Heinrich: Ein dickes Fell [7]

      In den Futternäpfen, in denen winzige Überreste getrockneten Fleisches klebten, saßen Fliegen. Fliegen im Winter? Cheng dachte nach. Er hatte keine Ahnung von Fliegen. Wann sie da waren und wann nicht, wann und wo und weshalb, außer natürlich, daß man sie im Sommer häufig sah und sie eine bestimmte Funktion in der Bereinigung von Verderblichem spielten. Weshalb sie zu den Lieblingstieren von Gerichtsmedizinern zählten. Und von Kriminalschriftstellern und Detektiven, und von Leuten, die all diese Funktionen in einem dümmlichen Hobby vereinten, Leute, die eine Fliege nur anzusehen brauchten und wußten, in welchem Zustand sich dieses Aas befinden mußte und wie das Aas mit Vornamen hieß. (Heinrich Steinfest: Ein dickes Fell)


    Steinfest, Heinrich: Ein dickes Fell [8]

      Mir wurde bald klar, daß ich das Gesicht des Läufers kannte. Wer nicht? Der Mann war eine Berühmtheit. Ein Geist der Zeit. Ein junger Schriftsteller als wilder Hund. Ein wilder Hund als Bestsellerautor, dem man die größtmögliche Zukunft voraussagte. So ein hübscher Kerl mit langem, glattem Haar von der Farbe eines Rehkitzes sowie dem Gesicht eines verrotteten Erzengels. Ein Erzengel mit Zigarette, was ja heutzutage anmutet, als würde jemand einen Knochensplitter seines amputierten Raucherbeins im Mund spazierenführen. (Heinrich Steinfest: Ein dickes Fell)


    Steinfest, Heinrich: Ein dickes Fell [9]

      Eine elegante Greisin im grauen, nadelgestreiften Hosenanzug. Jugendlich, ohne sich lächerlich zu machen. Eine schlanke, große Neunzigjährige, ein Dior-Mannequin von Rentnerin, eine Kombination aus Coco ein Chanel, Lauren Bacall, russischer Krankenschwester, durchtriebener Laborantin und der bereits erwähnten Touren- Skifahrerin Leni Riefenstahl, deren Name allein Beweis wäre dafür, daß die Wirklichkeit eine Persiflage auf etwas sein muß, das wir nicht kennen. (Heinrich Steinfest: Ein dickes Fell)


    Stendhal: Amiele

      Von allen den abscheulichen Nachwirkungen der Revolution empfand die Herzogin nichts unangenehmer als die Sucht der Mädchen aus dem Volke, sich als "Damen" zu spreizen. Amiele war viel zu lebendig und bewegungslustig, als daß sie ihren Gang verlangsamt und mit gesenkten Augen einherstolziert wäre. Die Ermahnungen der Kammerfrauen fruchteten nicht viel. Amiele ging zwar langsamer, aber wie eine Gazelle an der Leine: tausend kleine Gesten verrieten ihre ländliche Herkunft. Die Gehweise der guten Gesellschaft, der die Gemessenheit ein Ideal ist, vermochte sie sich nicht anzueignen. Sobald sie sich nicht unmittelbar von den strengen Blicken der Frauenzimmer bewacht sah, flog sie wie der Wind durch die Flucht der Gemächer bis zu dem, wo die Gebieterin weilte. (Stendhal: Amiele, S. 50)


    Stevenson, R.L.: Die falsche Kiste

      Gideon und Julia schossen mit erstaunlicher Behendigkeit auseinander; letztere bemerkte zu ihrem Verdruß, daß man, obschon man sich seit dem Niedersetzen nicht mehr gerührt hatte, nun ganz nahe nebeneinander saß; und zwei hochrote Gesichter boten sich den Blicken von Mr. Edward Hugh Bloomfield dar. Dieser Herr war in seinem Boot den Fluß hinaufgekommen, hatte das durchgebrannte Beiboot eingefangen, erraten, was sich zugetragen hatte, und beschlossen, Miß Hazeltine ein Schnippchen zu schlagen und sie beim Zeichnen zu überraschen. Ganz unerwartet hatte er nun zwei Fliegen auf einen Streich erwischt; und als er nun auf die beiden errötenden und atemlosen Sünder blickte, brachte die allgemein menschliche Freude am Ehestiften sein Herz zum Schmelzen. (R.L. Stevenson: Die falsche Kiste, S. 171f.)


    Strauß, Botho: Rumor [1]

      Ich muß unablässig an die Vernunft denken, wie ein Idiot, der sie längst verloren hat und ihr trübe nachsinnt. Wir sind Idiot, wenn es hochkommt. Wenn es hoch kommt, tief gefügig geistesschwach, Hörigkeit und blindes Verfallensein an die ichstarken Naturen, Nachäffung des Vorgesetzten, die Sucht, die Wut, sich Bindung zu verschaffen um jedweden Preis, und sei es um den der Selbstaufgabe, diese Krankheit greift jetzt bei uns in erschreckendem Maße um sich. (Botho Strauß: Rumor, S. 12f.)


    Strauß, Botho: Rumor [2]

      Die Ichstarken werden täglich stärker. Die, denen sie folgen dürfen, Geniegeschmeiß, gefräßige Wracks, sprechen sie Größe um Größe zu, weil ja niemand eines unsicheren Wackelkopfes Diener sein mag. Mich Normbruder dagegen lassen sie hübsch beiseits stehen. Unter meinen kurzsichtigen Pupillen kann keiner sein Strahlbad nehmen. Wenn ich spreche, denken die Leute gern an etwas anderes... Ach ja, durchschau nur, durchschau die ganze lächerliche Szenerie, wie deine Freunde sich verwickeln und alle anderen auch. Es ist nur das Durchschauen so vollkommen unnütz! Solange du selbst überhaupt nirgendwo drinsteckst und ewig kalt beiseite stehst, da hast du leicht durchschauen und sehnst dich doch nach der kleinsten Träne einer Hingabe, die wenigstens ein Rändchen Trübung ins Auge brächte. (Botho Strauß: Rumor, S. 14)


    Strauß, Botho: Rumor [3]

      Joseph, an der Landesbildstelle Archivar, ein ewig dämmernder, unersättlicher Plattenhörer, hatte sie ermüdet binnen eines Jahres, einfach durch zuviel Frieden. Er war gelind und weich, gab nie Widerstand, höchstens mal ein Achselzucken, wenn ihm was nicht paßte. Obschon älter als Grit, wirkte er doch auf eigentümliche Weise zurückgeblieben. Er hatte sich fest eingemummelt in seinem weinrote Samthose, seine mit bunten Seidenblumen und allerlei Flicken bestickte Jacke, in die schulterlangen, aufgelockten Haare, in die ganze selige Gutmütigkeit der frühen Jahre. Ein stiller, aber eben doch ein wenig unheimlicher Wiedergänger einer verflossenen Jugendbewegung, der sich unberührbar eingenistet hat in sein zwangzigstes Jahr und bis heute lieber einmal mehr Vanilla Fuge auflegt, als sich an die neueren LPs eines Ted Nugent oder der Rainbows zu gewöhnen. (Botho Strauß: Rumor, S. 51f.)


    Strauß, Botho: Rumor [4]

      Und doch bleibt nur ein Ort, wenn du den gesamten Horizont abgehofft hast, ein Ort auf der Welt aller Sehnsucht wert, kein Haus in der Heide, kein noch so guter Garten und nicht die Freiheit, sondern allein das Ganz Andere Gesicht. Ein Mal so angesehen werden, daß sich alle Schmutzreste von der Seele lösen. Ein Mal den guten Blick, den zivilisierenden, der uns einen kleinen Innenhof mit Frieden erfüllte! Oh, muß man sich aber gut ansehen, muß sich geduldig in den Augen liegen, um die Gewißheit zu gewinnen, daß man wahrlich nicht Angst voreinander zu haben braucht. Da genügt nicht nur ein Stich mit den Augen oder ein klägliches Streifen - das vermehrt ja nur die bösen Strahlen der Welt! - oder ein ungezügeltes den eigenen Worten Zuhören der Augen... Die Liebe wartet aufs Augenlicht. Wenn Augenlicht scheint, bist du glücklich. Da mögen wir noch so oft die nassen Bäuche aufeinander klatschen, mit den Leibern fuhrwerken und zappeln wie die Bisamratte, wir kommen der Sache doch niemals näher als mit den Augen, die sich nicht vereinigen lassen... (Botho Strauß: Rumor, S. 96)


    Strauß, Botho: Rumor [5]

      Auf dem Gang liegen Patienten in fahrbaren Betten und warten darauf, zur Röntgenuntersuchung in den Keller transportiert zu werden. Zwei Krankenpfleger kommen; einer in besonders aufgeräumter Laune, der eine alte Frau mit seinem Gruß so dröhnend anfährt, daß sie davon noch im tiefen Koma zusammenschrecken müßte. Er grinst auch, als sie zuckt, so hämisch und droht mit dem Finger, gleichsam als habe er sie mal wieder beim Leben ertappt. "Na, Frau Lehmann, wie geht's uns denn heute?" Die Frau - das Tuch, das Leichentuch reicht ihr schon bis an Kinn, ihr Gesicht, ihr eingesunkenes, ist nicht mehr als ein schrumpeliger gelber Fleck auf dem weißen Kissen, schwach sagt sie bloß: "Och...", als habe sie weiter nichts zu beklagen. Man muß annehmen, daß so ein Wärter ständig vor sich selber den Gesunden herauskehren muß, weniger um die Kranken aufzumuntern als vielmehr um sich selbst zu stärken und zu wappnen, damit diese Ghouls und Lebendtoten, die überall aus den Türen drängen, ihn nicht niederringen. (Botho Strauß: Rumor, S. 127)


    Strauß, Botho: Rumor [6]

      Wenn der Mensch (...) die Wahrheit, diese Wahrheit seiner Biosphäre annähme, dann müßte er aus dem tausendjährigen Schlaf aller Ideologien und Religionen endlich erwachen und seine totale Verlassenheit, sein totales Außenseiter erkennen. Er muß wissen, daß er seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen. (Botho Strauß: Rumor, S. 143)


    Strauß, Botho: Rumor [7]

      Der Grill: Der Mensch? Der Mensch steht da mit offenem Mund. Ausgelaufen. Versiegt. Erschöpft bei offenem Mund. Der Kaugummi: Soweit mußte es einmal kommen. Der harte Fall zurück in den Stoff. Verliert seine Erzählungen, seine Worte, seinen Geist. Der Grill: Das Menschenkind. Was ist geblieben von der Nummer Eins? Ein Naturgeräusch, wie der Wind so durch seinen offenen Mund heult... - Da hören Sie es, Bongie, die Dinge unter sich. Wir aber stehen steif und stumm und denken wie Schnee fällt. Der Ordnungen haben wir schließlich viel zu viele gesammelt und wild aufeinander getürmt und ein bestürzend Übermaß an Sinn in die Welt gesetzt. Zuviel der Logiken, Beweise, Erfahrungen, Vernünfte. (Botho Strauß: Rumor, S. 146)


    Strauß, Botho: Rumor [8]

      Fast eine Flucht vor den belebten Straßen und Plätzen, auch übrigens weil dort gewisse Belästigungen in letzter Zeit auffallend zugenommen haben. Ich weiß nicht und namentlich ältere Leute folgen einer merkwürdigen Zerstreuung oder einem unwiderstehlichen Gelüst und müssen einem wildfremden Menschen unbedingt etwas mitteilen oder haben an ihm etwas auszusetzen. (...) Von manchen möchte ich annehmen, daß sie schon unter erhöhtem Mitteilungsdrang geraten, sobald ihre Füße das Pflaster berühren und auf der Straße das allgemeine Durcheinander sie beduselt. Andere bleiben vor einem stehen, nur um einmal gründlich durchzuächzen. Man meint, es sei ihnen in den eigenen Leib gerückt, wie die Erde unter der Asphaltschmiere nach Luft ringt. (Botho Strauß: Rumor, S. 149f.)


    Strauß, Botho: Rumor [9]

      Man ist ohnehin, wenn man soviel geht, allseits von den verschiedenartigsten Geschwindigkeiten umgeben. Alles und jedes hat sein strikt Eigenes an Zeit, der wippende Ast dauert anders als der fließende Kanal, der vorüberpolternde Bus anders als der tröpfelnde Brunnenmund, zu schweigen von den oberen Rasereien des Lichts, des Schalls, des... man befindet sich sozusagen in einem chaotischen Trommelfeuer von Zeitgeschossen und nur eine sehr zielgerichtete, eine sehr widerstandsfähige Natur wird immer unbeschadet davonkommen und, trotz allem Gehen, weiterhin fest in sich zu ruhen vermögen. (Botho Strauß: Rumor, S. 150f.)


    Strindberg, August: Das Rote Zimmer [1]

      Der hier mit einem Ausbruch einstudierter Späße aus seinem Mantel schlüpfte, war ein Mann mittleren Alters vom Typ des vor zwanzig Jahren modernen königlichen Sekretärs mit Schnurrbart und übergangslosem Backenbart, Mittelscheitel und coup-de-vent. Er war bleich wie ein Leichnam, schmal wie ein Bahrtuch, nobel gekleidet, machte aber den Eindruck, als fröre er am ganzen Leib und hätte insgeheim Kontakt zur Armut. (August Strindberg: Das Rote Zimmer, S. 74)


    Strindberg, August: Das Rote Zimmer [2]

      Er sollte unselbstständig sein, ein kleines bißchen dumm, denn im Unternehmen wußte man, daß wahre Dummheit stets mit konservativer Denkungsart einhergeht sowie mit jener Tücke, die die Wünsche des Vorgesetzten im kleinen Finger hat und nie vergißt, daß das Gemeinwohl Privatsache ist, recht verstanden nämlich; zugleich sollte er mittleren Alters sein, weil man ihn dann leichter lenken konnte, und verheiratet, weil die Kompanie, aus Geschäftsleute bestehend, beobachtet hatte, daß verheiratete Untertanen sich besser benahmen als ledige. (August Strindberg: Das Rote Zimmer, S. 187)


    Strindberg, August: Das Rote Zimmer [3]

      Er hebt sein Glas auf Sellen und ist der Ansicht, daß man sagen könne, was er einerseits auch schon gesagt habe, Sellen sei ein Erfolg geglückt. Andererseits wiederum, relativ gesehen, könne man wiederum meinen, daß dies nicht der Fall sei. Sellen sei unentwickelt, brauche noch viele Jahre, denn die Kunst sei lang, er, Ygberg, wisse das, er selbst sei entschieden gescheitert und könne daher nicht in den Verdacht geraten, daß er einen, der so anerkannt sei wie Sellen, irgendwie beneide. Der aus Ygbergs Worten hervorblitzende Neid blies einen Wolkenstreifen an den Sonnenhimmel, doch bloß für einen Augenblick, denn all wußten, daß der Neid durch die Bitterkeit eines längst verlorenen Lebens gerechtfertigt war. (August Strindberg: Das Rote Zimmer, S. 208)


    Strindberg, August: Das Rote Zimmer [4]

      Man trennte sich einigermaßen verlegen, die Schritte verhallten im Treppenhaus, und dem nervösen Knacken, als die Tür hinter ihnen abgeschlossen wurde, entnahmen die Abziehenden, daß die arme Gastgeberin sich nach Einsamkeit sehnte, um den Gefühlen freien Lauf lassen zu können. Und das tat sie. Allein in ihren großen Zimmern, vergoß sie heiße Tränen; dies waren aber nicht die Tränen, die einem Maienregen gleich auf ein verstaubtes altes Hert herniederfallen, es war das Gift der Bosheit und des Zorn, das die Spiegel dieser Seele nun verdunkelte, später tröpfelte, wie Säure die Rosen und Jugend zerfraß. (August Strindberg: Das Rote Zimmer, S. 252)


    Strindberg, August: Das Rote Zimmer [5]

      "Ich kann nur sagen: Gott sei Dank ist der verfluchte Sommer vorbei! Von mir aus kann das ganze Jahr Winter sein! Nicht genug damit, daß man selber leidet, man muß auch zuschauen, wie andere sich freuen! Ich bin nicht einen Schritt zur Stadt hinaus gegangen! Du?" "Ich habe keinen grünen Zweig gesehen, seit Lundell im Juni aus Lill-Jans weggezogen ist! Warum auch soll man ausgerechnet grüne Zweige sehen! So notwendig ist das nicht! Und so was Besonderes auch nicht! Aber daß man es nicht kann, ist schon bitter!" (August Strindberg: Das Rote Zimmer, S. 209)


    Süskind, Patrick: Die Taube

      Der Onkel verlangte nun, daß sich Jonathan unverzüglich vereheliche, und zwar mit einem Mädchen namens Marie Baccouche aus dem Nachbarort Lauris, und Jonathan, der das Mädchen noch nie gesehen hatte, tat brav wie ihm geheißen, ja tat es sogar gerne, denn wenngleich er nur eine ungenaue Vorstellung von der Ehe besaß, so hoffte er doch, in ihr endlich jenen Zustand von monotoner Ruhe und Ereignislosigkeit zu finden, der das einzige war, wonach er sich sehnte. Aber bereits vier Monate später gebar Marie einen Knaben und noch im selben Herbst brannte sie durch mit einem tunesischen Obsthändler aus Marseille. - Aus alle diesen Vorkommnissen zog Jonathan Noel den Schluß, daß auf die Menschen kein Verlaß sei und daß man nur in Frieden leben könne, wenn man sie sich vom Leibe hielt. (Patrick Süskind: Die Taube, S. 8)


    Süskind, Patrick: Das Parfum

      Das Kostbarste jedoch, was Richis besaß, war seine Tochter. Sie war sein einziges Kind, gerade sechszehn Jahre alt, mit dunkelroten Haaren und grünen Augen. Sie hatte ein so entzückendes Gesicht, daß Besucher jeden Alters und Geschlechts augenblicks erstarrten und den Blick nicht mehr von ihr nehmen konnten, ihr Gesicht geradezu leckten mit den Augen, als leckten sie Eis mit der Zunge, und dabei den für solch leckende Beschäftigung typischen Ausdruck von dümmlicher Hingegebenheit annahmen. Selbst Richis, wenn er die eigene Tochter ansah, ertappte sich dabei, daß er für unbestimmte Zeit, für eine Viertelstunde, für eine halbe Stunde vielleicht, die Welt und damit seine Geschäfte vergaß - was ihm sonst nicht einmal im Schlaf passierte -, sich vollkommen auflöste in des herrlichen Mädchen Betrachtung und hinterher nicht mehr zu sagen wußte, was er eigentlich getan hatte. (Patrick Süskind: Das Parfum, S. 210)


    Suter, Martin: Ein perfekter Freund [1]

      Der Fahrer griff mit weitausholenden Bewegungen in sein riesiges Steuerrad. Aus seinen kurzen Hosen ragten dünne weiße Beine mit rötlichen Knien. "Busfahrer in Shorts", sagte Fabio, "das ist wie Zugführer, die Kaffee servieren. Es untergräbt die Autorität." "Ein Busfahrer braucht doch keine Autorität zu sein." "Im Busfahren schon." "Glaubst du, der fährt schlechter in Shorts?" "Davon bin ich überzeugt", behauptete Fabio. "Der verliert auch den Respekt vor sich selbst. Am besten wäre, er trüge eine Uniform mit vier goldenen Streifen am Ärmel, wie ein Flugkapitän. Es wäre ein Beitrag zur Verkehrssicherheit. Darüber sollte man einmal etwas schreiben. Die Wirkung der Berufskleidung auf ihren Träger. Wen, glaubst du, wollen die Ärzte mit ihren Kitteln beeindrucken? Die Patienten? Falsch. Sich selbst." Der Bus bremste etwas zu abrupt an einer Ampel. "Siehst du, das meine ich." (Martin Suter: Ein perfekter Freund)


    Suter, Martin: Ein perfekter Freund [2]

      Als er das Päckchen herausnahm, wurde dahinter etwas sichtbar, das aussah wie eine Taschenlampe. Er zog die Schublade weiter heraus. Es war ein verchromter Dildo. Fabio schaltete ihn ein. Ein diskretes Summen ertönte, wie von etwas Teurem, sorgfältig Verarbeitetem. Die Vibrationsintensität war stufenlos regulierbar. Selbst auf der Klimax war der Kunstpenis leiser als Fabios Rasierapparat. Bestimmt der Rolls-Royce unter den Dildos. (Martin Suter: Ein perfekter Freund)


    Suter, Martin: Ein perfekter Freund [3]

     Norinas Vater feierte seinen Fünfundsechzigsten im Seerestaurant Hecht. (...) Die große Seeterrasse war reserviert. (...) Kurz nach dem Aperitif mußten die Markisen ausgefahren werden. Während des ganzen Festes löcherte der Regen den bleigrauen Seespiegel und trommelte mit der Rhythmusmaschine des Einmannorchesters um die Wette. Kurt ignorierte das Wetter und verordnete, daß jede Erwähnung des Wetters mit einem Kirsch bestraft werde. Nach kurzer Zeit war die halbe Geburtstagsgesellschaft betrunken. (Martin Suter: Ein perfekter Freund)


    Suter, Martin: Der Teufel von Mailand [1]

      Sonia haßte Dachschrägen. Sie erinnerten sie an die Zeit, als sie eine Zahnspange trug (was damals noch kein Modeaccessoire war) und einen Kopf größer war als alle Jungen, die sie interessierten. Die Dachschräge in ihrem Zimmer von damals war pistaziengrün gestrichen, was ihre Mutter, die auch sonst nicht viel von jungen Mädchen verstand, für eine Jungmädchenfarbe hielt. Die schiefe Eebene über ihr gab ihr das Gefühl, sie würde aus dem Zimmer rutschen. Und jetzt hatte ihr neues Zuhause eine Dachschräge. Keine pistaziengrüne, sondern eine getäfelte, was fast noch schlimmer war. Es erinnerte sie an ihr Zimmer in der Ferienwohnung im Berner Oberland, dessen Wände so dünn waren, daß sie jeden Streit ihrer Eltern mitbekam. Und jede Versöhnung.(Martin Suter: Der Teufel von Mailand)


    Suter, Martin: Der Teufel von Mailand [2]

      Sonias gute Laune war verflogen. Sie konnte knapp die Depression auf Distanz halten, die auf sie wartete. Sie hatte eine gewisse Virtuosität entwickelt im Umgang mit der Schwermut. Sie wußte, hinter welchen Gedanken sie kauerte, in welchen Bildern sie sich einnistete und welche Geräusche sie anlockten. Es fiel ihr leicht, sich ihr hinzugeben, und auch nicht allzu schwer, sie wieder abzuschütteln. (Martin Suter: Der Teufel von Mailand, S. 37)


    Suter, Martin: Richtig leben mit Geri Weibel

      Auf der Liste der Frauen, denen Geri keine Bitte abschlagen kann, steht auch der Name Sandra. Als er die Haare noch länger trug, massierte sie ihm einmal im Monat die Kopfhaut mit einer Hingabe, die sich nicht allein mit beruflichem Engagement erklären ließ. Sandra kümmert sich bei Marcello, Geris Coiffeur, um den ganzen nichtkreativen Bereich. Waschen, Schamponieren, Frictions, Haare zusammenwischen, kurz: alles außer Styling, Schnitt und Preisgestaltung. Wie das meiste in Geris Leben, was mit Frauen zu tun hat, ist auch diese Liste eine eher theoretische Angelegenheit. Er gerät selten in die Situation, einer Frau eine Bitte nicht abschlagen können zu dürfen. Bei Sandra kommt dazu, dass er die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihn um etwas bittet, seiner Kurzhaarfrisur geopfert hat. Er geht zwar immer noch regelmäßig zu Marcello, aber dieser hat angesichts von Geris Haarlänge das Schamponieren aus dem Gesamtpaket gestrichen. Und damit auch Sandra von Geris Liste. (Martin Suter: Richtig leben mit Geri Weibel. Neue Folge)


    Svevo, Italo : Der alte Herr und das Mädchen

      Verliebt sich ein wirklich junger Mann, dann löst die Liebe in seinem Hirn oft Reaktionen aus, die mit seiner Begierde bald nichts mehr zu tun haben. Wie viele junge Leute, die auf einem gastlichen Lager in aller Ruhe Befriedigung finden könnten, stellen nicht wenigstens ihr Haus auf den Kopf, weil sie sich einbilden, es sei unbedingt nötig, etwas zu erobern, zu schaffen oder zu zerstören, ehe man mit einer Frau zu Bett geht. Die alten Herren hingegen, von denen es heißt, daß sie vor den Leidenschaften besser geschützt seien, überlassen sich ihnen mit voller Bewußtheit und begeben sich ins Bett der Sünde mit der einzigen Vorsicht, sich dabei nicht zu verkühlen. (Italo Svevo: Der alte Herr und das schöne Mädchen, S. 12)


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