Allgemeine Fundstücke  / [T-U]


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Tartt, Donna: Der Distelfink [1]

  Mrs. Barbour stammte aus einer Society-Familie mit einem alten holländischen Namen und sah so kühl, so blond, so monochrom aus, dass es manchmal den Eindruck erweckte, man habe einen Teil ihres Blutes abgelassen. Sie war ein Meisterwerk der Gefasstheit; nichts brachte sie je durcheinander oder versetzte sie in Aufregung, und obwohl sie nicht schön war, hatte ihre Ruhe die magnetische Anziehungskraft der Schönheit – eine Stille, die so mächtig war, dass die Moleküle sich um sie herum neu ordneten, sobald sie einen Raum betrat. (Donna Tartt: Der Distelfink)


Tellkamp, Uwe: Der Turm [1]

  Schon Goethe sagte, daß die Fünfzig im Leben eines Mannes ein Datum von besonderer Bedeutung sei. Man zieht Bilanz, hält Rückschau, blickt auf das Erreichte, bedenkt das zu Erreichende. Die Periode des Sturm und Drang ist vorüber, man hat seinen Platz im Leben gefunden. Fortan ist, wie mein verehrter Lehrer Sauerbruch zu sagen pflegte, mit kontinuierlicher Zunahme nur bei einem Organ zu rechnen: der Vorsteherdrüse. (...) "Die Damenwelt möge mir diesen kurzen Ausflug in urologische Gefilde verzeihen - Chirurg, bleibe bei deinem Leistenbruch, wie schon Hippokrates sagte." Er nickte der Ärztegruppe zu und tupfte sich mit dem Siegelring wieder die Lippen. "Sie werden bemerken, verehrte Kollegen, daß ich das Prinzip Absicherung schon beinahe so weit treibe wie die lieben Kollegen von der Inneren Medizin." (Uwe Tellkamp: Der Turm, S. 46)


Tellkamp, Uwe: Der Turm [2]

  "Ich erinnere mich zum Beispiel, daß vor zwanzig Jahren", er runzelte die Stirn und spitzte die Lippen, "alle Jungens auf einmal Kosmonaut werden wollten, Gagarin und Wostok und German Titow, ich nicht, ich war ja schon zu alt, wenngleich meine Frau immer sagt, daß mir das Training in Baikonur nebst Anchovispaste aus der Tube", er blickte an sich herunter und breitete in gespielter Verständnislosigkeit die Arme, "nichts geschadet hätte, das aber sieht sie, wie ich glaube, allzu einseitig aus der Perspektive der Diätköchin." Müllers Frau, die neben Anne saß, warf verlegene Blicke in die Runde und errötete hinreichend. (Uwe Tellkamp: Der Turm, S. 46)


Tellkamp, Uwe: Der Turm [3]

  Nur Hedwig Kolb, die Lehrerin für Deutsch und Französisch, schien nichts zu fordern. Nicht nur deshalb liebten die Schüler der 11/2 sie. Im übrigen forderte sie doch, aber sie forderte nicht fordernd. Sie betrat das Klassenzimmer wie eine vergeßliche Elfe, blieb, noch die Klinke in der Hand, versonnen stehen, unbekümmert um den Lärm, den die auf ihre Plätze eilenden Schüler machten, schaute zart und befremdet, Klassenbuch und Unterrichtsmaterialien hoch unter den Arm geklemmt, auf eine Helligkeitsfleck auf dem Fußboden, ein besonntes Traumtellerchen, auf dem sie vielleicht ein paar Kobolde entdeckt hatte, die ihr die Zunge herausstreckten; dann besann sie sich, probierte den Raum bis zum Pult - Christian mußte an eine Gazelle denken, die von einem ungerührten Zauber auf das Eis eines Sees versetzt worden war -, legte die Bücher ab und zog ein Taschentuch mit Häkelsaum hervor, um die immer ein wenig schnupfende, großflügelige Nase zu befreien. Dies war kein Schnauben oder Schneuzen, kein Posaunenstoß wie bei Engelmann, der kein Taschentuch normaler Dimension, sondern eine rotweiß gewürfelte Fahne verwendete, die seine Hosentasche zu Apfelgröße ausbeulte; es war ein sanfter Kehraus bei Hedwig Kolb, leise und trocken; auf das Taschentuch war eine blaue Giraffe gestickt, die um Verzeihung zu bitten schien. (Uwe Tellkamp: Der Turm, S. 339)


Tellkamp, Uwe: Der Turm [4]

  Meno empfand tiefe Scham, er wußte nicht, warum, und Mitleid für seinen Schwager, der ihm immer so stark und unkompliziert vorgekommen war; die üblichen Trübungen, die das Leben mit sich brachte, gewiß, aber im Grund ein sonniges Gemüt, ein praktischer, wenig mit Grübeleien belasteter Mensch, dessen Wesen zu sagen schien: Was wollt ihr denn? Man kann auch anders leben, heiterer, aufgeschlossener für die einfachen Dinge, die über euch Kopfzerbrecher sowieso schon staunen - was ihr aus ihnen macht, wie es euch gelingt, auch noch einen frischen Zug Waldluft mit Komplexen zu behängen. (Uwe Tellkamp: Der Turm, S. 442)


Tellkamp, Uwe: Der Turm [5]

  "Ihr Neffe ist nett, aber ich nehme ihn trotzdem ernst, das finde ich merkwürdig. Er scheint viel zu wissen. Vielleicht ein wenig zuviel für sein Alter. Und er übt eine Anziehung auf Frauen aus. Das scheint er interessanterweise nicht zu wissen." "Sie brauchen ihm diesen Floh auch nicht ins Ohr zu setzen", warnte Meno schroffer, als er gewollt hatte. "Keine Angst", erwiderte Judith Schevola, "ich glaube nicht, daß er bedenkenlos und animalisch genug ist, um mit Frauen ins Bett zu gehen, die doppelt so alt sind wie er und also seine Mutter sein könnten. Es gibt Männer, die gewissermaßen immer mit ihrer Mutter ins Bett gehen, und solche, die das hassen. Er dürfte eher zu dieser Kategorie gehören." "Junges Gemüse strebt zu jungem Gemüse!" "Wie taktvoll du bist, Philipp. Mit reiferen Frauen könnten junge Männer lernen, was Sinnenglück und Diskretion ist. Die Lust zum Kriegspielen würde ihnen vergehen." "Du hast eine unangenehme Art, andere Menschen einzuschätzen", bemerkte Philipp gekränkt, "oft baust du auf bloßen Äußerlichkeiten auf". "Komm mir doch nicht mit Tiefe, Genosse Professor. - Revolutionäre! Kaum kratzt man ein bißchen am Lack, kommt ein Einfamilienhäuschen zum Vorschein. Und eine Küche mit Herd und rotweiß gewürfeltem Tischtuch, auf dem der Gemütlichkeits-Samowar herzwärmende Getränke zum Kuchen liefert." (Uwe Tellkamp: Der Turm, S. 517f.)


Tendrjakow, Wladimir: Der Fremde

  Sie hielt ihren Rock fest und rutschte unbeholfen vom Wagen, klopfte den Heustaub von den Schultern, wandte sich Fjodor zu und musterte ihn von der Mütze bis zu den Filzstiefeln. Wenn man sie vor sich stehen sah, dachte man unwillkürlich: Donnerwetter, das ist aber ein Brocken! Sie war nicht groß, Fjodor reichte sie nur bis zur Schulter, hatte jedoch ein breites, grobes, männliches Gesicht. Die klobige Derbheit der Züge wurde durch die kleinen grauen Augen noch hervorgehoben. Ihr Blick war ernst und prüfend. Sie hatte große Hände, war breit in den Schultern und gehörte zu denen, die nicht gut behauen, aber fest gefügt sind. (Wladimir Tendrjakow: Der Fremde, S. 30)


Tendrjakow, Wladimir: Der Schuß

  Da können sich die klugen Leute noch so viel die Köpfe zerbrechen, wie man das Leben auf Erden besser einrichtet und alle ein bißchen glücklicher macht - auch mit dem neuen Glück und dem leichteren Leben werden die Kinder ihre verstorbenen Eltern beweinen, werden Mädchen Tränen vergießen, weil dem Liebsten eine andere gefällt, wird es so unsinnige, plötzliche Todesfälle geben wie diesen. Schlimm ist, im Unglück allein zu sein. Wenn erst das Alleinsein für immer aus der Welt verschwindet, wird sich manches Unheil verhüten lassen, und das unvermeidliche Unglück wird leichter zu tragen sein. (Wladimir Tendrjakow: Der Schuß)


t'Hart, Maarten: Die schwarzen Vögel

  In einer Zeitung heißt es, daß diese Art Geschichten Mäuseturmgeschichten sind. Schon seit dem Mittelalter existiert eine umfangreiche Literatur über Fälle, in denen Menschen von Ratten und Mäusen völlig aufgefressen wurden. Früher wurden Menschen zur Strafe in einen verschlossenen Turm mit Mäusen und Ratten eingesperrt - den Rest kann man erraten. Was mir dabei auffällt? Daß einer gräßlichen Geschichte immer Glauben geschenkt wird. Offentsichtlich knüpft das an etwas in unserem Innersten an, das sich heimlich nach so Schrecklichem sehnt. Wenn Menschen darüber sprechen, sieht man einen bestimmten Glanz in ihren Augen, der verrät, wie wunderbar sie es finden, während sie mit dem Mund fromm beteuern, wie schockiert sie sind. (Maarten t'Hart: Die schwarzen Vögel, S. 105)


t'Hart, Maarten: Der Flieger [1]

  In diesem Herbst kam mein Vater jeden Abend äußerst zufrieden nach Hause. Sehr bald schon wurde er um die Hüften ein wenig fülliger, denn seit Ginus da war, fehlte ihm plötzlich körperliche Bewegung. Ihm war offenbar selbst bewußt, daß er dicker wurde. Hin und wieder schaute er nach dem Mittagessen, das aus zu Brei gekochtem Endivien, mehligen Kartoffeln und fetter Soße bestand, ein wenig besorgt zu seinem Unterleib hinunter und sagte dann, wobei sich sein Gesicht wieder aufhellte und er sich mit beiden Händen auf den Bauch klopfte: "Bäuchlein, Bäuchlein, was hast du es nur wieder gut gehabt." Oder er murmelte: "Wir sind nun satt und wieder quicker und leider auch ein bißcher dicker." (Maarten 'tHart: Der Flieger, S. 100)


t'Hart, Maarten: Der Flieger [2]

  "Was weißt du von den Burschen... die Namen? Wie wäre es, wenn wir uns den attraktivsten raussuchten? Dann würde ich zu ihm hingehen und sagen: 'Lieber Freund, wenn du sie mit einem dicken Bauch sitzen läßt, solltest du wissen, daß mein Kollege und ich noch ein sehr tiefes leeres Grab haben.'" (..) "Du mußt keinen Schwiegersohn schlucken, der dir nicht gefällt. Du kannst dir den besten aussuchen." Ginus hob sein schneeweißes, tränennasses Gesicht und sah meinen Vater an. Er wollte etwas sagen, brachte jedoch nur ein schauerliches Jammern hevor. "Willst du damit etwa sagen, daß auch verheiratete Männer darunter sind?" Ginus nickte. "Ausschließlich?" Ginus schüttelte den Kopf. "Prima, dann können wir loslegen. Aus denen, die nicht verheiratet sind, wählen wir den attraktivsten. Und den knöpfe ich mir dann vor, das ist wirklich die richtige Aufgabe für mich, dafür bin ich wie geschaffen. Wenn ich mich mit dem Burschen unterhalten habe, dankt er dem Himmel, daß er auf Knien zum Standesamt kriechen darf." (Maarten 'tHart: Der Flieger, S. 211)


t'Hart, Maarten: Der Flieger [3]

  Eine Spinne hatte ein riesiges Netz zwischen unsere Türpfosten gespannt. Weil unsere Straßenseite noch im Schatten lag und die Sonne unbändig auf die Häuser gegenüber schien, bemerkte ich das Netz erst, als ich hindurchlief. Dutzende von Spinnenfäden hingen auf meinem Sonntagsanzug, und in meinem Nacken zappelte die verzweifelte Spinne, deren Netz ich zerstört hatte. Vorsichtig nahm ich sie zwischen Daumen und Zeigefinger und setzte sie auf die Türschwelle unserer neuen Nachbarn. Wenn sie wollte, konnte sie dort ein neues Netz spinnen, ausgestattet mit der Erfahrung, die sie während der Bauarbeiten bei uns erworben hatte. (Maarten 'tHart: Der Flieger, S. 215)


t'Hart, Maarten: Der Flieger [4]

  ... daß die Tür irgendwann aufging und Baarvink selbst aus dem Haus trat. Sein Blick fiel auf mich, und man sah ihn denken: Ich glaube, der ist Mitglied unserer Gemeinde, also muß ich ihn wohl grüßen, da komme ich nicht drumherum, und da kramte er das allerkleinste Nicken hervor, das sich in seinem Körper versteckt, davon nahm er dann noch die Hälfte weg, und so wie er dann seinen Kopf bewegte... der Rand seines Hutes geriet vielleicht zwei Millimeter aus seiner ursprünglichen Bahn. (Maarten 'tHart: Der Flieger, S. 225)


Thome, Stephan: Grenzgang [1]

  "Danke fürs Bringen." "Danke für den Flieder." (...) Mit einer Flasche Sekt in der Hand richtet sie sich wieder auf. "Nein, das -" Kerstin hebt abwehrend die Hände und schüttelt den Kopf. "Doch, unbedingt." "Es ist weder nötig noch -" "Ich bestehe darauf." Wieder stehen sie sich gegenüber und sehen einen Moment lang aneinander vorbei. Wahrscheinlich sind es Begebenheiten solcher Art, derentwegen sie so selten unter Menschen geht. Dauernd passiert ihr das, immer nehmen die Dinge auf einmal eine Wendung ins Gezwungene und halb Peinliche, in die Randbereiche der Lächerlichkeit, wo sie ihren Stolz zusammenraffen muss wie ein zu langes Kleid auf matschigem Boden. Und dabei lächeln, lächeln, lächeln. (Stephan Thome: Grenzgang)


Thome, Stephan: Grenzgang [2]

  Einen Monat lang haben sie einander nur zu gelegentlichen Spaziergängen gesehen, bei denen Kerstin Werner die Arme vor der Brust verschränkt und ihren Gang zu einem zögerlichen Schlendern gemacht hat, was ihm das Gefühl gab, es stünde etwas zwischen ihnen, das keiner von beiden sich auszusprechen traute. Als würden Gedanken sich wie Schlingpflanzen um ihre Knöchel winden. (...) So sind sie in den vergangenen Wochen durch eine Art Moratorium ihrer gegenseitigen Annäherung gelaufen. Ein jeder sah auf seine Schuhspitzen und sagte bei jedem Reh, das ihren Weg kreuzte: Ein Reh. Spaziergänge wie Deutsch für Anfänger. (Stephan Thome: Grenzgang)


Tieck, Ludwig: Gesellschaft auf dem Lande

  Man denke, wie man wolle, man lebe, wie es sich schickt, man hege Meinungen, noch so bizarr oder freventlich, so bleibt das eine doch ausgemacht: das Rauchen macht erst den Mann, den Deutschen und vollends den Preußen. Sieh, Alter, wenn du nur mehr rauchen dürftest, so würdest du auch reifer und tiefsinniger denken. So wie der Mensch, scheinbar unbeschäftigt, den Rauch vor sich hinbläst, der sich kräuselt, aufsteigt, windet und verschwindet, so folgen ganz von selbst die feinsten Gedanken aus dem Kopf nach und repräsentieren sich auf diesen Wolken als dem ätherischen Grund des sublimen Gemäldes. Und immer ergänzt sich die verschwindende Hinterwand und ebenso die neuen Einsichten. Wer nicht denken kann, rauche nur, und er findet seine eigene Seele. Ruach nennt sie der Ebräer: Rauch." (Ludwig Tieck: Die Gesellschaft auf dem Lande, S. 47f.)


Timm, Uwe: Der Mann auf dem Hochrad [1]

  Die Kiste kam aus England, und zwar aus Coventry. Nun waren aus England kommende Kisten, Päckchen und Briefe in der Residenzstadt Coburg nichts Ungewöhnliches, denn Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha war ein Schwager der englischen Königin Victoria, und da er kinderlos war, sollte ein Sohn der Queen sein Nachfolger werden. So kamen über die engen verwandtschaftlichen Bande in großen und kleinen Mengen Tee, Porridge, Ingwer, Whiskey und Crocketbälle in die Stadt, sogar ein Wasserklosett, als Vorbote eines lang geplanten Besuchs der Queen Victoria, das erste und für lange Zeit einzige Wasserklosett in der Stadt, das, nachdem man es im Schloß aufgestellt hatte, als Kartoffelwaschmaschine benutzt wurde, bis mit der Ankunft der Queen der staunende Hofstaat über die wahre Funktion aufgeklärt wurde. (Uwe Timm: Der Mann auf dem Hochrad, S. 9)


Timm, Uwe: Der Mann auf dem Hochrad [2]

  Die Speichen trennten ihm säuberlich die beiden obersten Glieder seines kleinen Fingers ab. Er muß das sehr gefaßt ertragen haben. Jahre später noch erzählte man sich, wie Schröder die Mohrenstraße heraufgekommen sei, mit der Rechten das Rad schiebend, in der Linken den blutverschmierten dreckigen kleinen Finger wie ein Würstchen vor sich hertragend. Er hatte seinen kleinen Finger im Staub gesucht und aufgesammelt, damit der nicht von irgendeinem vorbeikommenden Köter aufgefressen werde. Das sagte er dem Doktor Schilling und bat ihn, den Finger zu vernichten. Schilling nahm Schröders kleinen Finger und warf ihn, ohne ihn auch nur einmal anzusehen, in den Abfalleimer. Dann trank er mit Schröder eine halbe Flasche Branntwein, die Schröder den Schmerz und ihm das Flattern aus der Hand nehmen sollte. Mit ruhiger Hand nähte er sodann die Wunde. Als Anna in das Ordinationszimmer gestürzt kam, weil sie gehört hatte, ihr Mann habe bei einem Unfall alle Finger der rechten Hand verloren, saß Franz Schröder rotgesichtig und grinsend da, an der linken Hand eine dicke weiße Wurst. Die anderen Finger waren abgeschrammt, aber heil, und Schröder konnte sich auf dem Nachhauseweg gar nicht darüber beruhigen, was er doch für ein Glück gehabt habe, diesen überflüssigen kleinen Finger veloren zu haben und nicht etwa den unersetzlichen Daumen. Der Daumen ist alles, gröhlte er, dem jetzt, nach dem Schock, dem Blutverlust und der abendlich frischen Luft, der Branntwein in den Kopf gestiegen war, was ist dagegen der Zeigefinger. Denn die Bedeutung der Finger nimmt von vorn nach hinten ab. Der kleine Finger ist ein Nichts. Dann sang er, von Anna stützend untergehakt. (...) Er brüllte, als habe er mit dem kleinen Finger auch jede Scheu verloren. Diese Stadt sei nur radfahrend zu ertragen. (Uwe Timm: Der Mann auf dem Hochrad, S. 18)


Timm, Uwe: Johannisnacht

  Komm grad von ner Tante. Is im Altersheim. Is neunzig. Kann nich mehr loofen und hat immer Mundbrennen. Die sagt, det Essen im Heim ist zu schaaf. Jibt nur zwei Sorten Essen, und sie sagt, beede sin immer zu schaaf. Ja, der tut, wenn se ißt, der Mund weh, rasend. Und det hat se, seit se ihre Möbel verkoofen mußte, weil se in n kleenes Zimmer jekommen is, mit Möbeln ausm Heim. Jenau seit dem Tag brennt ihr der Mund. Verträgt auch det Gebiß nicht mehr im Mund. Wenn ick se besuch, sitzt se da und schnitzt mit m Kartoffelmesser am Jebiß rum. (Uwe Timm: Johannisnacht, S. 187)


Timm, Uwe: Johannisnacht [2]

  Wie die Franzosen allein durch Steinmasse eine katastrophale Niederlage in einen Sieg umgewandelt haben? Du mußt dir nur den Arc Triomphe ansehen. Die Namen aller Schlachten sind in den Bogen graviert. Niederlagen wie Siege, und so überwölbt dieser gigantische Steinbogen sogar Katastrophen wie Leipzig und Moskau. Beim Anblick des Arc de Triomphe kommt doch niemand auf den Gedanken, Napoleon habe entscheidende Schlachten oder sogar den Krieg verloren. Das ist Ästehtik, verstehst du, man sieht Dinge anders, darum gehts doch. (Uwe Timm: Johannisnacht, S. 13)


Timm, Uwe: Johannisnacht [3]

  So ging ich mit der langstieligen Rose, die erschöpft den Kopf hängen ließ, den Kurfürstendamm hinauf, ein paar Nutten standen noch da in ihren kurzen Schlauchröcken, eine rief mir zu: Hallo, Kleiner. Ich ging weiter und überlegte, warum sich gerade diese Anrede eingeschliffen hat. Hallo, Kleiner. Machen sie sich Mut, damit das Kommende erträglicher wird, oder machen sie den Kunden Mut? Kommste zu Muttern. Vielleicht aber ist es ja der ferne Ruf, daß man sich erinnern möge an die frühen Erfahrungen mit dem eigenen Geschlecht, die ja noch von der Liebe getrennt sind, allein ausgerichtet auf Lust. (Uwe Timm: Johannisnacht, S. 229)


Timm, Uwe: Kerbels Flucht

  Als sie vor einer Woche vor dem Kongreß zurückkam und ich sie vom Bahnhof abholte, war die Umarmung - bilde ich mir heute ein - wie immer. Aber schon auf dem Bahnsteig sagte sie: Ich muß mit dir reden. Bevor es dazu kam, fuhr mich ein Gepäckwagen ziemlich schmerzhaft an. Erst zu Hause, in der Küche, am Tisch, sagte sie unvermittelt: Was ich dir gleich sagen wollte, ich habe mit einem Mann geschlafen. Sie sagte das, während sie Zwiebeln schnitt und dabei - wie immer - weinte. Ich pellte Kartoffeln. Sie wolle, sagte sie, für ein paar Tage nach Berlin fahren und ihn dort treffen. Vorsichtig zog ich die Schale ab. Das Wort Erdapfel kam mir in den Kopf, und ich dachte, wie unfaßbar schwer er in der Hand lag, bis ich merkte, daß es die Hitze war. Das Bemühen, vernünftig zu sein, wie wir es vereinbart hatten. Jetzt versuche ich, mich immer wieder selbst zur Vernunft zu bringen, indem ich mir Sätze vorsage, die von ihr stammen, wie: Was einfach ausgedrückte doch wohl heißt: Ich will auch mal mit einem andern vögeln. (Uwe Timm: Kerbels Flucht, S. 9)


Timm, Uwe: Kerbels Flucht [2]

  Einmal, zufällig, sah Kerbel seine Mutter im offenen Badezimmer nackt. Sie schlug die Tür vor ihm zu. Eine Zeitlang streute Kerbel Salz auf das Fensterbrett. Die Mutter hatte gesagt, er solle sich ein Brüderchen wünschen. Er wünschte sich aber gar kein Brüderchen. Dennoch war er neugierig, ob er mit dem Salzstreuen etwas bewirken könne. Tatsächlich kam die Mutter wenig später ins Krankenhaus, und Kerbel wollte den Klapperstorch sehen. Aber der Vater verbot es. Am folgenden Tag sagte der Vater, Kerbel habe ein Schwesterlein bekommen, allerdings klebten zwei Finger zusammen, das komme vom Storchenbiß. Am selben Tag erklärte ein älterer Junge Kerbel, wie Kinder gemacht werden: Hose runter, Beine breit, das Ficken ist ne Kleinigkeit. Der Vater bestritt den ihm so beschriebenen Vorgang. (Uwe Timm: Kerbels Flucht, S. 19)


Timm, Uwe: Kerbels Flucht [3]

  Arbeiten, etwas tun, was Spaß macht, etwas, was Sinn stiften kann, weil es anderen (und einem selbst) hilft (nützlich ist), weil es anderen (und einem selbst) Freude macht. Plötzlich schien es mir nur konsequent, daß sie sich für ihn entscheiden würde, nicht, weil er Geld verdient oder Karriere machen wird, sondern weil der Sinn auf seiner Seite ist. (Es hilft mir nichts, daß ich ihn in seiner Begeisterung zugleich auch komisch finde!) Dieser mit Vitalität gemästete Sinn, natürlich putzt der sich in seiner blauäugigen Munterkeit mit Fleiß auf. Und doch frage ich mich, wie ich diesen Sinn verloren habe. (Uwe Timm: Kerbels Flucht, S. 61)


Timm, Uwe: Kerbels Flucht [4]

  Ich lief durch die nächtlichen Straßen: Jemand, dem nur noch diese Bewegung eine Bedeutung gibt. Als ich hinschlug, fragte mich jemand, ob mir schlecht geworden sei. Ich sagte, nein, ich sei nur heiter. Ich hatte aber angeheitert sagen wollen. Aus einem Schaufenster grinsten mir glatzköpfige Männer entgegen, alle in ein legeres Beige gekleidet. Ich wünschte mir eine Bombe. Ich verstand erstmals, aus welchen Entsetzen heraus diejenigen handelten, die zu jagen die Bevölkerung von amtlicher Seite aufgerufen war. Es gibt eine Gewalt des Alltäglichen, eine Macht der Faktizität, gegen die nur Gegengewalt hilft. (Uwe Timm: Kerbels Flucht, S. 63)


Timm, Uwe: Rot

  Ich hoffe, die Architekten in Nigeria sind nicht ganz so fleißig wie mein Vater. Er und seine Helfershelfer - gut dreißig Angestellte hatte er - haben nicht nur Hamburg, nein, sie haben die ganze norddeutsche Tiefebene vollgebaut, gemeinsam mit all diesen anderen mittelmäßigen oder miserablen Kollegen, ja, es gab darunter Architekten, die von Blindenhunden zu ihren Baustellen geführt wurden. Der Fahrer lachte. Es ist unbeschreiblich, wenn man durch Elmshorn fährt, was man an Häusern sieht, oder durch Pinneberg, durch Rendsburg, bis in die kleinsten Städte, Dörfer, Häßlichkeit neben Häßlichkeit, nichts stimmt, nicht die Proportionen, nicht die Zahl der Fenster, nicht das Material, nicht die Farben, nicht die Dächer. Woher kommt diese Häßlichkeit? Fährt man nur hundert Kilometer weiter in den Norden, sieht, gleich hinter der Grenze, alles besser aus, in Dänemark, die alten Häuser sind nicht ausgeweidet worden, haben ihre Hoffenster und Türen, weiß gestrichen, keine Kunststoffrahmen, keine Buntglasziegel in Fachwerkhäusern, keine Metalljalousien, die als Aluminiumkästen über den gesimslosen Fenstern hängen. Zugegeben, es gehören zwei dazu, ganze Landstriche zu verwüsten, die Architekten und die Hausbesitzer. Mit welcher Blödheit, ja mit welchem Selbsthaß da entkernt, abgerissen, umgebaut wurde, kann nur damit zusammenhängen, daß man seine Geschichte auslöschen wollte. Was ja auch wieder verständlich ist, bei dieser Geschichte. (Uwe Timm: Rot, S. 112)


Timm, Uwe: Rot [2]

  Nilgün trug ein ärmelloses Top, schwarz, vorn mit einem Reißverschluß. Der war ziemlich weit heruntergezogen. Bewegte sie sich, mich regelrecht, was ich sonst nie tue, ihr immer wieder auf die Brust zu schauen. Blickte ich sie an, zog sie demonstrativ den Reißverschluß hoch, mein Blick wurde regelrecht im Reißverschluß eingeklemmt. Natürlich war es ein Spiel, etwas pubertär und albern, das den Streit über Vorurteile und Klischeebildung und deren Berechtigung begleitete. Kaum wandte ich den Blick zu Ben oder Iris, zog Nilgün den Reißverschluß wieder wie befreit herunter. Blickte ich hin, zack wieder hoch. Ich weiß nicht, warum ich mich an dem Abend, draußen sitzend, mit dieser Nilgün streiten mußte, plötzlich in der Rolle des konservativen Finsterlings, der gerade gegen das Rolle der türkischen Musik vom Leder zog. (Uwe Timm: Rot, S. 110)


Timm, Uwe: Rot [3]

  Ich behaupte, zwischen dem Lachen und dem Licht besteht eine Korrespondenz, beide erhellen Gegenstände und damit auch die Personen, ja man erhellt sich selbst, lacht man über sich - und lacht sie über mich, sehe ich mich weit deutlicher, so unangestrengt. Ihr Lachen entspricht, wie ich es bei ihrer Arbeit beobachten konnte, dem Theaterscheinwerfer, der mit einem Gelbfilter arbeitet und plötzlich, der Regler wird aufgezogen, die Szene ins Sonnenlicht taucht. (Uwe Timm: Rot, S. 111)


Timm, Uwe: Rot [4]

  Bleib. Im Gästezimmer liegt auch ne Matratze. Wein haben wir, keine Gläser. Trink aus der Flasche. Oder von meinem Teller. Wird man schneller blau. Also alles paletti. Können wir loslegen. Was. Wir. Wir sind die Rotweinmillionen, da kann man ja nicht von Losergeneration sprechen. Da kann ich ja nur lachen. Mein Lieber. Hör mal. Wir wollten doch die Welt aus den Angeln heben. Nicht nur etwas Sozialkosmetik, nein, mehr, viel mehr, grundsätzlich, wir wollten das Gravitationsgesetz des Kapitalismus aufheben, den Profit. Das war's doch. Dieses widerliche Profitdenken, das alles rechtfertigt. Dagegen Gerechtigkeit, weißt du noch, und Edmond brüllte, daß es durch die leeren Räume hallte: Liberte, Egalite, Fraternite. Der Mensch sollte dem Menschen Bruder sein - und nicht Konkurrent. Keine Ausbeutung. Keine Unterdrückung. Keine Herrschaft des Menschen über den Menschen. Und dann das, sagte Edmond und schlug kurz, aber nicht heftig, es war diesmal nur ein Antippen, den Kopf gegen die Wand. (Uwe Timm: Rot, S. 190)


Timm, Uwe: Vogelweide

  Es soll nicht sein, dass immer wieder ein anderer, eine andere kommen kann, die, und sei es nur für einen Augenblick, Begierde auslösen und damit Beliebigkeit schaffen. Ihr Reden wurde ein Furor: Dann sind wir auf dem Markt. Greifen Sie zu. Die Gelegenheit ist günstig. Jung, attraktiv. Grabbelkiste. Dann hängt alles von Zufall und Zeitpunkt ab, und wir meinen, das sei das Leben. Das ist das Leben. Nein, der dumme Zufall. (Uwe Timm: Vogelweide)


Tolstoj, Lew: Erzählungen [1]

  Aber die Frage, die die Diplomaten nicht gelöst haben, kann noch weniger mit Pulver und Blut gelöst werden. Mir ist oft ein merkwürdiger Gedanke gekommen: wie, wenn die eine kriegführende Partei der anderen vorschlüge, aus jeder Armee einen Soldaten zu entlassen? Dieses Verlangen könnte seltsam erscheinen, aber warum sollte man es nicht erfüllen? Dann auf jeder Seite einen zweiten entlassen, einen dritten, einen vierten und so weiter, bis in jeder Armee nur noch ein Soldat vorhanden ist (vorausgesetzt, daß die Armeen gleich stark sind und daß Quantität durch Qualität ersetzt werden könnte). Und dann, wenn wirklich verwickelte politische Fragen zwischen vernünftigen Vertretern vernünftiger Geschöpfe durch Kampf entschieden werden müssen, sollten diese zwei Soldaten sich miteinander herumprügeln - der eine sollte die Stadt belagern und der andere sie verteidigen. Diese Überlegung mag paradox erscheinen, aber sie ist richtig. (Lew Tolstoj: Sewastopol im Mai 1855)


Tolstoj, Lew: Erzählungen [2]

  War das nun die Heldentat der Liebe, die sie ihren Kindern gegeben hatte, als sie klein waren, was es der große Verlust oder war es die Eigentümlichkeit ihres Charakters - jeder, der diese Frau ansah, mußte begreifen, daß von ihr nichts mehr zu erwarten war, daß sie schon vor langer Zeit ganz im Leben untergegangen und nichts mehr von ihr übriggeblieben war. Es war nur noch etwas achtungswürdig Schönes und Trauriges da, wie eine Erinnerung, wie das Licht des Mondes. Man konnte sie sich nicht anders vorstellen als umringt von Verheerung und von allen Bequemlichkeiten des Lebens. Daß sie je hungrig gewesen wäre und mit Gier gegessen hätte oder daß sie schmutzige Wäsche auf dem Leibe gehabt hätte oder gestolpert wäre oder vergessen hätte, sich zu schneuzen - das konnte ihr einfach nicht widerfahren. Das war physisch unmöglich. Warum das so war, weiß ich nicht, aber jede ihrer Bewegungen war voll Erhabenheit, Grazie, Gnade für alle diejenigen, die ihren Anblick genießen durften. (Lew Tolstoj: Sämtliche Erzählungen, Bd. 3, S. 179)


Tolstoj, Lew: Anna Karenina [1]

  Beide, nach Charakter und Geist angesehene Männer, achteten sich auch gegenseitig, hegten aber fast in allem eine unversöhnliche Meinungsverschiedenheit, nicht deshalb, weil sie entgegengesetzten Richtungen gehuldigt hätten, sondern gerade deshalb, weil sie einem gemeinsamen Lager angehörten – ihre Feinde identifizierten sie – in diesem Lager aber ein jeder von ihnen seine eigene Schattierung besaß. Du nun indes nichts für eine gegenseitige Übereinstimmung weniger förderlich ist, als die Meinungsverschiedenheit in den fernerliegenden Dingen, so kamen sie in ihren Meinungen nicht nur niemals überein, sondern waren schon längst daran gewöhnt, ohne sich zu ereifern, über ihren unverbesserlichen Irrtum sich gegenseitig lustig zu machen. (Lew Tolstoj: Anna Karenina)


Townsend, Sue: Downing Street No. 10

  Nach seinem Abschluß am Balliol College in Oxford verschlug es ihn ins Verlagwesen, und er übernahm die Redaktion der Leserbriefseite eines erotischen Magazins namens Fetisch. Krafft-Ebings Lehrbuch zur Sexualpathologie immer in Reichweite, verfaßte er unflätige Antworten auf die zumeist traurigen, gelegentlich aber auch prahlerischen Schreiben seiner Leserschaft. (Sue Townsend: Downing Street No. 10, S. 17)


Townsend, Sue: Queen Camilla [1]

  Nachdem man ihn ins Behandlungszimmer gebracht hatte, streckte Boy dem Zahnarzt mit der Maske seine Hand hin. "Keine Zeit für so was", entgegnete Stein brüsk. "Auf den Stuhl, zurücklegen, Mund auf." (...) "Muß viele gemacht werden?", fragte Boy. "Mußte in London nach dem Blitzkirge viel gemacht werden?", gab Stein zurück, dessen eigenes Gebiß, wie Boy bemerkte, gelblich und wenig bemerkenswert war. "Lächeln", befahl Stein. "Zeigen Sie mir Ihr Politikerlächeln, in dem Stil: 'Ich hab gerade einen Säugling geküßt." (Sue Townsend: Queen Camilla, S. 166)


Townsend, Sue: Queen Camilla [2]

  "Und was für Wohltätigkeitsvereine unterstützt Ihre Frau?", erkundigte sich die Queen. "Sie ist die Gründerin von VOICE", erklärte Grice. "Voice?", wiederholte die Queen. Langsam und bedächtigt betonte Grice: "Vereinigung der Opfer Inkompetenter Silikonimplantationen in England." Dann fügte er hinzu: "Sie hatte selbst eine Brust-OP, die schiefgegangen ist. Einer von ihren Möpsen ist doppelt so groß als wie der andere. Sie hängt für den Rest ihres Lebens schief." Grice ließ den Kopf hängen und starrte bekümmert auf den Boden. "Was für ein Pech", murmelte die Queen. "Und sie arbeitet viel mit halbwüchsigen Jungs", ergänzte Grice. "Das ist sehr bewunderswert." Die Queen hatte Mrs Grice schon häufig zu dröhnend lauter Musik in ihrem Cabrio mit diversen Rabauken auf dem Beifahrersitz in der Siedlung herumkurven sehen. Sie war inzwischen kosmetisch derart korrigiert, daß sie aussah wie ein sonnengebräunter Nachwuchsastronaut, der gerade ein Gravitationstraining absolvierte. (Sue Townsend: Queen Camilla, S. 86)


Townsend, Sue: Queen Camilla [3]

  Beim Anblick der Hafenbrücke von Sydney hatte sie bemerkt: "Das erinnert mich dran, ich wollte den Steward nach extra Kleiderbügeln fragen." Ihr Urteil über Venedig hatte gelautet: "Höchste Zeit, daß die mal modernisieren, diese Kanäle gehören aufgefüllt und ein paar anständige Straßen gebaut." Und ihre Meinung zu Rom war schlicht: "Das könnte ganz nett aussehen, wenn sie mal die ganzen kaputten Häuser renovieren täten." (Sue Townsend: Queen Camilla, S. 318)


Townsend, Sue: Queen Camilla [4]

  Sandras Anweisungen an ihre Schneiderin hatten gelautet: "Sexy, aber geschmackvoll. Titten, aber keine Nippel. Arsch, aber keine Ritze. Beine, aber keine Muschi." Woraufhin die Schneiderin alles hatte stehen und liegen lassen, um sich nur auf Sandras Outfit zu konzentrieren. Am Ende hatte sie ein Kleid produziert, das Camilla später als eine Mischung aus Flamencotänzerin und ruritanischer Prinzessin beschrieb. (Sue Townsend: Queen Camilla, S. 404)


Townsend, Sue: Die Frau, die ein Jahr... [1]

  "Und ich habe mich auf Dr. Abbots Interpolationsverfahren verlassen ..." Lederhose rief: "Und wo ist sie, wenn man sie braucht? Im Scheißmutterschaftsurlaub auf ihrem schönen walisischen Berg, wo sie das sabbernde Mondgesicht stillt, ohne Festnetz, ohne Handynetz, und das Modernste, was sie in dieser verschimmelten Bruchbude namens Cottage hat, ist ein verfickter Dualit-Toaster. Schaffen Sie diese Lauchfresserin irgendwie her!" (Sue Townsend: Die Frau, die ein Jahr im Bett blieb)


Townsend, Sue: Die Frau, die ein Jahr... [2]

  Barry war nicht sicher, ob das große, stämmige schwarzhaarige Mädchen ihn beleidigt hatte oder nicht. (...) Er hatte sich den Mund verbrannt, er hatte Fahrgäste verloren, und erst jetzt fiel ihm ein, dass der Hochgeschwindigkeitszug, vor den er sich werfen wollte, erst um fünf Uhr in Sheffield losfuhr. (...) "Wie üblich", dachte er, "hab ich alles vermasselt. Das mach ich schon mein ganzes Leben: Sachen verlieren, Sachen kaputtmachen, Sachen klauen, mich bei Sachen erwischen lassen." Ihm war, als hätte man ihm die Regeln des Lebens nie erklärt, während alle anderen, Männer, Frauen, Kinder und Tiere, sie zu kennen schienen. Er hinkte immer hinterher - manchmal wortwörtlich - und schrie: "Wartet auf mich!" Für ihn blieben immer nur die Frauen übrig, die seine Kumpel ausgemustert hatten. (Sue Townsend: Die Frau, die ein Jahr im Bett blieb)


Traven, B.: Die weiße Rose

  Wie er eigentlich zu seiner angetrauten Frau gekommen war, das hätte er so genau jetzt nicht mehr sagen können. Er konnte sich jedoch recht wohl erinnern, daß nicht er sie geheiratet hatte, sondern sie ihn. Sie brachte weder Geld mit, noch hob sie ihn in eine gesellschaftliche Schicht, wo er einflußreiche Freunde hätte finden können. Die Heirat hatte sich begeben, als er Clerk in einer Versicherungsgesellschaft war und fünfunddreißig Dollar die Woche verdiente. Mit fündunddreißig Dollar Wochenlohn kann man ja auch kaum erwarten, eine reiche Heirat zu machen oder durch Heirat in die bessere und darum wertvolle Gesellschaftsschicht zu gelangen. Der Heirat war nichts, aber auch gar nichts voraufgegangen, was man heiße Liebe oder etwa gar romantische Liebe hätte nennen können. Der Vorgang hatte sich so trocken und nüchtern abgespielt wie der Abschluß der Einbruchsversicherung eines Möbelhändlers. Beide, Man und Frau, waren dann eines Tages ziemlich erstaunt gewesen, als plötzlich eine Tochter geboren wurde. Denn beide hatten sich keine besondere Mühe dazu gegeben, und beide hatten nichts besinders Auffallendes empfunden in jenen Drei-Minuten-Funkspruch, der die Möglichkeit einer nicht unwahrscheinlichen Geburt in Aussicht stellte. (B. Traven: Die weiße Rose, S. 112)


Treichel, Hans-Ulrich: Der irdische Amor

  Bereits am ersten Abend nach seiner Ankunft hatte ihn einer der älteren Schüler auf einen Tee eingeladen. Der Schüler war der Flurälteste und hatte ein Einzelzimmer. Er empfing Albert im Bademantel. Anscheinend hatte er gerade geduscht. Und noch während er ihm den Tee einschenkte, stellte er sich so vor ihn hin, daß sich der Gürtel seines Bademantels löste und Albert plötzlich das erigierte Glied des Flurältesten vor dem Gesicht hatte. Erst später hatte Albert begriffen, daß dies ein Verführungsversuche gewesen war. Damals war Albert nur aufgesprungen und aus dem Zimmer geflüchtet, als ob er einer ansteckenden Krankheit oder einem Anfallleiden des Fluältesten ausweichen wollte. In der Tat kam ihm dieser rote und geschwollene Körperteil krank und gefährlich vor. Damit wollte er nicht zu tun haben. Er wollte auch mit dem Flutältesten nichts mehr zu tun haben, der, wie er bald feststellen konnte, des öfteren Neuankömmlinge zum Tee einlud und außerdem ein Krawattenträger war. Ein Krawattenträger und Jungenverführer, was Albert entrüstete und in ihm Haßgefühle gegen Flutälteste und Krawattenträger insgesamt auslöste. (Hans- Ulrich Treichel: Der irdische Amor, S. 56)


Treichel, Hans-Ulrich: Der irdische Amor [2]

  Bücher wie "Die sexuelle Revolution" oder "Die Funktion des Orgasmus". Wenn er nicht die "Memoiren eines Revolutionärs" auf den Arbeitstisch oder die Schulbank gelegt hatte, dann hatte er "Die Funktion des Orgasmus" dorthin gelegt. Obwohl das Buch nicht immer leicht verständlich war. "Die Funktion des Orgasmus" war ein weitaus schwierigeres Buch, als der Buchtitel erahnen ließ. Es fanden sich darin zahlreiche Kurven, Zeichnungen und Statistiken, in denen beispielsweise die reaktive Arbeitsleistung des neurotischen Charakters mit der sexualökonomischen Arbeitsleistung des genitalen Charakters verglichen wurde. Irritiert hatte ihn auch ein sogenanntes Schema der Panzerstruktur, das wie ein aus Pfeilen gesponnenes Spinnennetz aussah. Vielleicht aber waren nicht die Kurven, Zeichnungen und Statistiken an Alberts Verständnisschwierigkeiten schuld, sondern die Tatsache, daß es ihm an den entsprechenden Erfahrungen fehlte. Er hatte gehofft, das Buch könne ihm auch praktisch weiterhelfen. Doch das einzige, was das Buch bewirkt hatte, war ein Streit mit dem Vater. Schon der Kropotkin hatte beim Vater großen Ärger ausgelöst. Schließlich war Kropotkin ein Russe. Und ein Russe, so pflegte der Vater zu sagen, komme ihm nicht ins Haus. Nachdem der Vater auf Alberts Arbeitstisch "Die Funktion des Orgasmus" gesehen hatte, bekam er einen Wutanfall. Und Albert mußte sich anhören, daß dem Vater auch ein Orgasmus nicht ins Haus komme. Natürlich hatte der Vater das Wort Orgasmus nicht benutzt. Ein bäuerlich-pietistischer Mensch wie der Vater würde so ein Wort niemals in den Mund nehmen. Der Vater hatte bloß "Schund" geschrien und mit dem Zeigefinger auf das Buch gezeigt. Dann hatte er das Zimmer verlassen, war aber zurückgekehrt, hatte nochmals auf das Buch gezeigt und nun "Russenschund!" geschrien und "Nicht in meinem Haus!". (Hans-Ulrich Treichel: Der irdische Amor, S.55f)


Treichel, Hans-Ulrich: Der irdische Amor [3]

  Albert hatte den Mann schon oft gesehen. Er war für ihn nicht nur einer der gewohnten Berliner Schwimmbadbesucher, sondern in gewisser Weise auch sein Lieblingsberliner. Der Mann war zwischen vierzig und fünzig, fettleibig und jeden Tag im Schwimmbad. Außerdem hatte er schon vom ersten und zumeist noch kühlen und regnerischen Öffnungstag an einen tiefroten Sonnenbrand auf Rücken, Schultern und Armen. Wie viele der Berliner Schwimmbadbesucher ging er nur selten ins Wasser und lag die meiste Zeit auf den Steinterassen. Was ihn aber für Albert interessant machte, war die Tatsache, daß er im Unterschied zu allen anderen niemals ein Handtuch dabeihatte und es offensichtlich liebte, mit gestreckten Armen und Beinen auf den rohen Steinen zu liegen. Und zwar auf dem Bauch. Albert hatte noch nie einen Menschen so sehr am Boden liegen sehen wie diesen Mann. Der Mann lag so dicht und fest am Boden, daß man die Schwere, die ihn an den Boden drückte, noch unter den eigenen Füßen spüren konnte. Albert hatte auch noch nie einen Menschen so lange am Boden liegen sehen wie diesen Mann. Er legte sich am Vormittag hin und stand am späten Nachmittag wieder auf. Albert schätzte, daß der Mann im Durchschnitt, und wenn das Wetter gut und die Steine einigermaßen warm waren, sechs bis acht Stunden am Boden lag. Und er lag nicht nur sehr fest, sehr dicht und sehr lange am Boden, sondern auch sehr ruhig, fast bewegungslos. Ab und zu jedoch konnte es passieren, daß ein wenig Wasser von den Duschen am Beckendurchgang zu ihm herübergeweht wurde. Dann ging ein leises und lustvolles Zittern durch seinen Körper, das sich aber sofort wieder beruhigte. (Hans- Ulrich Treichel: Der irdische Amor, S.90f)


Treichel, Hans-Ulrich: Der irdische Amor [4]

  Albert war sich nicht sicher, ob er überhaupt das gehabt hatte, was man die Latenzzeit nannte. Die Latenzzeit war so etwas wie ein Vorruhestand vor der Unruhe der Pubertät. Die Ruhepause vor dem Fegefeuer. Albert konnte sich nicht daran erinnern, jemals eine Ruhepause gehabt zu haben. Er war immer schon unruihig gewesen. Er war wahrscheinlich schon als Kleinkind, wenn nicht gar als Säugling unruhig gewesen. Er kannte nicht die entspannte Muskulatur, den wohligen Schlaf des Säuglings, die süße Betäubung durch die Muttermilch. Als Albert geboren worden war, hatte er sogleich einen verspannten Nacken gehabt und unter Juckreiz gelitten. Außerdem hatte er schon als Säugling so etwas wie sexuelle Begierde und eine Art Dauerunruhe verspürt. Diese Dauerunruhe hatte ihn noch mehr verspannt und zugleich den Juckreiz verstärkt. Er glaubte sich daran zu erinnern, daß der Juckreiz und die Verspannung der Muskulatur genau in dem Moment begonnen hatten, als er den Mutterkörper verließ. Das Verlassen des feuchten und schwerelosen Muttermilieus hatte eine sofortige Verspannung des Nackens und eine juckende Austrocknung der Haut zur Folge gehabt. (Hans-Ulrich Treichel: Der irdische Amor, S.92f)


Treichel, Hans-Ulrich: Der irdische Amor [5]

  Das einzige, was ihm wirklich helfen würde, war ein Anruf bei Elena. Doch er fürchtete eine Abfuhr. Er konnte nicht von sich behaupten, daß er besonders viele Lebensweisheiten erworben hatte. Aber eine dieser Weisheiten war: Wenn du bedürftig bist, sinken deine Chancen. Das hatte er schon sehr früh gelernt, im Grunde schon als Kleinkind. Obwohl er als Kleinkind überaus bedüftig gewesen war, glaubte er sich daran zu erinnern, daß ihm die Mutterbrust immer dann zur Verfügung stand, wenn er keinerlei Hungergefühle zeigte. Sobald er brüllte, strampelte und schrie, war keine Mutterbrust zu sehen. Wenn er aber gleichgültig dreinschaute, tauchte vor ihm dieser große weiße Monde mit Warze auf und drückte sich auf sein Gesicht. Alsohatte er irgendwann nicht mehr gebrüllt, gestrampelt und geschrien, sondern selbst während größter Hunger- und Durstattacken gleichgültig in die Welt geschaut. (Hans-Ulrich Treichel: Der irdische Amor, S. 109)


Treichel, Hans-Ulrich: Menschenflug

  Aber zugleich mußte er zugeben, daß sich, seit er fünfzig geworden war und beinahe das Lebensalter seines Vaters erreicht hatte und trotz seiner sozusagen heldenhaften Vorsätze, sich so wenig wie möglich von der Vergangenheit behelligen zu lassen, immer öfter eine Sehnsucht nach alten Papieren seiner bemächtigte. Eine Art Dachbodensehnsucht überkam ihn dann, ein Verlangen nach alten Truhen, vergilbten Briefen und Fotoalben. (Hans-Ulrich Treichel: Menschenflug, S. 9)


Trifonow, Juri: Zwischenbilanz

  Rita sagte: "Gerd hat Karten für Gluck besorgt. Du paßt doch wie üblich?" Hartwig gehörte zu denen, die, wenn sie auf der Straße irgendwo Musik hören, unbedingt lauschen und gleich darauf kundzutun: "Aha, Genosse Bach!" oder "Wir haben's hier allem Anschein nach mit dem Genossen Mozart zu tun!" oder etwas anders im gleichen idiotischen Stil. Bei solchen Gelegenheiten errötete Rita und hielt mir vor: "Warum bist du nur so ein Musikbanause? Das ist dein größter Mangel." Sie konnte auch noch aggressiver werden: "Nein, du kannst dich nicht voll zur Intelligenz zählen!" Dabei habe ich mich selber nie dazugezählt. Wenn auch keineswegs deshalb, weil ich keine Musikkoryphäe bin. Nein, ernste Musik verstehe ich nicht, sie ermüdet mich, während mir Schlager und Jazzmotive Vergnügen bereiten. Die pfeif ich sogar. Bei einem Sinfoniekonzert jedoch schlafe ich entweder ein oder denke an Geschäftliches, an die Arbeit, an allen möglichen Unsinn. Was kann ich denn dafür? Jawohl, es ist ein Mangel, ein Fleck, eine Versündigung gegen die Geisteskultur, aber warum reibt man mir das ständig unter die Nase? Mein Gott, die Liebe zur Musik an sich sagt doch noch nichts über einen Menschen aus! Bestimmt nicht über das 'Menschliche'. Schlangen mögen auch Musik. Es gibt ganze Nationen, die man als unmusikalisch bezeichnen kann, die Engländer zum Beispiel, und trotzdem... es ist nicht angebracht, zu übertreiben und sich allzuviel einzubilden. Man kann Musik mögen und doch ein Zyniker sein. (Juri Trifonow: Zwischenbilanz, S. 32f.)


Trifonow, Juri: Zwischenbilanz [2]

  Ich selbst kann blauäugige Optimisten nicht ausstehen und hab stets die Welt, die Menschen kritisch betrachtet und tue das heute noch, aber eine solche Einstellung zur Umwelt, wie Hartwig sie hat - hinterhältige Verspottung von allem und jedem -, versetzt mich in Rage. Ich werde zum wütenden Orthodoxen, am liebsten nähme ich einen großen Knüppel und prügelte damit auf das begabte Köpfchen ein. Jawohl, er ist ein begabter Kerl, ich weiß es. Er ist Kandidat der Wissenschaften, hat eine schöne Stellung im Institut, schreibt etwas, lehrt irgendwo - steht sich ganz ausgezeichnet. O Gott, wieso aber dann? So viele Menschen bleiben im Leben auf der Strecke. Sie wollen etwas erreichen, aber sie können es nicht, sie haben nicht die Kraft dazu. Und hierin liegt Hartwigs Geheimnis. Mühelos erreicht er, wofür andere sich ihr Leben lang abstrampeln, und hat er es erreicht, pfeift er darauf. (Juri Trifonow: Zwischenbilanz, S. 34)


Trollope, Anthony: Die Türme von Barchester [1]

  Nur ein predigender Geistlicher kann in Platitüden, Binsenwahrheiten und Binsenunwahrheiten schwelgen und dabei wie ein unanfechtbares Vorrecht das nämliche respektvolle Betragen ernten, als fielen Worte voll leidenschaftlicher Beredsamkeit oder überzeugender Logik von seinen Lippen. Nehmen wir an, ein Professor der Rechte oder der Physik stünde in einem Vorlesungssaal und gäbe geistlose Worte und wiedersinnige, hohle Phrasen von sich - er würde sie vor leeren Bänken von sich geben. (Anthony Trollope: Die Türme von Barchester, S. 84)


Trollope, Anthony: Die Türme von Barchester [2]

  In ihrem Gesicht lag eine ruhige, immer gleiche, wohltuende Freundlichkeit, die auf alle ihr Nahestehenden eine starke Anziehungskraft ausübte; auf Menschen hingegen, die sie nur oberflächlich kannten, wirkte das hohe Lob ihrer Schönheit von seiten ihrer alten Freunde seltsam übertrieben. Ihre Schönheit glich der mancher Landschaften, die man öfter sehen muß, bis man an ihnen Gefallen findet. (Anthony Trollope: Die Türme von Barchester, S. 229)


Trollope, Anthony: Septimus Harding [1]

  Ihre Schwester, die Gattin des Archidiakonus, hatte zwar geringschätzig von ihren Reizen gesprochen, doch Eleanor war sehr schön, wenn man sie richtig ansah. Ihr Antlitz war nicht eines jener leidenschaftslosen Gesichter, die die Schönheit einer Marmorbüste besitzen, mit zierlich geformten Zügen, deren Linien alle vollkommen sind und den Regeln der Symmetrie gehorchen, die dem Fremden wie dem Freund gleich lieblich erscheinen und sich nur in der Krankheit oder unter dem Einfluß des Alters verändern. Sie besaß keine frappierend blendende Schönheit, ihre Gesichtsfarbe war weder von perlenhafter Blässe noch strahlend wie die der Nelke. Sie besaß nicht die majestätische Gestalt, die die Aufmerksamkeit fesselt, unmittelbares Staunen erheischt und dann durch die Kälte ihrer Reize enttäuscht. Auf der Straße hätte man an Eleanor Harding vorbeigehen können, ohne sie zu bemerken, doch es wäre kaum möglich gewesen, einen Abend mit ihr zu verbringen, ohne sein Herz zu verlieren. (Anthony Trollope: Septimus Harding, Vorsteher des Spitals zu Barchester)


Trollope, Anthony: Septimus Harding [2]

  Er mochte fünfzig Jahre alt sein und hätte für sein Alter jung ausgesehen, hätte nicht die pausenlose Arbeit seine Züge hart werden und ihn wie eine Maschine ohne Bewußtsein erscheinen lassen. Er hatte ein sehr intelligentes Gesicht, dem es jedoch an natürlichem Ausdruck fehlte. Man hätte ihn als einen nützlichen Mann eingeschätzt, um den man sich anschließlich nicht mehr kümmert: jemand, an den man sich in schlimmen Notlagen wendet, der sich aber nicht zu gewöhnlichen Aufgaben eignet; jemand, den man bitten würde, das Eigentum zu verteidigen, dem man sich aber nur ungern in Liebesdingen anvertrauen würde. Er war eine glanzvolle Erscheinung, wie ein Diamant, und war ebenso schneidend und genausowenig zu beeindrucken. Er kannte jeden, den zu kennen als Ehre galt, aber er hatte keinen Freund, was er jedoch nicht als Mangel empfand; er kannte die Bedeutung des Wortes "Freund" nur in seinem parlamentarischen Sinne. Ein Freund! (Anthony Trollope: Septimus Harding, Vorsteher des Spitals zu Barchester)


Turgenjew, Iwan: Ein Monat auf dem Lande

  Rakitin: (...) Bei dieser Gelegenheit, Alexej Nikolajitsch: Sie leben vielleicht noch in der Vorstellung, Liebe ist das höchste Gut auf Erden? Beljajew (kühl): Ich habe da noch keine Erfahrung, glaube aber, daß es ein großes Glück ist, von einer Frau geliebt zu werden, die man selber liebt. Rakitin: Geb Gott, daß diese angenehme Überzeugung Ihnen recht lange erhalten bleibt! Meiner Ansicht nach, Alexej Nikolajitsch, ist jede Liebe, die glückliche wie die unglückliche, eine Katastrophe, sobald man sich ihr restlos hingibt. Warten Sie ab! Sie werden vielleicht noch erfahren, wie diese zarten Hände zu foltern verstehen, mit welch freundlicher Sorgfalt sie Ihr Herz in kleinste Teilchen zerpflücken. Warten Sie ab! Sie werden erfahren, wieviel brennender Haß sich hinter der flammendsten Liebe verbirgt! Sie werden an mich zurückdenken, wenn Sie sich - wie der Kranke nach der Gesundheit - nach Ruhe, nach der unsinnigsten, banalsten Ruhe sehnen und jeden sorglosen, freien Menschen beneiden. Warten Sie ab! Sie werden erfahren, was es bedeutet, sich an eine Schürze zu hängen, was es bedeutet, versklavt, ja, infiziert zu sein - und wie qualvoll und schmählich diese Sklaverei ist! Sie werden schließlich erfahren, welche Belanglosigkeiten man mit diesem hohen Preis erkauft. (Iwam Turgenjew: Ein Monat auf dem Lande)


Turgenjew, Iwan: Drei Begegnungen [1]

  Nach dem Mittagessen pflegte sich mein Freund vor dem Spiegel sehr sorgfältig anzuziehen, und dann fuhr er zu irgendeinem Nachbarn, der mit zwei oder drei hübschen Töchtern gesegnet war. Unbekümmert und ohne jegliche Absichten machte er einer von ihnen den Hof, spielte mit ihnen Blindekuh, kehrte ziemlich spät nach Hause zurück und sank sofort in tiefen Schlaf. Langweilen konnte er sich nicht, da er niemals völligem Müßiggang frönte; bei der Wahl seiner Beschäftigungen aber war er nicht anspruchsvoll, und wie ein Kind ergötzte er sich an der geringsten Kleinigkeit. Andererseits hing er nicht sonderlich am Leben, und wenn es galt, einen Wolf oder einen Fuchs zu stellen, ließ er mitunter sein Pferd in vollem Galopp über Gräben und Hindernisse setzen, so daß ich bis heute nicht begreife, weshalb er sich nicht schon hundertmal den Hals gebrochen hat. Er gehörte zu jenen Menschen, die den Gedanken aufkommen lassen, sie kennten den eigenen Wert nicht und unter ihrem äußerem Gleichmut verbärgen sich starke und große Leidenschaften. (Iwan Turgenjew: Drei Begegnungen, Erzählungen, S. 6)


Turgenjew, Iwan: Drei Begegnungen [2]

  Am grauen Himmel zogen schwerfällig langgestreckte Wolken dahin; das dunkelbraune Strauchwerk krümmte sich unter den Windstößen und ächzte kläglich; kraftlos und traurig schmiegte sich das vergilbte Gras an den Boden; Schwärme von Drosseln fielen in die Ebereschen ein, die voller leuchtend roter Dolden hingen; zwitschernd hüpften Meisen im dünnen, zerbrechlichen Gezweig der Birken umher; im Dorf kläfften heiser Hunde. Schwermut übermannte mich. (Iwan Turgenjew: Drei Begegnungen, Erzählungen, S. 7)


Turgenjew, Iwan: Drei Begegnungen [3]

  Iwan Andrejewitsch war lang aufgeschossen und hager, wortkarg und überaus langsam in allen seinen Bewegungen. Er trug niemals einen Schlafrock, und niemand außer seinem Kammerdiener hat ihn je ungepudert gesehen. Iwan Andrejewitsch pflegte beim Gehen die Hände auf dem Rücken zu verschränken und bei jedem Schritt bedächtig den kopf hin und her zu wenden. Tag für Tag spazierte er die lange Lindenallee entlang, die er eigenhändig angepflanzt und von deren Schatten zu profitieren er noch vor seinem Tode das Vergnügen hatte. Iwan Andrejewitsch geizte außerordentlich mit Worten. Als Beweis für seine Schweigsamkeit mag der bemerkenswerte Umstand dienen, daß er im Verlauf von zwanzig Jahren kein einziges Wort mit seiner Gattin, Anna Pawlowna, gesprochen hat. (Iwan Turgenjew: Drei Begegnungen, Erzählungen, S. 6)


Turgenjew, Iwan: Drei Begegnungen [4]

  Olga Iwanowna, meine Herren, war recht hübsch. Übrigens bestand ihre Schönheit mehr in der außergewöhnlichen Zartheit und Lebensfrische ihres Körpers sowie in der ruhigen Anmut ihrer Bewegungen als in strenger Regelmäßigkeit der Konturen. Die Natur hatte sie mit einer gewissen Selbständigkeit ausgestatet; ihre Erzeihung - sie war ja als Waise aufgewachsen - hatte in ihr Vorsicht und Standhaftigkeit entwickelt. Olga gehörte nicht zu den stillen und trägen Fräulein; dennoch war nur eine Gefühl bei ihr ausgereift: der Haß gegen ihren Wohltäter. Indessen mögen auch andere, weiblichere Leidenschaften mit ungewöhnlicher, krankhafter Heftigkeit in ihrem Herzen entbrannt sein, doch sie besaß weder jene stolze Kälte noch jene komprimierte Seelenstärle noch jene ehrgeizige Konzentriertheit, ohne die jede Leidenschaft sehr rasch abkühlt. Die ersten Aufwallungen solcher halb aktiven, halb passiven Naturen sind mitunter außergewöhnlich heftig; aber sie schlagen sehr schnell um, vor allem, wenn es darum geht, die Grundsätze, die sie sich zu eigen gemacht haben, rücksichtslos anzuwenden; dann haben sie Angst vor den Konsequenzen. Und doch, meine Herren, muß ich Ihnen offen gestehen: Frauen dieser Art machen auf mich einen tiefen Eindruck. (Iwan Turgenjew: Drei Begegnungen, Erzählungen, S. 22)


Turgenjew, Iwan: Drei Begegnungen [5]

  Der Major war ein Mann in den Sechzigern, korpulent und unbeholfen, mit schwammigem rotem Gesicht, kurzem Hals und beständigem Zittern in den Fingern, das von übermäßigem Branntweingenuß herrührte. Er gehörte zu den sogenannten "Bourbonen", das heißt zu den Offizieren, die sich vom einfachen Soldaten emporgedient haben, und hatte erst mit dreißig Jahren lesen und schreiben gelernt; auch fiel ihm das Sprechen schwer, teils infolge seiner Kurzatmigkeit, teils wegen seines Unvermögens, einen eigenen Gedanken folgerichtig zu Ende zu denken. Sein Temperament wies alle der Wissenschaft bekannten Spielarten auf: Morgens vor dem Branntweingenuß war er Melancholiker, mittags Choleriker und am Abend Phlegmatiker, das heißt, dann schnaufte und brummte er nur noch, bis man ihn zu Bett brachte. (Iwan Turgenjew: Drei Begegnungen, Erzählungen, S. 75)


Turgenjew, Iwan: Drei Begegnungen [6]

  Von jenem Tage an besichte Iwan Afanasjitsch häufig die Bäckerei, und nicht vergebens. Er erreichte, um im gehobenen Stil zu sprechen, sein Ziel. Für gewöhnlich kühlt das den Menschen ab; Petuschkow hingegen entflammte von Tag zu Tag mehr. Die Liebe ist eine Frucht des Zufalls, sie existiert aus sich selbst heraus - wie die Kunst, und sie bedarf keinerlei Rechtfertigung - wie die Natur, hat einmal ein kluger Mann gesagt, der selber niemals liebte, aber dennoch ausgezeichnet über die Liebe urteilte. (Iwan Turgenjew: Drei Begegnungen, Erzählungen, S. 53)


Turgenjew, Iwan: Drei Begegnungen [7]

  "Einen Scherz verübeln, wie könnte man das? Denken wir bloß an Iwan Illitsch; er trägt bei uns den Scherznamen 'Schmiegsame Seele", weil er einfach zu nichts nein sagen kann. Na, und fühlt sich Iwan Illitsch deshalb gekränkt? Nie!" (...) Der Name 'Schmiegsame Seele" paßte wahrhaftig genau zu Iwan Illjitsch. Keine Spur fand sich an ihm von dem, was man Willen oder Charakter nennt. Jeder, der nur wollte, konnte ihn zu jedem beliebigen Ziel mitnehmen; er brauchte bloß zu sagen: Iwan Illjitsch, wir fahren los! Und dieser griff nach dem Hut und fuhr mit. Kam ein anderer daher, der zu ihm sprach: Iwan Illjitsch, bleiben Sie!, so hängte Iwan Illjitsch den Hut an den Haken und blieb. (Iwan Turgenjew: Drei Begegnungen, Erzählungen, S. 273f.)


Turgenjew, Iwan: Drei Begegnungen [8]

  Auf halbem Wege zwischen seinem Gut und Ipatowka, oberhalb einer breiten Schlucht, dicht am Abhang, wuchsen gedrängt, gleichsam eine Schonung bildend, junge Birken. Noch hatte keines Menschen Axt ihre schlanken Stämme berührt; ein lichter, doch beinahe geschlossener Schatten fiel von den kleinen Blättern auf das weiche Gras, zwischen dessen dünnen Halmen, das Grün sprenkelnd, sich die goldenen Köpfchen des Hahnenfußes, die weißen Ringel der Waldglockenblumen und die himbeerfarbenen Kreuzchen der Nelken reckten. Die Sonne, die eben aufging, tauchte den ganzen Hain in kräftiges, wenn auch nicht blendendes Licht; überall blitzten Tautröpfchen; hier und da funkelten unvermittelt auch große Tropfen, färbten sich rot; alles atmete Frische, Leben und jene makellose Feierlichkeit der ersten Augenblicke des Morgens, da alles schon so hell und noch so still ist. Nichts war zu hören als die perlenden Stimmen der Lerchen über den fernen Feldern, und im Hain selbst ließen sich zwei, drei Vögelchen ohne Hast ihre kurzen Strophen ertönen, und nachher lauschten sie gleichsam, wie es ausgefallen sei. Von der feuchten Erde stieg gesunder, kräftiger Geruch auf; die reine, leichte Luft plätscherte in weichen, kühlen Wellen. In allem regte sich, offenbarte sich der Morgen, ein herrlicher Sommermorgen, in allem lächelte der Morgen, wie das rotwangige, eben gewaschene Gesichtchen eines erwachten Kindes. (Iwan Turgenjew: Drei Begegnungen, Erzählungen, S. 311f.)


Turgenjew, Iwan: Drei Begegnungen [9]

  "Wissen Sie, warum ich trinke? Schauen Sie mal nach der Schwalbe dort... Sehen Sie, wie keck sie über ihren kleinen Körper verfügt - wirft ihn dorthin, wohin sie will! Da schwingt sie sich empor, da stößt sie hinab, schmettert sogar Freudenlaute, hören Sie? Eben darum trinke ich, Mascha - um des Gefühls willen, das die Schwalbe erfüllt. Sich selbst nach Herzenslust hierhin und dorthin zu schnellen, auf und ab durch die Lüfte...." "Und wozu?" unterbrach ihn Mascha. "Was heißt: 'Wozu?' Was wäre sonst das Leben?" "Und ohne Wein wäre das nicht zu erreichen? " "Nein, weil wir alle verdorben, zerknittert sind. Die Leidenschaften freilich, die bewirkt dasselbe. Eben darum liebe ich Sie". (Iwan Turgenjew: Drei Begegnungen, Erzählungen, S. 315)


Twain, Mark: Schreckliche deutsche Sprache [1]

  Deutsche Bücher sind ziemlich leicht zu lesen, wenn man sie vor den Spiegel hält oder sich auf den Kopf stellt - um den Aufbau umzukehren -, aber ich glaube, eine deutsche Zeitung lesen und verstehen zu lernen ist eine Sache, die einem Ausländer stets unmöglich bleiben muß. Aber sogar die deutschen Bücher sind nicht ganz frei von Anfällen der Parenthesenstaupe - obwohl diese gewöhnlich so mild verläuft, daß sie nur ein paar Zeilen umfaßt, und daher vermittelt das Verb, wenn man sich endlich zu ihm hinabgearbeitet hat, dem Verstand noch einen gewissen Sinn, weil man sich noch an eine ganze Menge von dem erinnern kann, was davor stand. (...) Ich habe gehört, daß sie manchmal, wenn sie eine oder zwei Spalten lang aufregende Einleitungen und Parenthesen dahergeschwafelt haben, in Zeitnot geraten und in Druck gehen müssen, ohne überhaupt bis zum Verb gekommen zu sein. Natürlich läßt das den Leser in einem Zustand starker Erschöpfung und Unwissenheit zurück. (Mark Twain: Die schreckliche deutsche Sprache)


Twain, Mark: Schreckliche deutsche Sprache [2]

  Die Deutschen haben noch eine Art von Parenthese, die sie bilden, indem sie ein Verb in zwei Teile spalten und die eine Hälfte an den Anfang eines aufregenden Absatzes stellen und die andere Hälfte an das Ende. Kann sich jemand etwas Verwirrenderes vorstellen? Diese Dinger werden »trennbare Verben« genannt. Die deutsche Grammatik ist übersät von trennbaren Verben wie von den Blasen eines Ausschlags; und je weiter die zwei Teile auseinandergezogen sind, desto zufriedener ist der Urheber des Verbrechens mit seinem Werk. (Mark Twain: Die schreckliche deutsche Sprache)


Twain, Mark: Schreckliche deutsche Sprache [3]

  In Deutschland fangen alle Substantive mit einem Großbuchstaben an. Das ist nun mal eine gute Idee; und eine gute Idee fällt in dieser Sprache notwendigerweise wegen ihrer Seltenheit auf. Ich halte die Großschreibung der Substantive für eine gute Idee, weil man daran fast immer das Hauptwort erkennen kann, sobald man es sieht. Gelegentlich gerät man in einen Irrtum, weil man den Namen einer Person fälschlich für den Namen einer Sache hält und ziemlich viel Zeit mit dem Versuch vergeudet, einen Sinn herauszugraben. (Mark Twain: Die schreckliche deutsche Sprache)


Twain, Mark: Schreckliche deutsche Sprache [4]

  Ich habe von einem amerikanischen Studenten gehört, der gefragt wurde, wie er mit seinem Deutsch vorankomme, und prompt antwortete: "Ich komme überhaupt nicht voran. Ich habe drei volle Monate lang hart daran gearbeitet, und alles, was ich vorweisen kann, ist nur der eine deutsche Satz: 'Zwei Glas!'" (Zwei Glas Bier.) Er hielt einen Augenblick nachdenklich inne, dann fügte er mit Nachdruck hinzu: "Aber das sitzt!" (Mark Twain: Die schreckliche deutsche Sprache)


Twain, Mark: Tom Sawyers Abenteuer [1]

  Sie gehörte zu den Leuten, die auf jede Medizin schwören und alle neu erfundenen Heilmethoden. Sie war unermüdlich in ihren Experimenten. Sobald sie von etwas Neuem in der Branche hörte, brannte sie darauf, es zu probieren; nicht an sich selbst, denn sie war nie leidend; aber am ersten besten, der ihr in die Hände fiel. Sie war Abonnentin sämtlicher »Heil«- Zeitschriften und jedes gedruckten, wissenschaftlichen Betruges; den größten Unsinn, mit dem nötigen feierlichen Ernst vorgetragen, nahm sie wie ein Evangelium auf in ihrer Unwissenheit. Alle Abhandlungen über Ventilation, das Zubettgehen und Aufstehen, Essen und Trinken, über das Maß der nötigen Bewegung, die Gemütsverfassung, die Art der Kleidung, erschienen ihr einfach einwandfrei, und sie merkte gar nicht, daß die Gesundheits-Journale des laufenden Monats gewöhnlich all das widerriefen, was sie im Monat vorher empfohlen hatten. Sie war einfachen Herzens und so ehrenhaft, wie der Tag lang is t, und so war sie ein leichtes Opfer. (Mark Twain: Tom Sawyers Abenteuer, S. 95)


Twain, Mark: Tom Sawyers Abenteuer [2]

  "Na, und du willst gar nichts sparen?" "Sparen? Wozu?" "Na, damit du später mal was zu leben hast." "Ach, das ist ja Unsinn. Pap wird eines schönen Tags in dies liebliche Nest zurückkommen und seine Klauen drauf legen, wenn ich’s noch nicht verbraucht hätt’, und ich sag’ dir, der hätt’s sehr bald durchgebracht. - Was willst du tun, Tom?" "Ich werd’ mir ’ne neue Trommel kaufen und ’n richtiges Schwert und ’n roten Schlips und ’ne junge Bulldogge - und dann würd’ ich heiraten." "Heiraten?!!" "Na ja!" "Tom, du - na, wenn du nicht recht bei Verstand bist!" "Wart’ nur - wirst’s ja sehn." "Na, das ist doch’s Dümmste, was du tun kannst. Sie doch nur meinen Pap und seine Alte. Teufel - was die sich prügelten! Weiß ich noch ganz gut! Und wenn sie mal ausnahmsweise einig waren, dann sind sie zu zweit über mich hergefallen." "Das ist ’n anderes Ding. Das Mädchen, das ich heirate, prügelt sich nicht!" (Mark Twain: Tom Saywers, S. 183)


Twain, Mark: Die Arglosen im Ausland [1]

  Zur rechten Zeit war das Schiff bereit, seine Passagiere aufzunehmen. Ich wurde dem jungen Mann vorgestellt, der die Kajüte mit mir teilen sollte, und fand ihn intelligent, heiteren Gemüts, selbstlos, voll großmütiger Regungen, geduldig, rücksichtsvoll und wunderbar gutmütig. Wohl keiner der Passagiere, die mit der "Quaker City" reisten, wird die Bestätigung des soeben Gesagten verweigern. Wir suchten uns eine Luxuskabine aus, die steuerbord vor dem Rad "unter Deck" lag. Sie enthielt zwei Schlafkojen, ein trübes Deckenlicht, einen Ausguß mit einer Waschschüssel und eine lange, üppig gepolsterte Truhe, die teils als Sofa und teils als Versteck für unsere Sachen dienen sollte. Trotz aller dieser Einrichtungsgegenstände war noch genügend Raum vorhanden, um sich darin umzudrehen, aber nicht, um eine Katze herumzuschwingen, jedenfalls nicht mit völliger Sicherheit für die Katze. Immerhin war der Raum für eine Schiffskabine groß und in jeder Hinsicht befriedigend. (Mark Twain: Die Arglosen im Ausland, S. 20)


Twain, Mark: Die Arglosen im Ausland [2]

  Der Grund und Boden dürfte inzwischen ziemlich heilig geworden sein, möchte man meinen. Ein Abschnitt dieses edlen, alten Bauwerks erinnert an die wunderlichen Gepflogenheiten alter Zeiten. Es wurde von Jean sans Peur, Herzog von Burgund, errichtet, der sein Gewissen beruhigen wollte - er hatte den Herzog von Orleans ermordet. Ach, jene guten, alten Zeiten sind vorbei, als ein Mörder noch den Makel von seinem Namen wischen und seine innere Not besänftigen konnte, indem er einfach Ziegelsteine und Mörtel auspackte und einer Kirche einen Anbau hinzufügte! (Mark Twain: Die Arglosen im Ausland, S. 114)


Twain, Mark: Die Arglosen im Ausland [3]

  Gerade in diesem Punkt liegt der hauptsächliche Reiz des Lebens in Europa - in der Geruhsamkeit. In Amerika geht alles Tempo - das ist in Ordnung; aber wenn die Tagesarbeit getan ist, denken wir weiter an Verlust und Gewinn, planen für den nächsten Tag, nehmen unsere Geschäftssorgen sogar mit zu Bett und werfen uns hin und her und grübeln über sie nach, während sich unser geplagter Kopf und Körper lieber im Schlaf erholen sollte. Wir verpulvern mit diesen Aufregungen unsere Kräfte und sterben entweder zeitig oder verfallen der Kraftlosigkeit und Armseligkeit des Alters schon zu einem Zeitpunkt unseres Lebens, den man in Europa das beste Mannesalter nennt. (Mark Twain: Die Arglosen im Ausland, S. 163)


Twain, Mark: Die Arglosen im Ausland [4]

  Ich beneide die Europäer um die Geruhsamkeit, die sie sich leisten. Wenn das Tagewerk getan ist, vergessen sie es. Einige von ihnen gehen mit Frau und Kindern in eine Bierhalle und setzen sich dort still und gelassen hin, trinken ein oder zwei Krüge Bier und lauschen der Musik; andere bummeln durch die Straßen, andere fahren in den Alleen spazieren, wieder andere versammeln sich am frühen Abend in den großen Anlagen, um den Anblick und den Duft der Blumen zu genießen und sich ein Platzkonzert anzuhören - es gibt wohl keine europäische Stadt ohne gute Militärmusik zur Abendstunde; und noch andere Leute sitzen im Freien vor den Erfrischungsstätten, essen Eis und trinken harmlose Getränke, die einem Kinde nicht schaden. Sie gehen einigermaßen früh zu Bett und schlafen gut. Immer sind sie ruhig, immer gesittet, immer fröhlich und gelassen und wissen das Leben und seine zahlreichen Segnungen zu schätzen. Man sieht niemals einen Betrunkenen. Die Veränderung, die sich in unserer Gesellschaft bemerkbar macht, ist überraschend. Tag für Tag legen wir etwas von unserer Rastlosigkeit ab und nehmen etwas von dem Geist der Ruhe und Gelassenheit an, der in der ruhigen Atmossphäre um uns und im Verhalten der Menschen zu spüren ist. Rasch werden wir weise. Wir beginnen zu begreifen, wozu das Leben da ist. (Mark Twain: Die Arglosen im Ausland, S. 164)


Twain, Mark: Die Arglosen im Ausland [5]

  Wir erreichten Venedig um acht Uhr abends und bestiegen einen Leichenwagen, der zum Grand Hotel d'Europa gehörte. Zumindest glich es mehr einem Leichenwagen als etwas anderem, obwohl es, wenigstens auf dem Papier, eine Gondel war. Das also war die gefeierte Gondel von Venedig! - das Märchenboot, in dem die fürstlichen Kavaliere der guten alten Zeit das Wasser der mondbeschienenen Kanäle durchpflügten und mit der Beredsamkeit der Liebe in die sanften Augen patrizischer Schönheiten blickten, während der fröhliche Gondoliere in seidenem Wams seine Gitarre zupfte und sang, wie eben nur Gondolieri singen können! Das also ist die berühmte Gondel und das der prächtige Gondoliere! - das eine ein tintenschwarzes, verschossenes altes Kanu mit einem daraufgesetzten düsteren Leichenwagenaufbau, und der andere ein schäbiger, barfüßiger Gassenjunge, an dem Teile der Kleidung zur Schau gestellt waren, die einer öffentlichen Inspektion hätten vorenthalten bleiben sollen. Während er um eine Ecke bog und seinen Leichenwagen in einen schaurigen Graben zwischen zwei Reihen hochaufragender, unbewohnter Gebäude schießen ließ, begann der fröhliche Gondoliere plötzlich, getreu den Traditionen seiner Gattung, zu singen. Ich hielt es eine kurze Zeit aus. Dann sagte ich: "Jetzt hör mal her, Roderigo Gonzales Michelangelo, ich bin ein Pilger, und ich bin ein Fremder, aber ich bin nicht gewillt, meine Gefühle von einem solchen Gejaule zerfleischen zu lassen. Wenn das nicht aufhört, muß einer von uns ins Wasser. Es genügt, daß meine langgehegten Träume von Venedig für immer dahin sind, was die romantische Gondel und den prächtigen Gondoliere angeht; diese systematische Vernichtung soll nicht weiterschreiten; ich werde unter Protest den Leichenwagen akzeptieren, und du magst unbehelligt deine Parlamentärsflagge wehen lassen, aber hiermit verkünde ich einen finsteren und blutigen Schwur, daß du nicht mehr singst. Noch ein Quieckser, und du gehst über Bord." (Mark Twain: Die Arglosen im Ausland, S. 192f.)


Twain, Mark: Die Arglosen im Ausland [6]

  Wir gingen weiter und hielten an der Marienquelle. Aber das Wasser war nicht gut, und es gab nirgends Erquickung oder Ruhe, wegen eines Regiments von Knaben, Mädchen und Bettlern, das uns die ganze Zeit über verfolgte, um ein Bakschisch zu ergattern. Der Führer wünschte, daß wir ihnen etwas Geld gäben, und wir taten es; aber als er fortfuhr und sagte, sie wären am Verhungern, konnten wir nur empfinden, daß wir eine große Sünde damit begangen hatten, Hindernisse auf den Weg zu einem so wünschenswerten Ziel zu werfen, und daher versuchten wir, es wieder einzusammeln, aber das ging nicht. (Mark Twain: Die Arglosen im Ausland, S. 544)


Twain, Mark: Knallkopf Wilson [1]

  Der Gedanke, wie nahe sie selbst einem Sündenfall gewesen war, entsetzte sie; sie war vor vierzehn Tagen gerade noch zur rechten Zeit durch eine Erweckungsversammlung in der Methodistenkirche der Farbigen davor bewahrt worden. Zu diesem Analß nämlich hatte sie "sich bekehrt". Gerade am Tag nach jenem gnadenvollen Ereignis, als ihr Sinneswandel für sie noch frisch und sie noch stolz auf ihren geläuterten Zustand war, hatte ihr Herr ein paar Dollars offen auf seinem Schreibtisch liegenlassen, und sie war zufällig beim Staubwischen auf diese Versuchung gestoßen. Sie betrachtete das Geld eine Weile lang mit ständig wachsenden Bedauern, dann brach es aus ihr heraus: "Verfluchte Erweckung, wär se nur erst morgen gewesen!" (Mark Twain: Knallkopf Wilson, S. 28)


Twain, Mark: Knallkopf Wilson [2]

  Die Schwarzen hatten eine ungünstige Ausgangsposition im Daseinskampf, und sie hielten es daher nicht für sündhaft, eine Schwäche des Gegners auszunutzen - in bescheidenem Maße; stets nur in bescheidenem Maße; nie darüber hinaus. Sie klauten Vorräte aus der Speisekammer, sooft sie die Gelegenheit dazu hatten; oder sie stibitzten einen Messingfingerhut, eine Wachsplatte, Schmirgeltüten zum Polieren von Nähnadeln, ein Nadelheft, einen silbernen Löffel, einen Dollarschein, kleinere Kleidungsstücke oder einen anderen Artikel von geringem Wert. Und es lag ihnen so fern, solche Beutezüge als Sünde zu betrachten, daß sie mit ihrem Diebesgut in der Tasche in die Kirche gingen und, so laut sie nur konnten, sangen und beteten. Eine Räucherkammer mußte man gut verschließen, denn selbst der farbige Pastor konnte einem Schinken nicht widerstehen, wenn die Vorsehung ihm im Traum oder anderweitig verkündete, wo ein solcher einsam hing und sich nach einer liebenden Seele sehnte. Doch selbst wenn der Pastor hundert Schinken vor sich hängen sähe, würde er keine zwei nehmen - jedenfalls nicht in derselben Nacht. In frostigen Nächten pflegte der tierliebende schwarze Strauchdieb das eine Ende eines Bretts anzuwärmen und es unter die kalten Krallen eines auf einem Baum nächtigenden Huhns zu halten; eine schlaftrunkene Henne trat dann mit dankbaren Glucksen auf das behagliche Brett, der Strauchdieb verstaute sie in seinem Sack, später in seinem Magen und war sie absolut sicher, das dieses wenige, was er dem Mann wegnahm, der ihn täglich eines unschätzbaren Gutes - seiner Freiheit - beraubte, keine Sünde war, die Gott ihm am Jüngsten Tag aufrechnen würde. (Mark Twain: Knallkopf Wilson, S. 26f.)


Twain, Mark: Knallkopf Wilson [3]

  Noch nie waren die Jungs von der Feuerwehr so schnell zur Stelle; sie hatten es diesmal nicht weit, da ihre Station sich auf der Rückseite der Markthalle befand. Es gab eine Spritzenkolonne und eine Haken-und-Leiter- Kolonne. Sie rekrutierten sich beide jeweils zur Hälfte aus Schnapsfreunden und zur anderen Hälfte aus Schnapsgegnern, ganz der moralischen und politischen Halbpart-Fasson der Grenzstadt jener Zeitläufte entsprechend. In der Station lungerten genug Schnapsgegner herum, um die Spritze und die Leitern zu bedienen. In zwei Minuten hatten sie ihre roten Hemden und Helme angelegt - denn sie regten in Ausübung des Diensts keinen Finger ohne Dienstuniform -, und als oben die Teilnehmer der Massenkundgebung durch die lange Reihe von Fenstern quollen und sich auf das Dach des Laubengangs ergossen, empfingen die Retter sie mit einem starken Wasserstrahl, der einige vom Dach spülte und den Rest beinahe ersäufte. Wasser ist allemal angenehmer als Feuer, die panische Flucht aus den Fenstern ging weiter, und die Flüchtenden wurden weiterhin von erbarmungslosen Wassergüssen attackiert, bis sich der Saal geleert hatte; dann stürmten die Feuerwehrsleute hinein und überfluteten ihn derart, daß es ausgereicht hätte, ein vierzigmal größeres Feuer zu löschen; denn eine kleinstädtische Feuerwehr erhält nicht oft die Gelegenheit zur Vorführung ihrer Künste; wenn sich daher eine bietet, wird sie voll ausgenutzt. Die Bürger der Stadt, die zu Umsicht und Weitblick neigten, versicherten sich daher nicht gegen Feuerschaden; sie versicherten sich gegen die Feuerwehr. (Mark Twain: Knallkopf Wilson, S. 141)


Twain, Mark: Humoristische Erzählungen

  "Gib mir das deutsche Buch her, das auf dem Kaminsims liegt, und eine Kerze; doch zünde sie nicht an; gib mir das Streichholz; ich werde sie hier drinnen anzünden. Das Buch enthält einige Ratschläge." (...) "Mortimer, hier heißt es: Während eines Gewitters entledige man sich aller Metallgegenstände, wie zum Beispiel Ringe, Uhren, Schlüssel und so weiter, und nähere sich auch nicht solchen Stellen, wo viele Metalle beieinanderliegen oder mit anderen Körpern verbunden sind, wie an Herden, Öfen, Eisengittern... Verstehst du das, Mortimer? Bedeutet das nun, daß man Metalle bei sich haben oder von sich fernhalten soll?" "Ja, ich weiß es auch nicht recht. Es kommt mir etwas unklar vor. Alle deutschen Ratschläge sind mehr oder weniger unklar. (Mark Twain: Humoristische Erzählungen)


Ulitzkaja, Ljudmila: Sonetschka... [1]

  Simkas erstaunlichster Charakterzug war ihre ungeheure Eitelkeit. Sie brüstete sich mit ihrem Scheuerlappen aus bestem Sackleinen; wenn sie im Frühjahr ihr riesiges Federbett zum Lüften aufhängte, war sie so stolzgebläht, als hinge auf der Leine mindestens ein Zobelpelz; über den grünen Klee lobte sie ihren Mann, den besten aller Verstorbenen; selbst das totale Fehlen jeglicher Zähne im eigenen Mund hielt sie für einen interessanten Umstand, würdig, wenn schon nicht bewundert, so doch bestaunt zu werden. (Ljudmila Ulitzkaja: Sonetschka und andere Erzählungen, S. 10)


Ulitzkaja, Ljudmila: Sonetschka... [2]

  Emma Aschotowna war eine originelle Person mit ganz eigenem Lebenssystem, in dem strenge moralische Grundsätze, eine abgebrochene Hochschulbildung, besagter Aberglaube und zum Prinzip erhobene Launen, die für ihre Mitmenschen im übrigen harmlos waren, gleichberechtigt nebeneinander existierten. Zu letzteren gehörte zum Beispiel der völlige Verzicht auf Hammelfleisch, einen gängigen Bestandteil der armenischen Küche, der unerschütterliche Glaube an die Heilkraft der Quittenblätter, die Angst vor gelben Blumen und die heimliche Angewohnheit, Zahlenreihen herzubeten wie einen Rosenkranz. Mit Hilfe dieses eigenwilligen Spiels bewältigte sie in der Regel die Alltagsaufgaben. (Ljudmila Ulitzkaja: Sonetschka und andere Erzählungen, S. 137)


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