Allgemeine Fundstücke  / [V, X-Z]


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Vallgren, Carl-Johan: Geschichte einer [1]

  Nicht selten prahlte sie damit, daß es kein Gelüst auf dieser Welt gebe, das von ihren Mädchen nicht zu befriedigen sei, und in ernsten Augenblicken ließ sie sogar durchblicken, es gebe keine für die Gesellschaft nützlicheren Institutionen als die Bordelle, und als Beweis führte sie ein halbes Dutzend Selbstmordversuche an, die ihre Mädchen mit ihren unwiderstehlichen Verführungskünsten angeblich im letzten Moment verhindert hätten. Oder all die Männer, die, gebrochen von den Widrigkeiten des Lebens und mit den Resten ihres verlorenen Vermögens, die Seele im Auflösungszustand, abends um sechs im Etablissement eingetroffen waren und es gegen Mitternacht verlassen hatten, mit gestärktem Rücken, lachend und befriedigt bis ins Mark, bereit für den Nahkampf mit allem, was der nächste Tag zu bieten hatte. Selbst die Fälle, in denen Ehen am Rande des Abgrunds hatten gerettet werden können, verbuchte sie als ihren Erfolg, denn zumindest in ihrer Phantasie gab es nicht wenige Männer, die an den Busen ihrer Mädchen eine so lebensumwälzende Befreiung gefunden hatten und auf dem Gebiet der Liebe so gründlich umgeschult worden waren, daß sie in einem ehelichen Bett, so mausetot wie sein Holz, neues Leben erwecken und bei Ehehälften, die sie seit einem Vierteljahrhundert zuvor nicht mehr geliebt hatten, Aufsehen erregen konnten. (Carl-Johan Vallgren: Geschichte einer ungeheuerlichen Liebe, S. 46)


Vallgren, Carl-Johan: Geschichte einer [2]

  Schuster zweifelte an einem Gott, der allzu selten ihre Gebete erhörte, tatsächlich so selten, daß es eher wie ein Zufall erschien, wenn es einemal vorkam. Er zweifelte an seinem Leben als Mönch und hatte den Verdacht, daß das Schicksal ihm eigentlich ein anderes Leben zugedacht hatte, daß dessen Partitur schon geschrieben war, daß er sich aber durch einen unglücklichen Zufall hatte dazu verleiten lassen, sich für ein anderen zu entscheiden, auf die Stimme seines Herzens nicht gehört hatte und deshalb zum Unglück verdammt war. (Carl-Johan Vallgren: Geschichte einer ungeheuerlichen Liebe, S. 125)


Vanderbeke, Birgit: abgehängt [1]

  Manchmal guckt mich einer im Zug aufdringlich neugierig an, und dann gucke ich aus dem Fenster, obwohl ich zuerst immer denke, ich habe irgendwo einen Fleck auf dem Mantel oder irgendwas Komisches an mir. Natürlich haben sie auch früher aufdringlich neugierig geguckt oder sich umgedreht und mir manchmal auch hinterhergepfiffen, aber das machen sie bei allen Frauen, und irgendwann hört das auf. Es hatte auch schon fast aufgehört, als ich um die Vierzig war, und im Grunde war ich sogar ein bißchen beleidigt, daß es ausgehört hatte, weil es sowieso um die Vierzig schwierig genug ist, vierzig zu werden, und wenn sie dann noch aufhören, aufdringlich neugierig zu gucken, wie man das gewohnt ist, ist man ein bißchen beleidigt, auch wenn es einen die ganze Zeit eher geärgert hat, aber ausgerechnet um die Vierzig könnten sie ruhig gucken. Als sie dann wieder anfingen zu gucken, hatte ich mich gerade daran gewöhnt, daß sie nicht mehr gucken, und nun fingen sie wieder an, und ich war irritiert. (Birgit Vanderbeke: abgehängt, S. 9)


Vanderbeke, Birgit: abgehängt [2]

  Simmy kam sehr vergnügt an und war beinahe gar nicht naß, weil Bines Mutter sie nach Hause gefahren hatte. Gegessen hatte sie auch. Eierkuchen mit Spinat. Simmy hat eine ganz besonders Art, Eierkuchen mit Spinat so zu betonen, daß sie sich in eine Frage verwandelt: Warum machst du eigentlich niemals Eierkuchen mit Spinat? Menschen, die in ihrer Kindheit unter fortgesetztem Genuß von Eierkuchen mit Spinat zu leiden hatten, sagte ich, scheinen in ihrem späteren Leben aufgrund eines dunklen Gesetzes damit zu tun zu haben, daß ihre Kinder andauernd Eierkuchen mit Spinat von ihnen verlangen. (Birgit Vanderbeke: abgehängt, S. 20)


Vanderbeke, Birgit: abgehängt [3]

  Links neben mir erklärte ein junger Mann seiner Freundin, wie man die Stäbchen hält, weil es noch nicht lange zum guten Ton gehört, ins "Nagasaki" zu gehen und dort mit Stäbchen zu essen, also mußte er ihr die Stäbchen erklären, und die Stäbchen waren ein guter Vorwand für einen jungen Mann, der wußte, daß es neuerdings zum guten Ton gehört, jungen kosmopolitischen Analphabetinnen von diversen Fernreisen zu berichten, über die weltweit grauenvollen Zustände auf den diversen Flughäfen zu klagen und von diversen Hotels zu schwärmen, in denen ein junger Mann mit diversen wichtigen Leuten diverse Verhandlungen über diverse Technologien des 21. Jahrhunderts geführt und die wichtigen Leute regelmäßig über den Tisch gezogen hat. Die junge Frau war von der Weltläufigkeit des jungen Mannes beeindruckt, kleckerte unverdrossen mit Reis und Sojasoße herum, duftete penetrant nach "Amazone" und kicherte den balzenden Angeber an, wie sich das aus biologischen Gründen gehört. (Birgit Vanderbeke: abgehängt, S. 63)


Vanderbeke, Birgit: Fehlende Teile [1]

  Manchmal gibt es zusätzlich auch noch Möwen und hier und da einen Fisch, der tot daliegt. Wenn alles ist, was es ist, und dann liegt auch noch ein toter Fisch herum, kann es sein, daß Lila sich fürchtet. Erst wird ihr ein bißchen übel, weil ihr immer übel wird bei toten Fischen und Vögeln, und nachdem ihr eine Weile übel gewesen ist, fängt sie sich zu fürchten an. Tote Fische gukcne einen so komisch an, und tote Vögel auch, komisch ist vielleicht nicht das richtige Wort für die Art, wie tote Fische und Vögel gucken, aber Lila fürchtet sich sehr, daher fällt ihr das richtige Wort nicht ein, sondern nur so ein falscher Vergleich, vor lauter Sich-Fürchten findet Lila es immer komisch, wie tote Fische und Vögel sie angucken, zum Kotzen komisch, genauer gesagt, zum Fürchten komisch, zum Wegrennen komisch. (Vanderbeke, Birgit: Fehlende Teile, S. 45)


Vanderbeke, Birgit: Fehlende Teile [2]

  Es sind nicht die Zeiten für Weltliebe, um von der Weltliebe anzufangen, die einem irgendwo oberhalb des Magens und dann die Kehle hinauf eine Heiterkeit macht, daß man gluckst vor Bewegung; die Welt liegt im Koma, man hat als erwachsener Mensch für die Welt keine Weltliebe, sondern ein Stirnrunzeln, ein besorgtes Stirnrunzeln, zu empfinden und übrig zu haben, aber ich kann nichts dagegen machen, die Weltliebe überfällt mich von Zeit zu Zeit unpassend unzeitgemäß, wenn ich im Auto sitze und singe. (Vanderbeke, Birgit: Fehlende Teile, S. 107)


Vanderbeke, Birgit: Ich will meinen Mord [1]

  Meinetwegen soll er sich diesen Minirock merken für alle Zeiten, er kann seine Frau als Nonne verkleiden oder ins Badezimmer einschließen, damit niemand ihre schönen Beine zu sehen kriegt, er kann ihr mit seiner Eifersucht Magenprobleme machen und ein Zwölffingerdarmgeschwür, solche Geschwüre kommen keinesfalls, wie er denkt, von dem anderen Essen, das sie ihm neuerdings kocht (einmal der Verdacht, sie hätte ihm etwas Essen getan, um ihn loszuwerden, er ißt und ißt und ißt wie verrückt und wird immer dünner davon), diese Geschwüre kommen vom Streß. Es ist nämlich Streß für die schöne Korsin, ein gewisses weißes Stretchkleid, eine winzige weiße Strechröhre, die kaum bis über den Po reicht, immer genau dann nicht anzuhaben, sondern in Trainingshosen, Kartoffelsäcken oder Bermudas zu stecken, wenn der Mann nach unregelmäßigen Dienstplan unregelmäßig nach Hause kommt. Den Dienstplan gibt er ihr nicht: er möchte sie in flagranti erwischen. Daher der Streß, daher die Magen- und Darmgeschwüre der Korsin, die eines Tages ihrem Mann weglaufen wird, weil er sie fertigmacht mit dem Verdacht, sie hätte es mit dem Filialleiter vom Supermarkt, den sie überhaupt gar nicht kennt, aber wenn er sie nun schon monatlang mit dem Filialleiter fertigmacht, schaut sie sich den mal an, und er hat gegen ein Geplänkel mit Stretchröhre nichts einzuwenden. (Birgit Vanderbeke: Ich will meinen Mord, S. 74)


Vanderbeke, Birgit: Ich will meinen Mord [2]

  Viszmans Wohnung wird sicherlich kein Problem sein, schon wegen der vielen Bücher an den Wänden. Wohnungen mit Büchern sind in der Regel ohne die Verlegenheit betretbar, die Wohnungen ohne Bücher bereiten. Viszman stellt sein Leben nicht aus: eine Lampe bedeutet Licht, ein einzelner kleiner Teppich unter dem Schreibtisch bedeutet: keine kalten Füße beim Arbeiten, eine Kaffeemaschine bedeutet Kaffee, alles leicht zu verstehen, vor allem: nichts dargestellt, nichts ausgestellt. Kein Reisemitbringsel, keine Allerweltstrophäen, überhaupt keinerlei Folklore, vor allem keine Photos erfreulicherweise. Auch keine Zimmerpflanzen, ein einzelner Ficus weigert sich, den Naturzustand zu ersetzen oder zu simulieren, oder Viszman weigert sich, ihn zu gießen. Demnächst wird er blattfrei sein. Die Bücher sind alphabetisch sortiert, weil einmal vor Jahren in diesem organischen Gewusel nichts mehr zu finden war, wie Kraut und Rüben, und schließlich hat er sich ein Wochenende genommen und seine Bibliothek sortiert. Ein wenig dunkel, die Wohnung, eine typische Männermischung aus braunen, grauen, schwärzlichen Tönen, ein paar Häkelkissen, dunkelgrün, andere, in Ockertönen gestreift, auf einer Couch, kein Verhältnis zur Farbe, gut. Buchrücken sind bunt. Eine Dürersche Melencholia mit Flügeln überm Schreibtisch in einem gesprungenen Glasrahmen schaut, das Gesicht in die Hand gestützt, unverwandt auf eine moderate Schallplattensammlung, Korbstühle, um sich die Strümpfe daran zu zerreißen; natürlich glaubt Viszman nicht ans Wohnen, Möbelparadiese sind jedem denkenden Menschen und Antikapitalisten suspekt; er brauchte sich nicht zu entschuldigen, warum entschuldigt er sich. (Birgit Vanderbeke: Ich will meinen Mord, S. 85f.)


Vanderbeke, Birgit: Ich will meinen Mord [3]

  Noch könnte ich sie aussteigen lassen. Auf den ersten Seiten tun meine Leute, was ich ihnen sage. Wenn ich sie in eine Bar schicke und dort weißen Whisky trinken lasse, gehen sie widerstandslos hinein und trinken den weißen Whisky, anstatt Kaffee zu bestellen oder Bier oder Limonade. Sie fragen nicht einmal, warum ausgerechnet sie in ausgerechnet dieser Bar ausgerechnet weißen Whisky trinken müssen, alle anderen Gäste trinken Bier, der Kellner versteht nicht, was sie verlangen, weil es alle möglichen Sorten Whisky gibt, aber von weißen Whisky hat er noch nie gehört, meine Leute würden auch viel lieber Bier trinken, als sich erst mit dem Kellner und sodann mit dem Wirt über die Existenz weißen Whiskys zu unterhalten, die dieser bei aller Höflichkeit rundheraus wenn nicht abstreitet, so doch lebhaft bezweifelt. Auf den ersten Seiten bringe ich sogar den Wirt dazu, seine Frau sich an eine Flasche weißen Whisky erinnern zu lassen, die irgendwo endgelagert im Keller herumliegt, Geschenk eines Gastes nach einer Irlandreise, und schließlich sitzen sie brav in der Bar und rinken meinen überteuerten weißen Whisky, weil ich es will. Leider geht das nur auf den ersten Seiten. Nach und nach werden sie renitent. (Birgit Vanderbeke: Ich will meinen Mord, S. 11)


Vanderbeke, Birgit: Ich will meinen Mord [4]

  Was die Schwiegermutter da jeden Tag auf den Tisch bringt, ist am Rande der Zumutbarkeit, mit den Kindern wird sie auch nicht fertig, und die Kleine hat völlig recht, wenn sie sich trotz der Sahnebonbons weigert, mit der durchgedrehten Omi zum Zahnarzt zu gehen, die hysterische Omi soll wieder nach Neuchatel und dort den Opi mit ihren Kochkünsten quälen. Sorge macht ihm: er hat gelesen, Frauen schlagen im Alter nach ihren Müttern, und Hysterie kann er im Geschäft nicht brauchen. (Birgit Vanderbeke: Ich will meinen Mord, S. 28)


Vanderbeke, Birgit: Ich will meinen Mord [5]

  Viszman hat die besten Erfahrungen mit Büroklammern gemacht, was uns erneut feststellen läßt, daß wir nicht verschiedene Leseverfahren haben, sondern genau dieselben, tatsächlich: zwei Menschen an zwei verschiedenen Orten der Welt sind unabhängig voneinander auf die Idee gekommen, Büroklammern in bunten Farben oben an ihre Buchseiten zu stecken, um Merkwürdigkeiten später leicht wiederzufinden, und unabhängig voneinander sind sie durch Ausprobieren darauf gekommen und versichern sich in einer Bar in Metz, daß auch das Unfug ist. Das Wortkarge an Viszman hat sich in Lebhaftigkeit verwandelt, weil das Leben, auch wenn es im ganzen ein Geheimnis ist, in Einzelheiten doch Wunder bereitstellt, Einzelwunder, die nicht nur mitteilbar sind, sondern mitgeteilt werden müssen. (Birgit Vanderbeke: Ich will meinen Mord, S. 98)


Vanderbeke, Birgit: Ich will meinen Mord [6]

  Viszman begeht einen fatalen taktischen Fehler und behauptet, verliebt zu sein, was ich ohne weiteres glauben muß, da es für einen Mann sicher nicht leicht sein dürfte, in doch ziemlich fortgeschrittenem Alter endlich einmal außerberuflich einen ersten Menschen zu treffen, dazu eine Frau (die auffallende Frauenlosigkeit in Viszmans Erzählungen ähnelt der Männerlosigkeit, von der mein bisheriges Leben erfüllt ist), eine erste Frau also und Diderot-Kennerin so spät im Leben endlich zu treffen und sich dann nicht zu verlieben. Ich muß es glauben, ebenso wie ich glauben muß, daß dem Menschen im Naturzustand ein intuitiver Zugang zu europäischer Damenober- und - unterbekleidung angeboren ist, es gibt da ein Know- how, das nicht vom Leben erworben wird, sondern das unschuldig immer schon wartet in einem liebesbegabten Mann, in dessen Leben nur eben zufällig nie eine Frau und Diderot-Leserin und Eselsohren-Knifferin getreten ist, weshalb er natürlich - seit gestern vom lebenslänglichen Zölibat befreit - erneut in Melancholie versinken wird, wenn seine soeben erst entdeckte Begabung alsbald wieder brachgelegt wird, weil ich heute abend am Winterfeldplatz ägyptische Bohnen esse. (Birgit Vanderbeke: Ich will meinen Mord, S. 102)


Vanderbeke, Birgit: Das Muschelessen

  Es ist aber öfter vorgekommen, daß der Braten vertrocknet war, und da hört sich die Großzügigkeit aber auf, hat mein Vater gesagt, besonders bei der Weihnachtsgans, die meine Mutter preiswert gekauft hatte und die infolge ihres niedrigen Preises gar nicht anders hat werden können als trocken, mein Vater hat meine Mutter verschiedentlich zu erklären versucht, daß die polnischen Weihnachtsgänse, anders als die ungarischen, nicht trocken würden, meine Mutter hat das nicht einsehen können, weil sie gedacht hat, die Polen sind doch ein armes Volk, wie sollen dann ihre Weihnachtsgänse nicht trocken und zäh sein, meine Mutter hat das mit den Devisen nicht richtig verstanden, sie hat einer polnischen Weihnachtsgans weniger Fett zugetraut als einer ungarischen, weil die Ungarn ihr keinen zu hungrigen Eindruck gemacht haben, aber die ungarische Weihnachtsgans, die sie so preiswert gekauft hatte, hat ihr diesen Gefallen nicht getan, eine fette und fleischige Gans zu sein, sie war auf erbärmliche Weise nur trocken und knochig und zäh, und da hat sich die Großzügigkeit aufgehört, und Weihnachten war für meine Mutter mit diesem ungarischen Gerippe zu Ende. (Birgit Vanderbeke: Das Muschelessen, S.56)


Vanderbeke, Birgit: Geld oder Leben [1]

  Manchmal kam die Basisdemokratie auch in unseren Saal, wenn wir gerade Vorlesung hatten. Vorlesung war fast so schön wie Kino. Vorne im Raum stand einer und erzählte, und nach einer Weile war er fertig und sagte, wo man es nachlesen könnte, wenn man das wollte; und ich wäre ganz gern an der Uni gewesen, wenn nicht die Basisdemokratie regelmäßig dazwischengeplatzt wäre und mit verteilten Rollen gesagt hätte, daß der Kapitalismus mitsamt den Bonzen am nächsten Mittwoch zu Fall gebracht werden würde. Einer aus der Vorlesung sagte dann manchmal, haut doch ab, ihr Idioten, laßt uns doch hier in Frieden, aber die Basisdemokratie schrie, daß es keinen Frieden geben kann, solange wir unseren Stoff bloß pauken, weil das von oben verordnet wird, und daß wir uns statt dessen solidarisieren sollten, und schon schaukelte sich die Stimmung hoch, weil in der Vorlesung Leute saßen, die die Vorlesung hören wollten, anstatt sich zu solidarisieren. Besonderen Krach mit der Basisdemokratie handelten sich die ein, die sagten, aber nächsten Mittwoch ist hier eine Klausur, dann eskalierte die Stimmung, und manchmal wurde die Polizei geholt. (Birgit Vanderbeke: Geld oder Leben, S. 50)


Vanderbeke, Birgit: Geld oder Leben [2]

  Sie verstaute die Pilze in der Speisekammer und kochte, weil gegen Mittag ihre Kinder zum Essen kamen und an verschiedene komplizierte Dinge glaubten, aber bestimmt nicht an Pfifferlinge, und meine Großmutter fürchtete sich etwas vor diesen komplizierten Dingen und ihren Kindern, aber sobald die Kinder nach dem Essen wieder zur Arbeit gingen, fing die Andacht im Hause erst richtig an mit Putzen, Schneiden, Braten, Kochen, und bevor die Kinder am Abend wieder da waren und vor belegten Broten saßen, die meine Großmutter Abend für Abend machte, war ein weiteres Kellerregal mit weiteren Pfífferlingsgläsern gefüllt, und als meine Großmutter später gestorben war, bin ich heimlich hinuntergegangen in ihren Keller und habe ein paar von den Gläsern mitgenommen, bevor die anderen runterkamen und dort ausmisten würden, denn die Gläser waren nicht zum Ausmisten, sondern die Reliquien aus vielen vergangenen Jahren, sorgfältig mit Etiketten beklebt, auf denen stand, wann sie dahin gekommen waren, das erste stammte aus dem September '47. Gurkengläser standen auch da, aber sie waren nicht heilig gewesen, sondern wurden von Zeit zu Zeit aufgemacht, genau wie die Gläser mit Wurst und die Sauerkirschen, das Pflaumenmus und das Stachelbeerkompott, weil meine Großmutter daran nicht geglaubt hatte, sondern in ihrer Tüchtigkeit fast alles in Gläser einmachte, was sie zwischen die Finger bekam. (Birgit Vanderbeke: Geld oder Leben, S. 10f.)


Vanderbeke, Birgit: Geld oder Leben [3]

  In der Uni lernte ich Dinge, die nur mit der Uni- Wirklichkeit zu tun hatten, weil kein Mensch auf die Idee kommt, in Bibliotheken zu gehen und Zeitschriften herauszusuchen, die nicht gut riechen, und in diesen Zeitschriften nach Aufsätzen zu suchen, die keinen anderen Sinn haben als den, daß die Leute in der Uni nach ihnen suchen und sie dann mehr oder weniger abschreiben und mit anderen Aufsätzen vergleichen, die über dasselbe Thema in anderen Zeitschriften stehen, die wiederum nur für die Uni gemacht werden, und je mehr solche Aufsätze man abschreibt und in seine eigenen Arbeiten hineinschreibt, um so dicker werden die eigenen Arbeiten, und um so länger wird die Liste am Schluß, an der man sehen kann, wie viele solcher Aufsätze gefunden und abgeschrieben worden sind. (Birgit Vanderbeke: Geld oder Leben, S. 103)


Vanderbeke, Birgit: Geld oder Leben [4]

  Mona machte ihre Prüfung erst viel später, weil sie endlos an der Uni und in diversen Kliniken warten mußte, bis sie zur Prüfung zugelassen wurde, und schließlich war sie Ärztin und hatte kein Geld, um eine Arztpraxis gründen zu können, weil eine Arztpraxis sehr viel kostet. Sie blieb in einer Klinik und hörte nicht auf, an die Frauenunterdrückung zu glauben, weil es in der Klinik Chefärzte gab, die hauptberuflich die Ärztinnen quälten, die kein Geld hatten, eine eigene Praxis zu gründen, und folglich in den Kliniken hängenblieben, um sich von Chefärzten quälen zu lassen und nach achtundvierzig Stunden Dienst in der Klinik nicht mehr zu wissen, ob es noch in Ordnung ist, jetzt mit dem Auto völlig verheult nach Hause zu fahren. (Birgit Vanderbeke: Geld oder Leben, S. 114)


Vanderbeke, Birgit: Das läßt sich ändern [1]

  Bei den Czupeks wurde alles gesammelt und aufgehoben, und mit der Zeit verstand ich, daß es mit dem Verhungern und Erfrieren zu tun hatte, von denen Adams Mutter in ihren sinnlosen schönen Sätzen sprach. Pommerland ist abgebrannt, sang sie manchmal, wenn sie in der Küche Kartoffeln für sieben Personen schälte; irgendwann begriffen wir, daß ihre eigene Mutter auf der Flucht aus dem abgebrannten Pommerland verhungert oder erfroren war oder beides, jedenfalls wurden bei den Czupeks Stoffe und Wolle und Knöpfe und Garn gesammelt und aufgehoben, Zucker und Mehl, Reis und Konserven, Adams Mutter hat gehortet, was ihr nur in die Finger kam. Als sie starb, war das kleine überheizte Haus vollgestopft mit Wollknäueln, Stoffbahnen, Vliesen und Bergen mit Schnittmustern. (...) Mich macht das jedenfalls heute nervös, wenn du hier jeden Schrott anschleppst, der auf der Straße liegt. (...) Ist doch in top Zustand, sagte er, wenn er an einem Sessel vorbeikam, der alles andere als gepolstert war und aus dem die blanken Sprungfedern herausragten, und er wußte ganz gewiß nicht, was er mit der Klabund-Ausgabe anfangen sollte, die schon etwas zerfleddert und unvollständig in Einzelbänden bei einem Umzug in unserer Nachbarschaft entsorgt worden war, aber er wußte, daß ich viele Bücher besaß, und daraus zog er den Schluß, daß ich offenbar Bücher sammelte und aufhob wie seine Mutter ihre Stoffe, die Wolle und die Konservendosen aus dem Angebot; ich bekam ein paar Bände Klabund zu meinen Büchern hinzu - wer weiß, ob es solche Bücher in zwanzig Jahren noch gibt, dachte ich amüsiert. (Birgit Vanderbeke: Das läßt sich ändern, S. 27f.)


Vanderbeke, Birgit: Das läßt sich ändern [2]

  Meine Waschmaschine war ziemlich alt und machte unheimliche Geräusche. Sie lief praktisch unaufhörlich, seit Anatol mit dem Laufen angefangen hatte; schon vorher hatte er das Talent, sich in kürzester Zeit unglaublich dreckig zu machen; wenn ich ihm eine Banane in die Hand gab, war er vom Kopf bis zu den Zehenspitzen mit der Banane beschäftigt und eingesaut. Meine Waschmaschine stand in der kleinen Speisekammer hinter der Küche, und aus der Speisekammer kamen in Intervallen besorgniserregende Geräusche, ein unregelmäßiges Ächzen und Poltern, das im Schleudergang schließlich umschlug in blanke Raserei; außerdem hatte die Maschine in letzter angefangen, sich ruckweise zu bewegen. (Birgit Vanderbeke: Das läßt sich ändern, S. 31)


Vanderbeke, Birgit: Das läßt sich ändern [3]

  ... mußte ich zugeben, daß es eine Eins-a- Waschmaschine war und kein Fachmann sie besser hätte anschließen können. Der Gummihammer wird noch in der Küche herumgelegen haben, denn aus der Küche drangen dumpfe Geräusche zu mir herüber, nicht die ehemaligen Poltergeräusche meiner rasenden Ex-Waschmaschine, weil die neue tadellos leise lief; dies hier waren rhythmische, dumpfe Geräusche, die ich wahrscheinlich eine ganze Weile lang nicht gehört hatte, weil ich in ein Buch vertieft war, und damals glaubte ich noch an Sprache, obwohl sich damals ihre Halbwertszeit rasant zu verkürzen begann, trotzdem glaubte ich noch eine ganze Weile daran. Natürlich wußte ich, daß die Welten in Romanen nicht wirklich waren, und dennoch bin ich oft so in einer dieser Welten versunken gewesen, daß ich nichts um mich herum wahrgenommen oder gehört habe, da konnte neben mir ein Preßlufthammer dröhnen oder die Waschmaschine im Schleudergang rattern. (Birgit Vanderbeke: Das läßt sich ändern, S. 51)


Vanderbeke, Birgit: Das läßt sich ändern [4]

  Ich hatte Adam bis dahin überhaupt noch nie zornig gesehen und gar nicht gewußt, daß er zornig werden konnte. Es war nicht der launische Jähzorn, den ich von meinem Vater kannte und der jeden erwischen konnte, der ihm in dem Zustand in die Quere kam, egal, ob in der Firma oder zu Hause, dieser Jähzorn, der mit dem Brilleputzen begann, wer denkt ihr eigentlich, daß ihr seit, und damit endete, daß man sein Wunder erlebte und danach nicht mehr wußte, wer man war. (Birgit Vanderbeke: Das läßt sich ändern, S. 57)


Vanderbeke, Birgit: Das läßt sich ändern [5]

  Oder haben Sie keinen Gewerbeschein? - Herr Özyilmaz war durch die schroffe Abfuhr in seiner Ehre getroffen, erzählte Adam später, er hatte sichtbar Lust, gekränkt den Rückzug anzutreten, aber dann, so Adam, ging er in die Offensive. Deutschland immer Papiere, sagte er verächtlich und gab damit zu verstehen, daß er es eines freien Mannes für unwürdig hielt, von einer lächerlichen Obrigkeit eines unkultivierten Landes mit einer Lappalie wie Papieren behelligt zu werden, aber da man in diesem zivilisationsfernen Staat offenbar keinen Begriff von der Freiheit eines Mannes hat und daher nicht satisfaktionsfähig ist, hat Herr Özyilmaz sich selbstverständlich dazu herbeigelassen, einen Gewerbeschein zu beantragen. (Birgit Vanderbeke: Das läßt sich ändern, S. 94)


Vargas Llosa, Mario: Der Krieg am Ende... [1]

  Ist es nicht erstaunlich, daß sie unter Umständen, in denen ihr Leben jede Sekunde auf dem Spiel steht, daß sie in dieser Stunde der Wahrheit, die sie läutern und nur das Erhabene in ihnen zurücklassen sollte, diese Gier zeigen, Geschäfte zu machen und Geld zu horten? Nicht das Erhabene verstärkt sich angesichts des Todes, sondern das Schmutzige und Verwerfliche, Gewinnstreben und Raffgier, denkte Teotonio. Die Vorstellung, die er sich vom Menschen gemacht hat, ist in diesen Wochen brutal befleckt worden. (Mario Vargas Llosa: Der Krieg am Ende der Welt, S. 577)


Vargas Llosa, Mario: Der Krieg am Ende... [2]

  "Sie können das nicht begreifen", sagte der kurzsichtige Journalist, als klage er den Baron an. "Sie haben Liebe sicher schon mit jungen Jahren erfahren. Viele Frauen müssen Sie geliebt, bewundert, sich Ihnen hingegeben haben. Sicher konnten sie sich Ihre schöne Gattin unter vielen anderen schönen Frauen aussuchen, die nur auf Ihre Zustimmung warteten, um sich in Ihre Arme zu werfen. Sie können nicht verstehen, was in uns vorgeht, die wir nicht attraktiv, ansehnlich, vom Glück begünstigt, reich sind, wie Sie es waren. Sie können nicht verstehen, was es heißt zu wissen, daß man auf Frauen abstoßend und lächerlich wirkt, was es heißt, von der Liebe und der Lust ausgeschlossen zu sein. Auf Huren angewiesen." Liebe, Lust, dachte der Baron verstört: zwei beunruhigende Wörter, zwei kleine Meteore in der Nacht seines Lebens. Er empfand es als ein Sakrileg, daß diese zwei schönen, vergessenen Wörter aus dem Mund dieses lächerlichen Kerls kamen, der mit verflochtenen Beinen wie ein Reiher auf seinem Sessel hockte. War es nicht komisch, grotesk, daß so eine Feld-, Wald- und Wiesenmischung aus dem Sertao einen trotz allem gebildeten Mann veranlassen konnte, von Lust und Liebe zu sprechen? Verlangten diese zwei Wörter nicht nach Luxus, Raffinement, Sensibilität, Eleganz, nach den Riten und der Kennerschaft einer an Büchern trainierten Phantasie, nach Reisen und Bildung? (Mario Vargas Llosa: Der Krieg am Ende der Welt, S. 643)


Vargas Llosa, Mario: Das böse Mädchen [1]

  Ich hatte ihm gerade in einem Anfall von Vertrauengsseligkeit erzählt, wenn auch ohne Einzelheiten oder Namen, daß ich seit vielen Jahren in eine Frau verliebt war, die wie ein Irrlicht in meinem Leben auftauchte und verschwand, es für kurze Zeit vor Glück glühen ließ, um es dann ausgebrannt, leer und immun gegen jede andere Leidenschaft oder Liebe zurückzulassen. "Es ist ein Fehler, sich zu verlieben", erklärte Salomon Toledano sentenziös und in bester Übereinstimmung mit meinem verstorbenen Freund Juan Barreto, der diese Einstellung teilte, wenn auch ohne die verschrobene Ausdrucksweise meines Kollegen. "Man muß die Frau an den Haaren packen, sie niederzwingen, und ab mit ihr ins Bett. Und sie blitzschnell sämtliche Sterne am Firmament sehen lassen. Das ist die richtige Theorie. Ich kann sie nicht praktizieren, wegen meiner schwachen Konstitution, helas. Einmal habe ich bei meinem wilden Weib versucht, den Macho zu mimen, und sie hat mir eine saftige Ohrfeige verabreicht. Deshalb behandle ich die Damen, vor allem die Huren, trotz meiner These wie Königinnen." (Mario Vargas Llosa: Das böse Mädchen)


Vargas Llosa, Mario: Das böse Mädchen [2]

  Man sah ihre Knie, rund und blank, und die schlanken Beine. Sie war schmaler, als ich sie in Erinnerung hatte, und in ihren Augen lag ein Anflug von Müdigkeit. Doch kein Mensch auf der Welt hätte geglaubt, daß sie schon älter als vierzig war. Sie sah blühend und schön aus. Aus der Entfernung hätte man sie für eine dieser zarten, kleinen Japanerinnen halten können, die still auf den Straßen dahinschwebten. (Mario Vargas Llosa: Das böse Mädchen)


Vercors: Das Schweigen des Meeres

  "So sind nun einmal die Leute aus Lyon, calvinistisch verklemmt, mit einem Schlag ins Theosophische! Sie sitzen abends bei heruntergelassenen Läden in ihrer guten Stube, lesen sich gegenseitig die übergeschnappten Traktate von Swedenborg vor und bekommen dabei Lichterscheinungen aus der Geisterwelt. Die Fenster halten sie fest verschlossen, starren die vier Wände an und rücken vor dem Zubettgehen mit den Stühlen - in der Hoffnung, ein Engel käme aus dem neuen Jerusalem und brächte ihnen die Botschaft vom nahen Paradies." (Vercors: Das Schweigen des Meeres, S. 76)


Verhulst, Dimitri: Die Unerwünschten [1]

  Du mochtest den Kerl - Mit seinem Bart und seinem Bauch wie ein überdimensionaler Gartenzwerg. Vielleicht kein Muster an pädagogischer Expertise, aber so tief verwurzelt im Glauben, daß die Erfüllung seiner religiösen Pflichten ihm ein innerer Zwang war. Ein Mann, in diesem Tränental nur auf Durchreise zum Himmel, der geistig und körperlich litt, wenn er auch nur eine Sekunde lang nicht an andere dachte. Zunächst hatte er geglaubt, diese Berufung mit einer Ausbildung zum Priester erfüllen zu müssen, bis seine Libido gegen das Zölibat rebellierte, er sich verliebte und Vater wurde. (Dimitri Verhulst: Die Unerwünschten)


Verhulst, Dimitri: Die Unerwünschten [2]

  Gwendoline Cools, das dreimonatige Baby, Gewicht fünf Kilo und ein paar zerquetschte, würde das Hotel in einem Leichensack von der Größe eines Netzes Kartoffeln verlassen. Ihre Mutter hatte sie erstickt, mit einem Kissen, auf das sie sich mit vollem Gewicht setzte, während der Fernseher lief. (...) Am Samstag würde Dominique Cools, der Sohn, sieben denkwürdige Winter zählend, mit einige Stunden alten Leichenflecken aus demselben Hotelzimmer getragen werden. Erstochen mit einer Schere, die ihm der Vater in den Rücken gerammt hatte, während der Junge auf dem Geborgenheit versprechenden Bauch seiner Mutter lag, die Hände in ihre Unterarme und Hinterbacken gekrallt und immer weiter gekrallt, bis er nicht mehr konnte. (...) Sarah: Wenn man so drüber nachdenkt, Bolleke, hat das Ganze doch eine gewisse Logik. Schau, ich hab Nähen und Zuschneiden gelernt, und du hast bis achtzehn eine Lehre als Metallbauer gemacht. Da braucht sich doch niemand zu wundern, daß wir unseren Dominique mit einer Schere aus Eisen umgebracht haben? Unser beider Leben kam in der einen Schere zusammen. Wie die zwei Klingen. Stefaan: Stimmt, ein bißchen so wie bei Jesus, der wurde an ein Holzkreuz genagelt. Und das bei'nem Zimmermannssohn! (Dimitri Verhulst: Die Unerwünschten)


Vila-Matas, Enrique: Vorbildliche Selbstmorde [1]

  Damals hörte ich zum ersten Mal von der Existenz eines drängenden Verlangens, das manche Menschen überkommt und Selbstmord heißt. Und ich erinnere mich noch daran, wie sehr es mich berührte, daß man diesem Verlangen allein, geschützt vor allen Blicken, im Schatten und in aller Stille nachgibt. Ich erinnere mich an das Schweigen zwischen Horacio und mir an jenem Tag, als dächten wir an die Menschen, die, vor allen Blicken geschützt, dem einsamen Verlangen nachgegeben und so die einzig mögliche Fülle erlebt hatten, die Erfüllung im Selbstmord. Und ich weiß auch noch, daß der Schulhof so verlassen dalag wie eine viereckige Ewigkeit. (Enrique Vila-Matas: Vorbildliche Selbstmorde, S. 19)


Vila-Matas, Enrique: Vorbildliche Selbstmorde [2]

  "In der Calle Rendel", sagte sie, "in der Buchhandlung, die nach der Straße benannt ist, arbeitet ein klapperdürrer Angestellter, der ein Ohrfeigengesicht und den Namen von einem Gebäckstück hat. Er heißt Hans Hörnchen und könnte der Mann sein, den du suchst." (..) Da sah ich, daß Hörnchens linke Gesichtshälfte merkwürdigerweise die gleichen Züge aufwies wie mein Profil, als ich noch dünn war und ein Star. Von links erinnerte sein Profil an das eine liebstollen Reihers, und damit konnte er selbst einen todernsten Menschen noch zum Lachen bringen. Der nichtsahnende Hörnchen besaß das Kernstück meiner verlorenen Komik, das Geheimnis meines früheren Erfolges, eine regelrechte Goldgrube. (Enrique Vila-Matas: Vorbildliche Selbstmorde, S. 33f)


Vila-Matas, Enrique: Vorbildliche Selbstmorde [3]

  Um sie herum entfalteten sich Luft und Farben des Mittags, frisch, anregend, neu, während sie sich bemühte, jene sittliche Leidenschaft auf ihre Hausfrauenarbeit zu übertragen, die, auch uneingestanden, das Herz so vieler Frauen entflammt, sobald sie einmal erfahren haben, mit welch heimlicher Süße und wilder Entschlossenheit man die abgeschmackteste Alltagsarbeit verrichten kann, denn im Grunde - dachte Rosa Schwarzer - gibt es nichts, was der tiefen Befriedigung beim Anblick eines dampfenden Gerichts, mit bewunderswerter Pünktlichkeit serviert, auch nur annähernd nahe käme. (Enrique Vila-Matas: Vorbildliche Selbstmorde, S. 50)


Vizinczey, Stephen: Wie ich lernte, die Frauen zu lieben

  Er (...) warnte mich, daß es in Toronto keine Kaffeehäuser gebe und ich mir möglichst schnell eine Freundin zulegen solle, denn Prostituierte seien teuer. (...) "Die Einheimischen sind Menschen wie alle anderen auch, aber das zeigen sie erst, wenn sie betrunken sind. Dann kippen sie dir im Taxi um und rutschen dir von der Sitzbank, oder sie kommen auf die schlaue Idee, dich auszurauben. Manchmal wünsche ich mir, ich wäre Kutscher in Wien in den Tagen des alten Franz Joseph." Dann folgte eine kurze Pause zu Ehren des untergegangenen österreichisch-ungarischen Kaiserreichs, an das wir uns beide unmöglich erinnern konnten. "Bei den Kanadiern steht das Geld an erster Stelle, was ja auch in Ordnung ist", fuhr er fort. "Dann kommt der Fusel, dann das Fernsehen und Eishockey und dann das Essen. Sex steht auf der Liste ziemlich weit unten. Wo unsereiner die Hand nach einem Mädchen ausstreckt, greift der Kanadier zum nächsten Drink. Hier wimmelt es von fetten Männern und unglücklichen Frauen." (Stephen Vizinczey: Wie ich lernte, die Frauen zu lieben)


Vogt, Walter: Altern [1]

  Er gibt einen Aspekt, den man selten beachtet: die Menschenferne der Ornithologie und daß man diese Menschenferne von Zeit zu Zeit braucht. Meine Frau sagt: Du solltest von Vögeln schreiben. Menschen sind dir egal. Du kannst die Menschen nicht behandeln wie einen Vogelschwarm. Andere, sage ich, behandeln Menschen wie Insekten. Ich liebe die Vögel wenigstens. (Walter Vogt: Altern, S. 58)


Vogt, Walter: Altern [2]

  Es grenzt ans Wunderbare, wie man so ein Haus bewohnt. Ständig ist man dran, Spuren zu verwischen, nach dem Backen, dem Duschen, dem Essen - ich dilettantisch, meine Frau nach einem ausgeklügelten, effizienten System. Ich möchte bloß wissen, was die Spurensicherung der Kriminalpolizei überhaupt je findet in einer gutbürgerlichen Schweizer Haushaltung, mit einem gesundschweizerischen Putzteufel an der Macht, an einem Werktag, vormittags um elf - nach dem Reinemachen, vor dem Kochen. Nun, vormittags um elf gibt es selbstverständlich auch keinen Mord. Nicht in diesem Land. (Walter Vogt: Altern, S. 122)


Vogt, Walter: Altern [3]

  Mit zehn bekam ich meine Brille. Ich war plötzlich kein kriegerisches Kind mehr. Indianerspiele waren mir vergällt. Bei den kleinen Höhlenabenteuern verschmutzten Lehmklümpchen die Brillengläser, nahmen mir die Sicht. Immerzu fiel ich hin, die Brille ging in Brüche. Beim Ballspiel wurde sie mir von der Nase geschlagen. Beugte ich mich über irgend etwas, um es endlich zu sehen, fiel die Brille zu Boden, zerbrach. Beim Skilaufen beschlugen sich die Gläser schon beim Aufstieg. Bei der Abfahrt setzten Schnee und Eis sich auf den Gläsern fest; ich wurde blind, stürzte, fuhr in einem Baum. War es kalt genug, ließ die Brille sich nicht mehr enteisen. Schien hingegen die Hochgebirgssonne, mußte eine Schutzbrille über den Gläsern getragen werden; leicht einzusehen, daß sich zwischen den beiden Augenprothesen eine feuchte Kammer bildete; wieder beschlugen sich die Gläser, wieder sah ich nichts, mußte ich die Brille abnehmen; ich habe diese plötzlich überhellen, strahlenden, verschwommenen Hochgebirgslandschaften mit ihren flauen Konturen hassen gelernt. Sah die Gemsen nicht, fiel, die Brille in der Hand, in den Pflotsch. Ich begann die Brille auszunutzen, im Turnunterricht zum Beispiel; endlich wurde mir die träge Vorsicht des Kurzsichtigen zur zweiten, wahren Natur. Ein lesendes Kind; Gymnasiast, Student. Mediziner, aber auf keinen Fall Chirurg: Hinter den Operationsmasken beschlugen die Gläser sich sofort. Die Brille drohte in aufgeschnittener Bäuche und Brustkästen zu fallen usw. usf. Ein Hörer von Musik. Ein schlechter Anatom, weil mir das dreidimensionale Sehen schwerfiel. Endlich Träger zweier kursichtiger Berufe, Schriftsteller, Nervenarzt. (Walter Vogt: Altern, S. 81)


Vonnegut, Kurt: Die Sirenen des Titan

  Beatrice hatte ein Gesicht - noch dazu ein interessantes. Man konnte sagen, daß sie aussah wie ein indianischer Krieger mit Überbiß. Aber jeder, der das gesagt hätte, hätte schnell hinzufügen müssen, daß sie unglaublich schön aussah. Ihr Gesicht war - wie das Gesicht von Malachi Constant - für ihren Typus einmalig, eine Variation zu einem vertrauten Thema, eine Variation, die im Betrachter den Gedanken weckte: Doch, es wäöre eigentlich auch sehr schön, wenn Menschen so aussähen. Beatrice hatte in Wirklichkeit nur das mit ihrem Gesicht getan, was jedes nicht sehr hübsches Mädchen tun könnte. Sie hatte es mit Würde, Leiden, Intelligenz und einem pikanten Spritzer weiblicher Bosheit beschichtet. (Kurt Vonnegut: Die Sirenen des Titan, S. 39)


Zafon, Carlos Ruiz: Der Schatten des Windes [1]

  "In diesem Jahrhundert hat es drei große Figuren gegeben: Dolores Ibarruri, Manolete und Josef Stalin", verkündete der Fahrer, entschlossen, uns mit einer detaillierten Hagiographie des illustren Genossen zu beglücken. Ich saß bequem auf dem Rücksitz, ohne mich an dem Gespräch zu beteiligen, und genoß durchs offene Fenster die frische Luft. Fermin, begeistert von der Spazierfahrt im Studebaker, animierte den Fahrer mit gezielten Fragen. "Nun, ich habe gehört, seit der einen Mispelkern verschluckt hat, leidet er gräßlich an der Prostata und kann jetzt nur noch urinieren, wenn man ihm die Internationale vorsingt", warf Fermin hin. "Faschistische Propaganda", entgegnete der Fahrer. "Der Genosse pißt wie ein Stier. Mit so'ner Wassermenge kann selbst die Wolga nicht aufwarten." (Carlos Ruiz Zafon: Der Schatten des Windes, S. 235)


Zafon, Carlos Ruiz: Der Schatten des Windes [2]

  Sie war eine fleißige Messegängerin und verehrte die Jungfrau von Lourdes abgöttisch. Täglich hörte sie in der Kirche Santa Maria del Mar den Acht-Uhr- Gottesdienst, und dreimal pro Woche ging sie beichten. Barcelo, der sich als Agnostiker bezeichnete, war der Meinung, es sei mathematisch unmöglich, daß das Dienstmädchen genügend sündigen könne, um einen solchen Beichtrhythmus zu rechtfertigen. "Du bist doch ein herzensguter Mensch, Bernarda", sagte er ärgerlich. "Leute, die überall Sünden sehen, haben eine kranke Seele und, wenn ich noch deutlicher werden soll, kranke Därme. Der Grundzustand des spanischen Frömmigkeit ist chronische Verstopfung." (Carlos Ruiz Zafon: Der Schatten des Windes, S. 54)


Zafon, Carlos Ruiz: Der Schatten des Windes [3]

  "Deine Mutter ist nicht allein, Daniel. Sie ist bei Gott. Und bei uns, auch wenn wir sie nicht sehen können." Genau diese Theorie hatte mir in der Schule auch Pater Vincente dargelegt, ein altgedienter Jesuit, der sich ein Bein ausriß, um uns aus dem Matthäusevangelium vom Grammophon bis zu den Zahnschmerzen sämtliche Geheimnisse des Universums zu erklären. Aber aus dem Mund meines Vaters klang es, als glaubten daran nicht einmal die Steine. (Carlos Ruiz Zafon: Der Schatten des Windes, S. 42)


Zafon, Carlos Ruiz: Der Schatten des Windes [4]

  Senor Molins hatte bessere Zeiten gesehen und schmorte jetzt in seinem schmierigen, in einem Hochparterre der Calle Floridablanca versteckten Büro vor sich hin. Er war ein heiterer, zufriedener Zeitgenosse, der an einer halb aufgerauchten Zigarre hing, welche seinem Schnurrbart zu entwachsen schien. Es ließ sich schwer sagen, ob er schlief oder wach war, sein Atem klang wie ein Schnarchen. Er hatte fettige, auf die Stirn geklatschte Haare und einen durchtriebenen Schweineblick. Sein Anzug hätte ihm auf dem Trödelmarkt Los Encantes keine zehn Peseten eingebracht, aber er kompensierte ihn mit einer Krawatte in schreienden Farben. Nach dem Aussehen des Büros zu schließen, wurden hier bestenfalls Spitzmäuse und Katakombem eines Barcelona vor der Restauration verwaltet. (Carlos Ruiz Zafon: Der Schatten des Windes, S. 151)


Zafon, Carlos Ruiz: Der Schatten des Windes [5]

  ... füllten Don Gustavo Barcelo und die Bernarda den armen Priester vor der Feier nach Fermins genauen Anweisungen mit Muskatteller, damit er schön locker würde. Als der entscheidende Moment gekommen war, hielt Pater Fernando, auf dessen vorteilhaft rosigem Gesicht ein seliges Lächeln leuchtete, in einem Aufschwung protokollarischer Zügellosigkeit dafür, die Lektüre eines der beiden Korintherbriefe durch ein Liebesgedicht zu ersetzen, Sonett eines gewissen Pablo Neruda, den einige der von Senor Aguilar Geladenen als Kommunisten und Kulturbolschewiken identifizierten, während andere im Meßbuch nach diesen ungewöhnlich schönen heidnischen Versen blätterten und sich fragten, ob sich schon die ersten Auswirkungen des künftigen Konzils abzuzeichnen begännen. (Carlos Ruiz Zafon: Der Schatten des Windes, S. 551)


Zafon, Carlos Ruiz: Der Schatten des Windes [6]

  Antoni Fortuny, den alle den Hutmacher nannten, hatte Sophie Carax 1899 vor den Stufen der Kathedrale von Barcelona kennengelernt. Eben hatte er dem heiligen Eustachius ein Gelübde abgelegt, der im Rufe stand, von allen Heiligen mit eigener Kapelle der flinkste und am wenigsten zimperliche zu sein, wenn es darum ging, Liebeswunder zu wirken. Antoni Fortuny, schon über dreißig und des Junggesellendaseins müde, wollte eine Gattin, und er wollte sie gleich. (Carlos Ruiz Zafon: Der Schatten des Windes, S. 154)


Zafon, Carlos Ruiz: Der Schatten des Windes [7]

  Trotz seines Bemühens empfand er den kleinen Julian nicht als Kind seines Blutes, noch erkannte er sich in ihm wieder. Den Kleinen seinerseits schienen weder Hüte noch die Lehren des Katechismus allzusehr zu interessieren. Zu Weihnachten vergnügte er sich damit, die Krippenfiguren neu zusammenzustellen und Verwicklungen zu ersinnen, in denen das Jesuskind von den Heiligen Drei Königen zu schlüpfrigen Zwecken entführt wurde. (Carlos Ruiz Zafon: Der Schatten des Windes, S. 157)


Zafon, Carlos Ruiz: Der Schatten des Windes [8]

  In jener Zeit glaubte Antoni Fortuny noch, die Geistesschwäche des Jungen sei zum Teil auf seine Kost zurückzuführen, die zu sehr von den Gebräuchen der französischen Küche seiner Mutter bestimmt war. Bekanntlich zog ein Übermaß an Butter den moralischen Ruin und die Betäubung des Verstandes nach sich. Er verbot Sophie auf immer und ewig, mit Butter zu kochen. Das Ergebnis war nicht unbedingt das erhoffte. (Carlos Ruiz Zafon: Der Schatten des Windes, S. 158)


Zafon, Carlos Ruiz: Der Schatten des Windes [9]

  Pater Fernandos Zusammenfassung seiner Erinnerungen hatte einen gewissen Predigtton. Mit meisterhafter Knappheit konstruierte er seine stilreinen Sätze und erfüllte sie mit einem Rhythmus, der gleichsam als Zugabe eine unausgesprochene Moral einzuschließen schien. In jahrelangem Lehrerdasein hatte er sich diesen bestimmten, didaktischen Ton eines Mannes erworben, der es gewohnt ist, daß man ihn vernimmt, der sich aber fragt, ob man ihm auch zuhört. (Carlos Ruiz Zafon: Der Schatten des Windes, S. 240)


Zafon, Carlos Ruiz: Der Schatten des Windes [10]

  Senor Valls war zwar überzeugt, daß Frauen unfähig waren, etwas anderes als Strümpfe und gehäkelte Decken zu schaffen, sah aber mit Wohlwollen, daß seine Tochter zu einer kundigen Klavierspielerin heranwuchs, denn er hatte Pläne, sie mit irgendeinem Erben eines guten Namens zu verheiraten, und wußte, daß distinguierte Leute an heiratsfähigen jungen Mädchen irgendeine hübsche Begabung schätzten - neben der Folgsamkeit und der üppigen Fruchtbarkeit einer blühenden Jugend. (Carlos Ruiz Zafon: Der Schatten des Windes, S. 444)


Zähringer, Norbert: So

  Später, nachdem sie die Kinder ins Bett gebracht hatte, führte sie Guevara auf eine geziert beiläufige Weise ihren Körper vor; sonnenbankgebräunt, muskulös baute sie sich zwischen ihm und dem Fernseher auf, in einem ihrer knappen Sportbodys oder nur in einem Slip und einem ärmellosen Shirt, mit verschränkten Armen, so daß er die prallen Bizepse bewundern konnte, und er kam sich unförmig, schwabbelig, weiß und dick vor, und sie rief: Es ist schon spät, mein Wölfchen; und dann gingen sie in das dunkle Zimmer, und er lag auf ihr, und sie sagte, komm schon, und er drückte ihr in stummer Wut über die Sache, in die er da hineingeraten war, die Beine auseinander, und sie hielt diese Wut für Leidenschaft, während er, wie der Kolben eines Motors, in ihr vor- und zurückstieß. Sie verlangte nach dem 'ultimativen Fick', von dem sie in einer Zeitschrift gelesen hatte, er beobachtete seine Bierkugel, die auf ihrem Waschbrettbauch hin und her schrubbte, sah den Farbunterschied, als ob er es mit einer Schwarzen trieb, ihr Gesicht, das unter der künstlichen Sonne früh gealtert war, die Schwielen an ihren Händen, DAS IST VON DEN GEWICHTEN, LIEBLING. Dann, nach einer sehr langen Zeit, schloß er die Augen und dachte an nichts, und sie schrie: Mir kommt's, und ihm kam es dadurch auch irgendwie, er spritzte leutselig ab und rollte sich auf die Seite, die Arme an den Körper gepreßt, schnaufend wie ein in die Jahre gekommener See-Elefant. (Norbert Zähringer: So, S. 198f.)


Zaimoglu, Feridun: Liebesbrand

  Er sprach davon, daß dieses Staatskrankenhaus ein Reich der Trennvorhänge und kleinen Kammern wäre, man würde die besondere Affinität der Krankenschwestern zu gutausehenden Ärzten aus den Groschenheften kennen, hier aber herrschen die Gesetze der Realität, hier würden dicke, mit Keulenwaden watschelnde Krankenschwestern buckligen und verwarzten Ärzten verfallen... (Feridun Zaimoglu: Liebesbrand, S. 34)


Zaimoglu, Feridun: Liebesbrand [2]

  Er hatte sich mit einer Schwester wegen eines Zusatzkissens gestritten, läppisch, sagte er, das Läppische wird uns allen zum Verhängnis, ich werde irgendwann auf einer Murmel ausrutschen, mit dem Kopf unglücklich aufschlagen und sofort sterben, meine Blutlache wird die Pfütze sein, in der die verdammten Tauben baden werden. (Feridun Zaimoglu: Liebesbrand, S. 52)


Zaimoglu, Feridun: Liebesbrand [3]

  Ich starrte auf die kitschige Festtagskarte, mein Cousin lud zum Beschneidungsfest seines erstgeborenen Sohnes ein - war ihm da etwa ein Irrtum unterlaufen? Er sah in mir einen Davongelaufenen, und er machte keinen Hehl aus seiner Abneigung gegen Abtrünnige, die sich der Folklore verschließen. Ein einziges Mal hatte er mir, unter vier Augen, versichert, daß ihm allein bei meinem Anblick übel werde, er hielt viel auf sein Temperament, also sagte ich ihm, er sollte sich doch bitte in einem Folkloreverein austoben, dort hätte er viele Trottel um sich, die auch an Stammesehre glaubten. Seine Frau ging damals dazwischen, sonst hätte er mich windelweich geprügelt. (Feridun Zaimoglu: Liebesbrand, S. 116)


Zaimoglu, Feridun: Liebesbrand [4]

  Er war schon ein Kuriosum, der Cousin, er war eine sprechende Wachsfigur. Seinen Sohn erzog er streng, denn er war von dem Glauben nicht abzubringen, daß Gott ihm ein Wunderkind geschenkt hatte, sein Sohn nahm also Klavier- und Klarinettenunterricht, und es war ihm strengstens untersagt, mit anderen Türkenkindern Freundschaft zu schließen. Ein Wunderkind in Deutschland mußte spätestens mit zehn Jahren so gut Deutsch sprechen wie ein Germanist. (Feridun Zaimoglu: Liebesbrand, S. 121)


Zaimoglu, Feridun: Liebesbrand [5]

  Er sah furchteinflößend aus, es gab Männer, die großtaten, aber nichts weiter waren als Attrappen eines Messerhelden, und dann gab es Männer wie diesen Autohändler, der nie in die Leere austeilte, er hatte sich im Laufe der Jahre jede Regung der Schwäche aus dem Leib gedrillt, denn er glaubte, daß der Quell der Miseren die Schwäche wäre. Sein kahlgeschorener Schädel wurde vom Neon der Lichtleiste beflackert, hinter ihm steckte die geneigte Stange einer Südstaatenfahne im Metallsockel - der Händler war hart, er ging einem Gelderwerb nach, der rabiate Auftritte erforderlich machte. Eine Handspanne über seinem Kopf hing ein Schild an der Wand mit der Aufschrift: Geld sorgt für eine große Reichweite. (Feridun Zaimoglu: Liebesbrand, S. 153)


Zeindler, Peter: Der Schreibtisch am Fenster

  Susi, die junge, kecke Verlagsassistentin, taucht jetzt vor dem Verlagseingang auf. Sie zeigt sich hier immer zu festen Uhrzeiten, sommers wie winters, um eine Zigarette zu rauchen. In der warmen Jahreszeit bleibt sie länger draußen, lehnt sich an die Mauer, sonnt den schmalen Hausausschnitt zwischen Topsaum und Hosenbund und läßt ihren gepiercten Bauchnabel glitzern. Vielleicht will sie mich auch nur provozieren, denn ein wirkliches Interesse an meiner Person habe ich bei ihr nie ausmachen können. Jedenfalls sind meine lyrisch verbrämten Komplimente, die ich ihr bei zufälligen Begegnungen mache, nie mit einem Lächeln quittiert worden. Ich frage mich manchmal, ob mich nicht nur die Jahre von solchen jungen Frauen trennen, sondern eher meine Ignoranz, was deren Slang, ihre Codes, ihre Alltagssprache betrifft, auch meine Unkenntnis im Zusammenhang mit ihrer Unterwäsche, die diese mir so fremden Wesen heute tragen. Meine diesbezügliche Einbildungskraft erstickt, wenn ich diese Frauen in der Straßen- oder U-Bahn beobachte, wie sie zwischen zwei Schlucken aus der Petflasche ihren Daumen über das Handy wandern lassen. Und ich frage mich, welch rudimentären, banalen SMS-Botschaften sie wohl in der Welt herumschicken. Immer dasselbe "Ich liebe dich "? Oder ist dieser eherne Satz etwa auch schon längst aus der Mode gekommen? (Peter Zeindler: Der Schreibtisch am Fenster, S. 148)


Zorn, Fritz: Mars [1]

  In späteren Jahren, als ich schon nicht mehr bei meinem Eltern wohnte, nahm ihre Abneigung, andere Leute zu besuchen, ziemlich makabre Formen an: sie gingen eigentlich nur noch zu Begräbnissen. War vielleicht auch oft noch die Rede davon gewesen, einen lieben Freund oder Bekannten zu besuchen, so wurde der Besuch aus Faulheit und Unentschlossenheit so lange aufgeschoben, bis der Betreffende gestorben war. War er aber einmal tot, dann gingen meine Eltern hin, denn dann war es eine Sache der Manieren. Zu Beerdigungen zu gehen, das gehörte sich eben, das war das "Richtige"; daß der solcherart mit einem Besuch Geehrte eigentlich mehr davon gehabt hätte, wenn man ihn zu Lebzeiten besucht haben würde, war dabei Nebensache. (Fritz Zorn: Mars, S. 52)


Zorn, Fritz: Mars [2]

  Der Hippie-Slogan "Make love, not war" klingt in bürgerlichen Ohren heutzutage noch obzön. Es bestreitet zwar niemand, daß der Krieg eigentlich etwas Negatives, wenn auch - leider Notwendiges ist; warum er eigentlich so unbedingt notwendig ist, weiß man allerdings meist nicht. Ebenso wenig mag man klar ausdrücken, daß die Liebe etwas Schlechtes sei. Aber so weit zu gehen, daß man geradeheraus sagt, daß die Liebe nicht nur gut, sondern sogar noch besser als der Krieg ist, das ist eine Wahrheit, der die bürgerliche Gesellschaft noch nicht gewachsen ist; das klingt immer noch obzön. Man ist schließlich kein Liebender, sondern Soldat; und schon gar als Schweizer! Als typisches Beispiel für diese Haltung kann mann das Abbild der Welt im Kino erwähnen: Sexfilme werden auch heute noch verboten oder zumindest verfemt und zensiert; aber ein Film über Krieg, Mord und Gewalt braucht keine Zensur zu fürchten. (Fritz Zorn: Mars, S. 79)


Zweig, Stefan: Buchmendel

  Daß die Ruzena Sedlak, allbekannt im weitesten Umkreis unter dem Namen "Der Totenkopf", daß dieses häßliche Gebilde mit einem Kinde niedergekommen sei, diese erst unglaubliche, unglaubwürdige Nachricht erweckte im Herbst des Jahres 1899 ausgiebigste Heiterkeit in der kleinen südböhmischen Stadt Dobitzan. Oft schon hatte ihre erschreckende, ja geradezu verstörende Häßlichkeit Anlaß zu mehr mitleidiger als boshafter Heiterkeit gebenen, aber dies hätte selbst der verwegenste Spaßmacher nicht zu erwarten gewagt, daß ein so schundriger und schmieriger Topf noch einmal seinen Deckel finden würde. (...) Am Stammtisch stießen sich die biedern Trinker hämisch in die Seite, einer verdächtigt den andern prustend dieser unappetitlichen Urheberschaft, und der medizinisch geeichte Apotheker schilderte die vermutliche Liebsszene in so realistischen Farben, daß noch einige Schnäpse zur Erholung verbraucht werden mußten. (Stefan Zweig: Buchmendel. Erzählungen, S. 123)


Zweig, Stefan: Ungeduld des Herzens [1]

  In jenem November 1913 muß irgend ein Erlaß aus einer Kanzlei in die andere hinübergerutscht sein, denn surr - auf einmal war unsere Eskadron aus Jaroslau in eine andere kleine Garnison an der ungarischen Grenze versetzt worden. Es ist gleichgültig, ob ich das Städtchen beim richtigen Namen nenne oder nicht, denn zwei Uniformknöpfe am selben Rock können einander nicht ähnlicher sein als eine österreichische Provinzgarnison der andern. Da und dort dieselben ärarischen Ubikationen: eine Kaserne, eine Reitplatz, ein Exerzierplatz, ein Offizierskasino, dazu drei Hotels, zwei Kaffeehäuser, eine Konditorei, eine Weinstube, ein schäbiges Variete mit abgetakelten Soubretten, die sich im Nebenamt liebevollst zwischen Offizieren und Einjährigen aufteilen. Überall bedeutet Kommißdienst dieselbe geschäftig leere Monotonie, Stunde für Stunde eingeteilt nach dem stahlstarren, jahrhundertealten Reglement, und auch die Freizeit sieht nicht viel abwechslungsreicher aus. In der Offiziersmesse dieselben Kartenpartien und das gleiche Billard. Manchmal wundert man sich, daß es dem lieben Gott beliebt, wenigstens einen andere Himmel und eine andere Landschaft um die sechs- oder achthundert Dächer eines solchen Städtchens zu stellen. (Stefan Zweig: Ungeduld des Herzens, S. 16)


Zweig, Stefan: Ungeduld des Herzens [2]

  In jenem November 1913 muß irgend eine Erlaß aus einer Kanzlei in die andere hinübergerutscht sein, denn surr - auf einmal war unsere Eskadron aus Jaroslau in eine andere kleine Garnison an der ungarischen Grenze versetzt worden. Es ist gleichgültig, ob ich das Städtchen beim richtigen Namen nenne oder nicht, denn zwei Uniformknöpfe am selben Rock können einander nicht ähnlicher sein als eine österreichiscdhe Provinzgarnison der anderen. Da und dort dieselben ärarischen Ubikationen: eine Kaserne, ein Reitplatz, ein Exerzierplatz, ein Offizierskasino, dazu drei Hotels, zwei Kaffeehäuser, eine Konditorei, eine Weinstube, ein schäbiges Variete mit abgetakelten Soubretten, die sich im Nebenamt liebevollst zwischen Offizieren diesselbe geschäftig leere Monotonie, Stunde für Stunde eingeteilt nach dem stahlstarren, jahrhundertealten Reglement, und auch die Freizeit sieht nicht viel abwechslungsreicher aus. In der Offiziersmesse dieselbe Gesichter, dieselben Gespräche, im Kaffehaus diesselben Kartenpartien und das gleiche Billard. Manchmal wundert man sich, daß es dem lieben Gott beliebt, wenigstens einen anderen Himmel und eine andere Landschaft um die sechs- oder achthundert Dächer eines solchen Städtchen zu stellen. (Stefan Zweig: Ungeduld des Herzens)


Zweig, Stefan: Ungeduld des Herzens [3]

  Da geht mit einem Mal die Tür auf, und ein wehender Glockenrock schwingt mit einem Büschel frischer Luft ein hübsches Mädel herein: braune, mandelförmige Augen, dunkler Teint, famos gekleidet, gar nicht Provinz, und vor allem ein neues Gesicht in diesem gottsjämmerlichen Einerlei. Leider schenkt die smarte Nymphe uns respektvoll Aufstaunenden keinen Blick; scharf und rassig, mit sportlich festem Schritt quert sie an den neun kleinen Marmortischchen des Lokals vorbei geradewegs auf das Verkaufspult zu, um dort gleich en gros ein ganzes Dutzend Kuchen, Torten und Schnäpse zu bestellen. Mir fällt sofort auf, wie devotissime sich der Herm Kuchenbäcker vor ihr verneigt - nie habe ich die Rückennaht seines Schwalbenrocks so straff hinabgespannt gesehen. Sogar seine Frau, die üppig- grobschlächtige Provinzvenus, die sich sonst von allen Offizieren nachlässigst hofieren läßt (oft bleibt man ja bis Monatsende allerhand Kleinigkeiten schuldig), erhebt sich von ihrem Sitz an der Kasse und zergeht beinahe in pflaumenhafter Höflichkeit. (Stefan Zweig: Ungeduld des Herzens, S. 17)


Zweig, Stefan: Ungeduld des Herzens [4]

  Schon zwei Tage später bringt er mir, ganz aufgeplustert vor Stolz, mit gönnerischer Gebärde eine gedruckte Karte ins Kaffeehaus, in die meine Name kalligraphisch eingefügt ist, und diese Einladungskarte besagt, daß Herr Lajos von Kekesfalva Herrn Leutnant Anton Hofmiller für Mittwoch nächster Woche acht Uhr abends zum Diner bitte. Gott sei Dank, auch unsereiner ist nicht auf der Brennsuppe hergschwommen und weiß, wie man sich in solchem Falle benimmt. Gleich Sonntag vormittags haue ich mich in meine beste Kluft, weiße Handschuhe und Lackschuhe, unerbittlich rasiert, einen Tropfen Eau de Cologne in den Schnurrbart, und fahre hinaus, Antrittsbesuch zu machen. (...) Bei Kekesfalvas geht es zu wie Hof. Ich habe noch nie so gut, so nobel, so üppig essen kann. Immer köstlichere und kostbarere Gerichte schweben auf unerschöpflichen Schüsseln heran; blaßblaue Fische, von Lattich gekrönt, mit Hummerscheiben umrahmt, schwimmen in goldenen Saucen, Kapaune reiten in blaubrennendem Rum, Eisbomben quellen farbig und süß auseinander, Früchte, die um die halbe Welt gereist sein müssen, küssen einander in silbernen Körben. Es nimmt kein Ende, kein Ende und zum Schluß noch ein wahrer Regenbogen von Schnäpsen, grün, rot, weiß, gelb, und spargeldicke Zigarren zu einem köstlichen Kaffee! (Stefan Zweig: Ungeduld des Herzens, S. 20/24)


Zweig, Stefan: Ungeduld des Herzens [5]

  Mein erster Eindruck, als ich diesem Doktor Condor gegenüberstand, war der einer großen Enttäuschung. Immer arbeitet ja, wenn uns von einem Menschen, den wir noch nicht kennen, viel und Interessantes berichtet wird, unsere visuelle Phantasie sich im voraus ein Bild aus und verwendet dazu verschwenderisch ihr kostbarstes, ihr romantischestes Erinnerungsmaterial. Um mir einen genialen Arzt, als den Kekesfalva mir Condor doch geschildert hatte, vorzustellen, hatte ich mich an jene schematischen Merkmale gehalten, mit Hilfe derer der Durchschnittsregisseur und Theaterfriseur den Typus 'Arzt' auf die Szene stellt: durchgeistigtes Antlitz, scharf und durchdringend das Auge, überlegen die Haltung, blitzend und geistreich das Wort - rettungslos fallen wir ja immer wieder dem Wahn anheim, die Natur zeichne besondere Menschen durch eine besondere Prägung schon für den ersten Blick aus. (Stefan Zweig: Ungeduld des Herzens, S. 97)


Zweig, Stefan: Ungeduld des Herzens [6]

  Da erkrankte mein Vater, bis dahin ein starker, vollkommen gesunder, unermüdlich tätiger Mann, den ich leidenschaftlich liebte und verehrte. Die Ärzte diagnostizierten eine Diabetes, Sie kennen sie wahrscheinlich unter dem Namen Zuckerkrankheit, eine der grausamsten, der heimtückichsten Krankheiten, die einen Menschen überfallen kann. Ohne jeden Anlaß hört der Organismus auf, die Nährstoffe weiter zu verarbeiten, er führt Fett und Zucker nicht mehr dem Körper zu, und dadurch verfällt und verhungert der Kranke eigentlich bei lebendigem Leibe - ich will Sie nicht mit den Einzelheiten quälen, sie haben mir selbst drei Jahre meiner Jugend zerstört. Und nun hören Sie: damals kannte die sogenannte Wissenschaft nicht die geringste Kur gegen Diät, jedes Gramm wurde gewogen, jeder Schluck gemessen, aber die Ärzte wußten - und ich als Mediziner wußte es natürlich auch -, daß man damit das Ende nur hinausschob, daß diese zwei, drei Jahre ein entsetzliches Zugrundegehen, ein elendes Verhungern inmitten einer Welt bedeuteten, die von Speisen und Getränken strotzt. Sie können sich denken, wie ich als Student, als zukünftiger Arzt, damals von einer Autorität zur andern lief, wie ich alle Bücher und Spezialwerke studierte. Aber überall antwortete mir mündlich und schriftlich das mir seitdem unerträgliche Wort 'unheilbar, unheilbar'. Seit jenem Tage hasse ich dieses Wort, denn ich habe wach und untätig mitansehen müssen, wie der Mensch, den ich auf Erden am meisten liebte, elender zugrunde ging als irgend ein dumpfes Tier; er starb drei Monate vor meiner Promotion. Und jetzt hören Sie gut zu: vor ein paar Tagen in der Medizinischen Gesellschaft haben wir einen Vortrag von einem unserer ersten Chemikologen gehört, der uns informierte, in Amerika und in den Laboratorien einiger anderer Länder seien Versuche schon ziemlich weit gediehen, ein Drüsenextraktmittel zu finden; es sei gewiß´, behauptete er, daß die Diabetes in einem Jahrzehnt eine 'erledigte' Krankheit sein werde. Nun, Sie können sich denken, wie mich der Gedanke erregt hat, daß es schon damals ein paar hundert Gramm dieser Substanz hätte geben können, und der liebste Mensch, den ich auf Erden hatte, wäre nicht gequält worden, wäre nicht gestorben, oder wir hätten wenigstens hoffen können, ihn zu heilen, zu retten. (Stefan Zweig: Ungeduld des Herzens, S. 162)


Zweig, Stefan: Ungeduld des Herzens [7]

  "Medizin hat mit Moral nichts zu tun: jede Krankheit ist an sich ein anarchischer Akt, eine Revolte gegen die Natur, deshalb darf man gegen sie alle Mittel einsetzen, alle. Nein, kein Mitleid mit Kranken - der Kranke stellt sich selbst hors de la loi, er verletzt die Ordnung, und um die Ordnung, um ihn selber wiederherzustellen, muß man, wie bei jeder Revolte, rücksichtslos zugreifen - was einem gerade in die Hand kommt, muß man nützen, denn mit der Güte und der Wahrheit ist noch nie die Menschheit und nie ein einzelner Mensch geheilt worden. Wenn ein Schwindel kuriert, so ist er eben kein erbärmlicher Schwindel mehr, sondern ein erstklassiges Medikament, und so lange ich in einem Fall nicht faktisch helfen kann, muß ich eben trachen, bloß hinüberzuhelfen." (Stefan Zweig: Ungeduld des Herzens, S. 166)


Zweig, Stefan: Praterfrühling

  In dieser Zeit begann er sich ungemein eifrig, mit einer gewissen Verzweiflung dem Studium hinzugeben. Er war der erste in den Hörsälen und Laboratorien, der kam, und der letzte, der ging, er arbeitete mit einer stumpfen Gier, ohne sich um die Kameraden zu kümmern, bei denen er bald unbeliebt wurde. Er suchte in dieser wilden Arbeit seine Sehnsucht nach anderen Dingen niederzuringen, und es gelang ihm auch. Abends war er so abgearbeitet, daß er oft kaum mehr Bedürfnis hatte, mit Schramek sprechen. Ganz blind arbeitete er vorwärts, ohne jeden Ehrgeiz, nur um sich zu betäuben und nicht an die vielen Dinge zu denken, auf die er verzichten mußte. Er begriff, daß ein wunderbares Geheimnis in diesem Fieber war, mit dem sich viele Leute über die Nutzlosigkeit und Leere ihres ganzen Lebens hinwegtäuschten, und hoffte, so auch seinem Leben einen Sinn aufzwingen zu können, freilich vergessend, daß die erste Jugend nicht einen Sinn des Lebens will, sondern das ganze vielfältige Leben selbst. (Stefan Zweig: Praterfrühling. Erzählungen, S. 105)


Zweig, Stefan: Der Amokläufer

  Die Gasse, sie war nur Nacht und Himmel, als ich hinaustrat, eine einzige schwüle Dunkelheit mit verwölktem, unendlich fernem Glanz von Mond. Gierig trank ich die laue und doch starke Luft, und das Gefühl des Grauens löste sich in das große Erstaunen vor der Mannigfaltigkeit der Geschicke, und ich spürte wieder - ein Gefühl, das mich selig machen kann bis zu Tränen -, daß immer hinter jeder Fensterscheibe Schicksal wartet, jede Tür sich in Erlebnis auftut, allgegenwärtig das Mannigfaltige dieser Welt ist und selbst der schmutzigste Winkel noch so wimmenld von schon gestaltetem Erleben wie die Verwesung vom eifrigen Glanz der Käfer. (Stefan Zweig: Der Amokläufer. Erzählungen)


Zuckermann, Marcia: Mischpoke! [1]

  Aus purer Langeweile wollte Pan Stanislaw die gerühmten Vorzüge der Tochter des ehemaligen Gutsverwalters Kohanim inspizieren. Zu diesem Zweck bezog er auf der Galerie der Konditorei Elbing so lässig Stellung wie früher im Offizierskasino. Durch die mystischen Rauchschwaden seiner Orientzigarette übte er den verhängnisvollen Blick, der Franziska sogleich beim Betreten des Cafés bannen sollte. Zur Steigerung der Wirkung schob er sich ein Monokel vors linke Auge und wartete wie ein Jäger auf dem Anstand, bis sich das vermeintlich ahnungslose Reh zeigen würde. Als Franziska das Kuchenparadies betrat, um sich dort wie immer, wenn sie in Schwetz war, eine Schillerlocke mit viel Buttercreme einzuverleiben, fiel ihr auf der Empore der dünkelhafte Snob mit der Scherbe vor dem linken heringsfarbenen Fischauge auf, und sie lächelte. Es war ein halb spöttisches, halb seliges Mona-Lisa-Lächeln, das Pan Stanislaw aber seinem an Kammerzofen und Gastwirtstöchtern erprobten Charme zuschrieb. Na, dem werd’ ich was husten!, dachte sich Fränze feixend. Für die nächsten vier, fünf Wochen ignorierte sie das Fischauge derart formvollendet, dass man den Knacks seines gebrochenen Herzens fast in Zimmerlautstärke hören konnte, sobald Franziska die Konditorei betrat. (Marcia Zuckermann: Mischpoke!)


Zuckermann, Marcia: Mischpoke! [2]

  Außerdem kam es ihr immer so vor, als hätte der Herrgott die vollendete Schöpfung von Marthas älterer Schwester Franziska so erschöpft, dass er für Martha nur noch den Ausschuss der Ahnenreihe übrig hatte: Martha war klein, pummelig, mit krausem Haar einer Farbe, die man sonst bei Promenadenmischungen antraf und falb nannte. Sie hatte die steingrauen Augen von Mindel, die aber bei Martha enger zusammenstehend mit Silberblick mausig wirkten. In ihrem Gesicht prangte eine zu große, fleischige Nase über einem zu kleinen, schmallippigen Mund mit schlechten Zähnen, die immer wie grau bemoost aussahen. Dazu litt sie ständig an Ausschlägen aller Art und an Asthma. Unwillkürlich musste man bei Marthas Anblick an ein zu groß geratenes Huhn denken, insbesondere, seit sie sich das Haar zur französischen Tolle hochsteckte, die einem Hahnenkamm glich. Aber das Ärgste an Franziskas jüngerer Schwester war nicht so sehr die etwas misslungene Gestalt oder ihre gequetschte weinerliche Stimme, das Allerschlimmste an Martha war ihre Fantasie! Martha log, dass im Himmel Jahrmarkt war. (Marcia Zuckermann: Mischpoke!)


Zuckermann, Marcia: Mischpoke! [3]

  ... musste die Nazifamilie auch alle Möbel stehen lassen, wie die jüdische Familie davor. Mit anfänglicher Scheu polierte meine Mutter im Wohnzimmer an den dunklen Nussbaummöbeln herum. Chippendale! (...) Meine Mutter, die Hausarbeit normalerweise hasste, wienerte nun mit Hingabe an den Möbeln herum. Es war ihre Art der Zwiesprache mit den Dingen, um sie sich anzueignen. Wahrscheinlich war es das einzige Mal, dass sie völlig entspannt und mit sich und der Welt im Einklang einen Hausputz verrichtet hatte. Ein absoluter Ausnahmefall. Für gewöhnlich überkam meine Mutter bei der Hausarbeit eine berserkerhafte Wut, mit der sie die ganze Familie terrorisierte.


Zuckermann, Marcia: Mischpoke! [4]

  Eine geschiedene Frau und die Kalamitäten, die Oda wegen Reinhold Hanke durchlitten hatte, waren Vorkommnisse, die Dr. Leopold Hirschfeld selbst an der äußersten Peripherie seines Bekanntenkreises nicht dulden wollte. Anfangs hatte Leopold durchaus nichts dagegen, dass seine Frau Martha ihre Jugendfreundin Oda traf. Aber nur in seiner Abwesenheit und über den Dienstboteneingang, so hatte er es angeordnet. Schließlich war Oda von gebürtigem Adel, und das wog bei Leopold schwer. Odas sozialer Abstieg berechtigte sie nun nur noch zur Nutzung der Dienstbotenpforte. Nach einer gewissen Zeit irritierten ihn Odas Ansichten derart, dass er Martha aufforderte, die Freundin besser nicht mehr im Hause zu empfangen, weil man schließlich »Rücksichten« zu nehmen hätte. Nach Odas Scheidung, die er genauso skandalös fand wie die Vergangenheit der nicht minder berüchtigten Schwägerin Franziska Rubin, geb. Kohanim, verbot er Martha jeden weiteren Kontakt zu »dieser Person«. »Das ist keine Bosheit, meine liebe Martha, sondern eine Frage der sozialen Hygiene«, belehrte er seine Frau, die daraufhin gleich das Schlafzimmer abdunkelte und in einem dreitägigen Migräneanfall versank. (Marcia Zuckermann: Mischpoke!)


Zuckmayer, Carl: Erzählungen [1]

  'Die Welt', spürte er, 'ist gut und schön gemacht, es lohnt sich, in ihr zu leben, ja, es verlohnt jede Mühe und Plage, jeden Schmerz und Schlag, vielleicht sogar am Ende den Tod. Nichts gibt es, was die Treue dieser Erde erschüttern könnte, wenn man sie einmal mit allen Kräften geliebt hat. Nichts gibt es, was die Gnade dieses Himmels trügen könnte, wenn man sie einmal mit allen Fasern empfangen hat. Der Tod aber ist ohne Schrecken, wenn man bedenkt, er müsse genug haben, nachdem er mit allen Waffen des großen Krieges durch vier wehrlose Jahre hindurch nichts erreicht hat, als daß man ihm immer wieder um Haaresbreite entging - und wenn man hofft, sehr alt zu werden in Kraft, und dann zu sterben, wenn alles erfüllt und gerundet ist, an einem Tage wie diesem, wo das Versinken eines Leichnams im grünen See keinen Bruchteil der Lust und des Jubels der Schöpfung beschweren könnte.' (Carl Zuckmayer: Erzählungen, S. 46f.)


Zuckmayer, Carl: Erzählungen [2]

  Jede Woche einmal erschien Georg Kulp im Atelier droben und verbrachte einen Abend mit Robert und seiner Frau, manchmal auch mit Robert allein, und das waren die Abende, an denen sie, wie sie sagten, das Lagerfeuer anzündeten und endlose, zähe und heftige Männergespräche führten. Dann und wann waren einige Freunde Roberts dabei, die in Heizer, Oberheizer, Schürer, Bewacher und Beschauer des Lagerfeuers eingeteilt waren, es wurde dann unter Einzel- und Gruppengesprächen sehr viel Schnaps getrunken, und gegen Morgen sangen sie Soldatenlieder und störten die Bewohner der unteren Stockwerke aufs empfindlichste. Nikoline ging dann frühzeitig ins Bett und schlief mit 'Oropax' in den Ohren, so gut es eben ging. Oft waren alle noch da, wenn sie und die Kinder morgens aufstanden, und sie deckte dann einen großen Frühstückstisch und kochte ungeheure Mengen von Kaffee und Eeiern. Das ganze Lagerfeuer saß fromm und etwas abgekämpft nach Art braver Schulknaben um die Frühstückstafel herum. (Carl Zuckmayer: Erzählungen, S. 85f.)


Zuckmayer, Carl: Erzählungen [3]

  Das Haus stand im alten Westen und war eines jener noblen, stillen Gebäude aus der gediegenen reichen Bürgerzeit. Innen aber war es vor wenigen Jahren völlig renoviert worden, unter Hinzuziehung der modernsten Architekten, Maler, Einrichtungskünstler. Man hatte zwar übertriebene oder einseitige Stilexperimente vermieden, aber es war in geschickter Anordnung alles untergebracht, was in der letzten Zeit als modern oder geschmackvoll galt. Indirektes Licht, großflächige, helle Wände, glattpolierte Holzfüllungen, eingebaute Kamine, in denen man echte Buchenscheite verheizte, zweckhafte Möbel aus Holz, Glas oder Nickel, nur alle etwas zu groß in den Dimensionen; wenige Bilder, gut aufgehängt, hauptsächlich Originale von Slevogt und Kokoschka; in den Ecken lauerten gotische Madonnen, und der Wintergarten war von einem berühmten Meister phantastisch ausgemalt. Kurzum: es war, wie Robert sich auszudrücken pflegte, zum Kotzen geschmackvoll, und man konnte sich dem Eindruck nicht entziehen, daß man bei längerem Aufenthalt in diesen Räumen der unheilbaren Bleichsucht oder einer lebenslänglichen Melancholie verfallen müsse. (Carl Zuckmayer: Erzählungen, S. 104f.)


Zusak, Markus: Die Bücherdiebin [1]

  Frau Lindner war eine scharfkantige Frau mit dicken Brillengläsern und einem ruchlosen Blick. Sie hatte sich diesen Blick zugelegt, um jeden Gedanken an Diebstahl in ihrem Laden im Keim zu ersticken. Sie hütete ihr Geschäft mit einer soldatesken Haltung, einer unterkühlten Stimme, und selbst ihr Atem roch nach "Heil Hitler". Der Laden selbst war im Innern weiß und kalt und völlig blutleer. Das kleine Haus, das an seine Seite gezwängt dastand, schien vor lauter Strenge zu erschauern. Frau Lindner selbst verströmte diesen Eindruck im Übermaß; er war das Einzige, was man in ihrem Geschäft umsonst bekam. Sie lebte für ihren Laden, und ihr Laden lebte für das Dritte Reich. (Markus Zusak: Die Bücherdiebin, S. 57)


Zusak, Markus: Die Bücherdiebin [2]

  Von diesem Moment an begann er, mit größerer Regelmäßigkeit zu kämpfen. Eine Gruppe von hartgesottenen Freunden und Feinden traf sich auf einem kleinen Platz in der Steberstraße, und sie kämpften im ersterbenden Licht des Tages. Bilderbuchdeutsche, der eine oder andere Jude, die Jungs aus dem Osten. Es spielte keine Rolle. Es gab nichts Besseres als eine gute Prügelei, um die jugendliche Energie auszutreiben. Selbst die Feinschaften waren nur hauchdünn von einer Freundschaft entfernt. (Markus Zusak: Die Bücherdiebin, S. 210)


Zusak, Markus: Die Bücherdiebin [3]

  In der Großen Straße bewunderten sie die Pracht der Häuser. Die Eingangstüren waren poliert, so daß sie glänzten, und die Dachziegel saßen auf den Gebäuden wie Toupets, die makellos frisiert waren. Die Wände und Fenster wirkten manikürt, und es hätte niemanden verwundert, wenn die Schornsteine vollkommene Rauchkringel ausgeblasen hätten. (Markus Zusak: Die Bücherdiebin, S. 312)


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