Allgemeine Fundstücke  / [W1]


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Walser, Martin: Fingerübungen eines Mörders

  Der Mut, den man braucht, Sparkassenräuber zu werden, auf blankem Steinboden in die taghelle Schalterhalle einzudringen, dieser Mut fehlte mir, als ich von meinen Erziehern gedrängt wurde, einen Beruf zu wählen. Gerne wäre ich auch Förster geworden; aber selbst für diesen Beruf, so schien es mir, brauchte man den Mut eines Sparkassenräubers. Fast für alle Berufe, wenn man sie näher betrachtet, braucht man den diesen Mut eines Mannes, der in die Schalterhalle eindringt, alle mit einer geladenen oder noch öfter mit einer ungeladenen Pistole in Bann hält, bis er hat, was er will, der dann noch lächelt und rückwärts gehend plötzlich verschwindet. (Martin Walser: Fingerübungen eines Mörders, S. 22)


Walser, Martin: Die Gallistl'sche Krankheit [1]

  Ich bewundere Menschen, die wenig Zustimmung brauchen. Ich brauche viel Zustimmung. Vielleicht meine ich das nur, weil mir bisher Zustimmung versagt wurde. Das Geld, das ich so und so verdiene, ist die einzige Form der Zustimmung, die mir zuteil wird. Und ich bin so wehleidig, das für eine abstrakte Form der Zustimmung zu halten. Der Arbeitgeber überweist das Geld auf mein Konto. Vielleicht müßte er mir die Hand geben, sich bedanken. Nein, das kann er nicht. Ich arbeite nicht gut. Ich hasse die Arbeit, die ich tun muß. Ich weiß aus Erfahrung, daß Arbeit das einzige ist, wodurch ich auf mich aufmerksam machen könnte. Überstunden vor Weihnachten, Rationalisierungsvorschläge, dann würde man mich bald kommen lassen. Ich möchte, daß man sich für mich interessiert, auch wenn ich nicht im Betrieb angenehm auffalle. Ich weiß, das ist kindisch. Trotzdem möchte ich es. Manchmal zerstöre ich eine Kleinigkeit im Betrieb, um auf mich aufmerksam zu machen. Ich warte dann immer darauf, daß ich zum Abteilungsleiter gerufen werde. Aber offenbar richte ich die kleinen Schäden so geschickt an, daß niemand mich als Täter ausfindig machen kann. Inzwischen bin ich aus dem Arbeitsprozeß ausgeschieden. Ich wurde ausgeschieden. Arbeit fiel mir nie leicht. Ich liebe mich vielleicht zu sehr. Ich habe mich beworben, um einen Kiosk in der Nähe des IG-Hochhauses. Als Pächter. Ich strebe zum Mittelstand. Mein Ziel ist es, mehrere Kioske zu betreiben. Ich werde Jugoslawinnen anstellen, die ich aus dem Betrieb kenne. Jugoslawinnen sind die zuverlässigsten Menschen, die es gibt. Sie sind noch zuverlässiger als Jugoslawen. (Martin Walser: Die Gallistl'sche Krankheit, Suhrkamp 1972, S. 24.)


Walser, Martin: Die Gallistl'sche Krankheit [2]

  D. hat gerade ein Buch über Kleist geschrieben. So, als sei er selber Kleist. Oder Kleist sei ihm doch sehr ähnlich. Das Buch beweist, es gibt keinen, der Kleist näher steht als D. Man spürt beim Lesen ganz deutlich, wenn Kleist heute lebte, würde er sein Leben in einem Zimmer mit D. verbringen, alle anderen würde er meiden, ausgenommen (vielleicht) seine Schwester; aber die würde ihrem Bruder ununterbrochen zuraten, nur noch mir D. umzugehen. Ich beneide D. um diese Kleist-Bruderschaft. Wir sind befreundet. Aber Kleist steht zwischen uns. Und die Verachtung, die D. mir gegenüber so stark empfindet, daß er Mühe hat, einen Teil davon zu verbergen, wird am meisten von seiner Kleist-Intimusrolle genährt. Wer so mit Kleist ist, muß mich verachten, das habe ich gefälligst zu begreifen. Ich begreife es nicht. Weil ich noch lebe. (Martin Walser: Die Gallistl'sche  Krankheit, Suhrkamp 1972, S. 29.)


Walser, Martin: Die Gallistl'sche Krankheit [3]

  Allmählich stellt sich heraus, daß die anderen nicht viel anders sind als ich. Anstatt mich darüber zu freuen, fürchte ich, es schwinde für mich der Grund zu leben. Diese Furcht ist natürlich die Folge davon, daß ich mein Leben nur auf meine Einzigartigkeit gegründet hatte. Ob ich mir das selber ausgedacht habe, ob man mir das beigebracht hat, weiß ich nicht. Auf jeden Fall werde ich jetzt immer undeutlicher, verwechselbarer. Ich schwinde. (Martin Walser: Die Gallistl'sche Krankheit, Suhrkamp 1972, S. 26.)


Walser, Martin: Ehen in Philippsburg [1]

  Benrath dachte, ein Mann, der seine Frau betrügt, ist das lächerlichste Wesen, das man sich vorstellen kann. Er wollte keine Geliebte haben. Er haßte dieses Wort. Er wollte sich nicht gemein machen mit den lüsternen Männchen, die sich in entlegene Zimmer schleichen, um sich hinter geschlossenen Gardinen ein paar Stunden gütlich zu tun. Wenn er keine Hoffnung mehr hatte, Cecile ganz für sich zu bekommen und für immer, dann wollte er sie nicht mehr besuchen. Warum kam er dann immer noch? Die Zeit des ersten Überschwangs, als sie noch mit Schwüren übereinander hergefallen waren, war doch längst vorbei. Jetzt war sie doch seine Geliebte! Nichts anderes als seine Geliebte! Ein Verhältnis! Und er war auch so ein Männchen, das durchs Treppenhaus schleicht, eintritt und gleich aufs Ziel lossteuert. Ein bißchen über die eigene Frau klagen, sich bemitleiden lassen, bis es dann soweit ist. Dann wieder hinausschleichen, heimkommen und feststellen, daß man alles übertrieben hat, daß es sich zu Hause eigentlich ganz gut leben läßt. Aber morgen wird er, der wahre Schizophrene, trotzdem wieder jenen lächerlichen Schleichweg betreten. (Martin Walser: Ehen in Philippsburg, S. 136)


Walser, Martin: Ehen in Philippsburg [2]

  Tatsächlich, die Partygäste, das war das erste Thema seit Beginn des Essens, an dem sich alle, außer Hans natürlich, beteiligten. Allerdings konnte Anne nicht verhindern, daß das Gespräch in jener freimütigen Weise geführt wurde, die sie anscheinend auch nicht liebte. Alice nannte die Frau des Rechtsanwalts Dr. Alwin eine adlige Ziege, die nicht einmal imstande sei, diesen Fettkloß zu befriedigen. Dr. Benrath gab dazu einige sachliche Erläuterungen über die geschlechtlichen Möglichkeiten einer mageren Frau einem dickleibigen Mann gegenüber. Die Potenz eines solchen Mannes bestehe vor allem im Willen, nicht impotent zu sein, sagte er, und diesem Sachverhalt müsse die Frau ohre erotische Draperie anpassen. Andererseits sage die körperliche Dürftigkeit einer Frau nichts über ihr Schlafzimmervolumen aus; unter den Frauen sei gerade das körperliche Proletariat oft mit den rosigsten Phantasien gesegnet... Dr. Benrath sagte keinen Satz, der nicht mit verblüffenden Anschauungen operierte. Feinstes lateinisches Fachvokabular flocht er unvermittelt mit brutalstem Gassenjargon zusammen und hüllte so seine Zuhörer in gleichzeitig klinisch und obzön duftende Redewolken. (Martin Walser: Ehen in Philippsburg, S. 100)


Walser, Martin: Ehen in Philippsburg [3]

  Dr. Benrath kannte seine Wirkungen offensichtlich sehr genau. Er blieb ganz ruhig sitzen, geriet nicht in die geringste Eile oder Erregung, im Gegenteil, je gewaltiger und greller er seine Sätze mit Bildern belud, mit Bildern, die einem mit der Vehemenz eines tropischen Sturzbaches durch alle Adern fluteten, desto leiser sprach er, desto unabsichtlicher entließ er die Sätze aus seinem Mund. Dabei hantierte dieser braungebrannte Koloß aus Muskeln und Sehnen äußerst zart und sicher mit dem Fischbesteck und legte die in Weingelee servierte kalte Forelle so rasch und geradezu anmutig auseinander, daß man sich am liebsten sofort hingelegt hätte, um sich von ihm operieren zu lassen. (Martin Walser: Ehen in Philippsburg, S. 100)


Walser, Martin: Ehen in Philippsburg [4]

  Der Eintritt des Intendanten enthob ihn dieser Sorgen. Ein lilafarbener Anzug flatterte heute um seine hagere Gestalt. Hinter seinen ausgreifenden Schritten trippelten zwei winzige Sekretärinnen her; sie schleppten Papier und ganze Bündel neuer Bleistifte mit sich. Der Intendant selbst war flankiert von zwei jungen Herren, deren Haare auf die Kopfhaut gemalt zu sein schienen, so glatt lagen sie an. Als sich alles gesetzt hatte, stellte sich heraus, daß der Intendant, seine zwei Herren, der fröhliche Pressechef und Programmdirektor Relow, der heute einen gletscherfarbenen Anzug trug, am größten Tisch an der Stirnseite des Saales Platz genommen hatten. Schräg hinter ihnen die Sekretärinnen, die jetzt ihre Bleistiftspitzen in Millimeterhöhe über dem Papier hielten und mit gesenkten Köpfen wie Hundertmeterläuferinnen auf den Startschuß warteten. Früher, dachte Hans, wäre der Intendant bestimmt Erzbischof geworden. (Martin Walser: Ehen in Philippsburg, S. 113)


Walser, Martin: Ohne einander [1]

  Wenn sie nur den Namen dieses Beleidigungsspezialisten hörte, fühlte sie sich mit Sylvio verbunden, als sei zwischen ihr und ihrem Mann noch nichts Trennendes passiert. Was immer Sylvio veröffentlichte, was auch immer die anderen Kritiker über ein weiteres Buch von Sylvio schrieben, der Erlkönig wies nach, daß Sylvio ein ermüdend umständlicher Plauderer sei. Nein, er wies es nicht nach, er gab es bekannt. Sein Stil war ein Bekanntgebungs-, also ein Verkündigungsstil. Laut und hallend. Viel zu laut für Ellens Empfindung. Ein Stil, hatte einmal jemand gesagt, in dem es andauernd donnert, ohne daß es geblitzt hat. Er rechtfertigte seine Übertreibungstonart mit dem Schmerz, den die schlechten Bücher in ihm produzieren. Niemand hätte gewagt, von ihm zu verlangen, daß er, der unter dem Schlechten litt, auch noch beweise, warum das, worunter er so litt, so schlecht sei. Wäre es nicht schlecht, würde er doch nicht darunter leiden! Er litt allerdings - und das war nun wirklich seine Begabung - auf eine lustige Art. Es ging ja doch um nichts beziehungsweise nur um Literatur. (Martin Walser: Ohne einander, S. 26f)


Walser, Martin: Ohne einander [2]

  Ernest ist skrupellos. Das ist sozusagen sein Reiz. Ellens Erfahrung: je mehr einer Chef ist, desto mehr ist er Monologist. Einen Chef erkennt man daran, daß er glaubt, man interessiere sich für gar alles, was er sagt. Nur weil er es ist, der es sagt. Du sagst, ohne etwas zu denken: Wie geht's. Und er erzählt dir alles, was du nicht wissen willst. Vom letzten Schlechtwetterflug; von den Komplimenten, die der Masseur gestern seiner Haut gemacht hat; von dem unheimlich originellen Geschenk, das ihm zum Glück kurz vor dem Geburtstag seiner Sekretärin noch eingefallen ist; von dem Schilddrüsenpaniken seiner Tochter, den Darmblutungen seiner Mutter, den Ergebenheitsbeweisen seines Fahrers. Ernest ist der exemplarische Chef. (Martin Walser: Ohne einander, S. 40)


Walser, Martin: Ohne einander [3]

  Wenn du einem Arzt gestehst, daß du fünfundfünzig oder gar sechsundfünzig bist, fühlt er sich total entlastet. Er muß dir nicht mehr helfen, sondern dir nur noch beibringen, daß du dich mit deinem Zustand abzufinden hast. Ernest hat mehr Umgang mit Ärzten als jeder andere Mensch, den Ellen kennt. Er ist nie krank, aber andauernd in Behandlung. Ellen hat die Zahl seiner Ärztekontakte drastisch reduziert. Von allen seinen Suaden war ihr keine so lästig wie die über seine Krankheiten, seine Ärzte. Sie hatte zuerst nicht verstanden, warum dieser Sportsmensch andauernd glaubte, gleich breche die tödliche Krankheit aus. Sie hatte Angst, diese geradezu irrsinnige Gesundheitsüberwachung werde eines Tages aus einem Symptömchen ein Verhängnis produzieren. Einfach durch die ständige Steigerung der Untersuchungsgenauigkeit. (Martin Walser: Ohne einander, S. 45f.)


Walser, Martin: Ohne einander [4]

  Der Prinz hatte tatsächlich einen Mann entdeckt, der aus eigenem Antrieb jahrelang Tausende von Büchern gelesen hatte, nur um Fehler zu finden. Fehler zu finden, war seine Leidenschaft. Er hatte in Tausenden von Briefen an Redaktionen und Verlagen seine Fehlerfunde mitgeteilt. Vom fehlenden Komma bis zum falschen Konjunktiv. So wie andere gefährlich im Gebirge herumklettern, um glitzernde Minerale aus steilen Wänden und schwierigen Höhlen zu klopfen, las der sich durch die Nächte, nur um Fehler zu finden. Der Prinz hatte ihn gebeten, sich den DAS- Mitarbeitern selbst vorzustellen. Die Kurfassung, die Wolf Koltzsch von seiner Biographie gab, begleitete der Prinz mit dem versteinerten Lächelausdruck, der bei ihm den höchsten Grad der Zustimmung signalisiert. Geboren in Greiz an der Weißen Elster. Vor dem Abitur von der Schule geflogen, weil er trotz mehrfacher Ermahnung den von ihm gegründeten Lesekreis "Weiße Elster" nicht auflösen wollte. Vorwurf: Lektüre zur Planung staatsfeindlicher Provokation. Tatsächlich habe er die Regierung der DDR stürzen wollen, weil jeder der Regierenden falsche Konjunktive gebrauchte, sagte Herr Klotzsch. Dann zwei Jahre Netzschkau, Bautrupp Göltzschtalbrücke, ein Prachtsviadukt, ein Gedicht in Backstein, vierundachtzig Meter hoch, in vier Etagen, fünfhundertneunundsiebzig Meter lang, größte Eisenbahnbacksteinbrücke Europas. Um wieder aufzuholen, Eintritt in die SED. Wehrdienst. Meldung zum Grenzschutz. Zwei Jahre Grenzdienst. Flucht über die Werra im Winter. Eintritt in den bayrischen Zolldienst. Verglichen mit den DDR-Beamten seien die bayrischen Zöllner die reinen Hobby-Angler. Fortsetzung der Lektüre im Westen. Allmählich kommt er zur Einsicht, die Zerfallsgeschwindigkeit einer Gesellschaft sei an ihrem Sprachschluder ablesbar. (Martin Walser: Ohne einander, S. 55f.)


Walser, Martin: Jagd

  Die Ärzte sind oft die wunderbarsten Menschen, als Ärzte müssen sie sich natürlich beherrschen. Arztsein fordert wahrscheinlich die grausamste aller Selbstbeherrschungen. Eine allmählich auch den wunderbarsten Menschen vernichtende Enthaltsamkeit. Sie müssen der Gesellschaft rückhaltloser dienen als jeder Polizist oder Staatsanwalt. Sie haben ja kein engmaschiges Gesetznetz, das sie über den Patienten werfen können. Sie müssen sich selbst, ihre ganze Feinheit müssen sie einsetzen, um den Patienten, der einer ist, weil er etwas gemerkt hat, wieder einzufangen, ihn zu weiterem Inkaufnehmen zu bewegen. Zu erpressen eigentlich. Ihnen zuliebe soll der Patient vergessen, was er erfahren hat. Natürlich sind sie im Dienst. Aber keiner tut weniger, als sei er im Dienst, als der Arzt. (Martin Walser: Jagd, S. 128)


Walser, Martin: Dorle und Wolf

  Siebeneinhalb Jahre ... damit wollte er allein sein. Darüber wollte er mit niemandem sprechen. Er war ganz sicher, daß die Oberstaatsanwältin keinen Verwandten hatte, der je zu siebeneinhalb Jahren verurteilt worden war. Wahrscheinlich kommen die Staatsanwälte immer aus den gleichen Familien. Und die Verurteilten auch. Die einen strafen immer und die anderen werden immer gestraft. Anders wäre es auch gar nicht vorstellbar. Wie sollte jemand, der eine Ahnung hat, wie das wirkt: siebeneinhalb Jahre!, wie sollte der noch so etwas fordern können?! Arbeitseinteilung, das ist die Voraussetzung für so eine Forderung. Soll doch, bitte, ein Statistikstudent einmal ein Jahrzehnt durchzählen, ob es NICHT so ist! Wie viele Verurteilte stammen aus Familien, aus denen Verurteiler stammen? Und umgekehrt: Wie viele Verurteiler stammen aus Familien, aus denen Verurteilte stammen? (Martin Walser: Dorle und Wolf, S. 170)


Walser, Martin: Ein liebender Mann

  Trotzdem eine Nase, die man nicht Näschen nennen darf. Und zwetschgensteinförmige Augen, die eben die Farbe wechseln. Aber glänzen tun sie immer. Das hatte er schon aus den vergangenen Jahren mitgenommen: diese nie müden, nie matten, diese immerzu blau und grün, sondern blaugrün. Er mußte sich ihrem Mund zuwenden. Kein Lippengebirge, eine volle und ganz harmonisch verlaufende Oberlippe, die sich auf die bescheiden dienende Unterlippe verlassen kann. Fast ein bißchen einsam, dieser Mund in der unteren Gesichtshälfte. Die Nase bleibt auch für sich. Sie hat eine eher ahnbare als wahrnehmbare Brechung. Sie will einfach nicht spannungslos und langweilig gerade verlaufen. Wer nicht richtig hinschaut, glaubt, sie ende spitz. In Wirklichkeit endet sie in einer zuletzt noch gerundeten Spitze. Sie endet eben, wie eine Nase über diesem einsam schönen Mund enden muß: zu ihm hinführend, ohne ihm zu nahe zu kommen. Eine grandiose Unaufdringlichkeit hat dieses Gesicht. (Martin Walser: Ein liebender Mann, S. 21)


Walser, Robert: Der Gehülfe [2]

  Sie lachte. "Wie seltsam sie lacht", dachte der Untergebene und fuhr fot zu denken: "An diesem Lachen könnte einer, der sich darauf versteifen wollte, Geopgraphie studieren. Es bezeichnet genau die Gegend, wo diese Frau her ist. Es ist ein behindertes Lachen, es kommt nicht ganz natürlich zum Mund heraus, als wäre es früher durch eine allzupeinliche Erziehung stets etwas im Zaum gehalten worden. Aber es ist schön und fraulich, ja, es ist sogar ein bißchen frivol. Nur hochanständige Frauen dürfen so lachen." [Robert Walser: Der Gehülfe, S. 30]


Walser, Robert: Der Gehülfe [2]

  Vor einem halben Jahr hatte er eine solche Hutgeschichte erlebt. Er war ein halbhoher, ganz guter, normaler Hut, wie ihn die "Besseren" Herren zu tragen pflegten. Er aber traute dem Hut nichts Gutes zu. Er setzte ihn tausendmal auf den Kopf, vor dem Spiegel, um ihn dann endlich auf den Tisch zu legen. Dann ging er drei Schritte weg von dem niedlichen Ungetüm und beobachtete ihn, wie ein Vorposten den Feind beobachtet. Ews war nichts an ihm auszusetzen. Hierauf hängte er ihn an den Nagel, auch da erschien er harmlos. Er versuchte es wieder mit dem Kopf, entsetzlich! Es schien ihn von unten bis oben zerspalten zu wollen. Er hatte das Gefühl, als ob seine Persönlichkeit eine benebelte, gesalzene, halbierte geworden sei. Er trat auf die Straße: er schwankte wie ein schnöder Betrunkener, er fühlte sich wie verloren. Er trat in eine Erfrischungshalle, legte den Hut ab: gerettet! Ja, das war eine Hutgeschichte gewesen. Auch Kragengeschichten, Mäntelgeschichten und Schuhgeschichten kamen in seinem Leben vor. [Robert Walser: Der Gehülfe, S. 143.]


Walser, Robert: Der Räuber [1]

  Diese Frau stand in ihrer Umgebung deshalb so sicher da, weil sie immer ein wenig eine Fremde darin blieb, weil sie darin immer ein bißchen gleichsam zitterte, es ihr nie allzuwohl darin war. Unsere Sicherheiten dürfen nichts Starres werden, sonst brechen sie. Es bedarf zur wirklichen Sicherheit des Auftretens und des Weltfühlens eines beständigen Schwankens, Federns. Der Boden unter unsern Füßen darf und soll sich heben und senken, und wir brauchen, um die Richtung ins Vollkommene beizubehalten, fortwährende Empfindung, daß wir nicht fertig mit uns sind und es wohl auch nie werden." (Robert Walser: Der Räuber)


Walser, Robert: Der Räuber [2]

  "Meine Gaben wurden fleißig benützt, glauben Sie mir doch das, bitte." "Ihnen glaube ich nie etwas!" Immer ging sie den zarten Dingen nach. Sie hatte sich's nun einmal in den Kopf gesetzt, ihn für einen Verleugner eines Teiles seiner Fähigkeiten zu halten, und zwar mit keiner Zusicherung, sie täusche sich, von der Meinung abzubringen, er bringe sich selbst um, sei ein Verlotterer seiner teuersten Angelegenheiten, einer, der sich selbst lausig behandle. (Robert Walser: Die Räuber, S. 14)


Walser, Robert: Der Räuber [3]

  Eine Lehrerin hat sich in der Stadt sagen lassen müssen, sie sei gar keine richtige Lehrerin, sie verstehe ihren Beruf nicht. Daraufhin war sie so entmutigt, daß sie zu sich sagte: "Ich gehe aufs Land", wo sie sich in der Stille und Ruhe, und weil sie dort mit Leuten zu tun bekam, die ihr Zeit ließen, Herrin über ihr möglicherweise etwas wunderlichers Gemüt zu werden, zur sehr guten Lehrerin entwickelte. "Liebe Mitmenschen, sprecht euch doch nicht so schnell gegenseitig den Wert. Redet nicht bloß von Hemmungen, sondern nehmt in Wirklichkeit Rücksicht geben. Tut ihr das, so würde es sounsdsoviel megr geachtete und darum auch freudige und fleißige Bürger und Bürgerinnen geben. Man sei im Dienen schnell, aber im Urteilen so langsam wie im Befehlen und Regieren. Regiert kann gar nicht sorgfältig genug werden. Regieren und kommandieren sind übrigens zweierlei. im Heraufschrauben sei man so vorsichtig wie im Herabsetzen. (Robert Walser: Der Räuber, S. 30)


Walser, Robert: Der Räuber [4]

  Diese schöne und gutherzige Frau trug wegen ihres ausgezeichneten Mannes Indisponiertheiten einen Grämlichkeitszug um den Mund, der ihr übrigens ganz nett zu Gesicht stand. Sie nahm sich vielleicht etwas zu tragisch. - Es geht vielen Menschen so, daß sie, wenn sie sich mißgestimmt sehen, sich durch das bißchen Mißgestimmtheit immer mißlicher stimmen lassen, als säßen sie in einem Wagen, der mit ihnen fortführe. (Robert Walser: Der Räuber, S. 71)


Walser, Robert: Der Räuber [5]

  Ängstlichkeit ist aber etwas Ungesundes. Der Räuber war eines Tages beim Baden nahe am schönsten Ertrinkungstod. Infolge wackern Schaffens mit Wellen usw. blieb er als flotter Herausarbeiter aus Näßlichkeitsmächten am Leben, das heißt kam wieder ans sichere Trockene. Er ist aber dabei fast außer Atem gekommen. O wie er still Gott dankte. Ein Jahr später ertrank dann in demselben Fluß jener Molkereischüler. Der Räuber weiß also aus Erfahrung, wie es demjenigen ist, den die Nixen an den Beinen herunterreißen. Er kennt die Kraft des reißenden Wassers und er hat dort gespürt, was der Tod für eine barsche Art hat, sich uns bekannt zu machen. (Robert Walser: Der Räuber, S. 58)


Walser, Robert: Der Räuber [6]

  Diese Großen kommen sich oft zu groß vor, büßen die Erkenntnis über den Sinn ihrer Bedeutung ein und dessen, wie sie sich gegenüber sich und der Umwelt zu verhalten haben. Sie fangen vielleicht an, sich selber anzustaunen, und finden, sie seien übler Laune, und weil sie sich gegenüber den Geringen in der Herrscherei haben üben können, sich ans kurzatmige Befehlen gewöhnt haben, so kommen sie kurz und gut und mit einer Gedankenglätte, die man einen eleganten Entschluß nennen könnte, zu einer Untat. Sie betrinken sich leicht an ihrer höheren Stellung. (Robert Walser: Der Räuber, S. 74)


Walser, Robert: Der Räuber [7]

  Fängt man an, ernst zu reden, so finden sich unter zehn stets acht, die überzeugt sind, nun fange man an, gleichsam herabzustürzen, als befände sich jeder Fröhliche bedingungslos auf dem Gipfel menschlicher Gescheitheit, was nicht ganz zutreffen dürfte. Freilich liegt in der Fröhlichkeit ein großer Wert, aber Fröhlichkeit und Ernst müssen obachtgeben, damit der Ernst fröhlich und die Fröhlichkeit ernsthaft abschließt, das heißt begrenzt und angerührt wird. (Robert Walser: Der Räuber, S. 91)


Walser, Robert: Der Räuber [8]

  Benehmen wir uns dann am liebenswürdigsten, wenn in uns Fragen sind, die wir nicht mit Bestimmtheit zu beantworten vermögen? Sind wir am schönsten, am ansehenswertesten, wenn sich auf unserer Aufführung Widersprüche, Kämpfe der Seele, edle Beklemmungen abspiegeln? Sind wir verworren am wahrsten, unklar am klarsten, ungewiß am sichersten? O wie tat mir die Schöne leid, daß sie gerettet worden war, daß ihr nun keine Rettung mehr blühte, daß kein Sehnen nach Rettung mehr sie umlispelte und daß ihr jetzt kein Retter mehr erscheinen konnte, weil er schon erschienen war. Glücklich der, der zwanzigmal im Leben unglücklich zu werden vermag. (Robert Walser: Der Räuber, S. 80)


Walser, Robert: Der kleine Tierpark

  Bin ich schriftstellerisch wach, so gehe ich achtlos am Leben vorbei, schlafe als Mensch, vernachlässige vielleicht den Mitbürger in mir, der mich sowohl am Zigarettenrauchen und Schriftstellern verhindern würde, falls ich ihm Gestalt gäbe. Gestern aß ich Speck mit Bohnen und dachte dabei an die Zukunft der Nationen, welches Denken mir nach kurzer Zeit deshalb mißfiel, weil es mir den Appetit beeinträchtigte. Daß dies hier kein Seidenstrumpfaufsatz wird, freut mich und wird, wie ich mir vorstelle, vielleicht einem Teil meiner geneigten Leser ausnahmsweise angenehm sein, da dieses beständige Mädelmiteinbeziehen, dieses unaufhörliche Frauennichtaußerbetrachtlassen einer Eingeschlafenheit ähnlich sein kann, was von jedem lebhaft Denkenden wird zugegeben werden können. (Robert Walser: Der kleine Tierpark)


Wassermann, Jakob: Faber oder die verlorenen Jahre

  Ein Einsamgeher aus anarchischer Veranlagung; tief im Zwiespalt mit der Welt, meist aber recht zufrieden mit sich selber. Doch der Zwiespalt trieb zu Leistungen; er war ein Weltverbesserer, der mit der Zerstörung alles dessen begann, was ihm in die Hände geriet, um nachher erklären zu können, daß es schlecht gemacht sei. Stillen Studien ergeben, hatte er zugleich eine närrische Prahlsucht an sich, und nicht bloß den greifbaren und sichtbaren Dingen hatte er beständig was am Zeug zu flicken, auch dem lieben Gott war er in einer listigen Manier aufsässig. Ja, er war einer von den Selbstgerechten dieser Erde, ein malkontenter Winkelphilosoph. (Jakob Wassermann: Faber oder die verlorenen Jahre)


Waugh, Evelyn: Tod in Hollywood

  Sie ging aus dem Zimmer, und Dennis vergaß sie sofort. Er hatte sie schon vorher überall gesehen. Amerikanische Mütter, dachte Dennis, kennen ihre Töchter vermutlich auseinander, wie ja auch die Chinesen, sagt man, die Angehörige ihrer anscheinend gleichförmigen Rasse genau unterscheiden können. Aber für sein eurpäisches Auge war die "Bestattungshostess No. 4" eins mit allen ihren Schwestern in den Verkehrsflugzeugen und in den Büros, eins mit Miss Poski von denm 'Ewigen Jagdgründen'. Sie war ein Standarderzeugnis. Ein Mann konnte einem solchen Mädchen in einem Delikatessenladen in New York Adieu sagen, dreitausend Meilen fliegen und es im Zigarrenkiosk in San Francisco wiederfinden, genau so wie er seine gewohnte Humorspalte in der Lokalzeitung wiederfand. Es würde ihm in zärtlicher Situation die gleichen Worte vorgirren, und in gesellschaftlicher Situation die gleichen Ansichten äußern. Das war zweifellos bequem; aber Dennis gehörte einer älteren Kultur an, die mehr verlangte. Er suchte das Unfaßbare, das verschleierte Gesicht im Nebel, die Silhouette in der erleuchteten Haustür, die geheimen Reize eines Körpsers, der sich unter dem feierlichen Samt verbarg. (Evelyn Waugh: Tod in Hollywood, S. 53f.)


Waugh, Evelyn: Wiedersehen mit Brideshead

  Lady Marchmain war nicht verworren, aber sie ging an das, worüber sie sprach, in einer weiblichen, koketten Art heran, schlug Kreise, näherte sich, wich zurück, griff zu Finten; sie schwebte darüber wie ein Schmetterling; sie führte Täuschungsmanöver durch, kam dem Punkt, um den es sich handelte, unmerklich näher, während man den Rücken wandte, und blieb wie festgewurzelt stehen, wenn sie beobachtet wurde. (Evelyn Waugh: Wiedersehen mit Brideshead, S. 124)


Waugh, Evelyn: Wiedersehen mit Brideshead [2]

  "So, du läßt dich also scheiden", sagte mein Vater. "Ist das nicht einigermaßen überflüssig, nachdem ihr alle diese Jahre hindurch glücklich miteinander gewesen seid?" "Wir waren nicht besonders glücklich, weiß du." "Nein? Ihr wart nicht? Ich erinnere mich sehr genau daran, wie ich euch letzte Weihnachten zusammen gesehen habe, da habe ich mir noch gedacht, wie glücklich ihr ausseht, und nicht recht begriffen, warum eigentlich. Du wirst es sehr störend finden, weißt du, noch einmal anzufangen. Wie alt bist du? Vierunddreißig? Das ist kein Alter zum Anfangen. Du solltest schon zu einem Definitivum kommen. Hast du irgendwelche Pläne?" "Ja, ich verheirate mich wieder, sowie die Scheidung ausgesprochen ist." "Also, das nenne ich einfach Unsinn. Ich kann es verstehen, wenn ein Mann den Wunsch empfindet, lieber nicht geheiratet zu haben, und versucht, sich freizumachen - obwohl ich selbst nie derartige Empfindungen gehabt habe. Aber eine Frau loswerden und sich sofort eine andere auf den Hals laden, das hat nichts mehr mit Vernunft zu tun. (Evelyn Waugh: Wiedersehen mit Brideshead, S. 266)


Wawerzinek, Peter: Schluckspecht [2]

  ... simuliert Tante Luci eine Herzattacke. Herzattacke kann sie gut. Herzattacke geht kinderleicht. Kein Problem für Tante Luci, aus dem Stand heraus ein kleines akut lebensbedrohliches Ereignis zu zaubern. Sie beginnt blaß zu werden. Ihre Augen werden groß wie gebratene Wachteleier. Sie verlangt ein Glas Wasser. Und während der Mann aufspringt, es ihr zu beschaffen, rutscht sie auf halb acht vom Stuhl. Versenkt sich in ihre Rolle. Spielt mit innerer Hingabe ein baldiges Sterben. Legt bühnrenreif eine Herzmuskellähmung hin. Bringt eine solide Ischämie zustande. Man sieht das Blut rinnen. Man spürt die Arterie sich verengen, die Herzkranzgefäße verkrampfen. Man kann so gar nichts für die Tante tun, die unter Schmerzen keucht, einen Knopf zu öffnen versucht, der am Kittel nicht vorhanden ist. Wie sie Schultern und Arme winkelt, den Unterkiefer klappt, mit dem Oberbauch spielt, Vibrationen erzeugt, die durch die Kleidung hin wirken. Begleitet von Schweißausbrüchen und einer sehr gekonnt vorgeführten leichten Übelkeit bis hin zu einer Art Erbrechen. Ehe der Besorgte zum Nottelefon greift und Hilfe ruft, erholt sie sich vom Herzinfarkt schnell und komplett, und normalerweise wird ihrem Antrag stattgegeben. (Peter Wawerzinek: Schluckspecht)


Wawerzinek, Peter: Schluckspecht [2]

  ... wurde dann später vom Doktor in einer Sparkassenverwaltung untergebracht, wo er mit seinem blütenweißen und sonnenverwöhnten Aussehen am Empfang für wichtige Gäste fungierte. Das hat er im Ulenhof oft geübt, wo er oftmals irrtümlich als Chef des Hauses angesehen wurde: Wenn Sie mit dem Chef reden möchten, so darf ich Ihnen mitteilen, daß selbiger zurzeit im Öltankschacht verschwunden ist und dort die Notabschaltung überprüft. Der Doktor kommt dann auch arg verdreckt mit schmutzigen Händen und pechschwarz im Gesicht. Als der feine Pinkel plötzlich an einem Blutgerinnsel starb, war er die bestangezogene Leiche, die je auf dem Friedhof bestattet wurde. Im Ulenhof sagten sie, in seinen Adern wäre nur Blut aus weißen Blutkörperchen geflossen. (Peter Wawerzinek: Schluckspecht)


Weidenholzer, Anna: Weshalb die Herren Seesterne tragen

  Kommst du zur Welt, hast du zwei Möglichkeiten: hier oder anderswo. Anderswo wäre gut für dich, kommst du hier zur Welt, hast du zwei Möglichkeiten: reiche Eltern oder nicht. Reiche Eltern wären gut für dich, bei armen Eltern hast du zwei Möglichkeiten: Du kommst zu einer Volksschullehrerin, die dich trotzdem fördert, oder nicht. Fördern wäre gut für dich, ist es nicht so, hast du zwei Möglichkeiten: Prammer oder Eder, Mechaniker oder Dachdecker, zumindest war das vor fünfzehn Jahren so. Prammer wäre gut für dich, bei Eder hast du zwei Möglichkeiten: gehen oder bleiben. Gehen wäre gut für dich, bleibst du, hast du zwei Möglichkeiten: durchhalten oder durchdrehen. Durchhalten wäre gut für dich, drehst du durch, hast du zwei Möglichkeiten: vollkommen oder die Eltern klären es. Vollkommen wäre gut für dich, bei den Eltern hast du zwei Möglichkeiten: abhauen oder bleiben. Abhauen wäre gut für dich, bleibst du, hast du zwei Möglichkeiten: früh sterben oder spät. Früh wäre gut für dich, wird es spät, hast du zwei Möglichkeiten: nicht mehr gefunden werden oder dort drüben am Friedhof begraben werden. (Anna Weidenholzer: Weshalb die Herren Seesterne tragen)


Weiler, Jan: Maria, ihm schmeckt's nicht [1]

  Das Frühstück ist übrigens ziemlich unitalienisch, will sagen reichhaltig. Schließlich wohnt Antonio bereits seit über dreißig Jahren in Deuitschland und weiß ein Käsebrötchen am Morgen durchaus zu schätzen. Es gibt nicht viele Bereiche im Leben der beiden, in der sie eindeutig die Regeln festlegt. Zumindest beim Frühstück scheint das absolut der Fall. Es gibt allerdings Espresso, da hat er sich durchgesetzt. Diese Verschränkung von Lebensgewohnheiten ist wie das Bild von Neapel und der Holzteller im Flur, nämlich der Versuch, Mentalitätsunterschiede durch gemeinschaftlich begangene Verbrechen am guten Geschmack zu überwinden. Ich glaube, so ist Europa. (Jan Weiler: Maria, ihm schmeckt's nicht! S, 28)


Weiler, Jan: Maria, ihm schmeckt's nicht [2]

  Italienische Betten sind, orthopädisch betrachtet, Trojanische Pferde. Auf den ersten Blick sehen sie harmlos und gemütlich aus, entpuppen sich jedoch schnell als lebensgefährliche Folterwerkzeuge. Bereits beim Beziehen der Matratze entdecke ich, daß der ungemein nobel daherkommende Bettrahmen nur eine Attrappe ist. Er umkleidet ein Stahlrohrgestell, in welches ein Sadist eine Konstruktion aus federndem Drahtgeflecht eingelassen hat. Darauf liegt eine dicke Schaumstoffmatratze und fertig. Wie überall in Italien werden dazu ein flaches Kissen und eine Art Laken gereicht, das man fest mit der Tagesdecke verbindet. Im Sommer reicht das auch. Diese Konstruktion des Wahnsinns soll für die nächsten zwei Wochen meinen Träumen eine Heimat bieten. Ich setze mich aufs Bett, das dabei zusammensinkt wie ein Souffle, und denke an zu Hause. Dort steht mein Bett. Es verfügt über ein stabiles Gerüst, einen Lattenrost, eine Taschenfederkernmatratze und eine Daunendecke. Soll ich jetzt etwas sagen? Etwa daß ich dieses weiche Monster hier irgendwie nicht gut finde? Ich habe eine Angst, die alle Deutschen im Ausland haben. Wann immer man nämlich als Deutscher im Ausland etwas sagt, weil man beispielsweise Skorpione oder das Ebolavirus oder einen Südeuropäer mit Handfeuerwaffe im Zimmer hat, muß man sich darauf gefaßt machen, daß die Kleinkariertheit dieser Kritik mal wieder nur eines ist, nämlich typisch deutsch. Davor habe ich wirklich eíne fürchterliche Angst, nichts macht einen Deutschen so fertig wie der Vorwurf, typisch deutsch zu sein. Also halte ich die Klappe und stelle mir vor, wie mein Orhtopäde in drei Wochen meinen Rücken inspiziert. (Jan Weiler: Maria, ihm schmeckt's nicht! S. 68f.)


Weiler, Jan: Maria, ihm schmeckt's nicht [3]

  Am Morgen nach der Hochzeit große Aufregung. Bruder Alfredo hat sich gestern Abend an einem kleinen Hühnerknochen verschluckt und läßt mitteilen, daß er sich wegen eines nicht enden wollenden Schluckaufs absolut außerstande sehe, die Predigt zu halten. Was nun? Mein Schwiegervater bietet sich als Ersatz an, aber Onkel Raffaele insistiert, daß Toni erstens kein Geistlicher sei und zweitends für Predigten nichts tauge, weil er bei längeren Reden immer so klinge, als verlese er das Kommunistische Manifest. (Jan Weiler: Maria, ihm schmeckt's nicht! S. 97)


Weiler, Jan: Maria, ihm schmeckt's nicht [4]

  Mein Schwiegervater hat eine typische Eigenschaft der Entwurzelten, also derer, die nicht wirklich dort zu Hause sind, wo sie wohnen, und auch nicht richtig da hingehören, wo sie herkommen. Wenn er in Deutschland ist, gibt es für ihn nichts Schöneres als Italien, das Land seiner Vorfahren und des Weins und so weiter. Alles ist dann in Italien besser. Das Wetter sowieso, aber auch die Menschen, die dort so fröhlich und gastfreundlich sind und immer einen Scherz auf den Lippen haben und überhaupt so kinderlieb und noch dazu ausgezeichnete Köche sind. Dazu die Landschaft und der Duft und die schönen Frauen allüberall und eben das diamantene Meer. Diese folkloristischen Hymnen gipfeln jedes Mal im Absingen neapolitanischer Volksweisen. Fast hat man aus seinen Schilderungen den Eindruck, als sei Italien eine Art riesiges Schlumpfhausen. Deutschland hingegen ist natürlich mies, kalt und grau. Die Menschen sind nur an Geld interessierte Vorteilsnehmer, die niemandem etwas gönnen, Kinder am liebsten immer einsperren und nie, nie lachen. Und dann das Essen, immer diese Knödel und Kartoffeln, dieser Schweinefraß. Oh, und wenn er nur könnte und nicht diesen riesigen Druck von wegen Karriere und so hätte, dann würde er zurückkehren in das Land von Dante und Machiavelli. Er würde über Weinberge schauen, dichten und immerzu 'polenta' essen. (Jan Weiler: Maria, ihm schmeckt's nicht! S. 62f.)


Weiler, Jan: Drachensaat [1]

  In meinen Bus steigen Schwarzfahrer, die nicht prickelndes Schauern und eine Lust auf Flucht und Abenteuer verspüren, wenn die Fahrkarten kontrolliert werden, sondern wie gelähmt auf ihre Entdeckung reagieren, weil sie wissen, daß sie als Wiederholungstäter sogar ins Gefängnis kommen könnten. Ich fahre sie alle, hinter mir sitzen die wenigen Guten und die alten und jungen Bösen. Geborene und nachgeborene Nazis, ungezogene Flegel, stinkende Flittchen und aufgegeilte Famlilienväter, dumme Verkäuferinnen und pro Fahrt höchstens ein moralisch integrer Vertreter unserer Gattung, meistens ein vierjähriges Kind. Sie steigen in meinen Bus, und dann sind wir für kurze Zeit eine spirituelle Gemeinschaft auf der Straße des Unheils und des Bösen. Uns verbindet der Fahrplan, mehr nicht. Ich muß für eine kurze Zeit die Verantwortung übernehmen für diese grotesken Proteinhaufen in schlecht sitzenden Kleidern. (Jan Weiler: Drachensaat, S. 99)


Weiler, Jan: Drachensaat [2]

  Er wurde grundsätzlich und nannte den Umstand, daß ihm seine Privatsphäre geraubt wurde, ein "generelles Problem der modernen Gesellschaft, welches zwar im völligen Widerspruch zur Vereinzelung und Einsamkeit in modernen Industrieländern steht, jedoch unabweisbar wie Letztere seine Wurzeln in der scheindemokratischen Diktatur der Bürokratie findet". Seine aufgesetzte Sprache wurde uns später noch nützlich, und der Staatsanwalt hat im Prozeß einmal angefangen zu weinen, als Ünal in einem 54 Minuten dauernden Monolog die Unzumutbarkeit eines wackligen Stuhls als Beispiel für die Verrohung der deutschen Rachejustiz gegenüber homosexuellen Moslems anprangerte. Daegegen war dieser Auftritt hier gar nichts. (Jan Weiler: Drachensaat, S. 87)


Weiler, Jan: Drachensaat [3]

  Wir befinden uns in diesem Strudel der Bosheit, und die meisten merken nicht, wie dieser Strudel jeden von uns in die Hölle zieht, denn alle Menschen sind vollgestopft mit künstlichen Aromastoffen, Glutamat, Alkohl und Frittierfett. Woher ich das weiß? Ich weiß es, weil ich es rieche und spüre, ich atme jeden Tag den Gestank der Verwesung der Zivilisation ein, der ich selber angehöre, in deren Zentrum ich mich bewege mit meinem Bus und den schlechten Menschen darin. Mein Tag beginnt mit den Nachrichten aus dem Radio an meinem Bett, und was ich dort hören muß, entspricht nicht meiner Vorstellung einer Welt, die des Aufenthaltes in ihr würdig wäre. (Jan Weiler: Drachensaat, S. 93)


Weiler, Jan: Drachensaat [4]

  Frank war älter, stärker und zwar auch dümmer, jedoch von einem geradezu bewunderswert einfallsreichen Sadismus. Solche Kerle gibt es in jeder Siedlung, sie stellen jeweils die nächste Generation aus Arschloch-Familien dar. In der Regel waren schon der Vater und zuvor der Großvater Drecksäcke. Ich kenne das aus meiner Kindheit, jeder kennt es aus seiner Kindheit. Wenn man diese Burschen später wiedertrifft, sind sie häufig arme Würstchen mit Würstchenkindern, die kleinen Mädchen den Arm umdrehen. (Jan Weiler: Drachensaat, S. 155)


Wellershoff, Dieter: Der Liebeswunsch [1]

  Dies war mein erster freier Nachmittag nach einer Reihe von anstrengenden Arbeitstagen mit vielen schweren, und wohl nur zum Teil erfolgversprechenden Operationen. Ein Patient, ein 76jähriger Mann, bei dem ich, zusammen mit einem dicken, runzligen Karzinom, Magen, Bauchspeicheldrüse, Milz und Querkolon und alle Lymphdrüsen der Umgebung herausgenommen hatte, war mir noch auf dem Operationstisch gestorben. Es war der Abschluß einer schrecklichen Woche. Ich hatte mich danach flau und abgenutzt gefühlt und das Bedürfnis gehabt, mir für zwei Stunden im Dunkel eines Zuschauerraums aus dem Weg zu gehen, zuverlässiger als es mir in meinem Apartment mit Lesen, Musikhören und Telefonieren gelungen wäre. Aber schon als ich die Eintrittskarte löste - bei einer etwas schwammig gewordenen Schönheit, die als ein mit Goldkettchen und Amulett behangenes Brustbild in dem Kassenhäuschen saß und mir mit einer trägen handbwegung Billett und Wechselgeld zuschob -, und dann noch mehr, als ich den dünn besetzten Zuschauerraum betrat, in dem gerade die letzten Werbespots über die Leinwand liefen, hatte ich das Gefühl, etwas Falsches zu tun. ich hatte mir das falsche Medikament, die falsche Behandlung verordnet, weil ich nicht wußte, was mir fehlte. (Dieter Wellershoff: Der Liebeswunsch, S. 7)


Wellershoff, Dieter: Der Liebeswunsch [2]

  Immer schon war es das Besondere und leicht Unangemessene, um dessentwillen ich das Richtige verriet. So habe ich Marlene an dich verraten, vor allem deshalb, weil ich wußte, daß es falsch war. Die Grenzen des Gesicherten und Achtbaren zu überschreiten, war für mich die Bedingung der Leidenschaft geworden, seit mich als 16jähriger Schüler eine mehr als doppelt so alte Frau in die Liebe eingeführt hatte, der es genauso gegangen war. Leidenschaft, das ist die Kraft, alles zu verwandeln und auf den Kopf zu stellen. Daran allein kann man sie messen. (Dieter Wellershoff: Der Liebeswunsch, S. 9)


Wellershoff, Dieter: Der Liebeswunsch [3]

  Beide waren sie unzuverlässige Menschen mit wenig moralischer Substanz. Paul würde Anja verlassen, und dann würde sie zugrunde gehen, wie die amtliche Formel sagte: mit an Gewißheit grenzender Wahrscheinlichkeit. Er würde keinen Anlaß haben, das zu bedauern, dachte er mit leiser Rachsucht, ein Gefühl, das er sich genehmigte, weil er spürte, daß es ihm half. Paul war ein anderes Problem. Er war der Verführer und Betrüger, den man früher zum Duell herausgefordert und erschossen hätte. Jetzt hatten Leute wie er einen Freibrief für ihr Treiben, denn die Gesellschaft hatte sich moralisch aus diesen Bereichen des Lebens zurückgezogen und sie der Willkür und der allgemeinen Unordnung überlassen. Jeder durfte jeden tödlich verletzen, wenn es nicht gerade mit dem Messer oder Pistole geschah. (Dieter Wellershoff: Der Liebeswunsch, S. 230)


Wellershoff, Dieter: Der Liebeswunsch [4]

  Es war ein ruhiger Sommerabend. Die Hitze hatte nachgelassen, und das Licht war weicher und ungefährer geworden und ließ die Konturen der Landschaft in der dunstigen Ferne verschwimmen. Am immer noch hellblauen Himmel stand zwischen den abendlich angeleuchteten Wolken unauffällig und blaß der früh aufgegangene Mond. Er war nicht mehr als ein bescheidener milchiger Fleck, den sie eher zufällig zwischen den Abendwolken entdeckte. Wie ein zu früh gekommender Gast hielt er sich zurück und kündigte doch, wenn man ihn erst bemerkt hatte, das nahende Ende des laufenden Schauspiels an. Unsichtbar für sie ging hinter dem vom Buchenwald umhüllten Berggipfel die Sonne unter, und langsam, dann immer schneller, erlosch der Goldglanz des schräg einfallenden Lichtes, der in der letzten halben Stunde die Farben des Laubs mit seinem warmen Leuchten übergossen hatte. Der Weidenhang und die nähere Umgebung des Hauses, die schon einige Zeit im Schatten lagen, wurden grau, die Baumkronen verschmolzen miteinander, und Bäume und Sträucher schienen aus der am Boden nistenden Dämmerung immer mehr Schwärze zu saugen. Irgendwann waren die Vogelstimmen verstummt. (Dieter Wellershoff: Der Liebeswunsch, S. 289)


Wellershoff, Dieter: Der Liebeswunsch [5]

  Diese Sturheit oder Lethargie verführte mich zu der Phrase, auch er würde bestimmt noch eines Tages entdecken, daß ein neuer Anfang für ihn gut gewesen sei. Darauf antwortete er: "Halte dich bitte zurück mit Meinungen darüber, was für mich gut wäre." Ich glaubte, Leonhard sprechen zu hören, als er das sagte. Wahrscheinlich war diese gestelzte Ausdrucksweise, die für Paul überhaupt nicht typisch war, ein männliches Stereotyp: der Versuch, in bedrängenden Situationen eine würdige Haltung zu zeigen. (Dieter Wellershoff: Der Liebeswunsch, S. 310)


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