Allgemeine Fundstücke  / [W3]


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Winter, Leon de: Nur weg hier!

  "Schon als Kind habe ich die Dinge durchschaut", sagte Peter. "Niemals konnte ich sorglos auf einer Wiese Fußball oder Versteck spielen. Das Bewußtsein, daß es Gebote gab, die ich entweder einhielt oder übertrat, nahm mir selbst als Kind den ganzen Spaß. Wenn ich etwas beginnen wollte, wurde ich schon völlig mutlos bei dem Gedanken, daß ich damit bald wieder würde aufhören müssen, so daß ich lieber gar nicht erst anfing und alles ließ, wie es war. Die Gebote und Verbote, die mich umgaben, setzten unerbittliche Grenzen. Daher kommt es auch, daß ich mich nie bei meinen Eltern geborgen fühlte, im Gegenteil, ich hatte immer das Bedürfnis, sie zu beschützen, weil sie dem Ende bereits so viel näher standen. Ihre unwissende Hilflosigkeit hat mich immer gerührt und zugleich bestürzt. Wie war es möglich, daß ich so viel mehr wußte als sie?" (Leon de Winter: Nur weg hier! S. 65)


Wodehouse, P.G.: Schloß Blandings im Sturm... [1]

  Ein junger Mann trat ein, der zwar außergewöhnlich groß war, dem es aber an den breiten Schultern und an der Stabilität des Körperbaus mangelte, die Größe eindrucksvoll machen. Die Natur, die Horace Davenport in die Länge gezogen hatte, hatte vergessen, ihn in die Breite zu ziehen, und - wären sie sich begegnet - könnte man sich vorstellen, wie Euklid verstohlen einen Freund angestoßen hätte: "Schau jetzt nicht hin, aber dieser Mensch, der da gerade kommt, demonstriert genau, was ich dir über die gerade Linie gesagt habe: Länge ohne Breite." (Pelham G. Wodehouse: Schloß Blandings im Sturm der Gefühle, S. 7f.)


Wodehouse, P.G.: Schloß Blandings im Sturm... [2]

  Für Pongo Twistleton, dessen Vorstellung von einem Privatdetektiv aus einem falkengesichtigen Mann mit hellwachen, stechenden Augen und dem allgemeinen Gehabe eines Leoparden bestand, war Claude Pott eine vollkommene Überraschung. Falken haben kein Kinn. Claude Pott hatte gleich zwei. Leoparden schleichen. Claude Pott watschelte. Seine Augen waren weit davon entfernt, hellwach und stechend zu sein - wie es so oft bei jenen der Fall ist, die durchs Leben gehen und versuchen, ihre Gedanken vor der Welt zu verbergen - mit einer Art Film oder glasigen Schicht bedeckt zu sein. (Pelham G. Wodehouse: Schloß Blandings im Sturm der Gefühle, S. 11)


Wodehouse, P.G.: Schloß Blandings im Sturm... [3]

  Der neunte Earl von Emsworth war ein Mann, der in Zeiten der Anspannung stets dazu neigte, auszusehen wie der ehrwürdige alte Vater im altmodischen Meldodram, wenn er erfährt, daß der Bösewicht die Hypothek nicht verlängern will. In diesem Moment war sein Gesichtsausdruck derart aufgelöst, als hätte ihm jemand die Mehrzahl seiner inneren Organe entfernt. Genauso sehen ausgestopfte Papageien aus, wenn die Sägespäne herauszurieseln beginnen. Der Kneifer saß schief auf der Nase, und der Kragen hatte sich vom Kragenkopf gelöst. (Pelham G. Wodehouse: Schloß Blandings im Sturm der Gefühle, S. 73)


Wodehouse, P.G.: Bertie in wilder Erwartung [1]

  "Dieser Bursche da, der alte Stoker, macht mich nervös. Im allgemeinen ist er ganz freundlich, aber ich werde das Gefühl nicht los, er könnte jeden Moment einen Koller bekommen und alles kurz und klein schlagen. Sag mal, gibt es bei ihm spezielle Themen, die man besser vermeidet?" "Was meinst du mit speziellen Themen?" "Ach, du weißt doch, wie das mit Leuten ist, die man nicht kennt. Da sagst du, was für'n schöner Tag ist das heute, und da sitzt einer, der wird kreidebleich und knirscht mit den Zähnen, weil du ihn gerade daran erinnert hast, was für'n schöner Tag das war, als seine Frau mit dem Chauffeur abgehauen ist." (Pelham G. Wodehouse: Bertie in wilder Erwartung, S. 36)


Wodehouse, P.G.: Bertie in wilder Erwartung [2]

  Ich bin ein Mensch, der in Gesichtern lesen kann, und das von Chuffy sprach Bände. Nicht nur glich sein Gesichtsausdruck, als von Pauline die Rede war, dem eines ausgestopften Frosches, der vor seinem Ableben noch eine himmlische Vision gehabt haben mußte, nein, auch seine Wangen waren in schönstem Karmin eingefärbt. Die Spitze seiner Nase hatte gebebt, und seine ganze Verlegenheit kam in seiner linkischen Haltung zum Ausdruck. Dies alles zusammen brachte mich zu der Erkenntnis, daß Gott Amor den alten Schulkameraden kräftig am Schlafittchen gepackt hatte. Schnelle Arbeit, wenn man bedenkt, daß Chuffy den geliebten Gegenstand erst seit wenigen Tagen kannte. Aber so ist Chuffy. Ein Heißblut, das mit Ungestüm jähen Regungen folgt. Zeigen Sie ihm ein Mädchen, und er macht alles übrige. (Pelham G. Wodehouse: Bertie in wilder Erwartung, S. 37)


Wodehouse, P.G.: Ein Goldjunge [1]

  Das Bild, das derartige Gefühlsäußerungen bei ihr hervorrief, mochte den unvoreingenommenen Betrachter kaum in gleichen Maße beeindrucken. Es könnte sein, daß er es als Dilettantenarbeit betrachtet hätte; gleichviel, hier war ein ziemlich wüster Bengel von zirka elf Jahren abgebildet, der irgendwie erbost und unendlich gelangweilt dreinschaute. Ein fetter, feister Knabe war hier konterfeit, das genaue Ebenbild dessen, was er in Wirklichkeit war: das verzogene Söhnchen von Eltern, die an ihrem viel zu großen Vermögen Schaden genommen hatten. (Pelham G. Wodehouse: Ein Goldjunge, S. 8)


Wodehouse, P.G.: Ein Goldjunge [2]

  Es gibt Situationen im Leben, die so unerwartet, so kritisch sind, daß wir alle übereinstimmen, ein Auge zuzudrücken und unsere Meinung über denjenigen, der davon betroffen ist, deswegen nicht gleich zu ändern. Wir weigern uns zuzulassen, daß das Verhalten des Opfers in solch auftreibenden Situationen schwerwiegende Änderungen in der Wertschätzung der Person hervorrufen könnte. Wir erlauben dem Feldherrn großzügig, daß er beim Zusammentreffen mit einem wildgewordenen Stier einfach flüchtet, ohne daß er den Ruf hervorragenden Mutes verwirkt. Ein Bischof, der im Winter auf ein tückisches Glatteis gerät und die Passanten unfreiwillig mit einem flotten Boogie-Woogie unterhält, hat nach Beendigung der Vorstellung nichts von seiner Würde verloren. (Pelham G. Wodehouse: Ein Goldjunge, S. 25)


Wodehouse, P.G.: Ein Goldjunge [3]

  "Und du liebst ihn sehr?" "Ich mag ihn. Peter ist harmlos." "Du überschlägst dich ja nicht gerade vor Begeisterung." "Oh, wir werden schon miteinander auskommen. Dir muß ich ja Gott sei Dank nichts vormachen, Nesta.... übrigens auch ein Grund, weshalb ich dich so schätze. Du kennst meine Situation. Ich muß jemanden heiraten, der reich ist, und Peter ist der netteste reiche Mann, den ich jemals kennengelernt habe. Er ist wirklich erstaunlich selbstlos. Ich kann das gar nicht verstehen. Bei seinem vielen Geld müßte man eigentlich erwarten, daß er ein Scheusal ist." (Pelham G. Wodehouse: Ein Goldjunge, S. 37)


Wodehouse, P.G.: Der unvergleichliche Jeeves [1]

  Ich wollte ihm schon nahelegen, die ganze Sache abzublasen und auf den Rest des Unternehmens zu verzichten, als ein Foxterrier um die Ecke schoß und Bingo anfing, wie Espenlaub zu zittern. Gleich darauf sprang ein kleiner Junge in unser Blickfeld, und Bingo wackelte wie Sülze. Schließlich erschien auch das Mädchen, wie ein Start, dessen Auftritt schon durch das gesamte Ensemble vorbereitet worden ist. Bingos Erregung tat einem in der Seele weh. Sein Gesicht war mittlerweile hochrot, und mit seinem weißen Kragen und der vor Kälte blau anbelaufenen Nase erinnerte er fatal an die französische Trikolore. Von der Hüfte aufwärts sackte er zusammen, als hätte man ihn filetiert. (Pelham G. Wodehouse: Der unvergleichliche Jeeves, S. 182)


Wodehouse, P.G.: Der unvergleichliche Jeeves [2]

  Ich weiß nicht, ob Sie Gelegenheit hatten, meinen Onkel George kennenzulernen. Er ist ein geselliger alter Herr, der von Club zu Club wandert und sich pausenlos mit anderen geselligen alten Herrn ein paar hinter die Binde gießt. Wenn er in Sicht kommt, stehen die Kellner stramm, und der Kellermeister spielt schon mit dem Korkenzieher. Es war mein Onkel George, der entdeckte, daß Alkohol Nahrung ist, lange bevor die moderne Medizin das herausfand. (Pelham G. Wodehouse: Der unvergleichliche Jeeves, S. 214)


Wodehouse, P.G.: Onkel Dynamit [1]

  "Du wirst doch nett sein zu Reginald, Liebling, nicht wahr?" "Ich bin immer nett." "Ich wünsche nicht, daß er sich bei Hermione beklagt, er sei abweisend behandelt worden. Du weißt doch, wie sie ist." Ein nachdenkliches Schweigen trat ein, als die beiden sich vergegenwärtigen, wie Hermione war. Lady Bostock beendete die Stille mit einer hoffnungsfrohen Bemerkung. "Vielleicht werdet ihr ja die dicksten Freunde." "Pah!" "Hermione behauptet, er sei reizend." "Bestimmt ist er eine dieser kichernden jungen Pestbeulen mit Pomade im Haar", sagte Sir Aylmer mißmutig und wollte weder den Silberstreif am Horizont noch die schöneren Seiten des Daseins erkennen. "Es ist schon schlimm genug, einen William im Haus zu haben. Kommt noch ein Reginald dazu, wird das Leben endgültig zur Hölle." (P.G. Wodehouse: Onkel Dynamit, S. 37)


Wodehouse, P.G.: Onkel Dynamit [2]

  Wer in einem Landhaus vorstellig wird, in dem man ihn nicht kennt, und den Butler um Einlaß bittet, um die Räumlichkeit nach Fotografien des Gutsherren-Neffen zu durchforsten, dem wird dieser Butler normalerweise eher unterkühlt gegenübertreten, und Coggy, der Majordomus von Ickenham Hall, war noch unterkühlter als der Durchschnitt gewesen. Er war ein großer, stämmiger Mann mit einem Mondgesicht und dem Blick eines Dorsches, und während der gesamten Prozedur hatte er mit diesem Blick Sir Aylmer fixiert, als schaue er ihm tief in die Seele. Wem aber schon einmal ein Dorsch tief in die Seele geschaut hat, der wird bestätigen können, wie ausgesprochen unangenehm eine solche Erfahrung ist. Die Botschaft in jenem Blick ließ sich unschwer entziffern. Zwar hatte Coggs Sir Aylmer nicht explizit unterstellt, es auf das Tafelsilber abgesehen zu haben, doch eigentlich hätte er diesen Vorwurf auch gleich aussprechen können. Mit eiskalter Stimme sagte er: Nein, Sir, leider kann ich Ihrem Wunsch nicht entsprechen, Sir, und beendete daraufhin das Gespräch, indem er einen Schritt zurücktrat und dem Besucher energisch die Tür vor der Nase zuschlug. Und wenn wir energisch sagen, dann meinen wir mit einem Knall, der den Schnurrbart des Besuchers beinahe aus seinen Grundfesten riß. (P.G. Wodehouse: Onkel Dynamit, S. 112)


Wodehouse, P.G.: Onkel Dynamit [3]

  Noch das trübste Auge hätte, wäre ihm das Privileg zuteil geworden, die Erscheinung dieser jungen Frau, die sich in der schlechterdings unglaublichen Pracht ihres neuen Hutes, ihres besten Kleides und ihrer mit größter Sorgfalt ausgewählten Schuhe, Handschuhe und Strümpfe präsentierte, in aller Ruhe zu studieren, erkennen können, daß sie in hohem Maße über das gewissen Etwas verfügte. Mochte ihr Vater auch wie ein Walroß und ihre Mutter wie eines der Wesen aussehen, die um halb drei beim Rennen in Catterick Bridge mit hundert zu acht an den Start gehen: Die hochgewachsene, dunkelhaarige Hermione mit ihren großen Augen, dem perfekten Profil und der ebenso perfekten Figur wäre jedem orientalischen Potentaten als Traumkandidatin für seinen Harem erschienen. (P.G. Wodehouse: Onkel Dynamit, S. 209)


Wodehouse, P.G.: Onkel Dynamit [4]

  Angesichts der gelockerten Sitten passiert es jungen Frauen von aufreizender Schönheit heutzutage ziemlich häufig, daß Hüte ziehende Unbekannte männlichens Geschlechts auf sie zukommen. Wenn Hermione Bostock solches widerfuhr, neigte sie zur Schroffheit, so daß der Vertreter der anderen Seite meist mit dem Gefühl davontaumelte, bei einer Wildkatze Anstoß erregt zu haben. (P.G. Wodehouse: Onkel Dynamit, S. 255)


Wodehouse, P.G.: Jetzt oder nie

  "Sie gehört zu jenen Frauen, die immer auf den Schwächeren herumreiten müssen. Auf gar keinen Fall darf man zulassen, daß sie über einem steht. Man muß sie unter der Knute halten. Genau das habe getan, seit ich vor einem Jahr hier einzog. Gott sei Dank habe ich gekräuselte Lippen und einen gebieterischen Blick. Obschon mir auch das nicht viel nützen würde, wenn Mabel nicht glaubte, ich hätte ein schwaches Herz und Geld in Hülle und Fülle und könnte schon im nächsten Moment den Löffel abgeben und ihr meine Millionen hinterlassen." "Diese Frau ist ja eine wahre Schauergestalt." "Nein, nein. Sie ist ganz in Ordnung, sofern man in der Lage ist, auf ihr herumzutrampeln. (Pelham G. Wodehouse: Jetzt oder nie, S. 122)


Wodehouse, P.G.: Monty im Glück

  Rotes Haar und Sanftmut vertragen sich schlecht, und Lottie Blossoms Spezialität war eindeutig ersteres. Die Szene begann und endete auf dem Oberdeck, und der interessierte Zuhörer, der mit einem zweiten interessierten Zuhörer zwei Dollar darauf wettete, daß Ambrose es nicht schaffen würde, innerhalb von zehn Minuten - gemäß Wanduhr im Rauchsalon - ein einziges Wort einzuwerfen, hätte um ein Haar gewonnen. Ihre Lehrzeit auf den Brettern der Musicalbühnen und die anschließenden Wanderjahre in den Hollywood-Studios hatten Miss Blossom beigebracht, möglichst von Beginn weg, möglichst schnell und möglichst pausenlos zu reden. Als sie ihre Meinung endlich losgeworden war, zeugte nur noch ein Scherbenhaufen von dem einst so robusten und vielverprechenden Verlöbnis. (P.G. Wodehouse: Monty im Glück)


Wodehouse, P.G.: Der Pennymillionär [1]

  Kein Mensch hatte mehr für Onkel Cutberth übrig als ich, aber jeder weiß, daß er, soweit es um Geld ging, der vollkommenste Dummkopf in den Annalen der Nation war. Er besaß einen kostspieligen Durst; er setzte nie auf ein Pferd, das nicht mitten im Rennen weiche Knie kriegte, und er hatte ein System, die Bank von Monte Carlo zu sprengen, das die Verwaltung gewöhnlich veranlaßte, die Fahnen hinauszuhängen und die Freudenglocken zu läuten, sobald er gesichtet wurde. (Pelham G. Wodehouse: Der Pennymillionär. Lustige Geschichten)


Wodehouse, P.G.: Der Pennymillionär [2]

  Miss Pillinger war eine vorsichtige alte Jungfer mit strengen Ansichten, unbestimmten Alters und von tiefverwurzeltem Mißtrauen gegenüber den Männern - einem Mißtrauen, das zu beseitigen die Männer nichts unternommen hatten; auch das muß an dieser Stelle gesagt werden, um einem verkümmerten Geschlecht Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Im Umgang mit Miss Pillenger hatten die Männer sich in ihrer Korrektheit beinahe kühl benommen. In den zwanzig Jahren ihrer Erfahrung als Stenotypistin und Sekretärin hatte sie ihre Arbeitgeber höchstens wegen einer Schachtel Pralinen mit Zorn und Empörung zurückzuweisen brauchen. Trotzdem bleib sie weiterhin gespannt auf der Hut. Die geballte Faust ihrer Wohlanständigkeit lag immer dicht an ihrem Körper, bereit, dem ersten männlichen Wesen entgegenzufliegen, das die Grenzen beruflicher Höflichkeit überschritt. (Pelham G. Wodehouse: Der Pennymillionär. Lustige Geschichten)


Wodehouse, P.G.: Sommerliches Schloßgewitter

  Wenn dem Durchschnittsmenschen eine Katastrophe zustößt, dann trifft sie ihn nicht unvorbereitet. Wie oft hat er schließlich in all den Jahren den Acht-Uhr-fünfundvierzig verpaßt, den Hund bei Wind und Wetter Gassi führen müssen, sich mit qualmenden Kaminen abgequält und beim Frühstück ein übers andere Mal festgestellt, daß die Spiegeleier schon wieder angebrannt waren! Das alles hat seine Seele widerstandsfähig gemacht, und wenn deshalb die Verwandten seiner Frau für einen längeren Besuch eintreffen, ist er gewappnet. (Pelham G. Wodehouse: Sommerliches Schloßgewitter)


Woelk, Ulrich: Freigang

  Schwester Leonie: der angehängte Name hat üblicherweise die Funktion, die verschiedenen Mitglieder des Pflegepersonals auseinanderzuhalten. Nummern würden es auch tun; reine Gewohnheit, Lebendiges durch Namen zu unterscheiden. Dann der weiße Kittel; Berufsbekleidungseffekt, die Individualität verschwindet. Immerhin geht es ihr nicht genau darum, für ein paar Stunden nicht Individuum, nicht verantwortlich sein zu müssen; das Soldatische fehlt ihr, was mich freut. Es ging nicht soweit, daß ich sagen könnte, sie war nicht im Dienst. Sie war es. Sie verheilt sich in allen Situationen, wie es von einer Schwester zu erwarten ist, durch Praxis geschult. (Ulrich Woelk: Freigang, S. 19)


Wolf, Christa: Till Eulenspiegel

  Der Junker mustert seinen Gast erstaunt. Er winkt dem Diener einzugießen und befiehlt Till: Trink! Till trinkt seinen großen Humpen auf einen Zug leer; der Diener füllt ihn aus einer anderen Kanne nach. Auch diesen Humpen trinkt Till sofort aus. Dann kommt der Wein aus der dritten Kanne. Till kostet, setzt ab und bemerkt: Der Wein ist gut. Warum sagst du das jetzt? will der Junker wissen. Du trinkst schon den dritten Wein. Die beiden anderen lobten sich selbst, erklärt Till. Dieser hier hat's nicht nötig, daß man ihn lobt. (Christa Wolf: Till Eulenspiegel, in: Erzählungen 1960-1980, S. 186)


Wolf, Christa: Kindheitsmuster [1]

  Da kommt ja auch Schneidermeister Bornow über den Sonnenplatz. Die neuen Häuser sind wie weggeblasen, dafür die alte unkrautbewachsene Einöde, Trampelpfade, Sandkuten. Kinder und Betrunkene haben einen Schutzengel. Schneidermeister Bornow fällt nicht hin. Er verliert auch seine schwarze Schirmmütze mit der Kordel nicht. Über dem Platz ist ein Gesang, der entweicht Schneidermeister Bornow. Durchaus falsch wäre es zu sagen, Schneidermeister Bornow singt. Denn auf seinem Schneidertisch und auch sonst im Familienkreis singt er niemals, das wäre nicht vorstellbar, Nellys Freunding Lieselotte Bornow gibt es widerwillig zu. König Alkohol ist es, der ihn singen macht, und zum Gespött der Menschheit, sagt die Mutter. Nelly hat ihre eigene Vorstellung. Jeden Sonnabend, denkt sie, wartet der Gesang unten an der Chausee vor der Eckkneipe auf den Schneidermeister, um sich auf ihm, nur auf ihm, niederzulassen, sobald er aus der Tür heraustritt - ein großer, schwerer Vogel, dessen Last Herrn Bornow torkeln und schwanken macht und immer ein und dasselbe Lied aus ihm herauspreßt: "Du kannst nicht treu sein, nein nein, das kannst du nicht, wenn auch dein Mund mir wahre Liebe verspricht." Eine Klage, die Nelly zu Herzen geht und dieses Lied für immer unter die tragischen Gesänge einreiht. Die Sonne schien auf Herrn Bornow, weißt du noch, und er begann laut zu reden und zu schimpfen, und Lieselotte Bornow kam aus Nummer 6 gerannt, mit ihren dünnen, steif abstehenden Zöpfen, und zog ihren Vater am Ärmel ins Haus, ohne die Freundin eines Blickes gewürdigt zu haben. "In deinem Herzen, da ist für viele Platz", sang Lieselottes Vater, und die Trauer, die ihn pünktlich jeden Sonnabendnachmittag ins Wanken brachte, zog sich auch über Nelly zusammen. (Christa Wolf: Kindheitsmuster, Reclam, S. 22/23)


Wolf, Christa: Kindheitsmuster [2]

  Die Hexe fängt nun an - nachdem sie unter heftigem Mäkeln alles in sich hineingestopft hat, was Onkel Heinrich ihr auf den Teller gelegt -, sich zu winden und zu krümmen, zu stöhnen und sich den Leib zu reiben, bis sie zu ihrer eigenen Erleichterung und zu Nelly Pein, eine nicht enden wollende Reihe von unanständigen Tönen von sich geben muß. Hexen haben kein Gefühl dafür, was peinlich ist, so daß sie es fertigbringen, mit falscher Stimme ein zufällig anwesendes Kind zu fragen: Na, und das Fräuleinchen? Ekelt es sich auch schön vor mir? - Aber nein doch, aber gar kein bißchen, eigentlich sogar im Gegenteil (Aussagen, die zu einer Unterabteilung der erlaubten Notlügen gehörten, zu den Mitleidslügen, die man gegen alles Mißgestaltete zu richten hat). Doch Hexen, die niemals zu lügen gezwungen sind, weil sie von Berufs wegen unverschämt sein müssen, nehmen Lügen unerbittlich für bare Münze (das ist der zweite Punkt, an dem man sie von Menschen unterscheiden kann) und fangen also an, einem mit ihrer runzligen, gekrümmten Hand endlos die Wangen zu tätscheln. Eine Hand, an der Nelly zu ihrem unaussprechlichen Verdruß Tante Emmys in Gold gefaßte Perle erblicken muß. Die Hexe, die sich nach dem Gesetz ihrer Gattung erst zufrieden gibt, wenn sie die Leute um sich herum zu Zerrbildern ihrer selbst gemacht hat, verschafft sich einen von übertriebenen Danksagungen strotzenden Abgang. Sie wünscht noch allen Anwesenden ein langes Leben, weil die Hinterbliebenen beim Tod eines Angehörigen immer zuerst an ihre Trauerkleider dächten, was sie später nicht sich selbst, sondern dem Verstorbenen übelnähmen. Aber so sind die Menschen, und wie sie sind, müssen sie auch verbraucht werden. (Christa Wolf: Kindheitsmuster, Reclam, S. 78/79)


Wolf, Christa: Nachdenken über Christa T.

  Sie hat, jetzt spreche ich von Christa T., nichts inniger herbeigewünscht als unsere Welt, und sie hat genau die Art Phantasie gehabt, die man braucht, sie wirklich zu erfassen - denn was man auch sagen mag, mir graut vor der neuen Welt der Phantasielosen. Der Tatsachenmenschen. Der Hopp-Hopp-Menschen, so hat sie sie genannt. Und sich ihnen, in ihren finsteren Stunden, tief unterlegen gefühlt. (Christa Wolf: Nachdenken über Christa T., S. 60)


Wolf, Christa: Nachdenken über Christa T. [2]

  Sie sind so blaß, sagte die Dame Schmidt, als sie am Abend nach der Versammlung nach Hause kommt, krank werden Sie mir doch nicht werden? Die Dame Schmidt sieht empfindsame Filme sehr gerne, aber seelische Schmerzen in der Wirklichkeit sind ihr ein Greuel. Was also, wenn die eigene Untermieterin in ihrem Zimmer hockt und nicht ißt und nicht trinkt? (Christa Wolf: Nachdenken über Christa T., S. 81)


Wolf, Christa: Nachdenken über Christa T. [3]

  Was braucht die Welt zu ihrer Vollkommenheit? Das und nichts anderes war ihre Frage, die sie in sich verschloß, tiefer noch aber die anmaßende Hoffnung, sie, sie selbst, Christa T., wie sie war, könnte der Welt zu ihrer Vollkommenheit nötig sein. Nichts Geringeres hat sie zum Leben gebraucht, der Anspruch ist allerdings gewagt und die Gefahr, sich zu überanstrengen, groß. (Christa Wolf: Nachdenken über Christa T., S. 62)


Wolf, Christa: Nachdenken über Christa T. [4]

  Doch schon der nächste Schlag - wie wenig wüßtest Du es, genügt, für mich ein Schlag zu sein! - kann mich endgültig an den Strand werfen. Aus eigener Kraft finde ich dann nicht mehr zurück. Ein Leben mit anderen Gestrandeten würde ich nicht führen, das ist das einzige, was ich sicher weiß. Ehrenvoller, ehrlicher ist immer noch der andere Weg. Auch stärker. Bloß den anderen nicht zur Last fallen, die weitergehen werden, die recht haben, weil sie stärker sind, die sich nicht umblicken können, denn sie haben keine Zeit. (Christa Wolf: Nachdenken über Christa T., S. 84)


Wolf, Christa: Kein Ort. Nirgends [1]

  Sie hat das Unglück, leidenschaftlich und stolz zu sein, also verkannt zu werden. So hält sie sich zurück, an Zügeln, die ins Fleisch schneiden. Das geht ja, man lebt. Gefährlich wird es, wenn sie sich hinreißen ließe, die Zügel zu lockern, loszugehn, und wenn sie dann, in heftigstem Lauf, gegen jenen Widerstand stieße, den die andern Wirklichkeit nennen und von dem sie sich, man wird es ihr vorwerfen, nicht den rechten Begriff macht. (Christa Wolf: Kein Ort. Nirgends, S. 11)


Wolf, Christa: Kein Ort. Nirgends [2]

  Was mich betrifft: Ich gäbe mein Alles dafür, wenn ich in ein, zwei Jahrhunderten noch einmal auf dieser Welt leben und an den paradiesischen Zuständigkeiten teilhaben dürfte, welche die Menschheit - dank der Entfaltung der Wissenschaften! - dann genießt. Diesem Denken liegt ein Fehler zugrunde, aber es ist noch zu früh, ihn zu benennen. Sie gehn nicht vom Zusammenhang der Dinge aus, sagt Kleist, sondern von einzelnen Disziplinen. Soll ich denn alle meine Fähigkeiten, alle meine Kräfte, dieses ganze Leben nur dazu anwenden, eine Insektengattung kennenzulernen, oder einer Pflanze ihren Platz in der Reihe der Dinge anzuweisen? Muß die Menschheit durch diese Einöde, um ins Gelobte Land zu kommen? Ich kann's nicht glauben. Ach, wie traurig ist diese zyklopische Einseitigkeit. (Christa Wolf: Kein Ort. Nirgends, S. 100/01)


Wolf, Christa: Kein Ort. Nirgends [3]

  Kleist, stark erregt durch das Gespräch - wie schnell sein Gleichmut zusammenbricht! -, sagt dem Hofrat; indem er sich mit beiden Fäusten gegen den Schädel hämmert: Ja, ja, ja! Mag sein, daß der Fehler hier drinnen steckt. Daß die Natur grausam genug war, mein Gehirn falsch anzulegen, so daß auf jedem Weg, den mein Geist einschlägt, der Aberwitz ihm entgegengrinst. Wedekind, wenn Sie ein Arzt wären: Öffnen Sie diesen Schädel! Sehn Sie nach, wo der Fehler sitzt. Nehmen Sie Ihr Skalpell und schneiden Sie, ohne zu zittern, die verkehrte Stelle heraus. Es mag ja wahr sein, was ich in den Gesichtern meiner Familie lese: daß ich ein verunglücktes Genie, eine Art Monstrum bin. Doktor, ich flehe Sie an: Operieren Sie das Unglück aus mir heraus. Sie werden keinen dankbareren Geheilten haben als mich. (Christa Wolf: Kein Ort. Nirgends, S. 102/03)


Wolf, Christa: Kein Ort. Nirgends [4]

  Jetzt versteht er plötzlich seine immerwährende Müdigkeit. Ein Vergleich fällt ihm ein: Eine Maschine, die auf höchste Touren gebracht und zugleich gebremst wird. Der Verschleiß muß erheblich sein, sogar berechenbar. Es ist, sagt er, höchst merkwürdig, wie man einer Denkart, die man für verkehrt erkannt, doch immer wieder unterliegt und die Gewalt nicht aufbringt, den Karren aus der gewohnten Bahn zu reißen, Manchmal komme eine äußere Erschütterung dem festgefahrenden Kopf zu Hilfe. (Christa Wolf: Kein Ort. Nirgends, S. 112)


Wolf, Christa: Briefe an Brigitte Reimann

  Unser Kater Maximilian liegt auf einem Stuhl zu meinen Füßen, schlafend, und zeigt durch seine Haltung (er schützt weder Bauch noch Kehle), daß er von niemandem sich eines Bösen versieht, Gerd hat ihn eben am Kopf gestreichelt und gesagt: Na Maxel, dir geht's vielleicht gut, du wirst nicht kritisiert, aber dafür schreibst du ja auch keine Bücher, wie wär's denn, mach uns doch mal ein Katzenbuch. (Christa Wolf, in: Reimann/Wolf: Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen. 1964-1973)


Wolf, Christa: Briefe an Brigitte Reimann [2]

  Tinka ist, vom Laienstandpunkt aus, genesen. Morgen wird an ihrem kostbaren Blute noch ein Lebertest gemacht. Jetzt liegt sie mit dem Kater Max auf dem Bauch auf meiner Ottomane und liest. Leider frißt Kater Max unsere guten gelben Wolldecken, er scheint ein bißchen pervers zu sein. Tinka spielt Tag und Nacht mit Vater ein neu erworbenes Tisch-Fußballspiel, und wenn Vater zu viele Tore schießt und sich unverhohlen darüber freut, bricht sie in Tränen aus. - Annette hat uns heute zwanzig Halbstarke ins Haus gelockt und spielt ihnen - auf Platte - das "kleine Mahagonny" vor. Übrigens hat sie heute ihre Zulassung zum Psychologie- Studium gekriegt. Vater knabbert am Hölderlin. So hat jeder seins. (Christa Wolf, in: Reimann/Wolf: Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen. 1964-1973)


Wolf, Christa: Erzählungen 1960-1980 [1]

  Nicht nur der Himmel des ersten Morgens, alles in dieser grünen, lebenskräftigen Stadt schien ihnen günstig. Fiel Regen, wusch er ihnen die Straßen blank, schien die Sonne, trocknete sie ihre Wege. Die Vögel in den Alleen und Parks sangen für sie, ihnen galt das Lachen der Menschen und ihre Lieder. Die Erde war rund und umgab sich mit einem leichten Schmelz der Vollkommenheit, jenem Hauch, den nur die Glücklichen spüren und der ihnen das unbeschreibliche Gefühl gibt, unverletzlich zu sein. (Christa Wolf: Erzählungen 1960-1980)


Wolf, Christa: Erzählungen 1960-1980 [2]

  Niemand, der weiß, daß mein Professor mit dem totalen Menschenglück befaßt ist, kann sich über seine oft so gequälte Miene wundern oder über die bedauerliche Tatsache, daß neuere klinische Untersuchungen ein Geschwür an seinem Magenausgang auf die Röntgenplatte bannten, die mein Professor nicht ganz ohne Stolz, indem er sie gegen das grüne Licht seiner Arbeitslampe hielt, seinem Freund Dr. Fettback vorführte. Wir hatten die Freude, Herrn Dr. Fettback dieses Geschwür "klassisch" nennen zu hören und aus berufenem Mund den gesundheitsschädigenden Charakter unserer Arbeit bestätigt zu bekommen. Natürlich schlafe er auch schlecht, mein Professor? - Fast gar nicht, erwiderte der bescheiden. (Christa Wolf: Erzählungen 1960-1980)


Wolfe, Thomas: Schau heimwärts, Engel

  Die Schirmherrin sämtlicher Künste, insbesondere aber der Musik, dieser Himmelstochter, Mrs Franz Wilhelm Von Zeck, Gattin des berühmten Lungenspezialisten und Entdeckers des "Von-Zeck-Serums", segelte aus dem Modegeschäft von Mr Louis Rosalsky und wurde vom Inhaber galant zu den weichen Polstern ihres Cadillacs geleitet. Wohlwollend, aber hoheitsvoll lächelte sie auf ihn herab: Das weiße Pergament seines harten polnischen Gesichts wurde durchbrochen von einem Grinsen voll peinlicher Unterwürfigkeit, das sich bis zu den Flügeln seiner riesigen gelbgrauen Nase hinzog. Frau Von Zeck senkte ihr mächtiges Doppelkinn auf den wuchtigen Sims ihrer wagnerianischen Brüste und wurde, indes sie sich schläfrigen Blicks in Phantasien künftiger Menschheitsbeglückungen erging, gemach vom treu ergebenen Geschäftsmann hinwegkutschiert. (Thomas Wolfe: Schau heimwärts, Engel)


Wondratschek, Wolf: Mozarts Friseur [1]

  Sie ist natürlich - was sonst? - Künstlerin, ein von unerfüllten Wünschen zerschrammtes Wesen, das in einem Überlebenskampf erstarrt scheint, und das mit einer Ausdauer, die nur noch alter Adel aus dem Hut zaubern kann. Die Bilder, die sie malt, sind vor allem eines: bunt! Ich bin sicher, in jedem Krankenhaus liegen welche, die sich so etwas in ihrem Kummer gern zur Aufheiterung anschauen würden; ich meine, immer noch besser, als zwischen Schnittblumen abkratzen zu müssen, die schon im Zimmer aussehen wie Friedhofsschmuck. Was aus harmlos hingepinselten Bildchen aber noch lange keine Kunstwerke macht! Sie aber träumt davon, damit partout die New Yorker Kunstszene aufmischen zu wollen, hat immer, für alle Fälle, einen Katalog ihrer Arbeiten in der Tasche, Pläne für den endgültigen, und zwar total internationalen Durchbruch im Kopf und ein, wie sie behauptet, angeborenes Bedürfnis, Champagner trinken zu müssen, das erste Glas spätestens nach dem Frühstück. Ein Luxus, stöhnt sie, und das bei meinem Kontostand. Was soll nur aus mir werden? (Wolf Wondratschek: Mozarts Friseur, S. 44)


Wondratschek, Wolf: Mozarts Friseur [2]

  Ist das Leben nicht grauenhaft? Der Friseur bekundet Respekt für die Frage, bleibt eine Antwort aber schuldig. Außerdem kann er nicht sprechen. Eine ihrer Locken, die sich um einen seiner Finger gewickelt hat, löst bei ihm gerade eine Art Geistesabwesenheit aus, wie sie Opiumraucher beschrieben haben. Was alle für Höflichkeit halten, ist in diesem Moment nichts weiter als völliger Stillstand von Interessen. Ein komfortabler Zustand, der nie lange anhält; zwei, drei Minuten. Dann spürt er wieder, daß er Schuhe trägt, der überdeutliche Hinweis auf Lebendgewicht. Es ist grauenhaft, glaub ' mir. Übrigens, was mir gerade einfällt, weil du mich zwingst, andauernd in den Spiegel da vor mir starren zu müssen. Kennst du nicht jemanden, der Pässe fälscht? Ich meine, mein inzwischen ziemlich ranziges Geburtsdatum müßte mal runderneuert werden. Ein Jährchen oder zwei weniger, dafür kommt man doch wohl nicht gleich ins Gefängnis, oder? Sie kontrolliert ihren Puls, zählt aber aus Desinteresse nicht mit. (Wolf Wondratschek: Mozarts Friseur, S. 48)


Wondratschek, Wolf: Mozarts Friseur [3]

  Niemand hier im Basar hat etwas gegen Übertreibung. Aber ab einem gewissen Alter läßt das Interesse derer nach, die sie damit beeindrucken möchte. Dann wirkt sie hilflos. Das Einfachste ist dann, sie macht etwas mit ihren Haaren. Sie macht mit ihren Haaren täglich etwas, egal was. Haare sind ihr Spielzeug, aber auch eine Waffe. Sie erprobt mit ihnen ihre Unwiderstehlichkeit, der sie mehr und mehr inzwischen allerdings mißtraut. Sie will Beweise, daß sie sich noch verlieben kann - und den Beweis, daß es sich nicht lohnt. Wie groß und leer die Welt ist, wenn sie weint, und wie winzig gleichzeitig im Vergleich zur Stärke ihres Hinterns. Die Proportionen stimmen nicht. Ob herausgeputzt oder heruntergekommen, es bleibt immer zuviel Erdenschwere an ihr haften. Fettblume hat man sie als Kind gerufen. Ein Nachbarjunge hat ihr zum vierzehnten Gebutstag eine Kiste mit Bauchtanzzubehör geschenkt und fand das komisch; und alle haben sie gelacht und sie angeschaut. Sie sackt noch heute in sich zusammen, wenn sie so ein Blick trifft, und sie dann wie etwas, das man zerknüllt hat. Mit so einem Gefühl liegt sie oft nachts im Bett und fühlt sich krank, jedenfalls alles andere als kampfeslustig. Niemand ahnt, wie klein sie dann ist; und das bei ihrer Statur mit dem Volumen einer Traktoristin, was sie zwar robust macht, die Handgriffe in gewissen Stunden aber eben auch unhandlich. (Wolf Wondratschek: Mozarts Friseur, S. 49)


Woolf, Virginia: Blau & Grün

  Wenn ich nur meine Hand auf der Fensterbank ansehe und bedenke, wieviel Wohltuendes ich in ihr gehalten habe, wie sie Seide berührt hat und Tonköpfe und heiße Mauern, wie sie sich flach auf feuchtes Gras gelegt hat oder sonnenverbrannt den Atlantik durch ihre Finger spritzen ließ, Glockenblumen und Narzissen abgerissen, reife Pflaumen gepflückt hat, nicht eine Sekunde lang, seitdem ich geboren bin, aufgehört hat, mir von heiß und kalt, von Feuchtem oder Trockenem zu berichten, so bin ich bestürzt, daß ich diese wunderbare Verbindung von Fleisch und Nerven dazu benutzen soll, den Mißbrauch des Lebens aufzuschreiben. Doch eben das tun wir. Was mich denken läßt, Literatur ist die Chronik unseres Mißvergnügens. (Virginia Woolf: Blau & Grün. Erzählungen, S. 16)


Woolf, Virginia: Die Fahrt hinaus [1]

  Sie wurde natürlich mit übertriebener Fürsorglichkeit aufgezogen, die während ihrer Kindheit ihrer Gesundheit galt, und als sie dann ein junges Mädchen und schließlich eine junge Frau war, dem, wofür das Wort Tugendhaftigkeit fast schon grob erscheint. Bis noch vor ganz kurzer Zeit hatte sie nicht die geringste Ahnung gehabt, daß derartige Dinge für Frauen überhaupt existieren. Sie tastete in alten Büchern nach dem entsprechenden Wissen und fand es in Form abstoßender Brocken, doch eigentlich hatte sie keinen Hang zu Büchern und zerbrach sich folglich nicht groß den Kopf über die Zensur, die erst von ihren Tanten, später dann von ihrem Vater geübt wurde. Freundinnen hätten ihr Dinge erzählen können, doch sie hatte wenige im gleichen Alter - Richmond war unbequem zu erreichen-, und es traf sich, daß das einzige Mädchen, das sie gut kannte, eine religiöse Eiferin war, die die Vertraulichkeit befeuerte, von Gott und den geeignetsten Möglichkeiten zu sprechen, sein Kreuz auf sich zu laden, ein Gesprächsthema, das für jemanden, dessen geistige Entwicklung einen ganz anderen Verlauf nahm, nur von sporadischem Interesse sein konnte. (Virginia Woolf: Die Fahrt hinaus, S. 36)


Woolf, Virginia: Die Fahrt hinaus [2]

  Bisweilen gibt es natürlich Wunderkinder-" Sie schaute sich nach etwas um, und erblickte jetzt ein Glas auf dem Kaminsims, das sie herunterholte und Rachel reichte. "Wenn Sie den Finger in dies Glas stecken, gelingt es Ihnen vielleicht, ein Stück kandierten Ingwer herauszuholen. Sind Sie ein Wunderkind?" Der Ingwer lag jedoch zu weit unten und war nicht zu erreichen. "Das macht nichts", sagte Rachel, als Miss Allan sich nach einem anderen Instrument umsah. "Ich mag wohl sowieso keinen kandierten Ingwer." "Haben Sie nie welchen probiert?" wollte Miss Allan wissen. "Dann würde ich meinen, ist es Ihre Pflicht, das jetzt zu tun. Schließlich könnte es ja Ihr Leben um eine weitere Freude bereichern, und das Sie noch jung sind-" Sie erwog, ob ein Schuhknöpfer in Frage kam. "Ich probiere grundsätzlich alles", sagte sie. "Finden Sie nicht, daß das doch sehr ärgerlich wäre, wenn Sie Ingwer zum erstenmal auf dem Totenbett probieren würden und dann feststellen müßten, daß Ihnen nie im Leben etwas so gut geschmeckt hat? Ich würde mich so ungeheuer ärgern, daß ich vermutlich allein schon deshalb wieder gesund würde." (Virginia Woolf: Die Fahrt hinaus, S. 300)


Woolf, Virginia: Die Fahrt hinaus [3]

  Offensichtlich war das, was geschehen war, nichts Ungewöhnliches; es handelte sich darum, daß sie sich verlobt hatten, um einander zu heiraten. Die Welt, die in der Hauptsache aus dem Hotel und der Villa bestand, zeigte sich alles in allem erfreut darüber, daß zwei Menschen heiraten sollten, und gab ihnen zu verstehen, daß man von ihnen nicht erwartete, daß sie sich an der Arbeit beteiligten, die geleistet werden muß, damit die Welt weiterbestehen kann, sondern daß sie sich für eine gewisse Zeit entfernen durften. (Virginia Woolf: Die Fahrt hinaus, S. 343)


Woolf, Virginia: Die Fahrt hinaus [4]

  Er war allein mit Rachel, und ein schwacher Nachhall der Erleichterung, die sie immer verspürt hatten, wenn sie allein waren, ergriff ihn. Er blickte sie an. Er hatte erwartet, sie in irgendeiner Weise schrecklich verändert vorzufinden, doch sie war es nicht. Sie sah allerdings sehr schmal aus, und soweit er sehen konnte, sehr müde, doch sie war unverändert geblieben. Außerdem sah sie ihn und erkannte ihn. Sie lächelte ihm zu und sagte: "Hallo,Terence." Der Vorhang, der so lange zwischen gehangen hatte, verschwand sofort. "Nun, Rachel", sagte er mit seiner gewohnten Stimme, woraufhin sie die Augen ganz weit aufmachte und ihr vertrautes Lächeln lächelte. Er küßte sie und nahm ihre Hand. "Es war scheußlich ohne dich", sagte er. Sie blickte ihn immer noch lächelnd an, doch schon bald trat ein leichter Ausdruck der Erschöpfung oder der Verblüffung in ihre Augen, und sie schloß sie wieder. (..) Ohne zu wissen, ob er die Worte dachte oder sie laut aussprach, sagte er: "Nie sind zwei Menschen so glücklich gewesen, wie wir es waren. Niemand hat je so geliebt, wie wir geliebt haben. " (Virginia Woolf: Die Fahrt hinaus, S. 415)


Woolf, Virginia: Die Fahrt hinaus [5]

  Das Mittagessen ging methodisch seinen Gang, bis jeder der sieben Gänge nur noch in Fragmenten bestand und das Obst nur noch ein Spielzeug war, das geschält und in Scheiben geschnitten werden wollte, so wie ein Kind Blütenblatt um Blütenblatt ein Gänseblümchen zerstört. Das Essen wirkte sich auf jedwedes Flämmchen des menschlichen Geistes, das die Mittagshitze hätte überleben können, tödlich aus; dennoch saß Susan danach in ihrem Zimmer und hielt sich wieder und wieder die erfreuliche Tatsache vor Augen, daß Mr Venning zu ihr in den Garten gekommen war und eine geschlagene halbe Stunde dabeigesessen hatte, während sie ihrer Tante vorlas. Männer und Frauen suchten sich ihre Winkel, wo sie unbeobachtet ruhen konnten, und für die Zeit von zwei bis vier ließ sich ohne Übertreibung sagen, daß das Hotel von Leibern ohne Seelen bewohnt war. Katastrophal wäre das Ergebnis gewesen, wenn ein Brand oder ein Todesfall plötzlich etwas Heldenhaftes von der menschlichen Natur verlangt hätte, doch Tragödien spielen sich in hungrigen Stunden ab. Gegen vier begann der menschliche Geist wieder den Leib zu lecken, wie eine Flamme ein schwarzes Vorgebirge von Kohle leckt. (Virginia Woolf: Die Fahrt hinaus, S. 135)


Woolf, Virginia: Die Fahrt hinaus [6]

  Underdessen wurde Helen selbst einer Prüfung unterzogen, wenn auch nicht seitens eines ihrer Opfer. Mr Pepper war mit ihr beschäftigt; und die Überlegungen, die er anstellte, während er seinen Toast in Streifen schnitt und sie sorgfältig mit Butter bestrich, führten ihn ein ordentliches Stück in seine Autobiographie hinein. Einer seiner durchdringenden Blicke versicherte ihm, daß er am Vorabend zu Recht zu dem Urteil gelangt war, Helen sei schön. Höflich reichte er ihr die Marmelade. Sie redete Unsinn, doch keinen schlimmeren, als die Menschen beim Frühstück gemeinhin redeten, da die Hirndurchblutung, wie er aus eigener Erfahrung wußte, zu dieser Stunde gern Sperenzchen machte. (Virginia Woolf: Die Fahrt hinaus, S. 25)


Woolf, Virginia: Die Fahrt hinaus [7]

  "Wir sind uns mittlerweile doch wohl alle einig, daß die Natur ein Irrtum ist. Sie ist entweder sehr häßlich, entsetzlich unbequem oder absolut furchteinflößend. Ich weiß nicht, was mich mehr erschreckt - eine Kuh oder ein Baum. Ich bin nachts auf einer Wiese einmal einer Kuh begegnet. Die Kreatur blickte mich an. Ich versichere Ihnen, ich habe davon graue Haare bekommen. Es ist eine Schande, daß es Tieren gestattet ist, frei herumzulaufen. (Virginia Woolf: Die Fahrt hinaus, S. 139)


Woolf, Virginia: Die Fahrt hinaus [8]

  Es fehlt ihr vielmehr der Glaube an ein gütiges Schicksal, an die Gerechtigkeit dessen, was auf längere Sicht geschieht, und sie neigte mehr und mehr zu der Überzeugung, daß das, was die Menschen bekamen, in umgekehrt proportionalem Verhältnis zu ihren Verdiensten stand. Ja, sie war bereit, selbst diese Theorie zugunsten einer noch pessimistischeren aufzugeben, die den Triumph des Chaos vorsah, das heißt, auf der Annahme beruhte, daß die Dinge überhaupt ohne jeden Grund geschahen und ein jeder nur in Verblendung und Unwissenheit umhertappte. (Virginia Woolf: Die Fahrt hinaus, S. 261)


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