Non/Konformität (1)

Anpassung und Abweichungen im Leben [^^] [^]


Themenstreusel: Non/Konformität
Die Rache des Zeitgeistes
Haufen und Gruppenkoller
Wenn das innere Korsett explodiert
Feierlichkeiten mit feststehenden Formen
Leben in der Illusion
Spannung halten
Die alte, bequeme Weise
Den Geschmack bewahren
Erfordernisse des Kapitalismus
Gewollte Ordnung
Es ist ein Glück
Ein Durchschnittsmensch
Die Strafe
Von der Sprache
Ein Schnitt oder ein Sprung
Dilemma
An der Banalität zugrunde gehen
Wahrhaftigkeit und Lüge
Mild gegen Andersgeartete
Die Herrschaft des Uniformen
Schleichender Totalitarismus
Mit der Zeit gehen
Großmeister der Empörung
Die übliche Schablone
Mittelalterliche Bauweise
Immer alle gegen sich
Biografische Schemen
Diese bewundernswerten Verrückten
Schüler- und Erwachsenenfragen
Ein zur Nachahmung neigendes Tier
Die Gruppe der Gleichgesinnten
Amerikaner und Individualität
Jahre stilisierter Einsamkeit


Die Rache des Zeitgeistes

Ich habe den Verdacht, dass an dem Unglück der Argans nicht irgendein blindes, uns unbekanntes Naturgesetz die Schuld trug, sondern die Rache des Zeitgeistes, der seinerseits das wachsamste Polizeiorgan der göttlichen Vorsehung ist. Ich meine darunter den merkwürdigsten und schrecklichsten aller Despoten, der es bewirkt, dass die Menschen einer bestimmten Epoche wie auf plötzlichen Befehl verstockt sind, erbittert, der Finsternis zu- und dem Licht abgewandt. Wie alle Tyrannen, so duldet auch unser Zeitgeist nichts weniger als freie Seelen und unabhängige Geister. Er krönt denjenigen, welcher ihn am sklavischsten ausdrückt, und zermalmt die, welche ihm am reinsten widersprechen. (Franz Werfel: Der veruntreute Himmel. Die Geschichte einer Magd)  ^


Haufen und Gruppenkoller

"Und warum willst du eigentlich nicht auch nach Israel, Mama?" "Da sind mir zu viele Juden!", entfuhr es Franziska gnatzig. "Und was ist schlimm daran, wo hier doch kein Tag vergeht, dass nicht Stimmung gegen uns gemacht wird?" "Zu viele Juden auf einen Haufen gehen mir auf die Nerven, so wie mir alle Ansammlungen von zu vielen Menschen einer Sorte auf die Nerven gehen! Zu viele von einer Sorte auf einem Haufen, und schon schnappen sie alle über! Kriegen einen Gruppenkoller. Das ist ungesund." (Marcia Zuckermann: Mischpoke!)  ^


Wenn das innere Korsett explodiert

Eine interessante These, auf die ich stieß und die mir sofort einleuchtete, verbindet den Ausbruch der Bipolarität mit einer sonstigen Tendenz der Persönlichkeit zur Überanpassung. Die starken inneren Impulse, die eine solche Disposition mit sich bringt, werden in gesunden Zeiten zugunsten des sozialen Funktionierens rigide unterdrückt. Mehr noch, man will es den Mitmenschen allzu recht machen, grenzt sich nicht genügend ab, spürt Irritationen auch da, wo kein anderer sie wahrnimmt, will die Aufgaben und Pflichten allesamt perfekt erfüllen, bis, wie ein Experte es ausdrückte, man «erschlagen» wird «von allen Ansprüchen, den fremden und den eigenen». Dann ist das Maß voll, und die ehedem so erbitterte Selbstdisziplin zerspringt in tausend Fetzen Selbstverlust. Das Gefühl, jetzt erstmals wirklich zu leben, jetzt erstmals wirklich die eigene Stimme zu erkennen und zu erheben, begleitet die Manie. Bisher war ich still, jetzt rede ich. Bisher wurde ich um alles betrogen, jetzt nehme ich, was mir zusteht. Und sei es durch Klauen, Krakeelen, durch Ausraster, deren Intensität sich von Mal zu Mal steigert. Angelegte, kaum vorhandene Eigenschaften, bisher nur Nuancen der Persönlichkeit, wachsen sich ins grotesk Verzerrte aus. Das innere Korsett explodiert. Neigungen zur Revolte gab es bei mir zwar immer, dank eines überzogenen Gerechtigkeitsgefühls, das sich, solange noch bei Sinnen, in einer zickigen Widerständigkeit niederschlug. In jeden Dazugehörigkeitswillen mischte sich immer auch ein biestiges Andersseinwollen. In der Krankheit wird dieses Biest jedoch zum Monster, und die gewünschte Gerechtigkeit zum Selbstexzess. Zwischen diesen Polen, Überanpassung und Individualitätstrotz, knallt es hin und her. (Thomas Melle: Die Welt im Rücken) ^


Feierlichkeiten mit feststehenden Formen

Der Tod ist etwas ganz Persönliches und erweckt, je nachdem, Trauer, Verzweiflung, glühende Empfindung oder philosophische Betrachtungen unberührter Herzen. Begräbnisse hingegen sind soziale Ereignisse. Man stelle sich vor, es würde jemand zu einer Beerdigung fahren, ohne zuvor sein Auto blank geputzt zu haben. Oder man stünde anders als im besten schwarzen Anzug mit den besten, wunderbar gewichsten schwarzen Schuhen am Grabesrand. Oder es würde jemand Blumen zu einer Beerdigung schicken, ohne eine Karte angeheftet zu haben, mit der er beweist, daß er sich korrekt benommen hat. Keine gesellschaftliche Veranstaltung verlangt für das Verhalten der Teilnehmenden ein so streng festgelegtes Ritual wie ein Leichenbegräbnis. Man male sich die Entrüstung aus, wenn der Geistliche an den vorgeschriebenen Formen der Predigt etwas änderte oder sich mit einem ungewohnten Gesichtsausdruck an der Norm versündigte. Welchen Schock würde es hervorrufen, wenn man im Trauerraum sich anderer Sitzgelegenheiten bediente als kleiner zusammenlegbarer, gelber Folterstühle mit harten Sitzen. Nein: noch im Sterben kann ein Mensch geliebt oder gehaßt, betrauert und beklagt werden; ist er jedoch einmal tot, so wird er das Hauptstück komplizierter sozialer Feierlichkeiten mit feststehenden Formen. (John Steinbeck: Tortilla Flat) ^


Leben in der Illusion

Die meisten Menschen sind sich ihres Bedürfnisses nach Konformität nicht einmal bewußt. Sie leben in der Illusion, sie folgten nur ihren Ideen und Neigungen, sie seien Individualisten, sie seien aufgrund eigenen Denkens zu ihren Meinungen gelangt, und es sei reiner Zufall, daß sie in ihren Ideen mit der Majorität übereinstimmen. Im Konsensus aller sehen sie den Beweis für die Richtigkeit "ihrer" Ideen. Den kleinen Rest eines Bedürfnisses nach Individualität, der ihnen geblieben ist, befriedigen sie, indem sie sich in Kleinigkeiten von den anderen zu unterscheiden suchen. (Erich Fromm: Die Kunst des Liebens) ^


Spannung halten

Streitgespräch mit einem Erzkonservativen. Es geht um den Begriff des Sozialismus heute. Schon mischen sich Emotionen in unsre Diskussion, da fährt, mitten im Satz, ein Blitz auf mich herunter: die Erkenntnis von der profunden Torheit dieses Streits. Was wollen wir denn erreichen? Daß der andre auf gleiche Art das Gleiche denkt? Sollten alle gleich denken? Das wäre schrecklich: das Leben stünde still vor Langeweile, vor Spannungs-Mangel. Leben ist, wo Spannung ist, und Spannung ist zwischen Spruch und Widerspruch. Der Spruch heißt: beharren, der Widerspruch: Weitergehen. (Luise Rinser: Kriegsspielzeug. Tagebuch 1972-1978) ^


Die alte, bequeme Weise

Ich: Aber warum lachen gemeine Menschen über alles, was ihnen ungewöhnlich ist? Berganza: Weil das Gewöhnliche ihnen so bequem geworden ist, daß sie glauben, der, welcher es anders treibt und hantiert, sei ein Narr, der sich deshalb mit der ihnen fremden Weise so abquäle und abmartere, weil er ihre alte bequeme Weise nicht wisse; da freuen sie sich denn, daß der Fremde so dumm ist und sie so klug sind, und lachen recht herzlich, welches ich ihnen denn auch von Herzen gönne. (E.T.A. Hoffmann: Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza) ^


Den Geschmack bewahren

"Man wird alt, gut, daran ändern wir nichts. Aber worauf es ankommt, ist, daß die Dinge einem neu bleiben, und daß man sich eigentlich an nichts gewöhnt... Da sind nun", fuhr er fort, indem er ein wenig Rindermark auf einem Semmelbrocken bettete und Salz darauf streute, "Ihre Verhältnisse im Begriffe, sich zu ändern; das Niveau Ihres Daseins soll sich nicht unwesentlich erhöhen." (Von Beckerath lächelte.) "Wenn Sie Ihr Leben genießen wollen, wahrhaft genießen, bewußt, künstlerisch, so trachten Sie, sich niemals an die neuen Umstände zu gewöhnen. Gewöhnung ist der Tod. Sie ist der Stumpfsinn. Leben Sie sich nicht ein, lassen Sie sich nichts selbstverständlich werden, bewahren Sie sich ein Kindergeschmack für die Süßigkeiten des Wohlstands." (Thomas Mann: Schwere Stunde, Erzählungen) ^


Erfordernisse des Kapitalismus

Der moderne Kapitalismus braucht Menschen, die in großer Zahl reibungslos funktionieren, die immer mehr konsumieren wollen, deren Geschmack standardisiert ist und leicht vorausgesehen und beeinflußt werden kann. Er braucht Menschen, die sich frei und unabhängig vorkommen und meinen, für sie gebe es keine Autorität, keine Prinzipien und kein Gewissen - und die trotzdem bereit sind, sich kommandieren zu lassen, zu tun, was man von ihnen erwartet, und sich reibungslos in die Gesellschaftsmaschinerie einzufügen; Menschen, die sich führen lassen, ohne daß man Gewalt anwenden müßte, die sich ohne Führer führen lassen und die kein eigentliches Ziel haben außer dem, den Erwartungen zu entsprechen, in Bewegung zu bleiben, zu funktionieren und voranzukommen. (Erich Fromm: Die Kunst des Liebens) ^


Gewollte Ordnung

Harald Schmidt: Die höchsten Quoten haben Sendungen, die eine heile Welt vorgaukeln, "Das Traumschiff", Rosamunde Pilcher, der "Musikantenstadl". Die breite Masse braucht einen klaren Ablauf, wie die Woche zu funktionieren hat, wie der Tag zu funktionieren hat, wie der Urlaub zu funktionieren hat, und findet deshalb die Welt, die in diesen Sendungen vorgespiegelt wird, sehr in Ordnung. -- Weltwoche: Der Mensch will nicht frei sein. -- Harald Schmidt: Der Mensch sagt, er will frei sein, aber ich habe da meine Zweifel. Der Mensch will Anleitung. -- Weltwoche: Einen Führer! -- Harald Schmidt: Haha. -- Weltwoche: Er will gehorchen. -- Harald Schmidt: Nein, er will, dass man ihm sagt, um acht Uhr Frühstück, um zehn Gymnastik, um zwölf Batiken, von zwölf bis zwei freie Gestaltung, aber organisiert. ^


Es ist ein Glück

"Er war eben ein Bohemien, was wollen Sie! Ich meine, es ist ein Glück, wenn es heutzutage, wo alles so unbarmherzig der Zweckmäßigkeit unterworfen wird, noch Menschen gibt, die einem wenigstens die Illusion von Leichtigkeit vermitteln können und ernste Personen ab und zum Lachen bringen. Die Engländer, die die konformistischen Leute der Welt sind, bringen ihren Exzentrikern und Originalen die gleiche liebevolle Beschützerhaltung entgegen wie ihren alten Gemäuern, und im Hyde Park denkt niemand daran, einen in Lumpen gekleideten Besessenen zu belächeln, der auf einer Seifenkiste stehend die neue Religion verkündet, die er entdeckt hat." (Georges Simenon: Der grosse Bob) ^


Ein Durchschnittsmensch

Auf der Oberfläche der Wangen ein blaßrötlicher Hauch. Widerschein des Lebens, das außerhalb der Persönlichkeit, nicht in ihr brannte. Wäre dieser Mann nicht mein Mitschüler gewesen, ich hätte mich entschlossen, ihn unsympathisch zu finden. So aber hatte er Protektion. In der Hoffnung, ihn sympathischer zu machen, begann ich, ihn nach seinem Leben auszufragen. "Ich bin", sagte er mit scheinbarer Heiterkeit, "ein Durchschnittsmensch geworden." Dies war eine Anspielung auf die Tatsache, daß ich seiner Meinung nach kein Durchschnittsmensch geworden war, und vielleicht auch kein Vorwurf, daß ich die Pflicht, es zu werden, leider versäumt hatte. "Es gibt", sagte ich ein wenig gereizt, "überhaupt keine Durchschnittsmenschen." Es war ein Unsinn. Er aber widersprach nicht, sondern bemerkte schlicht: "Ich bin im Bankwesen." (Joseph Roth: Die zweite Liebe. Geschichten und Gestalten)  ^


Die Strafe

Ich bin mein ganzes Leben lang unglücklich gewesen, und ich habe mein ganzes Leben lang nie ein Wort darüber gesprochen, aus dem wohlerzogenen Empfinden heraus, daß sich so etwas "nicht schicke". In der Welt, in der ich lebte, wußte ich, daß ich traditionellerweise um keinen Preis stören oder auffallen durfte. Ich wußte, daß ich korrekt und konform sein mußte, und vor allem - normal. So wie ich die Normalität aber verstand, bestand sie daraus, daß man nicht die Wahrheit sagen, sondern höflich sein soll. Ich war mein ganzes Leben lang lieb und brav, und deshalb habe ich auch Krebs bekommen. Das ist auch ganz richtig so. Ich finde, jedermann, der sein ganzes Leben lang lieb und brav gewesen ist, verdient nichts anderes, als daß er Krebs bekommt. Es ist nur die gerechte Strafe dafür. (Fritz Zorn: Mars) ^


Von der Sprache

Alles nur die gleiche Scheiße. Während man in die Volksschule, ins Gymnasium, ins Lehrerseminar ging, wurde man Schritt für Schritt in eine feinere Sprache eingeschleust. Und in eine abstraktere. Man war ja nur allzu willig, sie zu lernen. Im Gymnasium konnte man den Unterschied zwischen Kindern aus der Unterschicht und Kindern aus der Mittelschichte feststellen. Die Kinder, deren Eltern zur Unterschicht gehörten, hatten eine härtere, illusionslosere Sprache. Die gleiche Erfahrung machte ich, als ich selbst Lehrer wurde. Eine Froschperspektive, in der alle Motive für alle Handlungen hart, egoistisch, zynisch wurden. Die Sprache der Mittelschicht: die unsicherste von allen. Sie geht von dem Grundsatz aus, um eine höhere Stufe in der gesellschaftlichen Hierarchie zu erreichen, müsse man so auftreten, als sei man schon dort angelangt. Das schafft eine eigentümliche Unsicherheit im gesamten System. Man weiß, was die Worte bedeuten, und weiß es doch nicht. (Lars Gustafsson: Der Tod eines Bienenzüchters) ^


Ein Schnitt oder ein Sprung

Ich ahnte dunkel, daß etwas geschehen mußte, wenn ich die Selbstachtung nicht verlieren wollte; daß eine Änderung fällig war - so radikal wie der jäh erwachte Ekel vor den Sicherheiten und Konventionen, in die ich mich einbetoniert sah; ein Schnitt oder Sprung, der aus meinem tarifvertraglich geregelten, daunengefederten, desodorierten Dasein eine Existenz machte, nicht mehr und nicht weniger. (Ralf Rothmann: Stier) ^


Dilemma

Nun ist es meiner Meinung nach ja so, daß nurmehr wenige Menschen wirklich etwas sagen. Das Sprechen ist ein aufklärerisches Relikt, alles Reden beschränkt sich auf Kommentare. An die Stelle der Aussage ist der Spott getreten, an die Stelle der Angabe der Rückhand-Schmetterball. Man hört kaum noch für sich stehende Sätze ohne Ironie, Hyperbel, Sarkasmus. Man muß schon berühmt sein oder ein Guru, ein verbissener Fachmann oder ein buntes Tier mit großem Amüsanzreservoire, um außerhalb des engsten Freundeskreises einen Satz mit eindeutig wertender Aussage wagen zu dürfen. (Helmut Krausser: Die Zerstörung der europäischen Städte) ^


An der Banalität zugrunde gehen

"Das Fernsehen, mein lieber Daniel, ist der Antichrist, und ich sage Ihnen, es werden drei oder vier Generationen genügen, bis die Leute nicht einmal mehr selbständig furzen können und der Mensch in die Höhle, in die mittelalterliche Barbarei und in einen Schwachsinn zurückfällt, den schon die Nacktschnecke im Pleistozän überwunden hat. Diese Welt wird nicht von der Atombombe zerstört werden, wie uns die Zeitungen weismachen wollen, sondern sie wird sich totlachen, wird an Banalität zugrunde gehen, weil sie aus allem einen Witz macht, einen schlechten noch dazu." (Carlos Ruiz Zafon: Der Schatten des Windes) ^


Wahrhaftigkeit und Lüge

Wir wissen immer noch nicht, woher der Trieb zur Wahrheit stammt: denn bis jetzt haben wir nur von der Verpflichtung gehört, die die Gesellschaft, um zu existieren, stellt, wahrhaft zu sein (...), also moralisch ausgedrückt: von der Verpflichtung nach einer festen Konvention zu lügen, scharenweise in einem für alle verbindlichen Stile zu lügen. (Friedrich Nietzsche: über Lüge und Wahrheit im außermoralischen Sinn) ^


Mild gegen Andersgeartete

Es lebt sich am leichtesten und bequemsten mit guten und unschuldigen Leuten. An Tadel und Vorwurf ihrerseits ist nie zu denken. Im Prinzip sind sie streng auch gegen sich selbst. Aber was von Andersgeartetem an sie herantritt, dagegen sind sie mild, und es ist fast, als freuten sie sich, eine Bekanntschaften damit zu machen. Es soll sich ja, wie die Katholiken sagen, das Heilige durch Handauflegen fortpflanzen etwa nach Art eines elektrischen Stroms. (Theodor Fontane: Graf Petöfy)  ^


Die Herrschaft des Uniformen

Unser Jahrhundert dürfte die Herrschaft der isolierten Kraft, die so überreich an originalen Schöpfungen war, mit der Herrschaft der Uniformen, der nivellierenden Kraft verbinden, die die Erzeugnisse gleichmacht, sie in Massen auf den Markt wirft und einem einheitlichen Gedanken gehorcht, dem letzten Ausdruck der Gemeinschaft. Tritt nach den Saturnalien des generalisierten Geistes, nach den letzten Anstrengugen von Kulturen, die die Schätze der Erde auf einem Punkt aufhäufen, nicht stets die Finsternis der Barbarei ein? (Honore de Balzac: Der berühmte Gaudissart) ^


Schleichender Totalitarismus

Es herrscht ein schleichender Totalitarismus, der sich mit der Geschwindigkeit der Dummheit und der Falschheit ausbreitet, eine bonbonrosa Diktatur, die das Denken verklebt. Gleichzeitig spezialisiert man, grenzt man ab, schneidet man das Wissen in kleine Scheibchen... Die Intellokratie ist dabei, die Intelligenz zu zerstören. Wenn man sich nicht in einer "vielversprechenden Marktlücke positioniert", sprich: Wenn man sich nicht zum eifrigen Komplizen der Gleichschaltung der Philosophie macht, leidet man unter schrecklichen textuellen Nachstellungen, oder man wird ganz sanft liquidiert. Zensur, mit einem Haifischlächeln versüßt. Keine Publikationen mehr, vollkommenes Schweigen über Ihre Arbeiten, wütende Gleichgültigkeit von allen Seiten. Ein Sarkophag sozusagen. Komplize oder Opfer, Sie können wählen. Das Drama ist, daß es keine Propheten mehr gibt, nichts als gezähmte Denker, schlechte Schäfer... oder Wölfe im Schafspelz: Sie wissen schon, diese ewig lächelnden, sympathischen Menschen, die aber zu allem bereit sind... Meine Kollegen können sich schon gar nicht mehr aufregen. Wenn ich ihnen sage, daß die Unterwerfung das Immunsystem zerstört und daß sie krank werden, wenn sie alles schlucken, ohne mit der Wimper zu zucken, komme ich mir vor, als würde ich auf javanisch zu Eskimos reden. Tout va tres bien, madame la marquise. Das kritische Denken ist auf dem Weg, aus der Philosopie hinausgeworfen zu werden, die Herren Integristen des Fortschritts ertragen es nicht mehr, daß man ihnen widerspricht, es gilt "marschier' mit uns oder krepier' allein". Tut mir leid, aber ein Präservativ über meine Feder zu ziehen raubt mir die Inspiration. Wenn sie brave Jasager brauchen, die nur Süßholz raspeln, kehre ich lieber in meine Tonne zurück. (Henri-Frederic Blanc: Teufelei) ^


Mit der Zeit gehen

Er war in eine Welt hineingeboren, in der alles reformiert worden war oder gerade reformiert wurde, und er hielt es für regelwidrig, dass sämtliche Religionen, von denen er je gehört hatte, schon existierten, seit er denken konnte, also seit mindestens sechzehn Jahren. Das war umso seltsamer, als Religion in dieser oder jener Form im Leben der meisten ihm bekannten Menschen eine beachtliche, wenn auch etwas unstete oder sporadische Rolle spielte und als er seit dem ersten Bewusstseinsdämmern mitbekam, wie jeder jeden beschwor, sich nur ja nicht in ausgefahrenen Gleisen zu bewegen, sondern mit der Zeit zu gehen, wie es sich für einen guten Amerikaner gehört. (Edith Wharton: Ein altes Haus am Hudson River)


Großmeister der Empörung

Er ist der Großmeister der Empörung, der Champion der Unzufriedenheit, der militante Entlarver des zeitgenössischen Lebens, der davon träumt, aus den Ruinen einer gescheiterten Welt eine neue Realität zu schmieden. Im Gegensatz zu den meisten Nonkonformisten seines Schlags glaubt er nicht an politische Betätigung. Er gehört keiner Bewegung oder Partei an, hat nie ein Wort in der Öffentlichkeit gesprochen und verspürt nicht den Wunsch, wütende Horden auf die Straße zu führen, um Häuser niederzubrennen und Regierungen zu stürzen. Für ihn ist das eine rein persönliche Angelegenheit, aber wenn er sein Leben nach den von ihm aufgestellten Grundsätzen lebt, werden andere, da ist er sicher, seinem Beispiel folgen. (Paul Auster: Sunset Park)


Die übliche Schablone

"In unserer Zeit kommt es einem irgendwie seltsam vor, einen glücklichen Menschen zu sehen", sagte einer der Fahrgäste. "Eher sieht man einen weißen Elefanten." "Ja, aber wer ist daran schuld?" sagt Ivan Alekseevic und streckt seine langen Beine mit den spitzen Schuhen aus. "Wenn Sie kein Glück kennen, sind Sie selber schuld. Ja, was haben Sie gedacht? Jeder Mensch ist seines Glückes Schmied. Wenn Sie wollen, können Sie auch glücklich sein, aber Sie wollen ja nicht. Sie weichen dem Glück harnäckig aus." "Sieh mal an! Wie denn das?" "Sehr einfach...! Die Natur hat es so eingerichtet, daß der Mensch in einer gewissen Periode seines Lebens lieben soll. Ist diese Zeit gekommen, nun, so liebe mit ganzer Kraft - aber Sie gehorchen der Natur nicht und warteten immer noch auf etwas. Weiter... Im Gesetz steht geschrieben, daß ein normales Individuum heiraten soll... Ohne Heirat gibt es kein Glück. Kommt eine günstige Zeit, so heirate, es hat keinen Zweck, das auf die lange Bank zu schieben... Aber Sie heiraten doch nicht, immer warten Sie noch auf etwas! Dann steht in der Heiligen Schrift, daß der Wein des Menschen Herz erfreut... Wenn es dir gut geht und du möchtest, daß es dir noch besser gehe, dann begib dich ans Büffet und trinke. Die Hauptsache ist, nicht klug daherzuschwatzen, sondern schnell nach der üblichen Schablone zu handeln! Die Schablone ist eine großartige Sache!" (Anton Cechov: Gespräch eines Betrunkenen mit einem nüchternen Teufel. Erzählungen)


Mittelalterliche Bauweise

Und daher kommt es, daß die alten Burgen aus dem Mittelalter letztlich gar nicht wie ein Gegenstand der sogenannten "Kulturlandschaft", also der vom Menschen umgestalteten Natur, erscheinen, sondern wie "Naturlandschaft", zur Natur gehörend, aus ihr organisch gewachsen und jedenfalls von ihr angenommen. Ich will mich hüten, die heutige Architektur insgesamt zu beurteilen oder pauschal zu denunzieren und schlechtzumachen. Aber man sagt wohl nichts Unrechtes, wenn man meint, daß manches heute errichtete Gebäude von der Natur nicht angenommen, sondern sozusagen "abgestoßen" wird. Oft merkt man sogar den Ehrgeiz des Architekten, auf diese Natur einzugehen und ihr mit seinem Gebäude zu entsprechen, und doch kommt es zu einer Art "Organabstoßung". Heute werden die Bauplätze vor allem radikal planiert. Die geringeren Möglichkeiten der Erdbewegung haben die mittelalterlichen Bauleute gezwungen, die Natur so zu akzeptieren, wie sie sich darstellte. Heute herrschen absolut die Wasserwaage und das Senkblei, es wäre undenkbar, daß ein Polier einfach nach dem Gefühl heraus baut und ein Haus mit dem Gelände "mitgehen" läßt. Wehr- und Wohnburg des Mittelalters aber gehen auf und ab, es gibt an ihnen nicht die von heutigen Bauten her bekannte Tyrannis des vereinheitlichten Niveaus. (Alois Brandstetter: Die Burg)


Immer alle gegen sich

Man müsse aber immer gleichzeitig mit der Geschichte als Masse wie mit der Gegenwart als Masse fertig werden, um überleben zu können, nur den wenigsten gelinge das. Der einzelne habe, genau genommen, immer alles gegen sich und er habe immer gegen alles mit sich selbst fertig zu werden in einem Prozeß, welcher naturgemäß immer nur ein tödlicher Prozeß sein könne. Das Leben oder die Existenz seien nichts anderes, als der unaufhörliche und tatsächliche ununterbrochene verweifelte Versuch, sich in allen möglichen Beziehungen aus allem herauszuretten in die Zukunft, welche immer wieder nur diesen gleichen unendlichen tödlichen Prozeß eröffne. Die Masse lehne ja schon den Gedanken, geschweige denn das Denken ab, weil sie sonst augenblicklich vernichtet sei, so hätten wir es mit einer vollkommen gedankenlosen Masse zu tun, die im Grunde gegen nichts, aber immer gegen das Denken sei. (Thomas Bernhard: Die Billigesser)


Biografische Schemen

Es gibt Pedanten, die eine seltsame Art von Haustyrannen sind, nicht nur den Pfeifen und Bleistiften gegenüber, sondern sozusagen auch im Hinblick auf die eigene Biografie: diese muß in ein vorbestimmtes harmonisches Schema passen, und was darin nicht Platz hat, wird entfernt. Ein babylonischer Turm der Ordnung soll da aus dem doch stets verstreut herumliegenden Materiale eines Lebens gebaut werden. Aber es ist nur ein sehr hoher Hut, den einer am Ende so vorsichtig auf dem Kopfe balancieren muß, daß er keinen Fuß mehr vor den anderen setzen kann. Natürlich darf nichts mehr heran, nichts darf sich mehr anfügen: gleich hängt es, 'wie eine gebrochene Vogelschwinge' herab, gleich ist wieder einmal die 'werdende Einheit und Beruhigung' eines solchen Lebens tief gestört, das Schema nämlich, die Errichtung eines zweiten, eines Anti-Lebens, denn nichts andere ist diese Einheit." (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Diese bewundernswerten Verrückten

Ich liebe die Originale, die Sonderlinge, die Unberechenbaren, mit einem Wort: diejenigen, die von den Physiologen als Degenerierte oder Entartete bezeichnet werden... Denn sie besitzen zumindest jene kapitale und göttliche Tugend, nicht wie alle zu sein... Ein Verrückter, zum Beispiel? ... Ich meine einen frei herumlaufenden Verrückten, wie wir ihm im Leben zuweilen begegnen... wenn auch leider viel zu selten! ... der aber eine Oase in jener trübseligen und ebenmäßigen Wüste ist, welche die bürgerliche Existenz darstellt... O diese lieben Verrückten, diese bewundernswerten Verrückten, Wesen voller Trost und unschätzbarem Wert, wie sehr müßten wir sie eigentlich mit einem glühenden Kult beehren, denn nur sie bewahren in unserer servilisierten Gesellschaft die Traditionen der geistigen Freiheit, der schöpferischen Freude... Nur sie wissen heute, was die göttliche Phantasie bedeutet... (Octave Mirbeau: Nie wieder Höhenluft oder Die 21 Tage eines Neurasthenikers) ^


Schüler- und Erwachsenenfragen

Die schlimmste Seuche, von der ein Pädagoge befallen werden kann, ist die Zersetzung seines Erwachsenendenkens durch das Schülerdenken. Unterrichten heißt gewöhnlich: Erwachsenenfragen in Schülerfragen zu stellen. Er bleibt zeitlebens ein Musterschüler, der nie den Sprung ins kalte Wasser gewagt hat. Das Leben kennt keine methodischen Kniffe und keine didaktischen Ziele, und erst recht nicht der Tod. Didaktik, Methodik: die Todfeinde alles Lebendigen. Der Lehrer glaubt, die Schüler heranzubilden, aber in Wirklichkeit sind es die Schüler, die ihn in einem jahrzehntelangen Verschleiß´herabbilden. Alles was der Lehrer unternimmt, tut er vorbildlich, im Glauben, eine Schar junger Menschen um sich zu haben, die ihn dafür bewundert. Vorbildlichkeit ist eine schmerzlose, aber grausame Form des Selbstmordes. (Hermann Burger: Schilten) ^


Ein zur Nachahmung neigendes Tier

Es gibt eine Definition des Menschen, die besagt, er sei nichts weiter als ein zur Nachahmung neigendes Tier. Der beste Beweis dafür mag in der Tatsache bestehen, daß das Urteil der Menschheit immer gegen ein Individuum eingenommen ist, welches sich anmaßt, sich von den übrigen zu unterscheiden. Ein Mensch ist ein Mitglied einer ganzen Herde, und seine Wolle muß der allgemein gültigen Färbung entsprechen. Er muß trinken, wenn die anderen trinken und grasen, wenn die anderen grasen. Wenn die anderen sich vor einem Hund fürchten und fliehen, wobei sie mit dem rechten Bein loslaufen, muß auch er sich fürchten, fliehen und mit dem rechten Bein beginnen. Fürchtet er sich nicht, oder aber fürchtet er sich zwar und flieht ebenfalls, beginnt aber seine Flucht mit einem anderen Bein als die übrigen, so ist das der Beweis dafür, daß irgend etwas mit ihm nicht stimmt. Laßt einen Mann an einem beliebigen Tag zur Mittagsstunde von einem Ende der Oxford-Street zum anderen gehen, und zwar mit dem Ausdruck größter Gemütsruhe, in anständiger Haltung, ohne das geringste Anzeichen eines glasigen Blickes oder einer verstörten Sinnesart, aber ohne seinen Hut - und fragt dann jeden einzelnen der übrigen Tausenden von huttragenden Männern, was sie über ihn denken - wie viele von ihnen würden nicht sofort und nur auf das Indiz seiner Barhäuptigkeit hin entscheiden, daß er verrückt sei? Oder, mehr noch: Lassen Sie ihn irgendeinen der Vorübergehenden anhalten und mit den höflichsten Worten und in verbindlichster Weise erklären, daß er sich ohne Hut auf dem Kopf leichter und bequemer fühle, wie viele seiner sterblichen Mitbrüder, die ihn bei der ersten Begegnung für verrückt erklärt hatten, würden ihre Meinung nach Anhören seiner Erklärung ändern? In fast allen Fällen würde gerade diese Erklärung als zusätzlicher Beweis dafür gelten, daß der Geist des gutlosen Mannes unbestreitbar gestört sei. (Wilkie Collins: Das Geheimnis des Myrtenzimmers) ^


Die Gruppe der Gleichgesinnten

Es ist heute nicht schick, sich über die Vorzüge der kleinen Gemeinschaft zu verbreiten. Empfohlen wird uns, große Reiche und große Ideen anzuvisieren. Einen Vorzug aber hat der kleine Staat, die Stadt oder das Dorf, und nur wer sich willentlich blind macht, kann ihn übersehen. Wer in kleiner Gemeinschaft lebt, lebt in einer viel größeren Welt. Er weiß entschieden mehr über die drastischen Artunterschiede und unaufhebbaren Divergenzen zwischen den Menschen. Der Grund dafür liegt auf der Hand. In den großen Gemeinschaften können wir unsere Gefährten aussuchen. In der kleinen Gemeinschaft werden die Gefährten für uns ausgesucht. In allen großen und hochzivilisierten Gesellschaften kommt es zur Bildung von Gruppen, die auf sogenannte Sympathie beruhen und die wirkliche Welt nachdrücklicher nach draußen verbannen, als die Tore eines Klosters es könnten. Wirkliche Beschränktheit herrscht nicht im Klan; sie herrscht in der Gruppe der Gleichgesinnten. (Gilbert Keith Chesterton: Ketzer. Ein Plädoyer gegen die Gleichgültigkeit) ^


Amerikaner und Individualität

"Man muß das alles hinter sich lassen", sagte Pierre. "Eltern, diese ganze Scheiße. Man muß sich selbst neu erfinden, um ein Individuum zu werden." "Stimmt genau", sagte Patrick. Es war besser, Pierres Theorien nicht zu widersprechen. "Die Amerikaner, die reden die ganze Zeit über Individualität, aber denen fällt nichts ein, wenn nicht allen anderen zugleich dasselbe einfällt. Meine amerikanischen Kunden, die spielen sich immer auf, um mir zu zeigen, wie individuell sie sind, aber die machen alle alles genau gleich. Jetzt habe ich keine amerikanische Kunden mehr." "Die Leute glauben, sie seien Individuen, weil sie das Wort 'ich' so oft benutzen", kommentierte Patrick. (Edward St. Aubyn: Schlechte Neuigkeiten) ^


Jahre stilisierter Einsamkeit

Auf einmal wurde mir klar, daß all die Jahre stilisierter Einsamkeit, all dieses: Wir sind die Generation der Einsamen und wir leiden, all dieses Sich einmalig Fühlen in der Unfähigkeit sich zu binden, nichts weiter war als ein großes, sich ständig wiederholendes Theater. Was hatten wir uns besonders gefühlt! Getriebene Wölfe in dampfenden Großstädten mit Ausdünstungen aus U-Bahn-Schächten, die Hände tief in den Taschen. In Bars hatten wir frierend gestanden mit unserem kajalumrandeten Schmerz. Nur wir wußten, was Leiden meinte, schliefen in ungeheizten Wohnungen, die nach Rauch rochen und in denen der Kühlschrank leer war. Und was war davon geblieben, außer daß wir erst alt werden mußten, um zu erkennen, daß Alleinsein noch trauriger ist, als zu zweit in einem Reihenhaus zu sitzen und das Kind Freia zu nennen. (Sibylle Berg: Der Mann schläft) ^


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