Über den Freitod (1) [>>]

Fundstücke aus Büchern und Zeugnissen [^^] [^]


Themenstreusel: Suizid
Dabeihaben wollen
Himmel & Hölle
Eine Form von Selbstmord
Geordneter Freitod
Die Möglichkeit ist Gnade
Gute & weniger gute Selbstmorde
Singer, die Aktentasche
Raymond Chandler: Der lange Abschied
Hildesheimer: Marbot (1) Hildesheimer: Marbot (2)
Stadler: Ein hinreißender Schrotthändler
Burger: Schuß auf die Kanzel
Coelho
Japanische Regeln
Selbstmörder und Prediger
Wedekinds Frühlings Erwachen
Bräker: Der Mann im Tockenburg
Paasilinna: Der wunderbarere Massenselbstmord (1)
Paasilinna: Der wunderbarere Massenselbstmord (2)
Compton-Burnett: Männer und Frauen (2)
Compton-Burnett: Männer und Frauen (1)
Antunes: Die Vögel kommen zurück
Gustav Flaubert: November
Gustav Flaubert: In Briefen...
Heinrich von Kleist: Abschiednehmen
Brentano: Geschichte vom braven Kasperl
Im Zeichen des Löwen
Updikes Hexen von Eastwick
Hesse: Die Morgenlandfahrt
Keyserling: Dumala
Thelen: Insel des zweiten Gesichts (2)
Thelen: Insel des zweiten Gesichts (1)
Krausser: Schmerznovelle
Werfel: Eine blaßblaue Frauenschrift
Härtling, Hoffmann
Steinbeck: Straße der Ölsardinen
Leere Drohung
Vila-Matas: Vorbildliche Selbstmorde
Eric-Emmanuel Schmitt: Monsieur Ibrahim
Agatha Christie: Auch Pünktlichkeit...(1)
Agatha Christie: Auch Pünktlichkeit...(2)
Markus Werner: Festland
Luise Rinser: Winterfrühling
Selbstmord ist keine Art
Aufhellung
Ein verfehltes Leben
Inkonsequenz
Shakespeare: Titus Andronicus
Gertrud Schwermut
Mauriac: Fleisch und Blut
Der Meister von Petersburg
Operation Shylock
Graf Petöfy
Blom und die zweite Magenta
Ein wunderbarer Gedanke
Kaltblütig
Der Liebeswunsch
Familienlexikon
Zu doof zu sterben
Kollektiver Selbstmord
Mal angenommen
Der richtige Zeitpunkt
Wo, wann, wie, warum?
Okinawa 1945
Unverzichtbar
Dritte Möglichkeit
Augen auf!
Die Krankheit
Gestus
Der kleine Stern
Früher oder später
Saisonal
Kubiczek: Junge Talente
Timm: Kerbels Flucht
Cunningham: Die Stunden
Krausser: UC
Johnson, Zwei Ansichten
Interview mit Walter Kempowski
Wille zur Dummheit
Nachträglich
Nicht einer Frau wegen!
Bei den ganzen Heckenschützen
Wien, Triest, Budapest
Genug, es reicht
Nur ein Hilfeschrei
Vorsichtsmaßnahmen
11 Stunden Abwesenheit
Reinlichkeitsinstinkt
Verlaß
Vom Selbstmord reden
Durch Landschaft & Wetter
Früher oder später


Dabeihaben wollen

Ich hatte noch vor Knötzele bemerkt, daß ich ein Geisterfahrer war, ein richtiger Geisterfahrer auf der Gegenfahrbahn. Kötzele schien nichts zu bemerken und bot seine ganze Autorität gegen uns auf, damit ich weiterfuhr. Und ich sagte mit dem Respekt vor einem Ex-Feldwebel, Älteren, Fahrlehrer, Säufer und Träumer: "Herr Feldwebel, es kommen Fahrzeuge entgegen!" Aber er beharrte auf diesem Weg. "Du fährst weiter!" Vielleicht wußte er genau, wo er war, und er war ein vertuschter Selbstmörder, der Angst davor hatte, alleine zu sterben. Einer von jenen, die andere dabeihaben wollten und mit sich in den Tod rissen. Es ehrt mich, daß er sich möglicherweise mich ausgedacht hat, dabeizusein, und daß er auch mich dabeihaben wollte. (Arnold Stadler: Sehnsucht. Versuch über das erste Mal) ^


Himmel & Hölle

"Die Leute erhängen sich so selten!" sagte er. "Der Geistliche jagt ihnen einen Schrecken ein. Sie kommen nicht in den Himmel. Woher weiß der Pfaffe? Man ist im Leben eingesperrt und muß warten, bis Gott den Kerker aufschließt und man in die Freiheit kommt. Wenn aber jemand sich erhängt, auf einem schönen Fichtenbaum, im Sommer, wenn die Vögel zwitschern, der Himmel blau ist und die Fliegen summen, so jagen die Teufel die arme Seele in die Hölle. Wahrscheinlich aber ist das alles gar nicht wahr! Die Leute kommen in die Hölle, ob sie auf den Tod warten, oder ob sie sich ihn holen! Es ist alles ganz gleich. (Joseph Roth: Perlefter. Fragmente und Feuilletons aus dem Nachlaß) ^


Eine Form von Selbstmord

Ephraim Gershon, geboren 1851, verlor seine Mutter Isidora, als er sieben Jahre alt war. Seine ältere Schwester hieß Abigail, seine jüngere Adaja. Ihr aller Vater Mordechai verwand den Tod seiner Frau niemals, was sehr viel länger klingt, als er tatsächlich benötigte, um sich unter die Erde zu trinken. Keine fünf Jahre genügten, er gab sich wirklich große Mühe. Im Grunde war es eine Form von Selbstmord, die sich mit seinem Glauben vereinbaren ließ und vor der Welt vertuscht werden konnte. (Helmut Krausser: Alles ist gut)  ^


Geordneter Freitod

Im Juni 1942 wurde Dr. Avenarius Kollmorgen, niedergelassenem Rechtsanwalt in Jerichow, das Leben zuwider, und er gab es auf. (...) In den Nächten hatte Avenarius sich auf seinen Tod vorbereitet. Die meisten Bücher standen in den Regalen nicht mehr mit dem Rücken nach vorn, sondern lagen in kantengleichen Stapeln, zum Verpacken fertig. In denen allen stand das Datum, an dem er sie zum letzten Mal gelesen hatte; er hatte nur zwei Reihen nicht geschafft. In seinem Schreibtisch fanden sich Listen, in denen der gesamte Haushalt inventarisiert war, mit einer Spalte für die künftigen Besitzer, die vollständig ausgefüllt war. (...) Das nicht Verschenkte sollte als Geld an die Universität Erlangen gehen, ebenso die Bibliothek. Zu der Bibliothek gab es eine Kartei. Schriftstücke persönlicher Art hatte Dr. Kollmorgen beseitigt; von sich wollte er nichts hinterlassen als das Geheimnis Avenarius. In der offenen Schreibtischschublade fand Ilse wie angekündigt das Blatt mit den Anweisungen für den Fall seines Todes, von den Gängen zu Dr. Berling und zu Swenson bis zu den Vorschriften für die Beerdigung. Er verabschiedete sich bei einigen Leuten mit altmodischen Drucksachen, aber er brauchte sie nicht, denn es war alles im voraus eingerichtet und bezahlt. "Mitwirkung der Kirche verbeten" stand da in sorgfältig verwickelter Schrift. (Uwe Johnson: Jahrestage 2) ^


Die Möglichkeit ist Gnade

"Die Möglichkeit zum Selbstmord ist eine Gnade, deren man sich nur selten bewußt wird. Sie gibt einem die Illusion des freien Willens. Und wahrscheinlich begehen wir mehr Selbstmorde, als wir jemals ahnen. Wir wissen es nur nicht." "Das ist es!" sagte Schwarz lebhaft. "Wenn wir sie nur als Selbstmorde erkennen würden! Dann hätten wir die Fähigkeit, auch wieder von den Toten aufzuerstehen. Wir könnten mehrere Leben leben, anstatt die Geschwüre der Erfahrung von einer Krise zur anderen weiterzuschleppen und schließlich daran einzugehen." (Erich Maria Remarque: Die Nacht von Lissabon) ^


Gute & weniger gute Selbstmorde

Trinker und Selbstmörder beschlagnahmen stundenlang dringend benötigte Räume und Schwestern. (...) Trinker sind immer allein. Selbstmörder werden von mindestens einer Person begleitet, oft von vielen. Was vermutlich Sinn und Zweck der Sache ist. Auf jeden Fall von zwei Polizeibeamten aus Oakland. Endlich habe ich verstanden, warum Selbstmord als Verbrechen gilt. (...) Es gibt "gute" Selbstmorde. Oft "gute Gründe", wie eine tödliche Krankheit, Schmerzen. Aber mich fasziniert eine gute Methode mehr. Kugel in den Kopf, ordnungsgemäß aufgeschnittene Pulsadern, anständige Schlafmittel. Selbst, wenn sie scheitern, scheint von diesen Menschen ein Friede, eine Stärke auszugehen, die von einer wohlüberlegten Entscheidung herrührt. Es sind die Wiederholungen, die mir zusetzen – die vierzig Penicillintabletten, die zwanzig Valium und eine Flasche Hustensaft. Ja, mir ist klar, statistisch gesehen haben Menschen, die damit drohen, sich umzubringen, irgendwann Erfolg. Ich bin überzeugt, dass es dann immer ein Unfall ist. John, der normalerweise um fünf Uhr nachmittags nach Hause kommt, hat einen Platten und kann seine Frau nicht mehr rechtzeitig retten. Ich habe auch den Verdacht, dass in einigen Fällen Totschlag vorliegt, der Ehemann oder ein anderer Dauerretter sind es schließlich leid geworden, schuldbewusst im allerletzten Moment noch aufzutauchen. (Lucia Berlin: Was ich sonst noch verpasst habe. Stories)  ^


Singer, die Aktentasche

Zuerst legte ich mich auf die Couch und versuchte, den versäumten Schlaf nachzuholen. Wir waren erst um ein Uhr morgens aus dem Theater nach Hause gekommen. Das Telefon läutete, und ich ließ es läuten. Ich dachte an die Worte Esaus: "Siehe, ich muß doch sterben, was soll mir denn die Erstgeburt"" Die Art von Leben, die ich führte, gab mir das Gefühl, langsam Selbstmord zu verüben. Ich war schon so weit, daß ich nie mehr als fünf Rasierklingen kaufte. Zehn zu kaufen hieße das Schicksal herauszufordern - ich konnte jeden Tag eine Herzattacke oder einen Nervenzusammenbruch bekommen. Gegen elf wachte ich auf, genauso müde, wie ich mich hingelegt hatte. Ich sah mich im Zimmer um. Die Putzfrau hatte operiert werden müssen und war zur Erholung zu ihrer alten Mutter nach Puertorico gefahren. Die Wohnung war schmutzig. Bücher, Zeitschriften, Unterhosen, Krawatten, Taschentücher lagen am Boden verstreut. Der Schreibtisch war mit Papieren bedeckt. Obwohl ich versuchte, Ordnung zu halten, lebte ich doch in dauernde Unordnung. Ich konnte nie etwas finden. Ich verlor Rechnungen. Ich verlegte meinen Füllfederhalter und meine Brille. Ich zog einen Schuh an und konnte den zweiten nicht finden. Eines Tages vermißte ich meinen Cashmeremantel. Ich suchte überall, selbst an Orten, die für ein Unterhemd zu klein gewesen wären, er war verschwunden. War bei mir eingebrochen worden? Nirgends waren Zeichen eines Einbruchs. Warum nur sollte ein Dieb ein Mantel nehmen? Ich öffnete den Schrank noch einmal und fand den Mantel zwischen meinen anderen Sachen. Kann man vor lauter Geistesabwesenheit blind sein? (Isaac B. Singer: Die Aktentasche) ^


Raymond Chandler: Der lange Abschied

Es konnte keinen Zweifel geben, daß er tot war. Ich sah mich um, ob da vielleicht irgendwo ein Brief lag oder sonst ein Gekritzel. Es war nichts da außer dem Skriptstapel auf dem Schreibtisch. Sie hinterlassen keine Briefe. Die Schreibmaschine stand unzugedeckt auf dem Gestell. Es steckte nichts drin. Im übrigen sah alles ganz natürlich aus. Selbstmörder treffen meist alle möglichen Vorbereitungen, manche trinken vorher Schnaps, manche nehmen erst noch ein kompliziertes Champagnerfrühstück zu sich. Manche ziehen Abendkleidung an dafür, manche ziehen sich ganz aus. Es haben sich schon Leute auf hohen Mauern umgebracht, in Straßengräben, in Badezimmern, im Wasser, über dem Wasser, auf dem Wasser. Sie haben sich in Scheunnen erhängt und in Garagen mit Gas vergiftet. Dieser Selbstmord sah einfach aus. (Raymond Chandler: Der lange Abschied) ^


Hildesheimer: Marbot (1)

Ein Mensch, der denken kann, sollte wissen, wann seine Zeit ausgelaufen ist. Die Unwürdigkeit, über diesen Punkt hinauszuleben, wird ihm bestraft, indem er sich selbst mit jedem Tag unerträglicher wird. Rücksicht auf seine Mitmenschen darf ihn an der endgültigen Tat nicht hindern. Denn er kann in deren Seele nicht hineinblicken, daher er nicht weiß, ob sie ihn noch ertragen oder ob er ihnen zur Last fällt. Wer sich selbst nicht erträgt, wird auch von anderen nicht ertragen. (Wolfgang Hildesheimer: Marbot) ^


Hildesheimer: Marbot (2)

Schopenhauer meint zwar, der Suizid sei nicht die Antwort auf die Zumutung des Lebens, vielmehr sollten wir aktiv verneinend weiterleben. Doch er vergißt, daß das 'philosophische Leben' ein anderes ist als das gelebte Leben - vielleicht vergißt er es auch nicht, aber er will es nicht wahrhaben. Man darf den Suizid nicht als Ausdruck einer Haltung zur Welt betrachten und nicht als Flucht ins Nichtsein, sondern als Verweigerung dessen, was die grausame Natur mit uns als einzelnem Individuum treibt oder vorhat. Gewiß löst der Freitod kein philosophisches Problem, aber als solche Lösung ist er von niemandem jemals verübt worden. Niemals war sein Motiv der Ausdruck einer Haltung zum allgemeinen Dasein, sondern immer nur zum einzelnen Leben des Selbstmörders. (...) Schopenhauer behandelt dieses Thema zu dogmatisch, er berücksichtigt die Seele nicht. Man muß vom einzelnen Menschen ausgehen, von seinen Motiven, seinem Überdruß, seiner Verzweiflung. Aus Gehorsamkeit dem Naturgesetz gegenüber gelebt zu werden, ist das Leben nicht wert. Der Selbstmord ist die extreme Freiheit des Individuums, der mit der Wahl zwischen Sein und Nichtsein ernst macht. (Wolfgang Hildesheimer: Marbot) ^


Stadler: Ein hinreißender Schrotthändler

Es gab Menschen, die daran glaubten und so lebten, als ob es schön wäre, zu leben. Doch einmal zu den Bahngeleisen hinüberlaufen und sich durch einen Sprung retten! - Immer wieder gab es Menschen, denen dies trotz schärfster Aufsicht von Aufsehern, die bestellt waren, Menschen, die nicht hier bleiben wollten, hier festzuhalten, gelang. Denn immer wieder gab es Menschen, die alle jene beschämten, die behaupteten, ein glückliches Leben zu führen, und daß das Leben doch ein wunderbares Geschenk sei. Immer wieder gab es auch diese Menschen, die die anderen, die angeblich ein glückliches Leben führen, mit ihrem Sprung in die Freiheit beschämten und einen Weg fanden, der sie rettete, auch wenn die "Anleitung zum Selbstmord" auf dem Staatsindex der verbotenen Bücher stand und längst aus dem Verkehr gezogen worden war. (Arnold Stadler: Ein hinreißender Schrotthändler) ^


Burger: Schuß auf die Kanzel

Der Suizidant wählt in der Nacht die Nacht, er verhält sich, der Logik des Todes entsprechend, tautologisch. Er hat den Absprung getan, er befindet sich im Schwarzen Kabinett, wo sich keine Regung mehr vom tödlichen Hintergrund abhebt. Er ist der einzige, der von sich sagen kann: ich bin gestorben. Er erlebt den Tod dreidimensional, indem er tötet, ermordet und stirbt. (Hermann Burger: Der Schuß auf die Kanzel)  ^


Coelho

Sie hielt sich für einen vollkommen normalen Menschen. Ihr Entschluß zu sterben hatte zwei einfache Gründe, und sicher würden viele Menschen sie verstehen, wenn sie sie in einer entsprechenden Erklärung darlegte. Der erste Grund war: Ihr Leben verlief gleichförmig, und wenn die Jugend erst einmal vorbei war, würde es nur noch abwärtsgehen, sie würde altern, krank werden, Freunde verlieren. Letztlich würde Weiterleben nichts bringen, vermutlich nur mehr Leiden. Der zweite Grund war: Veronika las die Zeitungen, sah fern und wußte, was in der Welt geschah. Nichts war so, wie es sein sollte, und sie konnte nichts dagegen tun. Und das gab ihr ein Gefühl vollkommener Ohnmacht. (Paulo Coelho: Veronika beschließt zu sterben) ^


Japanische Regeln

Denk lieber an das, was der Mühe wert ist, an deinen Nachruhm. Er wird glänzend, wenn du dich tötest, und deine Angehörigen werden stolz auf dich sein. In der Familiennische des Bestattungstempels erhälst du einen Vorzugsplatz: Das ist das Höchste, was der Mensch erhoffen kann. (...) Wenn wir die Lust mißachten, dann nicht aus Puritanismus. Dieser amerikanische Wahn liegt uns fern. Nein, die Lust zu meiden ist deshalb, weil sie uns den Schweiß hervortreibt. Nichts ist schändlicher, als zu schwitzen. Wenn du mit vollen Backen deine Schale kochendheißer Nudeln verschlingst, wenn du dich der Raserei des Geschlechts hingibst, wenn du den Winter dösend am warmen Ofen verbringst, wirst du schwitzen. Und niemand wird mehr bezweifeln, daß du eine ordinäre Person bist. Zögere daher nicht zwischen der Selbsttötung und dem Schwitzen! Das eigene Blut zu vergießen verdient Bewunderung, Schweiß zu vergießen Verachtung. Wenn du dir den Tod gibst, schwitzt du nie wieder, und deine Beklemmung hat für all Ewigkeit ein Ende. (Amelie Nothomb: Mit Staunen und Zittern) ^


Selbstmörder und Prediger

Der Selbstmörder liegt in den Armen des Predigers.
Der Prediger spielt mit dem Strick des Selbstmörders, zieht ihn eng, lockert ihn wieder, zieht ihn wieder eng.
Selbstmörder: Meinst du, heut wäre ein guter Tag.
Prediger: Dafür ist jeder Tag gut.
Selbstmörder: Ich möchte einen besonders guten.
Prediger: Der beste ist der, an dem man glücklich ist. Das beweist Größe.
Selbstmörder: Wenn ich glücklich bin, muß ich mich nicht aufhängen.
Prediger: Das beweist: Du hast keine Größe.
Selbstmörder: Außerdem bin ich nie glücklich.
Prediger: Da kannst du dich gleich aufhängen.
Selbstmörder: Jetzt?
Prediger: Jetzt.
Selbstmörder: Jetzt bin ich sehr unglücklich. Jetzt hätte es keine Größe.
Prediger: Vielleicht kommt morgen schon der Krieg, und dann wirst du eine Leiche wie alle andern.
Selbstmörder: Das wäre schrecklich.
Prediger: Also jetzt.
Der Prediger zieht den Strick fest um den Hals des Selbstmörders. Der Selbstmörder springt plötzlich auf und schreit: Mörder. Mörder. Er reißt sich den Strick vom Hals , legt ihn dem Prediger um und will die Schlinge zuziehen. Er zerrt den Prediger am Strick durch die Kneipe wie eine Ziege. (Monika Maron: Das Mißverständnis. Vier Erzählungen und ein Stück) ^


Wedekinds Frühlings Erwachen

Lieber Herr Stiefel! (...) Es wäre umgekehrt die gröbste Verletzung meiner Pflicht als mütterliche Freundin, wollte ich mich durch Ihre momentane Fassungslosigkeit dazu bestimmen lassen, nun auch meinerseits den Kopf zu verlieren und meinen ersten nächstliegenden Impulsen blindlings nachzugeben. Ich bin gern bereit - falls Sie es wünschen - an Ihre Eltern zu schreiben. Ich werde Ihre Eltern davon zu überzeugen suchen, daß Sie im Laufe dieses Quartals getan haben, was Sie tun konnten, daß Sie Ihre Kräfte erschöpft, derart, daß eine rigorose Beurteilung Ihres Geschickes nicht nur ungerechtfertigt wäre, sondern in erster Linie im höchsten Grade nachteilig auf Ihren geistigen und körperlichen Gesundheitszustand wirken könnte. Daß Sie mir andeutungsweise drohen, im Fall Ihnen die Flucht nicht ermöglicht wird, sich das Leben nehmen zu wollen, hat mich, offen gesagt, Herr Stiefel, etwas befremdet. Sei ein Unglück noch so unverschuldet, man sollte sich nie und nimmer zur Wahl unlauterer Mittel hinreißen lassen. Die Art und Weise, wie Sie mich, die ich Ihnen stets nur Gutes erwiesen, für einen eventuellen entsetzlichen Frevel Ihrerseits verantwortlich machen wollen, hat etwas, das in den Augen eines schlecht denkenden Menschen gar zu leicht zum Erpressungsversuch werden könnte. Ich muß gestehen, daß ich mir dieses Vorgehens von Ihnen, der Sie doch sonst so gut wissen, was man sich selber schuldet, zuallerletzt gewärtig gewesen wäre. Indessen hege ich die feste Überzeugung, daß Sie noch zu sehr unter dem Eindruck des ersten Schreckens standen, um sich Ihrer Handlungsweise vollkommen bewußt werden zu können. Und so hoffe ich denn auch zuversichtlich, daß diese meine Worte Sie bereits in gefaßterer Gemütsstimmung antreffen. Nehmen Sie die Sache, wie sie liegt. Es ist meiner Ansicht nach durchaus unzulässig, einen jungen Mann nach seinen Schulzeugnissen zu beurteilen. Wir haben zu viele Beispiele, daß sehr schlechte Schüler vorzügliche Menschen geworden und umgekehrt ausgezeichnete Schüler sich im Leben nicht sonderlich bewährt haben. (...) Solche Krisen dieser oder jener Art treten an jeden von uns heran, und wollen eben überstanden sein. Wollte da ein jeder gleich zu Dolch und Gift greifen, es möchte recht bald keine Menschen mehr auf der Welt geben. Lassen Sie bald wieder etwas von sich hören und seien Sie herzlich gegrüßt von Ihrer Ihnen unverändert zugetanen mütterlichen Freundin Fanny G. [Wedekind: Frühlings Erwachen, S. 54. Digitale Bibliothek] ^


Bräker: Der Mann im Tockenburg

Ein andermal stellte mir der Bösewicht des jungen Werthers Mordgewehr auf einer sehr vortheilhaften Seite vor. "Du hast zehnfach mehr Ursach' als dieser - und er war doch auch kein Narr, und hat sich noch Lob und Ruhm damit erworben, und wiegt sich nun im milden Todesschlummer? - Doch wie? - Pfui eines solchen Ruhms"! [...] Wenn mein Weib, wenn ich selbst, mir solche nur zu wohl verdiente Vorwürfe machen, dann kämpf' ich oft mit der Verzweiflung; wälze mich halbe Nächte im Bett herum, rufe den Tod herbey, und bald jede Art mein Leben zu endigen scheint mir erträglicher, als die äusserste Noth der ich alle Tage entgegensehe. Voll Schwermuth schleich' ich dann langsam unsrer Thur nach, und blicke vom Felsen herab scharf in die Tiefe. Gott! wenn nur meine Seele in diesen Fluthen auch untergehen könnte! (Ulrich Bräker: Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg) ^


Paasilinna: Der wunderbarere Massenselbstmord (1)

Sechzig Seminarteilnehmer, jeder Zehnte von denen, die auf die Annonce geantwortet hatten, erklärten am Ende ihre feste Absicht, sich umzubringen, und das gemeinsam und gleichzeitig. Die drei Organisatoren waren entsetzt. Helena Puusaari versuchte die Selbstmordlust der Kerntruppe zu bremsen, aber ihr Appell fruchtete nicht. Oberst Kemppainen sah sich gezwungen, die Versammlung, die eine so schicksalhafte Wendung genommen hatte, aufzulösen. Das Publikum gehorchte nicht. Maßnahmen wurden verlangt. Die allgemeine Meinung war, dass sich die verbliebenen Seminarteilnehmer nicht mehr trennen, sondern als Gruppe zusammenbleiben sollten. Komme, was da wolle, und alle wussten, was kommen würde. (Arto Paasilinna: Der wunderbare Massenselbstmord, Lübbe 2002) ^


Paasilinna: Der wunderbarere Massenselbstmord (2)

Zu ergründen war auch, warum der Mensch in der Stunde seines Freitodes das eigene Heim verließ. Und warum er sich dann trotzdem einen geschützten Ort suchte, wie eben jene alte Scheune. Wollte er unbewußt vermeiden, dass in der eigenen Wohnung Unordnung entstand? Der Tod war ja selten ein besonders schönes und sauberes Ereignis. Der Mensch suchte sich eine geschützte Stelle, damit die Leiche, auch die hässliche, nicht unter freiem Himmel lag und vom Regen durchnässt oder von den Vögeln vollgeschissen wurde. (Arto Paasilinna: Der wunderbare Massenselbstmord) ^


Compton-Burnett: Männer und Frauen (2)

"Ich sehe nicht ein, warum wir nicht unser Leben beenden sollten, wenn wir es wünschen", sagte Jermyn. "Vielleicht würden dann die Menschen nicht so viel oder so lange leiden, wie wir meinen", sagte Harriet wie zu sich. "Harriet, meine Liebe!" sagte Godfrey, während Dominic, unwillkürlich bestürzt, zur Gastgeberin hinüberblickte. "Sein Leben selbst zu beenden, beweist einen Mangel an Mut", sagte Agatha mit milder Nachsicht für alle menschlichen Handlungen. "Ich glaube, es erfordert zuviel Mut. Ich jedenfalls wäre eine zu feige Seele, es auch nur zu versuchen", sagte Geraldine. (Ivy Compton-Burnett: Männer und Frauen) ^


Compton-Burnett: Männer und Frauen (1)

"Für mich war es immer ein Beweis für die Gleichheit der Geschlechter, daß Frauen ebensogut Selbstmord begehen wir Männer", sagte Geraldine mit einem Anlauf von Kühnheit. "Ich habe absolut nichts gegen Selbstmord, nur gegen das Hinterlassen von Briefen", sagte Mellicent. "Es ist ungezogen, einen Brief zu schreiben, und sich zugleich dem Risiko einer Antwort nicht zu stellen. (Ivy Compton-Burnett: Männer und Frauen) ^


Antunes: Die Vögel kommen zurück

"Menschen, die vergebens nach einem Sinn des Lebens suchen", bemerkte der Psychologe, während er sorgfältig mit dem Bleistift Kreise auf ein Blatt Papier zeichnete, "sind immer potentielle Selbstmörder. Früher oder später wirft sie die Leere des Alltags in Ängste, wie eingesperrte Ratten in einem Versuchslabor, und dann haben wir die Tabletten, das Gas, den Strick, die Kugel, die Schwefelsäure, die achten Stockwerke, das Messer, den Strom, den Viadukt, die Pestizide von den Weinbergen, das Öl, das Meer: ihre Phantasie, meine Damen und Herren, kennt im wahrsten Sinne des Wortes keine Grenzen." (Antonio Lobo Antunes: Die Vögel kommen zurück) ^


Gustav Flaubert: November

Da erschien mir der Tod schön. Ich habe ihn immer geliebt. Als Kind wünschte ich ihn mir aus Neugierde herbei, um zu wissen, wie es in den Gräbern aussieht und was für Träume jener Schlummer birgt. Ich erinnere mich, oft den Grünspan von alten Sousstücken abgekratzt zu haben, um mich damit zu vergiften. Ich versuchte, Nadeln zu verschlucken, mich der Bodenluke zu nähern, um mich auf die Straße zu stürzen... Wenn ich daran denke, daß fast alle Kinder es ebenso machen, daß sie sich bei ihren Spielen zu entleiben suchen, sollte ich daraus nicht schließen, daß der Mensch trotz allem den Tod mit verzehrender Leidenschaft liebt? Er weiht ihm alles, was er schafft, er ist aus ihm geboren und kehrt zu ihm zurück. Solange er lebt, denkt er nur an ihn, er trägt seinen Keim im Körper und den Wunsch danach im Herzen. (Gustav Flaubert: November) ^


Gustav Flaubert: In Briefen...

Die Rechtswissenschaften bringen mich um, verblöden und lähmen mich, es ist mir unmöglich, dafür zu arbeiten. Wenn ich drei Stunden meine Nase in das Gesetzbuch gesteckt habe, während derer ich nichts begriffen habe, ist es mir unmöglich, noch weiter fortzufahren: ich würde sonst Selbstmord begehen (was sehr betrüblich wäre, denn ich berechtige zu den schönsten Hoffnungen)... Das Studium der Rechte verbittert meinen Charakter in höchstem Maße: ich knurre unaufhörlich, wettere, murre und brumme sogar gegen mich selbst und auch wenn ich ganz allein bin. Vorgestern abend hätte ich hundert Franc (die ich nicht besaß) darum gegeben, wenn ich irgend jemand eine Tracht Prügel hätte verabreichen können. (Gustav Flaubert in Briefen an Ernst Chevalier und seiner Schwester Caroline) ^


Heinrich von Kleist: Abschiednehmen

Ich kann nicht sterben, ohne mich zufrieden und heiter, wie ich bin, mit der ganzen Welt, und somit auch, vor allem andern, meine teuerste Ulricke, mit Dir versöhnt zu haben... die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war... möge Dir der Himmel einen Tod schenken, nur halb an Freude und aussprechlicher Heiterkeit dem meinigen gleich. (Heinrich von Kleist in seinen Abschiedsbriefen vor dem Suizid) ^


Brentano: Geschichte vom braven Kasperl

Ich konnte diese letzten Worte eines gewiß edeln unglücklichen Menschen nicht ohne bittere Tränen lesen. - "Der Kasper muß ein gar guter Mensch gewesen sein, liebe Mutter", sagte ich zu der Alten, welche nach diesen Worten stehen blieb und meine Hand drückte und mit tiefbewegter Stimme sagte: "Ja, es war der beste Mensch auf der Welt. Aber die letzten Worte von der Verzweiflung hätte er nicht schreiben sollen, die bringen ihn um sein ehrliches Grab, die bringen ihn auf die Anatomie. Ach, lieber Schreiber, wenn Er hierin nur helfen könnte!" "Wieso, liebe Mutter?" fragte ich, "was können diese letzten Worte dazu beitragen?" - "Ja, gewiß", erwiderte sie, "der Gerichtshalter hat es mir selbst gesagt. Es ist ein Befehl an alle Gerichte ergangen, daß nur die Selbstmörder aus Melancholie ehrlich sollen begraben werden, alle aber, die aus Verzweiflung Hand an sich gelegt, sollen auf die Anatomie; und der Gerichtshalter hat mir gesagt, daß er den Kasper, weil er selbst seine Verzweiflung eingestanden, auf die Anatomie schicken müsse." "Das ist ein wunderlich Gesetz", sagte ich, "denn man könnte wohl bei jedem Selbstmord einen Prozeß anstellen, ob er aus Melancholie oder Verzweiflung entstanden, der so lange dauern müßte, daß der Richter und die Advokaten drüber in Melancholie und Verzweiflung fielen und auf die Anatomie kämen. Aber seid nur getröstet, liebe Mutter, unser Herzog ist ein so guter Herr, wenn er die ganze Sache hört, wird er dem armen Kasper gewiß ein Plätzchen neben der Mutter vergönnen." (Clemens Brentano: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl) ^


Im Zeichen des Löwen

Selbstmord ist ein sehr interessantes Thema", fuhr der Polizeipräsident fort und ließ sich in den Sessel zurücksinken, denn er wußte, daß alle jetzt ganz genau zuhörten. "Düster und sehr interessant. Der Unterschied zwischen uns allen, die wir ab und zu in schweren Stunden mit dem Gedanken spielen, uns das Leben zu nehmen... Der Unterschied zwischen uns und den anderen ist, daß wir uns darüber Gedanken machen, wie ein solcher Todesfall die Menschen treffen würde, die uns nahestehen", sagte er leise. "Wir sehen, welch entsetzliche Tragödie er für sie wäre. Also beißen wir die Zähne zusammen, und einige Monate später sieht das Leben schon etwas besser und heller aus. ... Aber der echte Selbstmordkandidat denkt anders. Er glaubt, daß das Leben für diejenigen, die ihn lieben, besser wird, wenn er sich für den Tod entscheidet. Er empfindet sich als Belastung. Nicht unbedingt, weil er etwas falsch gemacht hat, sondern weil sein Schmerz so ... so unerträglich wird, daß er auf die anderen übergreift und auch ihnen das Leben unerträglich macht. Das glaubt er zumindest. Und nimmt sich das Leben. (Anne Holt: Im Zeichen des Löwen) ^


Updikes Hexen von Eastwick

In John Updikes Roman Die Hexen von Eastwick wird auf den Seiten 174 bis 183 (Taschenbuchausgabe) beschrieben, wie ein Zeitungsverleger, nachdem er seine nervige Frau mit dem Feuerhaken erlegt hat, seinen Selbstmord vorbereitet und dabei Bilanz zieht, die in einer Erkenntnis mündet: "Gabriel erkannte hingerissen, daß es keinen Grund gab, sich zu fürchten, natürlich geht unser Geist durch die Materie hindurch, göttlicher Funke, der er ist, natürlich würde es ein Leben danach geben mit unendlich vielen Möglichkeiten, ein Leben, in dem er mit Felicitas ins reine kommen und auch Sukie haben könnte, nicht einmal, sondern endlose Male, ganz so, wie Nietzsche es vorhergesagt hatte. Der lebenslange Nebel hob sich, alles war klar wie korrigiertern Satz, er begriff den Sinn, den die Sterne ihm gesungen hatten, candida sidera, als sie Licht tupften aus seinem bleischweren Geist, der versunken war in seinem stolzen. Sumpf." Danach besteigt er die Aluminiumsleiter... ^


Hesse: Die Morgenlandfahrt

Auch in früheren Jahren schon hatte ich ähnliche Stunden ausgekostet. Damals war jedoch solche Verzweiflung mir so erschienen, als sei ich, verirrter Pilger, am äußersten Rand der Welt angelangt, und es sei jetzt nichts mehr zu tun, als der letzten Sehnsucht zu folgen: sich vom Rande der Welt ins Leere fallen zu lassen, in den Tod. Mit der Zeit war die Verzweiflung zwar oftmals wiedergekehrt, der heftige Drang zum Selbstmord aber hatte sich verwandelt und war beinahe erloschen. Es war mir der "Tod" kein Nichts mehr, keine Leere, keine Negation. Es war auch vieles andre anders geworden. Die Stunden der Verzweiflung nahm ich jetzt so, wie man starke körperliche Schmerzen nimmt: man erduldet sie, klagend oder trotzig, man fühlt, wie sie schwellen und zunehmen, und spürt eine bald wütende, bald spöttische Neugierde, wie weit das noch gehen, wie hoch der Schmerz sich noch steigern könne. (Hermann Hesse: Die Morgenlandfahrt) ^


Keyserling: Dumala

"Die Galgenbrücke hat Rast einreißen lassen", sagte Werland. "Ja, es war Zeit", erwiderte Werner zerstreut. "Eine Gelegenheit weniger, sich aus der Welt zu befördern", meinte Werland, "aber Sie haben wohl keine Selbstmörder unter Ihren Gemeindekindern, was?" "Nein, Gott sei Dank." "Die Leute hier", fuhr Werland fort, "sind wie die kleinen Leute, die selten ins Theater kommen. Wenn sie mal ihren Platz bezahlt haben, dann bleiben sie bis zu Ende, wenn auch ein Stümper das Stück geschrieben hat und sie nur gähnen und sich ärgern müssen. Wir alle machen es wohl so." (Eduard Graf von Keyserling: Dumala) ^


Thelen: Insel des zweiten Gesichts

Wir waren verschämte Arme. Vielleicht würden wir uns aufhängen, sofern ein letztes, dringendes Telegramm an die Filmleute ohne Erfolg bliebe. Vielleicht? Schnell bei der Hand mit kurzen Prozessen, hatte ich diese Lösung vorgeschlagen. Beatrice fand Selbstmord aber lächerlich und feige, und Aufhängen zudem noch unästhetisch, das überlasse sie gern dem Fuhrmann Henschel aus Hauptmanns Drama und ähnlichen Proletariern der Literatur. Wenn sie je Hand an sich legen würde, dann nur im Stile der Sappho, die sich, die Leier schlagend, vom Leukadischen Felsen ins Meer gestürzt. (Albert Vigoleis Thelen: Die Insel des zweiten Gesichts) ^


Thelen: Insel des zweiten Gesichts

Ich mißbillige den Selbstmord, den uns die Schöpfung schließlich in einprägsamen Beispielen vorgelebt hat, nicht. Seine Vorstellung ist mir sogar erhabener als der Tod, der einen Menschen fertigmacht durch einen Blumentopf, der aus der fünften Etage auf seinen Schädel fällt mit demselben Vorwissen Gottes, der auch den fallenden Spatz in den Allplan einbezieht. Jeder Mensch hat das Recht, mit seinem Leben anzufangen, was ihm beliebt; macht er Schluß damit, so ist das seine Sache. Eine andere ist es indessen, ob das seinen Mitmenschen behagt. Die meisten erblicken darin einen Eingriff in die Natur, und wenn das jeder täte - da liegt der Haken. Aus Egoismus will der Mensch, daß auch der andere am Leben bleibe, oder von des Nächsten Hand falle, wenn er zuviel wird. (Albert Vigoleis Thelen: Die Insel des zweiten Gesichts) ^


Krausser: Schmerznovelle

Im Internet gab es eine Website, auf der Selbstmordaspiranten und solche, die an dem Versuch bereits gescheitert waren, ihre Erfahrungen austauschen konnten. Da wurden saubere und schmerzlose Wege besprochen, ebenso Nachlaß- und Versicherungsfragen, Aspekte der Leichenentdeckung durch Angehörige und vieles mehr. Manche der Chatter beschlossen, sich zu treffen und gemeinsam aus der Welt zu gehen, andere benötigten Hilfe und boten Geld dafür, wieder andere begannen hemmungslos miteinander zu flirten. In einer Rubrik konnte man seine Vorstellung vom Jenseits per Bild präsentieren oder ausformulieren. Das war interessant. Es gab neben dem mehrheitlichen Schwarz in Schwarz auch ganz prächtig ausgemalte, arkadische Idyllen, so daß man sich fragen mußte, was jene Träumer denn noch länger von ihrem Freitod abhielt. Offensichtlich waren die Urheber jener Schilderungen höchst vernünftige Leute, die ihre Freizeit opferten, um die überbevölkerte Erde durch schwelgerische Visionen ein wenig zu entlasten. Denen gegenüber standen in den Chatrooms verständnisvoll-besorgte Missionare, die Spaß daraus bezogen, Wackelkandidaten weichzureden und zurück ans Ufer des Lebens zu binden. Redeschlachten kamen in Gang, verbissen wurde gekämpft um jede Seele, die sich als gefährdet offenbarte. (Helmut Krausser: Schmerznovelle) ^


Werfel: Eine blaßblaue Frauenschrift

Dieser Frack ist nämlich ein Erbstück. Ein Studienkollege und Budennachbar hat ihn Leonidas testamentarisch hinterlassen, nachdem er sich eines Abends im Nebenzimmer eine Kugel unangekündigt durch den Kopf gejagt hatte. Es geht fast wie im Märchen zu, denn dieses Staatsgewand wird entscheidend für den Lebensweg des Studenten. Der Eigentümer des Fracks war ein "intelligenter Israelit". (So vorsichtig bezeichnet ihn auch in seinen Gedanken der feinbesaitete Leonidas, der den allzu offenen Ausdruck peinlicher Gegebenheiten verabscheut.) Diesen Leuten ging es übrigens in damaliger Zeit so erstaunlich gut, daß sie sich dergleichen luxuriöse Selbstmordmotive wie philosophischen Weltschmerz ohne weiteres leisten konnten. (Franz Werfel: Eine blaßblaue Frauenschrift) ^


Härtling, Hoffmann

Ich bin ihr verfallen, und du weißt es, wie ich leide, wie ich mich an der Grenze bewege, manchmal mit der Pistole spiele, denn eine Kugel genügt, diesem Elend, das ich für Glück halte, ein Ende zu bereiten, aber dann ziehe ich doch, unvernünftig und nicht verrückt, den roten Ungarn vor, den Rausch und diesen Rest von Hoffnung, Julia zu gewinnen, ihre Liebe zu wecken. (Peter Härtling: Hoffmann oder Die vielfältige Liebe) ^


Steinbeck: Straße der Ölsardinen

Er sagte sich, daß er an dem traurigen Vorfall nichts hätte ändern können, aber er wünschte, er hätte es vorher gewußt und hätte versucht zu helfen. Des Menschen Recht, sich den Tod zu geben, war für ihn unbestreitbar; diese Anschauung wurzelte tief in seinem menschlich duldsamen Gemüt. Aber manchmal könnte ein Freund die Ausübung dieses unverletzlichen Rechtes unmöglich machen, dachte er bekümmer. (John Steinbeck: Die Straße der Ölsardinen) ^


Leere Drohung

Nach einer tiefen, letzten Kränkung, mit welcher die Mutter den gemeinen Wortwechsel beim Abendbrot schließlich ausfaucht, verläßt der Vater den gemeinsamen Tisch und schließt sich in sein Zimmer ein. Nicht einmal das Kind, das später zur Versöhnung geschickt wird, erlangt Zutritt. Erst kurz vor Mitternacht kommt er wieder hevor, kleidet sich zum Ausgang an und meldet der Mutter kurz, er haben noch einen Weg vor und zwar jenen zum Wasserwerk, der über eine gewisse Brücke, an einem gewissen Bahndamm entlangführt, wie bekannt. Über die Uhrzeit der Rückkehr wird dunkel getan. Das kleine Mädchen steht dabei und heult erbärmlich gegen den Vater, der sie so grausam auf Nimmerwiedersehn anblickt. Wenn er gegen Morgen den Schlüssel ins Türschloß steckt und Brücke und Schiene ihn noch einmal freigegeben haben, springt Grit aus ihrem Bett und rennt ihm entgegen, klammert sich an seine Hüfte, hängt ihm an die Tasdchen seines Mantels. Dann nimmt er die Kleine auf den Arm und sie lachen beide erlöst. (Botho Strauß: Rumor) ^


Vila-Matas: Vorbildliche Selbstmorde

Mein armer, lieber Hans, dachte sie, während sie das Fenster öffnete und die kalte Morgenluft mit einem Schlag den ganzen Raum durchdrang, und Rosa Schwarzer grübelte über das ausweglose Unglück ihres Sohnes nach, und da kam ihr plötzlich in den Sinn, sich ins Leere stürzen oder, besser gesagt, in den harten Hof der Nachbarin, die zweite Gelegenheit, die sich ihr darbot, zu nützen, ebenso einfach wie unübertrefflich, um sich das Leben zu nehmen und frei zu werden, indem sie sich von allem und jedem losmachte und endlich aus dieser tragischen, grotesken Welt schied. (Enrique Vila-Matas: Vorbildliche Selbstmorde) ^


Eric-Emmanuel Schmitt: Monsieur Ibrahim

Im Salon nahm der Kommissar meine Hand und sagte freundlich zu mir: "Mein Junge, wir haben eine schlechte Nachricht für Sie. Ihr Vater ist tot." Ich weiß nicht, was mich im Grunde mehr überrascht hat, der Tod meines Vaters oder daß der Bulle Sie zu mir gesagt hat. Jedenfalls bin ich daraufhin erst mal in den Sessel gesackt. "Er hat sich in der Näher von Marseille vor einen Zug geworfen." Auch das war merkwürdig: Deswegen nach Marseille zu fahren! Züge gibt es doch überall ..." (Eric-Emmanuel Schmitt: Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran) ^


Agatha Christie: Auch Pünktlichkeit...(1)

"Sie haben demnach keine Ahnung, warum er sich erschossen haben könnte?" Langsam sagte Hugo: "Ach Gott - so kann man es nun auch wieder nicht ausdrücken..." "Sie haben also eine gewisse Ahnung?" "Ja - schon -, es ist so schwer zu erklären. Natürlich habe ich nicht damit gerechnet, daß er Selbstmord verüben würde, aber so fürchterlich überrascht es mich nun auch nicht. Wenn Sie es genau wissen wollen, Monsieur Poirot: Mein Onkel war völlig übergeschnappt. Das war jedem klar." "Und das genügt Ihnen als Erklärung?" "Bringen sich denn nicht auch Leute um, die nur leicht blöd sind?" "Das ist eine Erklärung von bewundernswerter Schlichtheit." (Agatha Christie: Auch Pünktlichkeit kann töten) ^


Agatha Christie: Auch Pünktlichkeit...(2)

Ruhig sagte Poirot: "Sie haben zweimal das Wort 'unvorstellbar' gebraucht, Captain Lake. Kommt es denn für Sie derart überraschend, daß Sir Gervase Selbstmord verübt hat?" "Das kann ich allerdings behaupten! Es ist zwar kein Geheimnis, daß er völlig übergeschnappt war. Aber trotzdem kann ich mir einfach nicht vorstellen, daß er glaubte, die Welt könne ohne ihn auskommen." (Agatha Christie: Auch Pünktlichkeit kann töten) ^


Markus Werner: Festland

Fest steht: die Mutter hat dich geliebt, abgöttisch, das ist der Grund, warum wir zweifeln müssen an ihrer Absicht zu sterben, sie wollte es vielleicht ein wenig tun, ein Stück weit tun, wie jemand, der sich aus dem Fenster des zwölften Stockes lehnt, sich fallen läßt im Geist, das Gleichgewicht verliert und wirklich fällt, verstehst du, das ist kein eigentlicher Freitod, das ist der Sog der Möglichkeiten. (Markus Werner: Festland) ^


Luise Rinser: Winterfrühling

Selbstmorde. Januar 1982. Vor Jahren hat man vom Massenselbstmord der Lemminge gesprochen, dieser rattenartigen Tiere, die sich in Scharen ins Meer stürzen, das durchaus nicht ihr Element ist. Man fand keine Ursache. Jetzt schwimmen Hunderte von Robben in Japan an Land, das nicht ihr Element ist. Die Japaner, die großen schlimmen Robbenfänger, treiben, ja jagen jetzt die Robben von der Küste zurück ins Meer. Vergeblich: sie schwimmen eigensinnig an Land, um dort zu sterben. Der Vergleich mit uns Menschen drängt sich auf. Wollen wir den Massenselbstmord durch die Nuklearwassen? Wollen wir keine Rettung mehr? Ist die Zeit, die unsere Gattung zur Verfügung hatte, abgelaufen? Sind wir zwangsläufig Todes-Süchtige? (Luise Rinser: Winterfrühling. 1979-1982) ^


Selbstmord ist keine Art

Ich habe oft an Selbstmord gedacht. Was wissen wir, ob der Mensch,der neben uns sitzt und so zweifellos in die Welt schaut, nicht an Selbstmord denkt! Ich bin fast immer, wenn einer durch Selbstmord ging, verblüfft gewesen über meinen Mangel an Propheterie; fast nie sind es Leute gewesen, denen man es seit Jahren schon zutraute. Plötzlich hat sich einer, dem es an Gaben nicht fehlte, in die Schläfe geschossen. Was ist dazu zu sagen? Es gibt, glaube ich, wenig echte Selbstmorde. Da ist ein Vater, der uns tyrannisiert, und eines Morgens lege ich ihm meine Leiche auf die Schwelle. Bitte, Papa, da hast du´s! Oder eine Geliebte, der wir nicht mehr genug sind, und es lockt mich, sie zu strafen und zu erschrecken, indem ich ihr meine Leiche (wenn ich´s nicht schon für den unmöglichen Vater getan habe) in ihr Zimmer hänge. Das gibt es: Selbstmord für die Galerie. Ich glaube, daß der Selbstmörder, der auf Wirkung handelt, sich immer täuscht; wenn er sehen könnte, wie sein Vater oder seine Geliebte vor dem Unglück stehen, wie anders als erhofft, er wäre in jedem Fall enttäuscht und würde es unterlassen, wenn er nicht schon geschossen hätte. Es ist schade, daß er´s getan hat, aber nicht mehr. Vielleicht ist es furchtbar für die Geliebte, furchtbar für den Vater; aber beide, wenn sie zu mir kämen, würde ich von Selbstanklagen freisprechen – Selbstmord ist keine Art, mit anderen Menschen umzugehen, oder, anders gesprochen, es ist gar kein Selbstmord, sondern eine Erpressung derer, die weiterleben, und insofern gemein. Es liegt mir fern, über ihn den Stab zu brechen, den er bereits selber gebrochen hat; aber ich kenne keine Ehrfurcht vor solcher Tat. Er suchte nicht den Tod, sondern nur eine Wirkung aufs Leben, die er als Lebender eigentlich erleben möchte; eine Tat also, die nicht stimmt. (Max Frisch: Rede an junge Lehrer, in : NZZ, Nr. 149 vom 24.1.57 ) ^


Aufhellung

Valéry erzählte mir, was ihm als jungem Mann in London zugestoßen war. Es regnete jeden Tag. Er war allein und elend in seiner schäbigen Bude und wie er andeutete, sehr arm. Eines Tages entschloß er sich, Selbstmord zu begehen, aber als er den Schrank öffnete, um seinen Revolver herauszunehmen, fiel ein Buch zu Boden, er hob es auf, setzte sich hin und las. Der Autor hieß Scholl, an den Titel konnte er sich nicht mehr erinnern. Es war ein humoristisches Buch, er las es durch und unterhielt sich dabei so gut, daß ihm jede Lust an Selbstmord vergangen war, als er es beendet hatte. Wie schade, daß Valéry sich nicht an den Titel erinnern konnte! Es gelang mir nicht einmal, den Namen Scholl in irgendeinem Katalog aufzustöbern. (Sylvia Beach: Shakespeare and Company. Ein Buchladen in Paris, Suhrkamp) ^


Ein verfehltes Leben

Eine Zuflucht stand ihm offen. Nur der Übergang vom Leben zum Tod schien ihm schwierig. Er versuchte sich den Seelenzustand eines Menschen vorzustellen, der mutig genug wäre, bei diesem Nebel in den eiskalten Fluß zu springen und dann einige Minuten der gräßlichsten Erstickungskämpfe auf sich zu nehmen. Doch wenn die Grenze einmal überschritten ware, begann die glückselige Nacht der Auflösung. Er seufzte. Ein Gefühl des Heimwehs packte ihn beim Gedanken an diesen lichtlosen Horizont, und einen Augenblick träumte er davon, eine Hand in der Tasche, den Stock nachdenklich aufgestützt. Sein Leben war verfehlt; was er dem seinen vorzuwerfen hatte, war der Mangel an gründlichem Ernst. Obwohl er immer bedauerte, nicht bedeutend zu sein, obwohl er Geschmack an allem Schönen fand, lebte er häßlich, auf eine langweilige und zugleich frivole Art. (Julien Green: Treibgut)  ^


Inkonsequenz

Wir wollen gar nicht mehr weiterleben, wenn wir den uns am nächsten stehenden Menschen verloren haben, so er damals im Ambassador, aber wir müssen weiterleben, wir bringen uns nicht um, weil wir zu feig dazu sind, wir versprechen noch am offenen Grab, daß wir bald nachfolgen werden und dann leben wir ein halbes Jahr später noch immer und es graust uns vor uns selbst. (Thomas Bernhard: Alte Meister) ^


Shakespeare: Titus Andronicus

Titus:
Wenn dir dein Herz mit wildem Pochen stürmt,
Kannst dus durch Streiche nicht beruhigen!
Mit Seufzern triff, mit Ächzen töt es, Kind,
Faß dir ein spitzig Messer mit den Zähnen
Und bohr am Herzen eine Wunde dir.
Daß jede Träne deiner armen Augen
Der Gruft zufließt und - wenn sichs vollgesaugt-
Im bittern Salz der arme Narr ertrinke! ^

Marcus
Pfui, Bruder, pfui! lehr sie gewaltsam nicht
Die Hand anlegen ihrem zarten Leib! ^


Gertrud Schwermut

Mit dem Schmerz werde ich fertig, aber gegen die Schwermut muß ich etwas tun. Sie tänzelt vor mir her und will mit mir anbändeln. Ich gebe ihr den Namen Gertrud, damit ich sie wirkungsvoller verhöhnen kann. Gertrud Schwermut, hau ab. Prompt stellt sie sich vor: Gestatten, Gertrud Schwermut, darf ich Sie ein bißchen herunterziehen? Hau ab, wiederhole ich. Sie verschwindet nicht, im Gegenteil, sie faßt mich an, ich spüre ihre schwarze Wärme. Vermutlich denkt sie, sie hätte mich im Griff. Sie drängt mich zum Brückengeländer hin, ich sehe auf das dunkle Wasser hinunter. Wir wärs mit einer Trennung vom Leben, fragt sie, wegen erwiesener Geringfügigkeit? Ich kenne diese Fragen, sie machen mich stumm. Gertrud redet auf mich ein wie ein schwer erziehbares Kind. Und doch ist sie ein bißchen verärgert, weil ich wieder nicht alles tue, was sie von mir verlangt. Eine halbe Minute kämpfe ich mit Gertrud Schwermut auf der Brücke, dann merke ich, es sind ihre Kräfte, die nachlassen, nicht meine. (Wilhelm Genazino: Ein Regenschirm für diesen Tag) ^


Mauriac: Fleisch und Blut

In welches dunkle Wasser sollte man sich werfen, um unterzugehen? Der Teich war nicht tief genug; er selbst hatte kein Gewehr; auch verspürte er nur noch die Kraft, sich mit ausgebreiteten Armen und geschlossenen Augen in einen Abgrund fallen zu lassen. Da dachte er, daß der Fluß nicht weit sei: ein konturloser Nebelschleier inmitten der Ebene kennzeichnete seinen unsichtbaren Lauf. Eine halbe Stunde Weg, und alles wäre vorüber, aber diese halbe Stunde noch! (Francois Mauriac: Fleisch und Blut)  ^


Der Meister von Petersburg

"Warum hat er sich umgebracht?" "Glaubst du, daß er sich umgebracht hat?" "Mama sagt, er hat sich umgebracht." "Niemand bringt sich selbst um, Matrjoscha. Man kann sein Leben in Gefahr bringen, aber man kann sich nicht wirklich selbst umbringen. Wahrscheinlicher ist, daß Pawel sein Leben aus Spiel gesetzt hat, um zu sehen, ob Gott ihn genug liebte, um ihn zu retten. Er hat Gott eine Frage gestellt: Wirst du mich retten? Und Gott hat ihm die Antwort gegeben. Gott hat gesagt: Nein. Gott hat gesagt: Stirb!" "Gott hat ihn umgebracht?" "Gott hat nein gesagt. Gott hätte auch sagen können: Ja, ich werde dich retten. Aber er hat lieber nein gesagt." "Warum?" flüstert sie. "Er hat zu Gott gesagt: Wenn du mich liebst, dann rette mich! Wenn es dich gibt, dann rette mich! Aber alles blieb still. Dann hat er gesagt: ich weiß, du bist da; ich weiß, du hörst mich. Und ich wette mein Leben darauf, daß du mich retten wirst. Und Gott hat immer noch nichts gesagt. Dann hat Pawel gesagt: Und wenn du auch noch so stumm bleibst, ich weiß, daß du mich hörst. Ich riskier's - jetzt! Und er hat seinen Einsatz hingeworfen. Und Gott ist nichts erschienen. Gott hat nicht eingegriffen. (J.M.Coetzee: Der Meister von Petersburg) ^


Operation Shylock

So anheimgegeben der Katastrophe des Selbstverlustes, wie ich es war, hätte das als Bestätigung von hinreichend verstörender Beweiskraft dienen können, um mich zur Überzeugung zu bringen, es sei nun soweit, Selbstmord zu begehen. Denn ich dachte die ganze Zeit daran, mich umzubringen. Gewöhnlich dachte ich daran, mich zu ertränken: in dem kleinen Teich, der vom Haus aus auf der anderen Seite der Straße lag... hätte ich nicht einen solchen Horror vor den Wasserschlangen gehabt, die dort an meinem Leichnam knabbern würden, in dem malerischen großen See, der nur wenige Meilen entfernt lag... hätte ich nicht solche Angst gehabt, allein dort hinauszufahren. (Philip Roth: Operation Shylock. Ein Bekenntnis) ^


Graf Petöfy

Es ist ein tiefes und schönes Wort, das Wort von der süßen Gewohnheit des Daseins; alles, was lebt, hängt auch am Leben, und nur der geht, der gehen muß. Unter den vielen Bücherweisheitssätzen, die mir von Grund aus zuwider sind, steht der von der besonderen Feiglingschaft derer, die das Pistol in die Hand nehmen, obenan. Nach dem bißchen Lebensweisheit, das ich mir anzueignen in der Lage war, hört das Pistol auf, wo die Feigheit anfängt, und hört die Feigheit auf, wo das Pistol anfängt. Wer es in die Hand nimmt, ist durch schwere Kämpfe gegangen. Achtung vor dem Unglück! (Theodor Fontane: Graf Petöfy) ^


Blom und die zweite Magenta

Frau Juhlin, dem Hörensagen nach eine melancholische Natur, war eines Abends hinunter zum See gegangen und hatte sich ertränkt. Aus welchem Grund, ob es nun etwas anderes war als Melancholie, ist nicht leicht zu sagen. In dieser Gegend war man ja daran gewöhnt, daß die Menschen an düsteren Novembertagen und in langen dunklen Winternächten schwermütig wurden. Kurz gesagt, dergleichen kam vor. (Lars Gustafsson: Blom und die zweite Magenta)  ^


Ein wunderbarer Gedanke

Selbstmord war eines seiner selbstverständlichsten Wörter, es ist mir seit der frühesten Kindheit vor allem aus dem Mund meines Großvaters vertraut. ich habe Erfahrung im Umgang mit diesem Wort. Keine Unterhaltung, keine Unterweisung seinerseits, in welcher nicht unausweichlich die Feststellung folgte, daß es der kostbarste Besitz des Menschen sei, sich aus freien Stücken umzubringen, wann immer es ihm beliebe. Er selbst hatte lebenslänglich mit diesem Gedanken spekuliert, es war seine am leidenschaftlichsten geführte Spekulation, ich habe sie für mich übernommen. Jederzeit, wann immer wir wollen, sagte er, können wir Selbstmord machen, möglichst auf das ästhetischste, sagte er. Sich aus dem Staub machen können, sagte er, sei der einzige tatsächlich wunderbare Gedanke. (Thomas Bernhard: Ein Kind) ^


Kaltblütig

Tränen, die auch dann noch nicht versiegen wollten, als die Musik zu Ende war. Und wie häufig in solcher Stimmung überkam ihn der Gedanke, der für ihn eine "enorme Faszination" hatte, der Gedanke an Selbstmord. Als Kind hatte er oft die Absicht gehabt, sich zu töten, aber das waren sentimentale Träumereien, aus dem Wunsch, seinen Vater, seine Mutter und andere Feinde zu bestrafen. Seit seinen Jünglingsjahren hatte dieser Gedanke jedoch viel von seiner Phantastik verloren. Schließlich war das Jimmys "Lösung" gewesen, und auch Ferns. Und neuerdings erschien ihm der Selbstmord nicht mehr als bloße Möglichkeit, sondern ganz definitiv als die Todesart, die auf ihn zukam. (Truman Capote: Kaltblütig) ^


Der Liebeswunsch

Eine unbestimmte Zeit sitzt sie in sich versunken in einem der beiden Sessel. Es ist, als sei sie schon nicht mehr da. Nach einer Weile steht sie auf und tritt auf die Loggia hinaus. Wieder herrscht Ebbe. Das Meer ist zurückgewichen bis zum Horizont. Es weht ein feuchter Wind. Sie ist nicht passend angezogen. Darauf kommt es nicht mehr an. Sie ist so weit weg von sich selbst, daß sie auch keine Furcht mehr hat, obwohl sie zittert. Sie wird Schluß machen, für immer. Schluß mit den Täuschungen, den Demütigungen, der Angst und der eigenen Schwäche. Nur noch eine Schwierigkeit muß sie überwinden: Sie muß sich rücklings auf die Brüstung der Loggia setzen, die Augen schließen, loslassen und Kopf und Arme nach hinten werfen. Es ist eigentlich ein Kinderspiel. Aber sie stellt sich ungeschickt an, weil sie so stark zittert und nicht in die Tiefe blicken will. Erst will sie richtig sitzen. Und dann... Im Fallen hört sie das laute Rauschen der vorbeiströmenden Luft. (Dieter Wellershoff: Der Liebeswunsch) ^


Familienlexikon

Silvio war der Bruder meiner Mutter, der Selbstmord begangen hatte. Sein Tod wurde in unserem Haus in Geheimnis gehüllt. Und noch heute weiß ich nur, daß er Selbstmord beging, aber nicht warum. Ich glaube, es war vor allem mein Vater, der diesen Tod mit Geheimnis umgab, weil wir nicht wissen sollten, daß es in unserer Familie einen Selbstmörder gab oder vielleicht auch noch aus anderen Gründen, von denen ich nichts weiß. Meine Mutter dagegen war immer fröhlich, wenn sie von Silvio sprach: Denn meine Mutter hatte eine so fröhliche Natur, daß sie von jedem Menschen und Ding nur das Gute und heitere in Erinnerung behielt und die schmerzlichen und bösen Seiten im Schatten ließ oder sich mit einem kurzen Seufzer von ihnen abwandte. (Natalia Ginzburg: Familienlexikon) ^


Zu doof zu sterben

Helge läuft durch die Stadt und fühlt nichts. Seine Augen sehen nichts, seine Nase riecht nichts und sein Bauch hat keinen Hunger. Er läuft herum und schleppt sein versautes Leben hinter sich her. Abends sitzt Helge in seinem kleinen Pensionszimmer. Das zum Hof hinausgeht und wirklich häßlich ist und überlegt, wie er sich umbringen könnte. Er fände es ziemlich gut, wenn die Decke auf ihn herunterstürzen würde, aber mit dem Kopf gegen die Decke zu springen ist eindeutig zuviel im Moment. Helge wünschte, er hätte ein ordentliches Problem. Eine Krankheit, einen Ruin, einen Menschen, der ihn betrogen hat. Und nicht so eine Problemsoße, wie er hat. Sein Vater hat das, woran Helge sterben will, immer hausgemachte oder selbstgemachte Probleme genannt. Und die haben eigentlich nur Weiber. Und die sind nicht ernst zu nehmen. So hat Helge das auch immer gesehn. Und nie hat er über sich nachgedacht oder was er eigentlich will und nicht will, und jetzt sitzt er hier und will sterben und ist selbst dafür zu blöd. In sich hat er ein Gewirr von ganz vielen Problemknäueln und findet von keinem Anfang und Ende. Immer ganz kurz hat er so ein Ende: Ich mag mich nicht, ich kann nichts, wo ist der Sinn, ich liebe nicht, und dann sind die Enden auch schon wieder weg, ehe er sie richtig zu greifen bekommt. Der Helge. Schön blöd. Sitzt er jetzt in Italien rum und ist zu doof zum Sterben. Helge beschließt, sich heute wieder nicht umzubringen, sondern unten in der Bar noch was zu trinken. Und wie er so die Treppen runtergeht, denkt sich Helge, ob man sich eigentlich auch tottrinken kann. Und wenn ja, wie lange das wohl braucht. (Sibylle Berg: Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot) ^


Kollektiver Selbstmord

Vielleicht ist die Liebe die letzte Idee in diesem Jahrtausend. Das Letzte, was wir noch nicht hingekriegt haben. Etwas zum dran glauben. Vielleicht bin ich deshalb so dahinter her. Wenn wir alle Pech haben, fängt ein neues Jahrtausend an, und wir merken, daß auch diese Idee nicht zum Dranglauben taugt. Weil sie Illusion ist, wie alles andere. Wie Revolution, Peace und so was. Vielleicht stehen wir dann da und machen kollektiven Selbstmord, weil, ohne an was zu glauben, lohnt das Leben nicht mehr. Vielleicht erlebt die Menschheit eine letzte, große Erleuchtung, bei diesem Selbstmord. Der müßte überall auf der Welt gleichzeitig passieren. Also, unter Berücksichtigung der zeitzonen. Überall, auf der Erde in der gleichen Minute. Vielleicht hören wir dann die Erde erleichtert auflachen, beim Gehen. (Sibylle Berg: Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot) ^


Mal angenommen

"Angenommen", sagte Billy, der sich ein Brot dick mit Apfelscheiben belegt hatte und nun hineinbiß, "er stürzt sich aus dem Fenster?" "Was?" "Begeht Selbstmord. Ich sage ja nur: angenommen. Er könnte sich doch aus dem Fenster stürzen." "Hat er davon gesprochen." "Ja." Frederick hatte dies und ähnliches ihr gegenüber viele Male geäußert. Sie hatte es vergessen, wie man einen bösen Traum vergißt, wenn es irgend fertigbringt- nicht immer weigert sich der Traum, zu verschwinden. Jetzt erinnerte sie sich an Fredericks Ausspruch: "Vielleicht stürze ich mich aus dem Fenster und mache Schluß." Sie hatte nie darauf geantwortet. Die Worte hatten sie erschreckt, und dann hatte sie sie vergessen. Sie sagte: "Er meint es nicht im Ernst. Das tun sie nie." "Tun sie nie?" fragte Billy. (Muriel Spark: In den Augen der Öffentlichkeit)  ^


Der richtige Zeitpunkt

Da er den Boden verlor, vor Anspannung nicht mehr konnte und spürte, wenn es so weiterginge, würde nicht mehr er selber sterben, sondern jemand, der keine Ähnlichkeit mehr mit ihm hätte, machte er eines Abends in der Jahreszeit, deren Tage nicht erlöschen zu wollen scheinen, von sich aus den großen Sprung, der ihn sich selber entriß. (Michel Leiris, Das Band am Hals der Olympia) ^


Wo, wann, wie, warum?

"Wenn sie auch die am wenigsten dringliche zu sein scheint... von den dreien ist sie trotzdem die größte und wichtigste... und die unabwendbarste... ja, ja, faßlichste und ungewisseste Gewißheit. Weil sie in fast schon irritierender Weise unklar ist in bezug auf das Wann! ... das Wo" ... das Wie! ... das Warum!" "Wo, wann, wie, warum... Um derartige Unklarheiten einer Klarheit zuzuführen, brauche ich nur Selbstmord zu begehen. Dann habe ich Ort, Zeit, Methode und Motiv selbst bestimmt. Hab ich recht oder nicht?" "Du bluffst! Scheinbar einer Klarheit zugeführt... vermeintlich selbst bestimmt... Hör zu. Ich kann mich nicht im Jahr 2197 umbringen. Und genausowenig im Jahr 1248. Ich kann mich nicht ertränken in dem, was mittlerweile Nordostpolder heißt, es sei denn, in einer dort stehenden Badewanne, und ich kann mir auch nícht in Niederländisch-Ostindien eine Kugel in den Kopf jagen. Und um mich in Danzig zu erhängen, muß ich derzeit nach Polen. Umgekehrt gilt, daß ich zu Cäsars Zeiten nicht das Auspuffrohr eines Autos in den Mund hätte nehmen können. Und am Ende des nächsten Jahrhunderts könnte ich nicht mehr vom Eiffelturm springen, weil der bis dahin längst in Grund und Boden gerostet ist... Und was das Motiv anbelangt, Albert... ein Anfall von Schwermut, eine schmerzliche Diagnose vom Facharzt, ein Korb, den man bekommen hat, ein Konkurs, ungünstige Börsennachrichten oder eine unglückliche Jugend... all das gibt noch keine Antwort auf die Frage, warum ein Mensch, nachdem er auf die Welt gekommen ist, sterben muß. So, jetzt du, und dann ich wieder." (A.Th.F. van der Heijden: Fallende Eltern) ^


Okinawa 1945

Es war kurz nach der Kapitulation. Die Bewohner von Okinawa wußten, daß der Krieg verloren war und daß die Amerikaner, die schon auf der Insel gelandet waren, das ganze Gebiet besetzen würden. Sie wußten auch, daß die neueste Anordnung die Einstellung des Kampfes befahl. Mehr wußten sie nicht. Ihre Führer hatten ihnen früher versichert, daß die Amerikaner sie allesamt umbringen würden, und bei dieser Überzeugung waren die Bewohner der Insel geblieben. Als die weißen Soldaten vorzumarschieren begannen, begann die Bevölkerung zurückzuweichen. Und je weiter der siegreiche Feind vordrang, desto weiter waren sie zurückgewichen. Und schließlich waren sie zum äußersten Ende der Insel gekommen, die in eine lange, weit ins Meer vorspringende Steilküste ausläuft. Und weil sie überzeugt waren, daß man sie umbringen werde, hatte die ungeheure Mehrheit unter ihnen sich von den Klippen herab in den Tod gestürzt. Die Felswand war sehr hoch, und das Wasser zu ihren Füßen war voller scharfkantiger Riffe. Von denen, die sich hinabstürzten, blieb keiner am Leben. Als die Amerikaner ankamen, waren sie entsetzt über das, was sie dort vorfanden. 1989 habe ich diese Steilküste besucht. Nichts, keine Gedenktafel oder auch nur ein Schild weist darauf hin, was dort geschehen ist. Tausende von Menschen haben sich binnen weniger Stunden umgebracht, ohne daß es den Ort berührt zu haben scheint. Das Meer hat die auf den Felsen zerschmetterten Körper verschlungen. Der Tod im Wasser ist in Japan noch immer geläufiger als der durch sep- puku. Es ist unmöglich, an diesem Ort zu stehen, ohne daß man versucht, sich in die Haut derer zu versetzen, die sich hier gemeinsam den Tod gegeben haben. Viele von ihnen haben es wahrscheinlich aus Furcht vor Folterungen getan. Wahrscheinlich ist auch, daß die Schönheit des Ortes viele zu einer solchen Tat ermutigt hat, die eine edle patriotische Pflichterfüllung symbolisierte. Nichtsdestoweniger gilt für diese Hekatombe als erstes folgender Satz: Von dieser prächtigen Felswand herab haben Tausende sich in den Tod gestürzt, weil sie nicht getötet werden wollten; Tausende haben sich getötet, weil sie den Tod fürchteten. Darin liegt für mich die beklemmende Logik der Paradoxie. Es geht nicht darum, eine solche Tat zu billigen oder zu verdammen. Den Leichen von Okinawa wäre es ohnehin egal. Aber ich bleibe dabei, daß der beste Grund für die Selbsttötung die Todesfurcht ist. (Amelie Nothomb: Metaphysik der Röhren) ^


Unverzichtbar

Ohne dieses Mädchen wird mir das Resultat meines Lebens so stinkend, so widerwärtig, so über alle Maßen abgeschmackt sein, daß mir nichts übrig bliebe, als eines schönen Morgens mich mittellos wie Papa Lippoldes und seelenlos wie seine sämtlichen tragischen Helden im fünften Akt in Monaco an einem Öl- oder Lorbeerbaum hängend oder an der Riviera mit 'nichts im Herzen als einer Kugel' finden zu lassen. (Wilhelm Raabe: Pfisters Mühle) ^


Dritte Möglichkeit

Er überlegte sich nochmals alle früher entworfenen Pläne. Eine gewisse Möglichkeit hatten nur zwei davon: Die Rückkehr in das Milieu, das er sich jahrelang konsequent und eisig entfremdet hatte, oder die endgültige Entfremdung auf die eigene Gesellschaft. Irgendwo, etwa in Florenz, eine Wohnung mieten oder ein Haus bauen, viel reisen, seine Schöpfungen entweder verborgen halten oder einem Verleger übergeben. Das Dritte wäre der Revolver oder die Gletscherspalte im Hochgebirge, aber Martin hatte sich den Gedanken des Selbstmords immer mit Strenge ferngehalten, vielleicht im instinktiven Bewußtsein, daß seinem ohnehin verarmten Leben dieser Hintergedanke auch den letzten Glanz, seinen unbeugsamen Stolz, rauben würde. Auch jetzt gewann dieser Gedanke nicht Gewalt über ihn. (Hermann Hesse: Der Dichter. Ein Buch der Sehnsucht) ^


Augen auf!

Jedes Jahr sagten sie es wieder, die Seelsorgestellen für Selbstmordgefährdete: "Die Zahl steigt." Es war ihre betriebsamste Zeit. Sie richtete Appelle an die Leute. Schauen Sie nach älteren Nachbarn, warten Sie nicht, bis sich die Milchflaschen vor der Tür ansammeln, kümmern Sie sich darum, daß sich jemand an Weihnachten umbringt. Wir können Weihnachten ja nicht einfach abschaffen, nur um ein Menschenleben zu retten. Halten Sie also an Weihnachten Ihre Augen offen, das lehrt uns die Erfahrung. (Michael Curtin: Der Club der Weihnachtshasser) ^


Die Krankheit

Damals haben sich in Pichl einige Menschen umgebracht, und ich erinnere mich an eine sehr ernste Predigt des Pfarrers, in der er nicht nur auf das Hochaltarblatt hinwies, das den Tod und die Erhöhung der Heiligen zeigt, die in Gott sterben, sondern auch auf das Bild über dem rechten Seitenaltar, das das Fegefeuer darstellt und die auf die Erlösung Wartenden in einem brennenden Feuer veranschaulicht... Hoffen wir zu Gott, sagte der Pfarrer, daß Krankheit, geistige Umnachtung und Sinnesverwirrung diejenigen, die sich selbst gerichtet haben, entschuldigen und vor dem ewigen Tode bewahren mögen. Mir machte diese Krankheit, von der der Pfarrer sprach und die zu diesem Tod führt, als Kinde die größte Angst, so sehr, daß diese Angst selbst allmählich zur Krankheit wurde und zur Krise führte. Verkanntsein und Krankheit erfuhr ich auch aus meinen Künstlerbiographien als jenen Preis, der für ein besonders künstlerisches Lebenswerk bezahlt werden muß. (Alois Brandstetter: Über den grünen Klee der Kindheit) ^


Gestus

Während der letzten Tage, die über der Verkündung des Urteils, dem Erlaß und der Veröffentlichung des Haftbefehls hingingen, trug Raoul überall ungewollt die kalte, finstere Miene zur Schau, die die Beobachter an allen feststellen können, die dem Selbstmord bestimmt sind oder ihn planen. Die düsteren Gedanken, denen sie nachhängen, drücken ihrer Stirn graue, verschwommene Töne auf; ihr Lächeln hat etwas Fatalistisches, ihre Bewegungen sind gespreizt. Diese Unglücklichen scheinen die goldenen Früchte des Lebens bis zur Schale aussaugen zu wollen; ihre Blicke richten sich bei jeder Gelegenheit aufs Herz; sie hören in den Lüften ihr Grabgeläut; sie sind geistesabwesend. (Honore de Balzac: Eine Evastochter) ^


Der kleine Stern

Als ich auf der Straße an das Erlöschen der Gasbeleuchtung dachte, blickte ich zum Himmel auf. Er war unheimlich dunkel, doch deutlich konnte man hellere, zerrissene Wolken unterscheiden und zwischen ihnen bodenlose schwarze Flecke. Plötzlich bemerkte ich in einem dieser Flecke einen kleinen Stern: ich blieb stehen und betrachtete ihn aufmerksam. Ich tat es nur, weil mir dieser kleine Stern einen Gedanken eingab: ich beschloß, mich noch in derselben Nacht zu erschießen. Das hatte ich schon vor zwei Monaten fest beschlossen, und wie arm ich auch war, ich hatte mir doch einen schönen Revolver gekauft und ihn noch am selben Tage geladen. Und doch waren seitdem schon zwei Monate vergangen und er lag immer noch in meinem Schubfach; es war mir alles dermaßen einerlei, daß ich einen Augenblick, in dem mir nicht alles so einerlei sein würde, abwarten wollte, warum - weiß ich nicht. Und so kam es denn, daß ich in diesen zwei Monaten in jeder Nacht auf dem Heimwege glaubte, ich würde mich in dieser Nacht erschießen. Ich wartete immer auf den Augenblick. Und plötzlich gab mir dieser kleine Stern den Gedanken, und ich beschloß, daß es unbedingt in dieser Nacht geschehen sollte. Warum mir aber der kleine Stern diesen Gedanken eingab, das weiß ich nicht. (Fedor M- Dostoevskij: Traum eines lächerlichen Menschen) ^


Früher oder später

Es lief wohl nicht so gut, zuletzt? Nein, sagte Sonja. Eine Patientin von mir hat sich umgebracht. Ellen spürte, wie ihre Kopfhaut sich zusammenzog. Nach einer Weile fragte Sonja, ob sie sich an die junge Frau erinnere, von der sie ihr mal erzählt habe: die kleine blonde Verkäuferin, von der sich ihr Mann getrennt hatte und der man, auf Antrag des Mannes, wegen ihrer Depression das Sorgerecht für ihr Kind entzogen habe. Letzten Sonntag sei sie vom vierzehnten Stock eines Hochhauses gesprungen. Ellen fiel nichts ein als der sinnlose Satz: Du hast keine Schuld. Nein, sagte Sonja. Aber ich habe mich dafür eingesetzt, daß sie diesen Wochenendurlaub bekam. Ich habe die Frau nicht gut genug gekannt. Wieder nach einer langen Weile fragte Ellen, ob sie es nicht für möglich halte, daß es Menschen gebe, die in jedem Fall eine Gelegenheit ergreifen würden, sich umzubringen. Früher oder später. Ja, sagte Sonja, sie halte das für möglich. Sie halte es für möglich, daß es Menschen gibt, denen nicht zu helfen sei. Das sei ja überhaupt das Problem. Aber davon dürfe sie in ihrer Arbeit nicht ausgehen. (Christa Wolf: Sommerstück)  ^


Saisonal

Der Herbst, wenn die Tiere Nahrung suchen, um sich für den Winter dick zu fressen, ist die Zeit für die Menschen, sich einen Schlafpartner für die Kälte zu suchen, denn im Frühling ist das alles nur Hopsen und Freuen und Kindermachen. Deshalb gibt es Menschen, die im Frühling Selbstmord begehen, weil nicht alle bei dem ganzen Jubel mitmachen wollen. (Meir Shalev: Judiths Liebe) ^


Kubiczek: Junge Talente

Die größten Triumphe in den Kindheitstagen verdankte er jedoch der Natur. Es ging dabei um die Möglichkeit, von den Felsen in die Tiefe der Schlucht zu springen und derart das Leben zu beenden. Stets mit tiefer Verachtung in der Stimme berichtete sein Vater von diesen Lebensmüden, Subjekten, wie er sie nannte, die sich irgendeiner ominösen Verantwortung entziehen würden. Less war das egal. Auffällig abwesend saß er am Abendbrottisch, wenn sein Vater die Neuigkeiten aus dem Werk mitbrachte. Hinter vorgehaltener Hand, mit einem Eifer, der schlecht zu seiner Entrüstung paßte, raunte er sie der Mutter zu, hin und wieder einen mißtrauischen Blick auf den Sohn werfend, der wußte, wann es sich nicht schickte, aufmerksam zu sein. Während er gleichgültig den Kopf abwandte, um fleißig im Essen zu stochern, merkte er sich selbst die unnützen Details jener Schaurigkeiten. Später dann, wenn die Eltern im Wohnzimmer saßen, sein Vater die Fernsehbilder studierte oder in einer öden Fachzeitschrift blätterte, die Mutter Wäsche ausbesserte und die Gespräche zwischen beiden allmählich verebbten, lag er im angrenzenden Zimmer wach und wiederholte die am Küchentisch aufgeschnappte Geschichte des Suizids. Zunächst rief er sich die blanken Fakten ins Gedächtnis: den Ort, den Felsen oder Felsvorsprung, an dem die Tat geschehen war, die Tageszeit, die Herkunft des Selbstmörders, ob Einheimischer oder Zugereister, und nicht zuletzt das Motiv für den Sprung, über das in der Stadt noch wochenlang spekuliert wurde, das sich wandeln konnte, ja mußte, um die Geschichte eine Weile länger in aller Munde zu belassen, so lange, bis es erneut jemand wagte. (Andre Kubiczek: Junge Talente) ^


Timm: Kerbels Flucht

Allen haftete etwas Besonderes, Einmaliges an. Eine Studentin war von einem zwanzigstöckigen Hochhaus auf eine belebte Straße gesprungen. Zuvor hatte sie sich oben auf dem Dach die Pulsadern aufgeschnitten. Was für ein Spektakel. Es heißt, die Bekanntschaft der Studentin hätten keinerlei Anzeichen bemerkt, die auf die Tat einen Hinweis gegeben hätten. So mußte sie sich auf eine belebte Straße stürzen. (Uwe Timm: Kerbels Flucht) ^


Cunningham: Die Stunden

"Es könnte, denkt sie, zutiefst tröstlich sein; es könnte sich so befreiend anfühlen: einfach wegzugehen. Allen zu sagen: Ich habe es nicht geschafft, ihr hattet keine Ahnung; ich wollte es nicht mehr versuchen. Es könnte, denkt sie, eine schreckliche Schönheit darin liegen, wie auf einem Eisfeld oder in einer Wüste früh am Morgen." (Michael Cunningham, Die Stunden) ^


Krausser: UC

"Sie behaupten, Sie haben alles erreicht. Das hört man selten aus einem Mund von kaum vierzig Jahren. Könnte es sein, daß die Phänomene, mit denen Sie kämpfen, Symptome eines Lebensüberdrusses sind? Sind Ihnen Gedanken wie: Ich kenne alles, es ist mir langweilig. Eigentlich könnte jetzt alles zuende sein, es wiederholt sich höchstens etwas - fremd? Haben Sie sich schon mal mit Selbstmordgedanken befaßt?" "Theoretisch, ja. So wie man in ein Flugzeug einsteigt und sich denkt: Was geht der Welt verloren, wenn es abstürzt? Kleinigkeiten, Krimskrams. Das Wesentliche habe ich geschafft. Werde ich schreien, wenn das Flugzeug abstürzt? Nein. Solche Gedanken. Aber ich liebe das Leben zu sehr, um an einen aktiven Suizid zu denken oder etwas Ähnliches heraufzubeschwören." (Helmut Krausser: UC) ^


Johnson, Zwei Ansichten

Die D. vergaß sich nur einmal, als sie an einem Besuchstag in ein Gespräch mit einem Patienten hineinhörte. Der Vater des Kranken erzählte in beiläufigem, überhörbarem Ton etwas von den Leichenschauhäusern der Oststadt, die von Selbstmorden über die Platzzahl hinaus gefüllt seien. - Und das sind nur die geglückten: fügte er hinzu. (Uwe Johnson: Zwei Ansichten)  ^


Interview mit Walter Kempowski

Weltwoche: Sie haben einmal versucht, sich das Leben zu nehmen. - Walter Kempowski: Ja, als Häftling in Bautzen, 1950. Mir wäre viel erspart geblieben, wenn es geklappt hätte – aber auch viel entgangen. So ist die Welt. Ich hatte als Dorfschulmeister einen schweren Beruf, andererseits wurde ich Schriftsteller und hatte das Glücksgefühl, mit Büchern durchs Land reisen und das sogenannte Feedback erleben zu dürfen mit meinen Lesern. Dann habe ich nette Kinder, Enkelkinder, erstaunlich fähige Mitarbeiter, und mein Kopf ist klar. (Quelle^


Wille zur Dummheit

Der Selbstmord entzieht sich der moralischen Wertung. Er ist die freie Entscheidung jedes einzelnen, und eine Gesellschaft, die täglich auf verschiedene Arten Menschen umbringt, hat am allerwenigsten das Recht, ihm diese Entscheidung streitig zu machen. Der Intellekt kann die Tatsache des Lebens entweder unerträglich finden oder vor seiner Vergänglichkeit erschrecken. Pascal, der vor der Gewißtheit seines Todes erschrak, und der Lebensmüde, der sich in die Tiefe zu stürzen wünscht, überschauen den Gipfel ihrer Existenz. Sie gelten als verwirrt. Aber Pascal hat zu Recht darauf hingewiesen, daß jenen, denen die die Phantasie zu ihrem Tode fehlt und die im täglichen Einerlei ihrer Zerstreuung ein Genüge finden, die eigentlich Wahnsinnigen sind. Am glücklichsten aber sind jene, denen die Zerstreuung aus Einsicht gelingt und die, weil sie die Konsequenzen ihres Verstandes fürchten, auf jede Handhabung eben dieses Verstandes verzichten. Es ist der Wille zur Dummheit. Diese höchste Leistung des Intellekts kommt nie zum Ziel, aber solange der Wille andauert, sieht der Intelligente immer noch die Möglichkeit zu leben. (Hartmut Lange: Tagebuch eines Melancholikers)  ^


Nachträglich

Wie waren wir auf das Thema gekommen? Ali, ein junger, schlechter Poet, hatte sich umgebracht, infolge eines Selbsterkenntnisschocks. In seinem 87 Seiten langen Abschiedsbrief brachte er eine Wendung unter, die ihm besonders gefallen haben muß, sie wurde ein dutzendmal wiederholt: "Hiermit treibe ich mich nachträglich ab!" (Helmut Krausser: Die Zerstörung der europäischen Städte)  ^


Nicht einer Frau wegen!

Wer sich erschießt, um sich an einer Frau zu rächen, straft ja nur sich selber. Es mag vielleicht im Augenblick einen kleinen Ruck in der Dame geben, aber kurz darauf ist es ihr gleichgültig, sie ißt und trinkt, denkt daran, ob ihr Haar wuschelig ist, denkt an ihren Putz. Und nach einiger Zeit wird sie sogar ein Gefühl von Stolz haben, weil man sie eines Revolverschusses für wert befunden hat, sie kommt sich selber interessant vor, weil sich jemand ihrentwegen erschossen hat, sie prahlt damit. Ja, verstehen Sie mich nicht falsch, ich spreche nicht von einer bestimmten Frau, sondern von Frauen im allgemeinen. (Knut Hamsun: Das letzte Kapitel) ^


Bei den ganzen Heckenschützen

"Hör zu", sagte ich. 1957, Haifa. Arabische Heckenschützen machen die Innenstadt unsicher. Shlomo Finkelstein flüchtet sich vor den Kugeln in den Eingang eines Wohnkomplexes. Da kommt sein Freund Wolf Kreisky in den Eingang gerannt. Er fällt gegen die Tür und steht keuchend da. 'Mein Gott', sagte Finkelstein, 'was machst du hier?' Sein Freund sieht auf, deutet auf das Wasser der Bucht von Haifa und sagt: 'Das Leben hat keinen Sinn, es ist aussichtslos, ich gehe jetzt ins Wasser.' Ein heftiges Streitgespräch folgt. Finkelstein versucht seinen Freund davon zu überzeugen, daß das Leben doch einen Sinn hat. Okay, im Moment ist es schwierig, aber auf Regen folgt Sonnenschein, und so weiter und so fort. Kreisky läßt sich nicht von seiner Meinung abbringen. 'Auf Regen folgt Sonnenschein', sagt er, 'und auf Sonnenschein wieder Regen, ich bin es satt, ich gebe auf.' Finkelstein wird böse. 'Okay, dann tu, was du nicht lassen kannst. Dort ist das Wasser, was hindert dich noch?' Kreisky sieht ihn verblüfft an. Er starrt auf die Straße, wo die Kugeln Splitter aus dem Pflaster schlagen. 'Bist du verrückt?' sagt er. 'Bei den ganzen Heckenschützen?'" (Marcel Möring: In Babylon) ^


Wien, Triest, Budapest

Wo eigentlich haben Sie Ihr Können gelernt? wollte er wissen. In Triest. Eine Antwort, die den schwerkranken, immer noch aber geistesscharfen Schriftsteller amüsierte. Triest war die Lieblingsstadt aller Selbstmörder. In keiner Stadt war Selbstmord so naheliegend, so vernünftig. Hätte ich Selbstmord begehen wollen, wäre ich an die Adria gereist. Überall ist der Selbstmord eine Qual, dort in Triest, das las ich immer wieder in den Zeitungen, nicht. Sie können von Glück sagen, daß Sie Triest entronnen sind, unbeschadet. Ich war einundzwanzig, stellte der Friseur klar. Ich hatte Übergewicht. Ich frage mich, in welche Stadt es die Selbstmörder heute zieht. New York, Tokio, Passau? Nach Wien jedenfalls nicht mehr. Es lebt sich in Wien wieder länger. Leichen sind sie, die Wiener, nur sterben tun sie nicht. Der Selbstmord ist hier nicht mehr in Mode. Da fehlt es an Inspiration. Es fehlt Wien an Inspiration zur Verzweiflung. Man tut nur so. Man macht es sich in der Verzweiflung mittlerweile bequem. Die Österreicher haben Triest krank gemacht und haben es dann zurückgelassen, noch kränker. Österreich hat seine Selbstmordrate exportiert, nach Triest. Danach ging der Export nach Ungarn, nach Budapest. Der Selbstmord war dann eine rein ungarische Angelegenheit. Es war nicht Rußland, es war Ungarn. Es war Wien, aber nie Rußland. Dort sterben die Menschen an allem anderen, nicht an Selbstmord. Sie trinken sich zu Tode und rinken danach einfach weiter, als sei nichts geschehen. Sie tun das seit Jahrhunderten. Bin ich fertig? (Wolf Wondratschek: Mozarts Friseur) ^


Genug, es reicht

Man kann durchaus sterben. Laura denkt mit einemmal, daß sie - daß jeder - eine solche Entscheidung treffen kann. Es ist ein verwegener, schwindelerregender Gedanke, leicht körperlos - er teilt sich ihr im Kopf mit, schwach, aber entschieden, wie eine krächzende Stimme von einem fernen Radiosender. Sie könnte sich dazu entschließen zu sterben. Es ist eine abstrakte, flimmernde Vorstellung, nicht unbedingt morbide. In Hotelzimmern machen Menschen doch solche Sachen, nicht wahr? Es ist möglich - vielleicht sogar wahrscheinlich -, daß jemand genau hier, in diesem Zimmer, auf diesem Bett seinem oder ihrem Leben ein Ende gesetzt hat. Jemand hat gesagt: Genug, es reicht; jemand hat zum letztenmal auf diese weißen Wände geblickt, diese glatte weiße Decke. Wenn man in ein Hotel geht, so erkennt sie, verabschiedet man sich von den Eigenheiten seines Lebens und betritt eine neutrale Zone, ein sauberes weißes Zimmer, wo einem das Sterben nicht mehr ganz so fremd vorkommt. (Michael Cunnigham: Die Stunden) ^


Nur ein Hilfeschrei

Wie bringt man sich um? Karla weiß wie. Am besten mit Dynamit. Sie hat einen Atlas der Gerichtsmedizin, dort ist ein Selbstmörder abgebildet. Ganz viele Fleischbröckchen in Menschenform zusammengelegt, nachdem das Dynamit gewirkt hatte, und selbst in diesem Fall gibt es bestimmt einige, die ihm unterstellen mögen, daß er es nur so als Signal getan hat. Du, das war nur ein Hilfeschrei. (Sibylle Berg: Amerika) ^


Vorsichtsmaßnahmen

Gott stellt uns in diese Welt hinein, damit wir ihn lieben, und nicht leben zu wollen bedeutet, Gott nicht lieben zu wollen. Doch Bertrand Lombard blieb gegenüber solchen Beweisführungen gleichgültig. Er hatte nur Helenes Gesicht vor Augen und war nahe daran, diesem Wahnbild in die andere Welt zu folgen, denn in der ersten Woche seiner Trauer hängte er sich an einem Bettlaken auf, das glücklicherweise zerriß. Von diesem Tag an ließ ihn sein Beichtvater nicht mehr allein, bis er wieder Vernunft angenommen hatte. Auf Befehl des Geistlichen hin besaß die Bibliothek nur mehr ein halbes Fensterkreuz, der Rest war zugemeauert, um ein Unglück zu verhindern. (Julien Green: Varuna) ^


11 Stunden Abwesenheit

Der Wahn ist das Vernünftigste, was wir haben. Nichts ist ihr nützlicher, nichts ihr hilfreicher als der Wahn. Wenn ihr der Wahn souffliert, es gebe eine Verabredung gegen sie zusammenarbeiten. Es wäre schon unerträglich, wenn man sich eingestehen müßte: alles läuft wie gegen mich, ohne daß überhaupt jemand gegen mich ist. Sie hat es einmal wirklich versucht, mit dreißig Tabletten. Als Jürgen mit Stefan auszog. Aber dreißig Tabletten waren zuwenig. Mehr war sie sich nicht wert. Ihre Verwandten waren furchtbar sauer damals. Elf Stunden Abwesenheit, mehr hat sie nicht geschafft. Sie hat nicht sprechen können mit denen. Wieso sollte sie jetzt auf einmal mit ihrer Mutter sprechen können, mit der sie noch nie sprechen konnte. In jedem Aufatmen nach der Rettung kann ein bißchen Enttäuschung verborgen gewesen sein. (Martin Walser: Jagd) ^


Reinlichkeitsinstinkt

Aber diese absurde Inkonsequenz haftet ja allen Selbstmördern an, daß sie noch zehn Minuten, ehe sie entstellte Kadaver sein werden, der Eitelkeit nachgeben, unbedingt sauber aus dem Leben zu gehen (aus dem Leben, das sie allein nicht mehr mitleben werden), daß sie sich rasieren (für wen?) und reine Wäsche anziehen (für wen?), ehe sie sich eine Kugel durch den Kopf schießen, ja, ich erinnere mich, sogar von einer Frau gehört zu haben, die sich schminkte und bei der Friseurin die Haare ondulieren und mit dem teuersten Coty parfümieren ließ, ehe sie sich hinabwarf vom vierten Stock. Nur dieses logisch völlig unerklärbare Gefühl riß mir die Muskeln auf, und wenn ich dem Obersten jetzt nacheilte, so geschah dies keineswegs - ich muß es betonen - aus Todesangst oder plötzlicher Feigheit, sondern einzig aus dem absurden Reinlichkeitsinstinkt, nicht unordentlich, nicht beschmutzt ins Nichts zu verschwinden. (Stefan Zweig: Ungeduld des Herzens ) ^


Verlaß

Anders als die meisten Selbstmörder, die das Leben über nicht an den Tod denken und sich irgendwann vor den Zug stürzen, aus einer augenblicklichen Laune, hatte er sich von jenen Wiener Nächten und auch Tagen an mit dem Tod abgegeben wie mit einem, der einem sicher ist, jenem, an dem man nicht zweifeln muß, auf den Verlaß ist. Als wären der Tod und die Todesangst seine wahren Lebensbegleiter, ja sein zweites Leben, das er neben seinem ersten her führte. Als wäre die Todesangst sein zweites Ich, das neben dem ersten herlief. (Arnold Stadler: Eines Tages, vielleicht auch nachts) ^


Vom Selbstmord reden

Die Neigung zum Selbstmord als Eigenschaft eines solchen Charakters wie des Charakters meines Vetters, der sich am Ende in die Felsspalte gestürzt hat, nicht auf andere Weise umgebracht hat, zuerst hinauf in das Hochgebirge, um sich in die Tiefe der Felsspalte hinunterzustürzen, so Roithamer. Weil er so oft darüber gesprochen hat und mit solcher Hingabe und mit solcher Wissenschaftlichkeit gleichzeitig, hatten sie nicht mehr geglaubt, daß er tatsächlich Selbstmord machen wird, denn wer soviel darüber spricht wie unser Vetter, wie übrigens auch die andren, wie sein Vater beispielsweise immer und mit immer klarerem Kopf, der bringe sich schließlich nicht um, im Gegenteil, denn ein solcher mache sich in seinem Kopf den Selbstmord ununterbrochen klar und mache dadurch nicht Selbstmord, durch dieses Klarmachen in seinem Kopfe und fortwährende Fähigkeit zur Analyse einer solchen Klarheit, könne er ganz einfach nicht mehr Selbstmord begehen, weil er sich den Selbstmord immer klarmache, was ihn im Grunde abstoßen mußte, gelänge einem solchen überhaupt nicht mehr, alle möglichen Argumente, alle möglichen Grunde, alle möglichen Verneinungen führten zu allem, meistens in eine Todeskrankheit hinein, nicht zum Selbstmord, so Roithamer, denn alles sei am Ende immer wieder in einem Kopfe gegen die Selbstvernichtung, es sei aber doch auffallend, mit welcher Regelmäßigkeit ein solcher über den Selbstmord und über die Selbstvernichtung rede, das Thema lasse ihm keine Ruhe, verzerre seinen Verstand, den er dann immer wieder klarmache, aber auffallend ist an unserem Vetter doch gewesen, so Roithamer, daß er nach seiner Verehelichung mit der Kirchdorfer Arzttochter beinahe ununterbrochen von Selbstmord redete, was aber nicht ernstgenommen worden war, so Roithamer, kein Mensch hatte mehr Angst, er begehe Selbstmord, weil er andauernd vom Selbstmord redete, als redete er über einen ganz und gar klaren, ihn gleichzeitig faszinierenden Gegenstand, als handelte es sich um einen Kunstgegenstand und immer in der wissenschaftlichsten Weise. Und wer in solcher wissenschaftlichen Weise über den Selbstmord redet, wie über einen Kunstgegenstand, und mit solcher alle in sich nur beschämenden Klarheit, der begehe nicht Selbstmord. (Thomas Bernhard: Korrektur) ^


Durch Landschaft & Wetter

Überhaupt waren wir, wie immer die Kinder in solchen sogenannten weltabgeschiedenen Gegenden, sehr früh schon mit dem Selbstmord konfrontiert gewesen, das permanent in solchen Gegenden herrschende Unglück des Einzelnen und dadurch allgemeine Unglück hatte jährlich zu Dutzenden Selbstmorden in kleinstem Umkreis geführt, auch aus den bedrückenden Wetterzuständen im Vorgebirge heraus, hier neigten sie alle immer zum Selbstmord, weil sie immer glaubten, ersticken zu müssen in der Tatsache, ihre Position durch nichts ändern zu können, jeder war sich dieser Benachteiligung durch die Geburt in dieser Landschaft bewußt. (Thomas Bernhard: Korrektur) ^


Früher oder später

So fragen wir uns immer, wenn wir zwei Menschen sehen, die zusammen sind, gar soch verheiratet haben, wie diese zwei Menschen zu solcher Entschiedenheit und Handlung gekommen sind, daß es sich ja um die Natur handle, sagen wir uns, daß es sehr oft zwei Menschen sind, die nur zusammengegangen sind, um sich mit der Zeit umzubringen, früher oder später umzubringen, sich jahrelang und jahrzehntelang gegenseitig zu martern, um sich schließlich doch umzubringen, die, obwohl sie wahrscheinlich ihre gemeinsame Marterzukunft schon ganz klar sehen, doch zusammengehen, sich gegen alle Vernunft, als ein Naturverbrechen, Kinder in die Welt setzen, die dann die unglücklichsten sind, die sich denken lassen, wir haben dafür, wo wir hinschauen mögen, Beweise, so Roithamer. (Thomas Bernhard: Korrektur) ^


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