Bücher voll wildem Leben [<<]


von Albert Camus

Der Donnerstag war auch der Tag, an dem Jaques und Pierre in die Statdbücherei gingen. Von jeher hatte Jaques die Bücher verschlungen, die ihm in die Hände fielen, und er verschlang sie mit der gleichen Gier, mit der er lebte, spielte oder träumte. Aber das Lesen ermöglichte ihm, in eine unschuldige Welt zu entfliehen, in der Reichtum und Armut gleichermaßen interessant, weil völlig irreal waren. L'Intrepide, die dicken Illustriertensammelbände, die er und seine Kameraden einander weitergaben, bis der kartonierte Einband grau und rauh wurde und die Seiten innen Eselsohren und Rissen bekamen, hatten ihn zuerst in eine komische und heroische Welt entführt, die zwei Grundbedürfnisse in ihm befriedigten, das Bedürfnis nach Fröhlichkeit und nach Mut. Die Vorliebe für Heldentum und theatralisches Auftreten war bei den beiden Jungen zweifellos stark ausgeprägt, wenn man nach ihrem unglaublichen Konsum an Mantel- und Degen-Romanen urteilte und nach der Leichfertigkeit, mit der sie die Figuren aus Pardaillan ihrem Alltagsleben einverleibten. Ihr Lieblingsautor war nämlich Michel Zevaco, und die Renaissance, besonders die italienische, mit ihren Dolch- und Giftgeschichten inmitten von römischem und päpstlichem Gepränge, war das Liebrlingsreich diser beiden Aristokraten, die man bisweilen auf der staubigen Straße, in der Pierre wohnte, einandere herausfordern und lange lackierte Lineale (...) zücken und zwischen den Mülltonnen hitzige Duelle austragen sah, deren Spuren ihr Finger anschließend noch lange trugen. Sie konnten zu jenem Zeipunkt kaum auf andere Bücher stoßen, weil in ihrem Viertel wenige Leute lasen und sie selbst nur populäre Bücher kaufen konnten, die im Laden des Buchhändlers herumlagen, und das nur hin und wieder.

Aber etwas zu der Zeit, als sie auf Lycee kamen, wurde im Viertel eine Stadtbücherei halbwegs zwischen der Straße, in der Jaques wohnte, und dem höhergelegenen Teil eingerichtet, wo vornehmere Viertel anfingen, mit Villen, umgeben von kleinen Gärten voll duftender Pflanzen, die an den feuchten und heißen Hängen von Algier üppig wuchsen. Diese Villen standen um den Park des Pensionats Sainte-Odile, eines religiösen Pensionats, in das nur Mädchen aufgenommen wurden. In diesem Viertel, das so nah und so fern von dem ihrem war, erlebten Jaques und Pierre ihre tiefsten Gefühle (von denen noch nicht Zeit ist zu sprechen, von denen noch gesprochen werden wird usw.). Die Grenze zwischen den beiden Welten (die eine staubig und ohne Bäume, in der der ganze Platz den Bewohnern vorbehalten war und den Steinen, die sie beherbergten, die andere, in der die Blumen und die Bäume den wahren Luxus dieser Welt mit sich brachten) bildete ein ziemlich breiter Boulevard, der auf beiden Bürgersteigen von herrlichen Platanen bestanden war. An einem seiner Ufer zogen sich nämlich Villen entlang und and dem anderen billige kleine Mietshäuser. Auf diesem Markt wurde die Stadtbücherei eingerichtet.

Sie hatte dreimal in der Woche geöffnet, darunter donnerstags, abends nach der Arbeitszeit und am Donnerstag den ganzen Vormittag. Eine junge Lehrerin von ziemlich reizlosem Aussehen, die einige Stunden ihrer zeit unentgeltlich dieser Bücherei widmete, saß hinter einem ziemlich breiten Tisch aus Fichtenholz und führte die Ausleihe. Der Raum war quadratisch, die Wände waren mit Regalen aus Fichtenholz und in schwarzen Stoff gebundenen Büchern bedeckt. Es gab auch einen kleinen Tisch mit Stühlen drumherum, für die, die schnell in einem Wörterbuch nachschlagen wollten, denn es war nur eine Leihbücherei, und einen alphabetischen Katalog, den Jaques und Pierre nie zu Rate zogen, da ihre Methode darin bestand, an den Regalen entlangzugehen, ein Buch nach seinem Titel und seltener nach seinem Autor auszusuchen, seine Nummer aufzuschreiben und diese auf den blauen Zettel zu übertragen, mit dem man die Ausleihe des Bandes beantragte. Um ausleihen zu dürfen, brauchte man nur eine Mietquittung mitzubringen und eine minimale Abgabe zu bezahlen. Dann bekam man eine Faltkarte, in die die ausgeliehenen Bücher ebenso eingetragen wurden wie in das von der jungen Lehrerin geführte Register.

Die Bücherei enthielt hauptsächlich Romane, aber viele waren für Jugendlich unter fünfzehn Jahren verboten und standen gesondert. Und die rein intuitive Methode der beiden Kinder stellte keine wirkliche Auswahl dar. Doch der Zufall ist nicht das Schlechteste in Sachen Kultur, und indem sie alles durcheinander verschlangen, führten sich die beiden Gefräßigen gleichzeitig das Beste und das Schlechteste zu Gemüte, ohne sich übrigens darum zu kümmern, etwas zu behalten, und sie behielten tatsächlich auch fast nichts als ein seltsames, mächtiges Gefühl, das im Laufe der Wochen, der Monate und der Jahre in ihenen ein ganzes Universum von Bildern und Erinnerungen entstehen ließ, die nicht zurückführbar waren auf die Realität, in der sie täglich lebten, aber mit Sicherheit nicht weniger präsent für diese leidenschaftlichen Kinder, die ihre Träume genauso ungestüm erlebten wie ihre Leben. Im Grund war nicht wichtig, was in diesen Büchern stand, Wichtig war, was sie beim Betreten der Bücherei zuerst empfanden, wo sie nicht die Wände aus schwarzen Büchern sahen, sondern einen Raum und vielfältige Horizonte, die sie schon auf der Türschwelle dem engen Leben des Viertels enthoben.

Dann kam der Augenblick, in dem sie, jeder mit den zwei Büchern versehen, die sie mitnehmen durften und die sie mit dem Ellenbogen eng an sich drückten, auf den um diese Zeit dunklen Boulevard hinausgingen, unter ihren Füßen die Kugeln der großen Platanen zertraten, sich die Wonnen ausmalten, die ihre Bücher ihnen bescheren würden, und sie schon mit denen der Vorwoche verglichen, bis sie, auf der Hauptstraße angekommen, begannen, sie im diffusen Licht der ersten Straßenlaterne aufzuschlagen, um irgendeinen Satz (z.B. "er war von außergewöhnlicher Stärke") herauszupicken, der sie in ihrer freudigen und gierigen Hoffnung bestärken sollte. Sie verabschiedeten sich schnell und liefen dem Eßzimmer entgegen, um das Buch auf dem Wachstuch, unter dem Licht der Petroleumlampe aufzuschlagen. Ein starker Leimgeruch stieg aus dem groben Einband auf, der gleichzeitig an den Fingern schabte. Die Art, wie das Buch gedruckt war, gab dem Leser schon Hinweise auf die Freunde, die es ihm bereiten würde. P. und J. mochten nicht die großzügig umbrochenen mit breiten Rändern, an denen verfeinerte Autoren und Leser Gefallen fanden, sondern Seiten voll kleiner Buchstaben, die in dicht gesetzten Zeilen verliefen, randvoll mit Wörtern und Sätzen, wie jene riesigen Bauernplatten, von denen man viel und lange essen kann, ohne das sie leer werden, und die allein den ungeheuren Appetit mancher stillen können. Auf Verfeinerung konnten sie verzichten, sie kannten nichts und wollten alles wissen. Es machte nicht viel aus, wenn das Buch schlechte geschrieben und plump komponiert war, Hauptsache, es war klar geschrieben und voll wildem Leben, solche Büchern, und nur sie, lieferten ihnen den Stoff für ihre Träume, nach denen sie anschließend bleinrn schlafen konnten.

Überdies hatte jedes Buch je nach dem Papier, auf dem es gedruckt war, einen besonderen Geruch, einen in jedem Fall feinen, verborgenen Geruch, aber so einzigartig, daß Jaques mit geschlossenen Augen ein Buch aus der Collection Neslon von den üblichen Ausgaben, die damals von Fasquelle verlegt wurden, hätte unterscheiden können. Nund noch bevor die Lektüre angefangen hatte, entfürhrte jeder dieser Gerüche Jaques in eine andere Welt voller bereits erfüllter Verheißungen, eine Welt, die schon begann, das Zimmer, in dem er saß, zu verdunkeln, das Viertel und seine Geräusche, die Stadt und die ganze Welt verschwinden zu lassen; sie sollten sofort versinken, sobald das Kind mit einer wahnsinnigen, überschwenglichen Gier zu lesen begonnen hatte, die es ausschließlich in einem vollständigen versetzte, aus dem nicht einam wiederholte Befehle es herausholen konnten. "Jaques, zum dritten Mal, deck den Tisch." Mit leeren, farblosem, ein wenig verstörtem Blick wie ein Lesesüchtiger deckte er endlich den Tisch und nahm sein Buch wieder vor, asl hätte der es nie weggelegt.

"Iß, Jaques", er aß schließlich eine Kost, die ihm trotz ihrer Zähigkeit weniger wirklich und fest erschien als jene, die er in den Büchern fand, dann räumte er den Tisch ab und las weiter. Manchmal kam seine Mutter zu ihm, bevor sie sich in ihre Ecke setzte. "Das ist die Bibliothek", sagte sie. Sie sprach das Wort, das sie aus dem Mund ihres Sohnes hörte das ihr nichts sagte, schlecht aus, aber sie erkannte den Einband der Bücher. "Ja", sagte Jaques, ohne den Kopf zu heben. Catherine Cormery beugte sich über seine Schulter. Sie sah das doppelte Rechteck unter dem Licht, die regelmäßige Aufreihung der Zeilen an; auch sie atmete den Geruch ein, und manchmal strich sie mit ihren von der Waschlauge steifen und faltigen Fingern über die Seite, als versuche sie, besser zu erkennen, was ein Buch ist, und diesen mysteriösen Zeichen näherzukommen, in denen ihr Sohn so oft und stundenlang ein Leben fand, das ihr unbekannt war und aus dem er mit diesem Blick herauskam, den er auf sie richtete wie auf eine Fremd. Die verkrümmte Hand streichelte sanft den Kopf des Jungen, der nicht reagierte, sie seufzte, dann ging sie und setzte sich weit weg von ihm. "Jaques, geht ins Bett." Die Großmutter wiederholte den Befehl. "Sonst kommst du morgen zu spät." Jaques stand auf, packte, ohne sein unter die Achsel geklemmtes Buch loszulassen, seinen Ranzen für den Unterricht am nächsten Tag und fiel, nachdem er das Buch unter sein Kopfpolster geschoben hatte, in einem schweren Schlaf wie ein Trunkenbold.


Albert Camus: Der erste Mensch. Reinbek: Rowohlt, 1998. S. 269-276


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