Lesen von Kriminalromanen [<<]


von Gilbert Keith Chesterton

Will man auf den wahren psychologischen Grund für die Verbereitung von Kriminalromanen kommen, ist es notwendig, sich von einer Menge bloßer Phrasen freizumachen. Es ist beispielsweise nicht wahr, daß die Bevölkerung schlechte Literatur guter vorzieht und zu Kriminalromanen greift, weil sie schlechte Literatur sind. Der bloße Mangel künstlerischer Feinheit macht ein Buch nicht beliebt. Der Eisenbahnfahrplan enthält wenig Höhepunkte psychologischer Komik, und doch wird er nicht fieberhaft an Winterabenden laut vorgelesen. Wenn Kriminalromane überschwenglicher gelesen werden als Fahrpläne, geschieht es sicher, weil sie künstlerischer sind. Viele gute Bücher sind zum Glück beliebt gewesen; viele schlechte Bücher sind - ein weit größeres Glück noch - unpopulär gewesen. Selbst ein guter Kriminalroman würde wahrscheinlich beliebter sein als ein schlechter. Das Schlimme bei dieser Sache ist, daß viele Leute sich gar nicht klar darüber sind, daß es so etwas wie einen guten Kriminalroman gibt; es kommt ihnen vor, als ob man von einem guten Teufel spräche. Eine Geschichte über einen Einbruch zu schreiben, ist in ihren Augen so viel, als wenn man ihn geistig verüben würde. Bei weniger empfindsamen Menschen ist dies natürlich genug; es muß eingestanden werden, daß viele Kriminalromane so voll sensationeller Verbrechen sind wie ein Drama von Shakesspeare.

Es besteht jedoch zwischen einem guten Kriminalroman und einem schlechten ebensoviel Unterschied oder noch mehr wie zwischen einem guten Epos und einem schlechten. Der Kriminalroman ist nicht nur eine vollkommen berechtigte Form der Kunst, sondern er hat gewisse bestimmte und tatsächliche Vorteile, weil er etwas zum allgemeinen Besten beiträgt. Der wesentliche Hautpwert des Kriminalromans liegt darin, daß er die früheste und einzige Form volkstümlicher Literatur ist, in der sich etwas Sinn für die Poesie modernen Lebens geltend macht. Menschen lebten unter mächtigen Bergen und ewigen Wäldern Jahrhunderte lang, ehe sie deren Poesie fühlten; es mag vernünftigerweise gefolgert werden, daß manche unserer Nachkommen die roten Rauchfänge in gleicher Purpurpracht sehen mögen wie die Bergspitzen, und daß sie die Laternenpfähle so alt und natürlich finden wie die Bäume. Der Kriminalroman dieser Vorstellung von der Großstadt als etwas Abenteuerlichem und Auffälligem ist die "Illias". Niemandem kann es entgangen sein, daß in diesen Geschichten der Held oder Forscher durch London wandert, einsam und frei, fast wie ein Märchenprinz aus Elfenland, daß im Verlauf jener unberechenbaren Reise der zufällige Omnibus die Urfarben eines Fabelschiffes annimmt. Die Lichter der Stadt beginnen wie unzählige Koboldsaugen zu glühen, weil sie die Hüter irgendeines, noch so primitiven Geheimnisses sind, das der Dichter weiß und der Leser nicht.

Jede Straßenwindung ist wie ein Finger, der darauf hindeutet; die phantastischen Linien der Schornsteine am Horizont scheinen wild und spöttisch den Sinn des Geheimnisses zu signalisieren. Diese Verwirklichung der Poesie von London ist keine kleine Sache. Eine Stadt ist streng genommen poetischer selbst als das Land; denn während die Natur ein Chaos von unbewußten Kräften darstellt, ist die Stadt ein Chaos von bewußten. Die Blütenkrone einer Blume oder das Muster einer Flechte können bedeutsame Symbole sein oder nicht. Aber es gibt keinen Stein in der Straße und keinen Ziegel in der Mauer, der nicht tatsächlich ein absichtliches Symbol wäre - eine Botschaft von irgendeinem Menschen, geradeso als ob es ein Telegramm oder eine Postkarte wäre. Die engste Gasse birgt in jeder Krümmung und Biegung ihrer Anlage die Seele des Menschen, der sie baute und vielleicht schon im Grab liegt. Jeder Ziegel hat eine so lebendige Bilderschrift, als ob er ein Keilschriftzeichen aus Babylon wäre; jeder Schiefer auf dem Dach ist eine so erzieherische Urkunde, als ob er ein Schiefer voll Additions- und Subtraktionsaufgaben wäre. Alles, was bestrebt ist, diese Romantik des Details in der Zivilisation zu verfechten, diesen unergründlich menschlichen Charakter in Kiesel und Schiefer hervorzuheben, ist etwas Gutes.

Es ist gut, daß der Durchnittsmensch in die Gewohnheit verfällt, zehn Leute auf der Straße phantasievoll anzuschauen, selbst wenn es nur mit dem Erfolg geschieht, daß der elfte zufällig ein berüchtigter Dieb ist. Wir träumen vielleicht, daß eine andere und höheren Romantik von London denkbar wäre; daß der Menschen Seelen seltsamere Abenteuer haben könnten als ihre Leiber; und daß es schwieriger und aufregender sein würde, nach ihren Tugenden als ihren Verbrechen zu jagen. Da unsere großen Schriftsteller aber (mit der bewundernswerten Ausnahme von Stevenson) es ablehnen, von jener unheimlichen Stimmung und Stunde zu schreiben, da die Augen der Großstadt wie Katzenaugen im Dunkeln zu flammen beginnen, müssen wir es der volkstümlichen Literatur zugute rechnen, die inmitten von schulmeisterlichem und geziertem Geschwätz sich weigert, die Gegenwart als prosaisch oder das Alltägliche als Gemeinplatz zu betrachten. Volkstümliche Kunst in allen Jahrhunderten hat auf zeitgenössische Sitte und Tracht Rücksicht genommen; sie kleidete die Gruppe um die Kreuzigung in das Gewand der Florentiner Edlen oder flämischen Bürger. Im achtzehnten Jahrhundert war es unter hervorragenden Schauspielern Brauch, Macbeth in Puderperücke und Rockkrause zu spielen. Wie weit wir in unserem Zeitalter davon entfernt sind, an die poetische Überzeugungskraft unseres eigenen Lebens und Treibens zu glauben, läßt sich leicht vorstellen, wenn man sich etwas ausmalt, wie Alfred der Große in Kniehosen und Wadenstrümpfen Kuchen bäckt. Aber dieser Instinkt des Zeitalters, zurück zu blicken wie Lots Frau, konnte nicht immer vorhalten. Eine ungefeilte, volkstümliche Literatur aus den romantischen Möglichkeiten der modernen Stadt mußte aufkommen.

Sie ist mit dem populären Kriminalroman entstanden, so urwüchsig und erfrischend wie die Balladen von Robin Hood. Auch noch ein anderes gutes Werk wird durch die Kriminalromane vollbracht: Während es die ständige Neigung des alten Adam ist, gegen etwas so Allgemeines und Automatisches wie die Zivilisation zu rebellieren, Lossage und Aufruhr zu predigen, bringt das romantische Polizeiwesen in gewissem Sinn die Tatsache zu Bewußtsein, daß die Zivilisation die sensationellste Lossagung und der romantischste Aufruhr ist. Wenn wir an die nicht schlafenden Schildwachen denken, die die Vorposten der Gesellschaft schützen, muß es uns daran erinnern, daß wir im gerüsteten Lager leben und Krieg führen mit einer chaotischen Welt, und daß die Verbrecher, die Kinder des Chaos, nichts anderes sind als die Verräter in unseren eigenen Mauern. Wenn der Detektiv in einem Kriminalroman allein und wahnwitzig furchtlos dasteht unter den Messern und Fäusten einer Diebesküche, dient es sicherlich dazu, uns daran zu erinnern, daß der Träger der sozialen Gerechtigkeit die eigentlich originelle und poetische Figur ist, während die Einbrecher und Wegelagerer bloß friedliche, alte, kosmische Konservative sind, glücklich mit den uralten Anstandbegriffen der Affen und Wölfe. Die Romantik der Polizeimacht ist demnach die ganze Romantik des Menschen. Sie ruht in der Tatsache, daß Rechtschaffenheit die dunkelste und gewagteste aller Verschwörungen ist. Sie bedeutet uns, daß die ganze geräuschlose und unmerkliche Polizeiverwaltung, durch die wir regiert und geschützt werden, bloß ein erfolgreiches fahrendes Rittertum ist.


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