Jacobs Leiter

Fundstücke aus Steffen Menschings Buch


Auf Schatzsuche

Jack bringt eine Stehleiter. Eine Stunde Zeit. Eigentlich, lieber Freund aus Deutschland, bin ich heute gar nicht hier. Die Kammer, fensterlos, angefüllt vom Atem alter Bücher: Staub, Leim, Druckerschwärze, Stockflecken. Wenn Vergangenheit einen Geruch hat, dann diesen. Aber mir ist nicht nach Philosophie. Wer einen Schatz hebt, denkt nicht. Mein Gehirn, abgeschaltet. Nur die Augen arbeiten. Panik. Als könnte jeden Augenblick ein anderer, zweiter Käufer, Konkurrent, Mitbewerber auftauchen, ein Feind, der sich, krank an der gleichen Leidenschaft, in diese Ödnis verirrte, um mir, was?, irgend was, sonst was, gerade das Buch wegzuschnappen, das ist nicht gesehen oder, schlimmer noch, übersehen habe. Ein anderer? In der drei Quadratmeter großen alexandrinischen Bibliothek kann kein zweiter Mann Platz finden, und wäre er noch kleiner als Jack oder ich. Kein Zwerg stürzt dich von diesem Thron, der Leiter. Heil dir, König der Irren. Und? fragt Jack, in den Raum blinzend, alles klar? O ja, großartig, wunderbar. Ich nuschel irgend etwas, das erstaunlich heißen soll, spiele vor, was ich nicht besitze: Sachverstand. Die besten deutschen Bücher, die du in New York finden kannst. (Steffen Mensching: Jacobs Leiter, S. 17)


Bücherschicksale

Sie haben ihr Schicksal, die Büchlein. Stumme Zeugen für alles und nichts, Gefährten, denen die Herrschaft abhanden kam. Sie lagen auf Tischen, Teppichen, Fensterbrettern, Stehpulten, Bootsplanken, auf Gesichtern in der Sonne, auf Brüsten, Kühlerhauben, Sofakissen, gepreßten Herbstblätter, Briefmarken, Briefe, versteckte Geldscheine, Pässe, Lebensmittelmarken, Affidavits, wurden mißbraucht als Gewichte, Unterlagen, Wurfgeschosse, reisten in Manteltaschen, Rucksäcken, Schulranzen, Damenhandtaschen neben Puderquasten, in prall gefüllten, nach Schweiß riechenden Tornistern von Frontsoldaten, eleganten Koffern von Notaren. Die einen gingen von Hand zu Hand, mal besser, mal schlechter behandelt, andere lebten biederes Daseins, gelangten aus Druckerei und Buchhandlung ins glasgeschützte Regal, um dort zu versauern, ungelesen, bis sie eines Tages herausgenommen wurden - für die große Reise nach Amerika. Solche alten Jungfern sind selten. Die meisten Exemplare zeigen Eselsohren, Abrieb, vergilbte Seiten, Lebenszeichen, Gebrauchsspuren. Jetzt braucht sie niemand mehr. Nutzlose Dinge. Aufgestapelt in einer Grabkammer in Manhattan. (Steffen Mensching: Jacobs Leiter, S. 25f.)


Bücher reisefertig machen

Du bist auch nicht zum Packen geboren, das habe ich gleich gesehen. Du solltest deinen intellektuellen Hochmut ablegen und das Haupt beugen, es bleibt dir am Ende sowieso nichts anderen übrig. Also, hast du die Falzen umgelegt und beklebt, ziehst du um das ganze Paket einen Streifen Klebeband. Glaube mir, wenn der Container undicht ist, wenn die Folie beim Verladen einen Riß bekommt, man kann nicht vorsichtig genug sein. Mir könnte es im Grunde egal sein, du hast bezahlt, wenn du meinst, du weißt es besser, bist ein Experte im Bücherpacken, dann mach es auf deine Art, ich sehe zu und kopiere deinen Stil, aber, wenn dir deine Bücher etwas wert sind, und das weiß ich, denn ich habe den Scheck, dann höre auf Jacob und laß dir Zeit. Es würde mir in der Seele weh tun, wenn meine Bücher in Deutschland ankommen und alle haben Wasserflecke. Ich bin froh, daß du die Bücher gekauft hast, erstens, das du sie gekauft hast, und zweitens, daß du sie gekauft hast, du liebst Bücher, und Liebe ist auch meist irgendwie mit Arbeit verbunden. Also versuchs nochmal. Er reicht mir zwei Schopenhauerbände. (Steffen Mensching: Jacobs Leiter, S. 108)


Keine Drohung

Jacob hatte laut gelacht, als ich erzählte, mein Sohn habe, auf meine Drohung, enterbt zu werden, wennn er nicht sofort die Mathematikschularbeiten erledige, geantwortet: Von dir erbe ich ja sowieso nur Bücher. (Steffen Mensching: Jacobs Leiter, S. 169)


Wieviel ich noch habe

Was anfangen mit den Büchern? Verkaufen? Ich brauche sie nicht. Wenn ich sie kaufe, um sie zu verkaufen, muß ich ein Geschäft aufmachen, laß ich es sein, verkaufe ich nichts, was dann? Lesen? 4000 Bücher? Angenommen, ich lebte noch 40 Jahre, um alle zu lesen, müßte ich pro Jahr 100 Bücher schaffen, mir blieben für jedes durchschnittlich 3,65 Tage. Das ginge. Allerdings dürften keine Ablenkungen meine Lektüre unterbrechen. Ob ich, achtzigjährig, Die Kritik der Urteilskraft in knapp vier Tagen werden schaffen können? Ich muß mit den schwierigen Stoffen beginnen, Belletristik für das Alterswerk aufheben. Es sind nicht ganz 4000 Bände, einiges ist doppelt und dreifach vorhanden, Der Zauberberg, Die Brüder Karamasow, Der Stechlin. Die Vision, Fontanes Gesamtwerk lesen zu müssen, läßt mir die Kehle trocken werden. Vielleicht sinds nur 3500 Bücher? Jacob hat den Bestand nie gezählt. 3500 dividiert durch 40. Ich nehme einen Stift, die Papierserviette. Also: 350 durch 40 sind 320 gleich 7, nein 8, also 80, Kopfrechnen war nie meine Stärke, Rest 3, erweitert zu 30, 300, also 280, gleich 80,7. Abgerundet pro Jahr 80 Bücher, 365 Tage geteilt durch 80, sind. 80, 180, 320, vier Komma irgendwas. Rechnest du nach, wie viele Tage wir noch haben? Nein, sage ich und blicke meinem mit einer braunen Papiertüte am Tisch stehenden Geschäftspartner in die Augen, ich rechne nach, wie viele Tage ich noch habe. (Steffen Mensching: Jacobs Leiter, S. 189)


Eine Gottesgabe

Sephardim, abgeleitet von Sephard, dem hebräischen Begriff für Spanien. Steinaltes Wort, steht schon in der Bibel. Du kannst folgen? Die nächsten vierhundert Jahre heißt man das goldene Zeitalter. Davon hab ich gehört, sage ich. Das macht mich hoffen, meint Jacob, allerdings wird die Periode oft mit jener der griechischen Mythologie verwechselt, der Regentschaft von Kronos, du verstehst? Ich verstehe. Kluge Leute, diese spanischen Juden, Mathematiker, Astronomen, sprachkundig, Arabisch, Griechisch, die Mauren ernennen sie, aber auch, was dich freuen wird, gebildete Christen, zu 'Menschen des Buches', dhimmis. Wir befinden uns in einer zeit, in der die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, hoch im Kurs steht, kein Verdachtsmoment, sondern eine Gottesgabe. (Steffen Mensching: Jacobs Leiter, S. 8)


Wo Dhimmis leben

Die Mauren lieben griechische Dichtung, sprechen aber kein Griechisch, also ersuchen sie ihre dhimmis um Übersetzungen, ins Hebräische, Arabische. Du siehst, mein Freund, mir steht ein größerer Palast zu, ich beherrsche beide Sprachen. Aber gegen die Lokalmatadore bin ich eine Null: Samuel Ha Nagid, Isaac Ben Khalfon, Solomon Ibn Gabriol, Ibn Ezra. Eine wunderbare Vermischung jüdisch-hebräischer, arabischer, spanischer, griechischer Ideen. Die Sephardim sprechen arabisch, beten hebräisch, waschen sich vor dem Eintritt in die Synagoge Hände und Füße, die Araber lesen judaistische Texte, heiraten Jüdinnen, ernennen ihre Brüder zu Leibärzten und Heerführern. Die Kleiderordnung gleicht sich an, zwar dürfen Juden keine Seide und Pelze tragen, das verschmerzen sie, an Stelle der sperrigen römischen tretem arabische Zahlen, Trigonometrie wird betrieben, die Papierherstellung beginnt. Wo dhimmis leben, lesen lehren, sind Bibliotheken nicht weit, logisch, Cordoba, die größte Europas, zählt eine Million Bände, in Germanien gibt es zu dem Zeitpunkt, wir stehen im Jahr 1000, gerade ein gutes Dutzend Manuskripte.


Ein gelungener Coup

Ein Freund von mir, erzählt er, auch Händler, ging einmal in ein sehr vornehmes Antiquariat in London, ein zweistöckiges Geschäft, im Keller Wühltische, Kisten, ein durchaus unbritisches Durcheinander, Billigangebote, Ramsch, im ersten Stock aber eine erstklassige bibliophile Abteilung, alles unter Glas, Kupferstiche, first editions, Autographen. Mein Freund ging, was ihn als Fachmann ausweist, zunächst in den Keller, und fand dort, ohne Anstrengung, ein kostbare altes Büchlein, ich habe vergessen, was es war, es kostete ein paar Pennies, er bekam es für nichts. Sie müssen das Buch nicht einwickeln, sagte er dem Mann an der Kasse, es ist kein Geschenk, er nahm den Band, trug ihn ins Obergeschoß und verkaufte ihn dort mit riesigen Profit. Er war sehr stolz auf diesen Coup. Stell dir vor, im selben Geschäft gekauft und verkauft, ein Deal, der fünf Minuten dauerte. (Steffen Mensching: Jacobs Leiter, S. 216)


Erstausgabenfetichist

Ein Bremer Germanistik-Professor und Bibliomane schärfte uns ein, daß wir, wenn wir deutsche Bücher suchten, unbedingt bei Mary Rosenberg vorbeischauen sollten. Nähe Columbus Circle befand sich ihr Antiquariat, im 11. Stock eines Hochhauses, zwei helle Büroräume, in der eine Amerikanerin mittleren Alters residierte. Mrs. Rosenberg? Nein, die Chefin sei noch nicht da, komme später. Schauen Sie sich in Ruhe um. Herrliche Bücher, Belletristik, Philosophie, Judaica, Ausgaben von Heinrich Mann und Kisch, die ich noch nie gesehen hatte. Wir stöberten drei Stunden in den Regalen und Kartons. Mein Dollarvermögen war begrenzt, zwar wußte ich mein Konto in der Heimat inzwischen auf Westgeld umgestellt, doch kam ich ja hier nicht an die harte Währung heran. Eisern bleiben. Zwanzig Bücher hätte ich gern mitgenommen, da sie aber nicht ausgepreist waren, unterdrückte ich ernsthafte Kaufabsichten. Eckhardt hatte einen Haufen gesammelt, vor allem Insel-Bände. Als er bezahlen wollte, erschien die Chefin aus einem Nebenzimmer. Mary Rosenberg, kleine grauhaarige Greisin, tastete sich gebückt zu dem einzigen Sessel ihres Geschäfts. Der Pfarrer reichte ihr seine Sammlung. Sie legte den Stapel neben sich, nahm Buch für Buch in die Hand, hielt es sich dicht vor die Augen, prüfte Verlag, Erscheinungsjahr, Zustand, blickte den vor ihr stehenden Käufer an, schmunzelte und sagte; 4 Dollar, 5 Dollar, sehr selten, sehr schön, 20 Dollar. Eckhardt meldete murrend vorsichtigen Widerspruch an. Nun, meinte die Prinzipalin, Ihrer Auswahl nach zu urteilen, kennen Sie sich mit Büchern aus, ist die Erstausgabe 20 Dollar wert oder nicht? Mein Reisegefährte schwieg. Sie haben recht, sagte die alte Dame, es ist mehr wert als 20 Dollar, ich gebe es Ihnen für 15, weil Sie aus Berlin kommen. Einverstanden? Im Lift fragte Eckardt, warum ich nichts gekauft hätte, die Preise seien doch unglaublich niedrig gewesen. ich konnte mich nicht entscheiden. Wieso? Des Pfarrers entgeisterter Blick. Wenn dir jemand die Novellen von Huxley anbietet, als Erstausgabe, wie neu, für 4 Dollar, was gibt es da zu entscheiden? Bist du Sammler, fragte ich. Du nicht? gab er zurück. Eckardt, ein Erstausgabenfetichist. (Steffen Mensching: Jacobs Leiter, S. 243f.)


Büchertransport

Ich hebe einen Karton vom Wagen. Langsam, langsam. Wir haben keinen Platz, wir haben kein Geld, als müssen wir unseren Kopf anstrengen. 40 Kisten kriegen wir hier nicht unter, aber vielleicht 35? Höchstens 10, denke ich. Übereinander, erklärt Jacob, als würde dieser Einfall all unsere Probleme lösen. Wir verteilen die auf dem Fußboden gestapelten Bücher auf die Regale. Bildbände, Gedichte, Historie. Das kostet eine halbe Stunde. Dann trage ich die Kartons in die rechte Ecke. Ein schiefer Turm. Erschöpft lasse ich mich auf dem leeren Dolly fallen. Seit zehn Jahren mache ich das, sagt Jacob, Bücher kaufen, nach Hause schleppen, von dort ins Office schleppen, sie katalogisieren, ins Storage House schleppen, sie von hier wieder zurück ins Büro schleppen, falls sie jemand bestellt, sie einpacken, zum Post Office schleppen, um dann monatelang auf den Scheck zu warten. Früher dachte ich, Bücher seien zum Lesen da, für die Lehre, zum Vergnügen, heute weiß ich, sie wollen vor allem transportiert werden, hin und her getragen, wie unruhige Babys. Ich hasse Bücher, sage ich. Angesteckt, was? Jacob grinst. So schnell geht das bei dir? Dein Immunsystem ist schwach, aber ich kann dich trösten, die Anfälle dauern immer nur Minuten und nehmen mit dem Alter ab. (Steffen Mensching: Jacobs Leiter, S. 276)


Gefunden

Nachdem ich einen knappen Kilometer an der Fahrzeugkolonne vorbeimarschiert bin, sehe ich auf dem Sandstreifen, wo der Asphalt abbricht, eine Broschüre liegen, der Titel schwarz. Ich hebe das Buch auf, eine fremde Sprache. Logisch, es wäre ja auch noch schöner, hier in Alpine County ein deutsches Buch auf der Straße zu finden. Englisch ist es aber nicht. Ich laufe lesend weiter, wenn ich den Bus schaffen will, muß ich mich beeilen. An der nächsten Einbiegung steht ein Feuerhydrant, ich stelle die Broschüre auf die Anschlußstutzen, wo die Jungs vom Fire Department, im Brandfall, ihre Schläuche anbringen. Was für ein Buch mag es gewesen sein? denke ich im Weitergehn. Vielleicht steckte irgend etwas Geheimnisvolles darin, das ich nun nie erfahren werde? Und schon drehe ich um, laufe vierzig Meter zurück. Im Vorsatz finde ich den Namen der Besitzerin: Leila. Eine Bibelinterpretation in Portugiesisch. Damit kann ich nichts anfangen. Jeden Dreck hebst du auf, wenn er nur zwischen zwei Buchdeckeln steckt. Augenblick, mäßige deinen Ausdruck, du sprichst von der Heiligen Schrift, wenn du zu blöd bist, Portugiesisch zu lernen, ist es deine eigene Schuld. Leila, singe ich, you knock me off my feet, und lasse mich an der Bushaltestelle, im hölzernen Wartehaus, auf die Bank fallen. Die christliche Leserin hat eifrig Anstriche gemacht, Kommentare, leider auch die in ihrer Muttersprache, ihre Adresse, oder die ihrere Mutter, hat sie dummerweise nicht hineingeschrieben. Warf sie die Broschüre aus dem Autofenster, in einem atheistischten Anfall? Rutschte ihr diese aus der Hand, als sie sich eine Zigarette anzünden wollte? Wie sie wiederfinden, in der Dunkelheit der New- Jersey-Nacht? Eher findet man eine Nadel im Heuhaufen oder einen Max Martin Nathan im Internet. Was anfangen mit einem Exegesematerial, gedruckt in Sao Paulo? Ich stelle die Broschüre auf die Bank. Vielleicht sieht Leila vorbeifahrend ihr Buch, unwahrscheinlich, aber immerhin ist die Chance, daß jemand sich hier der Bibel erbarmt, den Kommentar rettet, größer als mitten auf dem Highway. (Steffen Mensching: Jacobs Leiter, S. 311f.)


Mensching, Steffen: Jacobs Leiter, Berlin: Aufbau-Taschenbuch-Verlag, 2004. 425 S. ISBN: 3-7466-2073-2


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