Fang klein an!


von Steffen Mensching

Gestern nacht hab ich das Buch gelesen, das du mir empfohlen hast. Die Bibel? "Die Jakobsleiter" von Ludwigh Finckh. Der grüne Pappband, der zu den Judaica flüchtete, aus Angst, wieder nach Deutschland zu müssen. Du fühlst dich diesem Buch wohl sehr verbunden? Jacob pafft an seiner Droge. Eine ziemlich öde Parabel aus Schwaben. Armer Bauernbursche mit Drang zum Höheren, bringt es durch Fleiß und christliche Tugend zum Arztberuf. Das solls geben, sagt der Antiquar. Nach knapp vierzig Seiten bin ich eingeschlafen. Das Schicksal der Arbeiterklasse. Mit anderen Büchern passiert mir das nicht. Versuchs mit der Bibel oder schreib ein besseres. Besser als die Bibel? Fang klein an, überbiete erst mal diese schwäbische Jakobsleiter. Dein Wort in Gottes Ohr, denke ich, kreuze die Finger hinter dem Rücken und sage: Who knows? Ein Schiff fährt in Richtung Ozean. In der "Times" war ein Foto, sagt ein Jacob, das ganze Pier voller Überseedampfer, 1958. Unglaublich. Wer ist nicht alles über diese Landungsbrücken gelaufen? Stars und Sternchen. Jetzt verrottet alles.

Früher sind die Kids in Höhe der vierziger Straßen in den Fluß gesprungen, erzähle ich, haben sich treiben lassen, um hier wieder an Land zu kommen. Starke Strömung, das Wasser war unglaublich dreckig, vor allem an den Stellen, wo die Kanalisation eingeleitet wurde. Die Haare der Badenden waren mit Scheiße verklebt. Sehr appetitlich, meint der Antiquar, wenn das der Stil deines Buches ist, bemitleide ich deinen Verleger schon jetzt. Bringe bitte keine Exemplare nach New York, zum Beispiel als Geschenke für deine betagten Freunde, ich möchte nicht bei meinen nächsten Ankäufen über unser beider Geschichte stolpern. 'O wie öde ist die Wirklichkeit', war Melanies erstes Wort, als sie erwachte. Du sprichst in Rätseln, Freund. Ein klassisches deutsches Zitat, aus dem Erfolgsbuch 'Der Trotzkopf' von Emmy von Rhoden, das zeigt, daß schon andere Geister die Erkenntnis plagt, daß das Leben mitunter ziemlich profan sein kann. Muß man es deshalb erzählen? Ich glaube, ja. Ich glaube, nein.

Es ist eine Art Zwanghandlung. Dann bekenne dich zu deiner Neurose, aber verkaufe das Konstrukt nicht als Roman, das ist Etikettenschwindel. Angeblich lesen die Menschen nur noch Fiktion. Die Kritiker werden dich zerrupfen. Das ist ihr Job, sie können ja versuchen herauszufinden, was erlebt und was erfunden ist. Hast du was dagegen, wenn ich deine Telefonnummer erwähne? Dann kann jeder Rezensent bei dir anrufen, nachfragen, ob es wirklich so gewesen ist, um aus deinem Munde, vom Kronzeugen und Handlungsträger, zu erfahren, daß alles harmloser war, schrecklicher, langweiliger, in jedem Falle anders. ich habe keine Lust, täglich deutsche Journalisten abzuwimmeln. Keine Sorge, niemand wird sich melden, Kritiker sind geizig, Rezensionen schlecht bezahlt, bestimmt hast du recht, und das Buch wird ein Reinfall. Mitunter irren auch Propheten. Sogar große Verlage sind oft verblüfft, welche Bücher Erfolge werden. Das Publikum ist so vielseitig manipuliert, daß es nicht mehr berechenbar ist. Es mangelt an Urteilsvermögen. Oder an Geschmack. Sachen, von denen niemand erwartet, werden Bestseller, gute Literatur liegt wie Blei in den Regalen. Danke, daß du mir Mut machst, Jack.


Mensching, Steffen: Jacobs Leiter, Berlin: Aufbau-Taschenbuch-Verlag, 2004. 425 S. ISBN: 3-7466-2073-2


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