Anton Reisers Lesewut [<<]


von Karl Philipp Moritz

Im achten Jahre fing denn doch sein Vater an, ihn selber etwas lesen zu lehren, und kaufte ihm zu dem Ende zwei kleine Bücher, wovon das eine eine Anweisung zum Buchstabieren und das andre eine Abhandlung gegen das Buchstabieren enthielt. In dem ersten mußte Anton größtenteils schwere biblische Namen, als: Nebukadnezar, Abednego usw., bei denen er auch keinen Schatten einer Vorstellung haben konnte, buchstabieren. Dies ging daher etwas langsam. Allein, sobald er merkte, daß wirklich vernünftige Ideen durch die zusammengesetzten Buchstaben ausgedrückt waren, so wurde seine Begierde, lesen zu lernen, von Tage zu Tage stärker. Sein Vater hatte ihm kaum einige Stunden Anweisung gegeben, und er lernte es nun zur Verwunderung aller seiner Angehörigen in wenig Wochen von selber. Mit innigem Vergnügen erinnert er sich noch itzt an die lebhafte Freude, die er damals genoß, als er zuerst einige Zeilen, bei denen er sich etwas denken konnte, durch vieles Buchstabieren mit Mühe herausbrachte. Nun aber konnte er nicht begreifen, wie es möglich sei, daß andre Leute so geschwind lesen konnten, wie sie sprachen; er verzweifelte damals gänzlich an der Möglichkeit, es je so weit zu bringen.

Um desto größer war nun seine Verwunderung und Freude, da er auch dies nach einigen Wochen konnte. Auch schien ihn dieses bei seinen Eltern, noch mehr aber bei seinen Anverwandten in einige Achtung zu setzen, welches von ihm zwar nicht unbemerkt blieb, aber doch nie die eigentliche Ursach ward, die ihn zum Fleiß anspornete. Seine Begierde zu lesen war nun unersättlich. Zum Glücke standen in dem Buchstabierbuche außer den biblischen Sprüchen auch einige Erzählungen von frommen Kindern, die mehr wie hundertmal von ihm durchgelesen wurden, ob sie gleich nicht viel Anziehendes hatten. (...) Nun kam auch das andre kleine Buch an die Reihe, worin die Abhandlung gegen das Buchstabieren stand, und er zu seiner großen Verwunderung las, daß es schädlich, ja seelenverderblich sei, die Kinder durch Buchstabieren lesen zu lehren. In diesem Buche fand er auch eine Anweisung für Lehrer, die Kinder lesen zu lehren, und eine Abhandlung über die Hervorbringung der einzelnen Laute durch die Sprachwerkzeuge: so trocken ihm dieses schien, so las er es doch aus Mangel an etwas Besserm mit der größten Standhaftigkeit nach der Reihe durch.

Durch das Lesen war ihm nun auf einmal eine neue Welt eröffnet, in deren Genuß er sich für alle das Unangenehme in seiner wirklichen Welt einigermaßen entschädigen konnte. Wenn nun rund um ihn her nichts als Lärmen und Schelten und häusliche Zwietracht herrschte oder er sich vergeblich nach einem Gespielen umsah, so eilte er hin zu seinem Buche. So ward er schon früh aus der natürlichen Kinderwelt in eine unnatürliche idealistische Welt verdrängt, wo sein Geist für tausend Freuden des Lebens verstimmt wurde, die andre mit voller Seele genießen können.

Jetzt genoß er in seinem eilften Jahre zum ersten Male das unaussprechliche Vergnügen verbotner Lektüre. Sein Vater war ein abgesagter Feind von allen Romanen, und drohte ein solches Buch sogleich mit Feuer zu verbrennen, wenn er es in seinem Hause fände. Demohngeachtet bekam der Anton durch seine Base Die schöne Banise, die Tausendundeine Nacht, und Die Insel Felsenburg in die Hände, die er nun heimlich und verstohlen, obgleich mit Bewußtsein seiner Mutter, in der Kammer las, und gleichsam mit unersättlicher Begierde verschlang. Dies waren einige der süßesten Stunden in seinem Leben. Sooft seine Mutter hereintrat, drohete sie ihm bloß mit der Ankunft seines Vaters, ohne ihm selber das Lesen in diesen Büchern zu verbieten, worin sie ehemals ein ebenso entzückendes Vergnügen gefunden hatte. Die Erzählung von der Insel Felsenburg tat auf Anton eine sehr starke Wirkung, denn nun gingen eine Zeitlang seine Ideen auf nichts Geringers, als einmal eine große Rolle in der Welt zu spielen, und erst einen kleinen, denn immer größern Zirkel von Menschen um sich her zu ziehen, von welchem er der Mittelpunkt wäre: dies erstreckte sich immer weiter, und seine ausschweifende Einbildungskraft ließ ihn endlich sogar Tiere, Pflanzen, und leblose Kreaturen, kurz alles, was ihn umgab, mit in die Sphäre seines Daseins hineinziehen, und alles mußte sich um ihn, als den einzigen Mittelpunkt, umher bewegen, bis ihm schwindelte.

Dieses Spiel seiner Einbildungskraft machte ihm damals oft wonnevollre Stunden, als er je nachher wieder genossen hat. So macht seine Einbildungskraft die meisten Leiden und Freuden seiner Kindheit. Wie oft, wenn er an einem trüben Tag bis zum Überdruß und Ekel in der Stube eingesperrt war, und etwa ein Sonnenstrahl durch eine Fensterscheibe fiel, erwachten auf einmal in ihm Vorstellungen vom Paradiese, von Elysium, oder von der Insel der Kalypso, die ihn ganze Stunden lang entzückten.

Er ging zu einem Antiquarius und holte sich einen Roman, eine Komödie nach der andern, und fing nun mit einer Art von Wut an, zu lesen. - Alles Geld, was er sich vom Munde absparen konnte, wandte er an, um Bücher zum Lesen dafür zu leihen; und da nach einiger Zeit der Antiquarius ihn kennenlernte, und ihm ohne jedesmalige bare Bezahlung Bücher zum Lesen lieh, so hatte sich Reiser, ehe er es merkte, tief in Schulden hineingelesen, die, so klein sie sein mochten, damals für ihn unerschwinglich waren. Er suchte diese Schuld zum Teil durch den Verkauf seiner angeschafften Schulbücher zu tilgen, die ihm der Antiquarius für ein Spottgeld abnahm - und ihm dafür aufs neue Bücher zum Lesen lieh, bis er wieder in neue Schulden geriet, und denn wieder ängstlich auf Ertilgung derselben denken mußte. Das Lesen war ihm nun einmal so zum Bedürfnis geworden, wie es den Morgenländern das Opium sein mag, wodurch sie ihre Sinne in eine angenehme Betäubung bringen.

Wenn es ihm an einem Buche fehlte, so hätte er seinen Rock gegen den Kittel eines Bettlers vertauscht, um nur eins zu bekommen. - Diese Begierde wußte der Antiquarius wohl zu nutzen, der ihm nach und nach alle seine Bücher ablockte, und sie oft in seiner Gegenwart sechsmal so teuer wieder verkaufte, als er sie ihm abgekauft hatte. Es war unter diesen Umständen keinem zu verdenken, der Reisern für einen lüderlichen aus der Art geschlagnen jungen Menschen hielt, welcher seine Schulbücher verkaufte, statt seine Kenntnisse zu vermehren, und den Unterricht seiner Lehrer zu nutzen, nichts als Romane und Komödien las - und dabei sein Äußeres ganz vernachlässigte; denn es war sehr natürlich, daß Reiser keine Lust zu seinem Körper hatte, da er doch niemandem auf der Welt gefiel - und dann wurde auch all das Geld, was die Wäscherin und der Schneider hätte bekommen sollen, dem Bücher- Antiquarius hingebracht - denn das Bedürfnis zu lesen ging bei ihm Essen und Kleidung vor, wie er denn wirklich Abends den Ugolino las, nachdem er den ganzen Tag nicht das mindeste genossen hatte, denn seinen Freitisch hatte er über dem Lesen versäumt, und für das Geld, was zum Abendbrot bestimmt war, hatte er sich den Ugolino geliehen, und ein Licht gekauft, bei welchem er in seiner kalten Stube, in eine wollene Decke eingehüllt, die halbe Nacht aufsaß und die Hungerszenen recht lebhaft mitempfinden konnte. - Indes waren diese Stunden noch die glücklichsten, welche er gleichsam aus dem Gewirre der übrigen herausriß - seine Denkraft war vollkommen wie berauscht - er vergaß sich und die Welt.

Er las auf die Weise nach der Reihe die zwölf oder vierzehn Bände durch, welche damals vom deutschen Theater heraus waren, und weil er Yoriks empfindsame Reisen mit großem Vergnügen zwei- bis dreimal durchgelesen hatte, so lieh er sich auch von dem Antiquarius die empfindsamen Reisen durch Deutschland von Schummel. – Nun hatte er damals schon angefangen, sich die Titel der Bücher, welche er gelesen hatte, in einem dazu bestimmten Buche niederzuschreiben und sein Urteil dabei zu setzen, das mehrmalen ziemlich richtig ausfiel; wie er denn z. B. bei die empfindsamen Reisen durch Deutschland von Schummel das Urteil schrieb: ein exercitium extemporaneum, weil der Verfasser selbst gestand, daß er alle die verschiedenen Sachen in diesem dicken Buche bloß zusammengeschrieben habe, damit man urteilen solle, zu welchem Fach in der Schriftstellerei er sich wohl am besten schicken würde. – Der Verfasser dieser empfindsamen Reisen hat nachher dies exercitium extemporaneum durch seinen Spitzbart hinlänglich wieder gutgemacht. Aber nicht leicht hat Reisern bei irgendeinem Buche die Zeit, welche er auf das Lesen desselben gewandt hatte, mehr gereut als bei diesen empfindsamen Reisen. – So lernte er nun von selbst allmählich das Mittelmäßige und Schlechte von dem Guten immer besser unterscheiden.

Allein wie er sich schon so oft aus seiner wirklichen Welt in die Bücherwelt gerettet hatte, wenn es aufs äußerste kam, so fügte es sich auch diesmal, daß er sich gerade vom Bücherantiquarius die Wielandsche Übersetzung von Shakespeare liehe – und welch eine neue Welt eröffnete sich nun auf einmal wieder für seine Denk- und Empfindungskraft! – Hier war mehr als alles, was er bisher gedacht, gelesen und empfunden hatte. – Er las Macbeth, Hamlet, Lear und fühlte seinen Geist unwiderstehlich mit emporgerissen – jede Stunde seines Lebens, wo er den Shakespeare las, ward ihm unschätzbar. – Im Shakespeare lebte, dachte und träumte er nun, wo er ging und stund – und seine größte Begierde war, das alles, was er beim Lesen desselben empfand, mitzuteilen – und der nächste, dem er es mitteilen konnte, und welcher Gefühl dafür hatte, war sein Freund Philipp Reiser, der in einer abgelegenen Gegend der Stadt wohnte, wo er sich eine neue Werkstätte angelegt hatte und Klaviere zimmerte, – dabei sang er noch immer im Chore mit, aber nicht in dem, worin sich Anton Reiser befand.

Sie waren also durch ihre äußern Verhältnisse eine lange Zeit ohngeachtet ihrer ersten vertrauten Freundschaft voneinander getrennt worden. – Nun aber, da Anton Reiser seinen Shakespeare unmöglich für sich allein genießen konnte, so wußte er zu keinem Bessern damit zu eilen als zu seinem romantischen Freunde. Diesem nun ein ganzes Stück aus dem Shakespeare vorzulesen und auf alle dessen Empfindungen und Äußerungen dabei mit Wohlgefallen zu merken, war die größte Wonne, welche Reiser in seinem Leben genossen hatte. – Sie widmeten ganze Nächte zu dieser Lektüre, wo Philipp Reiser den Wirt machte, um Mitternacht Kaffee kochte und Holz im Ofen nachlegte – dann saßen sie beide bei einer kleinen Lampe an einem Tischchen – und Philipp Reiser hatte sich mit langem Halse herübergebeugt, sowie Anton Reiser weiter las und die schwellende Leidenschaft mit dem wachsenden Interesse der Handlung stieg. – Diese Shakespearenächte gehören zu den angenehmsten Erinnerungen in Reisers Leben.

Aber wenn auch durch irgend etwas sein Geist gebildet wurde, so war es durch diese Lektüre, wogegen alles, was er sonst Dramatisches gelesen hatte, gänzlich in Schatten gesetzt und verdunkelt wurde. Selbst über seine äußern Verhältnisse lernte er sich auf eine edlere Art hinwegsetzen – selbst bei seiner Melancholie nahm seine Phantasie einen höhern Schwung. – Durch den Shakespeare war er die Welt der menschlichen Leidenschaften hindurchgeführt – der enge Kreis seines idealischen Daseins hatte sich erweitert – er lebte nicht mehr so einzeln und unbedeutend, daß er sich unter der Menge verlor – denn er hatte die Empfindungen Tausender beim Lesen des Shakespeare mit durchempfunden. – Nachdem er den Shakespeare und so, wie er ihn gelesen hatte, war er schon kein gemeiner und alltäglicher Mensch mehr – es dauerte auch nun nicht lange, so arbeitete sich sein Geist unter allen seinen äußern drückenden Verhältnissen, unter allem Spott und Verachtung, worunter er vorher erlag, empor – wie der Verfolg dieser Geschichte zeigen wird.


Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. Stuttgart: Reclam, 1972.


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