Bibliomanische FAB / [B]


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Baierl, Helmut: Damals, 1945

  Ich weiß noch genau, daß ich mir gar nicht vorstellen konnte, was das ist, Frieden. Aber ich wußte, daß der Krieg einmal zu Ende sein würde, und ich ahnte sehr deutlich, wie. Als es dann soweit war, arbeitete ich auf dem Hof eines Mittelbauern im Sächsischen, in der Gegend von Löbau. Als ich das erstemal freibekam, setzte ich mir einen verwegenen Hut auf und marschierte in die Kreisstadt. Dort ging ich in eine Buchhandlung. Leere Regale starrten mich an. Eine alte Frau kam aus der Ladenstube. Ich fragte sie nach einem Buch. Sie verstand nicht. Ob sie ein Buch hätte, egal, welches! Sie sagte, sie hätte eine erste Buchsendung bekommen, einen Titel, ein paar Exemplare, "warten Sie, hier ist es". "Effi Briest"! ... Beim Bezahlen noch begann ich zu lesen. Ade, ihr trüben literarischen Gestalten meiner Jugendjahre. Ihr wart nicht schlecht, aber es ist nicht schade um euch! Durchs Leben geht es besser mit Fontane, Heine, Kleist, Shakespeare, Goethe, Schiller, (...) Proust, Lessing, Anna Segehrs, Brecht, Büchner, Gorki, Heinrich Mann, ach mit so vielen! Die die Schallmauer der Oberfläche durchbrechen wie ein dünnes, kleines Papier und den Leser dahin führen, wo das Wissen tief, das Leben steil und die Liebe ein weites Feld ist. Die Liebe ein weites Feld? Wer sagte es? War es nicht jener Herr von Briest, damals, 1945, als ich in der kleinen Buchhandlung hockte, unter den leeren Regalen, mit nichts in der Hand als einem Buch und nichts im Kopf als einer großen Hoffnung. (Helmut Baierl: Mit nichts im Kopf als einer großen Hoffnung)


Baker, Nicholson: Höflichkeit ist optional

  Geschmack ist kein künstlerischer Begriff, sondern ein gesellschaftlicher. Ich bin gern bereit, bei jemandem im Wohnzimmer guten Geschmack zu zeigen, wenn ich kann, doch unsere Leseleben ist zu kurz, als daß ein Schriftsteller in irgendeiner Weise höflich sein könnte. Da seine Worte das Gehirn eines anderen in Stille und Intimität betreten, sollte er so ehrlich und explizit sein, wie wir uns selbst gegenüber sind. (Nicholson Baker: U & I. Wie groß sind die Gedanken? S. 71)


Baker, Nicholson: Aufgabe der Bibliothek

  Die Funktion einer großen Bibliothek ist es, entlegene Bücher zu sortieren und zu lagern. Das ist in erster Linie die Aufgabe, deren Erfüllung wir von einer Bibliothek verlangen: an Büchern festzuhalten, die wir nicht genügend wollen, um sie zu besitzen, an Büchern von sehr begrenztem Reiz, ungeschützt von Cliffs Notes- Interpretationshilfen oder allgegenwärtigen Zitierungen oder schlichter Allbekanntheit. Ein Buch, das man unbedingt neben dem Bett liegen haben will oder dessen Referenz- oder Snobwert man sein ganzes Leben lang zu glauben braucht, kauft man. Bibliotheken sind die Fundgruben für die vergriffenen und weniger verlangten, und dafür schätzen wir sie unendlich. Daß die meisten Bibliotheksbücher selten ausgeliehen werden, ist Teil des Mysteriums und der Macht einer Bibliothek. Die Bücher sind da, warten von einem Zeitalter zum nächsten, bis ihr Augenblick kommt. Und bei manchen Büchern kommt dieser Augenblick vielleicht nie - aber wir haben keine Möglichkeit, das vorauszusagen, da wir nicht wissen können, was eine zukünftige Zeit einmal interessant findet. (Nicholson Baker: U und I. Wie groß sind die Gedanken? S. 399)


Baker, Nicholson: Bücher & Bilder

  Als drittes auf meiner Liste der notwendigen Dinge, die ein Zimmer gemütlich, heiter und schön machen, kommen - Bücher und Bilder. An dieser Stelle werden manche ausrufen: "Aber Bücher und Bilder kosten eine Menge Geld!" Ja, Bücher kosten Geld, ebenso Bilder; doch Bücher sammeln sich in den meisten Häsuern, wo überhaupt Bücher gelesen werden, rasch an; und wenn jemand wirklich Bücher will, dann ist es erstaunlich, wie viele innerhalb weniger Jahre zusammenkommen können, ohne daß man sich bei anderen Dinge allzusehr einschränken muß. (Nicholson Baker: U und I. Wie groß sind die Gedanken? S. 447)


Baker, Nicholson: Bücherlagerung

  Im Alter von achtzig Jahren und zwischen zwei Premierministerperioden faszinierte William Gladstone das Problem der Bücherlagerung, und anläßlich eines Besuchs beim Oxforder All Souls College "ließ er sich eines Abends im Dozentenzimmer über dieses Thema aus", so ein Beobachter, "und illustrierte seine Ideen für Bücherregale mittels eines komplizierten Gebrauchs von Messern, Gabeln, Gläsern und Karaffen". Gladstone war sich nicht so recht sicher, wie England all die Bücher, die es produzierte, lagern wollte, ohne daß seine Bürger, wie er schrieb, "in einigen Jahrhunderten vermöge der exorbitanten Ausmaße ihrer Bibliotheken in die sie umgebenden Gewässer verdrängt" werden. Doch einer Sache war Gladstone sich sicher: Bücherregale sollten einfach sein. "Es ist seit einiger Zeit Mode, Bücherregale äußerst schmuckvoll zu gestalten", sagt er. "Doch Bücher brauchen für und an sich überhaupt keinen Schmuck. Sie selbst sind der Schmuck." (Nicholson Baker: U und I. Wie groß sind die Gedanken? S. 447)


Baker, Nicholson: Vorgenossen

  Ich bin mal in einen Secondhand-Buchladen gegangen, nur zum Stöbern, er hieß Bonnie's Books. Aber dann war es nicht so ganz das, was ich mir vorgestellt hatte, es gab fast keine alten Bücher, sondern bloß kürzlich erschienene, vorgenossene. De facto also eine Bücherei. (Nicholson Baker: Vox, S. 76)


Baker, Nicholson: Den ganzen Tag verändern

  Was man morgens als Erstes tut, kann den ganzen Tag beeinflussen. Wenn man als Erstes im Schlafanzug blinzelnd und sackkraulend zum Computer schlurft, um nach E-Mails zu sehen, wird man den ganzen Vormittag nach Elektronik gieren. Also das nicht. Liest man als Erstes die Zeitung, wird man voller Wortspiele und Kümmernisse sein - verschieben. Eine Weile dachte ich, der Schlüssel zum Leben sei es, als Erstes ein wenig in einem Buch zu lesen. Sinn der Sache ist, zu dem Bücherstapel neben dem Bett hinunterzulangen, noch bevor ich ganz wach war, eines hochzuholen und es aufzuschlagen. Das funktioniert nur in den Monaten des Jahres, in denen man in einer Welt aufwacht, die hell genug ist, um Druckzeilen zu erkennen, aber manchmal, selbst wenn man das Buch aufschlägt und es in dem Grau nicht ganz lesen kann, selbst wenn man sieht, wie das Wort, von dem man weiß, daß es ein Wort ist, in einem körnigen Augenpartikelreigen schwebt und man dann merkt, daß man es lesen kann, wenn man richtig darauf starrt, und das Wort ist beinahe, kann die Lektüre dieses eizelnen Wortes so gut sein wie die eines ganzen Kapitels unter normalen Lichtbedingungen. Die Fingerspitzen sind noch vom Schlaf aufgequollen, und die Buchecke ist das erste Scharfe, das man fühlt, und man holt es hoch und schlägt es wahllos auf, ohne zu wissen, welches Buch die Hände gefunden haben, und dann wird diese beinahe in den Mückenschwärmen des Dämmerlichts langsam scharf. Das verändert den ganzen Tag. (Nicholson Baker: Eine Schachtel Streichhölzer, S. 79)


Balletta; Alexander: Regulae

  Vorsicht bei der ersten Tageslektüre. Bücher müssen als Sonnenaufgänge betrachtet werden. Wenn sie nichts erleuchten, soll man sie weglegen.

  Nachdenkerei und Schriftstellerei, maßlos ehrgeizig betrieben, machen krank. Freunde sollen einander davon abhalten.

  Falls Tischlektüre während der Mahlzeiten gewünscht wird, um banales Gerede aus den Räumen zu verbannen, dann soll durch einen begabten Leser der Don Quixote des Cervantes vorgetragen werden. (Alexander Balletta: Regulae ad directionem ingenii et corporis)


Balzac, Honore de: Ohne Plan lesend

  Ich bin eine krasse Ignorantin, ich lese viel, aber ich lese ohne Plan. Ein Buch führt mich auf das andere über. Die Titel mehrerer Werke finde ich auf dem Umschlag dessen, das ich gerade vor mir habe; aber niemand leitet mich an, und so stoße ich oft auf sehr langweilige. Was ich an moderner Literatur gelesen habe, dreht sich um die Liebe, das Thema also, das uns so viel zu schaffen gemacht hat, da doch unser ganzes Schicksal durch den Mann und für denn Mann geschaffen wird... (Honore de Balzac: Memoiren zweier Jungvermählter, S. 322)


Balzac, Honore de: Eine Fälschung

  Godeschal hatte (...) den Plan ausgeheckt, ein sogenanntes architriclinisch-juristisches Register von höchster Altertümlichkeit herzustellen; es sollte aus den Stürmen der Revolution gerettet sein und von Bordin, dem Staatsanwalt am Chatelet, herstammen, den umittelbaren Vorgänger Sauvagnests, des Anwalts, dem Desroches seine Bestallung dankte. Sie begannen damit, bei einem Altpapierhändler irgendein Registerbuch mit Wasserzeichen aus dem achtzehnten Jahrhunderts zu suchen, das gut und zweckentsprechend in Pergament gebunden war; darauf sollte eine Verfügung des Großen Rats zu stehen kommen. Nachdem jenes Buch gefunden worden war, wurde es durch den Staub geschleift, in den Ofen gesteckt, in den Kamin durch den Küchenschmutz gewälzt; sie ließen es sogar in der Örtlichkeit liegen, die die Schreiber die 'Kammer der heimlichen Entschlüsse' nennen, und so bekam das Buch ein Patina, die jeden Antiquar entzückt hätte, Risse von wüster Altertümlichkeit, zerfledderte Ecken, daß man hätte meinen können, die Ratten hätten sich daran gütlich gebräunt. (Honore de Balzac: Ein Lebensbeginn)


Balzac, Honore de: Bücherharem

  ... sein Harem an Büchern hat ihn mit Ekel vor jedem zu schaffenden Werk erfüllt. (Honore de Balzac: Beatrix)


Balzac, Honore de: Planken

  Es kamen noch vier weitere Seiten in einer dünnen, gedrängten Handschrift, auf denen Calyste die furchtbare Drohung erklärte, die die letzte Bemerkung enthielt, und auf denen er von seiner Jugend und aus seinem Leben erzählte; aber er schrieb jetzt in Phrasen, die Ausrufe waren; es kamen darin viele der Pünktchen vor, wie sie die moderne Literatur an gefährlichen Stellen verschwendet wie Planken, die der Phantasie des Lesers zur Überschreitung von Abgründen dargeboten werden. (Honore de Balzac: Beatrix)


Bang, Herman: Seltene Spezies

  Frau Bella Schoe plauderte mit William Ask, der seinen höflich-betrübten Gesichtsausdruck bewahrt hatte. "Ja, mein Kabinett ist hübsch", berichtete sie. "Man möchte doch auch gerne einen Platz im Haus haben, der einem selbst ein bißchen gehört. Ich spüre ab und zu zumindest das Bedürfnis nach einem Zimmer ohne Telefon." "Andere können ohne dieses Gebimmel gar nicht mehr sein", etngegnete William Ask. Frau Bella lächelte ein klein wenig: "Das ist wahr, aber es ist und bleibt störend, wenn man liest." "Ja, ich weiß", sagte William, "Sie sind eine der wenigen, die hierzulande Bücher kaufen." (Herman Bang: Ein herrlicher Tag, S. 197)


Baricco, Alessandro: Lesen aus Angst

  ... daß nämlich Lesen allezeit und für jedermann vielleicht nie etwas anderes war, als sich auf einen Punkt zu konzentrieren, um von dem unkontrollierbaren Fortgleiten der Welt nicht verführt, und nicht zerstört, zu werden. Nichts läse man, gar nichts, wenn nicht aus Angst. Oder um die Versuchung eines zerstörerischen Wunsches abzuwehren, der man, wie man weiß, nicht widerstehen kann. Man liest, um nicht zum Fenster aufzuschauen, soviel steht fest. Ein aufgeschlagenes Buch ist immer der Beweis für die Anwesenheit eines Feiglings - die Augen fest auf die Zeilen geheftet, um sich den Blick nicht von der Glut der Welt abspenstig machen zu lassen." (Alessandro Baricco: Land aus Glas, S. 70)


Barnes, Julian: Jede Menge Zeit

  Ich trat jeden Tag in der Bib Nat an und arbeitete mich durch Stapel von Material, das ich brav auf Karteikarten übertrug. Das Thema war so, daß ihm mit ehrlicher Ochserei und einem instinktiven Gefühl dafür, wo man nachschauen mußte, gut beizukommen war; wenn man mit dem Bibliothekskatalog umgehen konnte, hatte man das Ergebnis praktisch schon in der Tasche. Selbstständiges Denken war wenig erforderlich, nur die Fähigkeit, anderer Leute Beobachtungen zusammenfassen. Das hatte natürlich von Anfang an zu meinem Plan gehört: Such dir was, woran du arbeiten kannst, ohne dabei die wertvollen Teile des Kopfes aufzubrauchen, und sie zu, daß du jede Menge Freizeit hast. (Julian Barnes: Metroland)


Barnes, Julian: Bücher loben und verreißen

  Hidebound Books - der Name sollte eine doppelte Ironie bergen - brachte hübsche kleine Paperbacks zu den verschiedensten Themen heraus; manches davon Marklückenbüßer, manches wohlbedachte Reprints; aber ein gehöriger Anteil Originalausgaben. Tonis Monographie war in einer Serie erschienen, die - nach Orwell - 'Wie's mir paßt' hieß. Darin stellte er dar, wie alle wichtigen Bücher bei ihrem ersten Erscheinen grundlegend mißverstanden werden, egal, ob man sie lobt oder verreißt. Werden sie verrissen, finden sich immer Leute für einen erbitterten Disput; werden sie hingegen gelobt, kümmert sich niemand um die Fehler der Rezensenten. Flaubert hat gesagt, Erfolg geht immer daneben. 'Madame Bovary' ist wegen seiner farcenhaften Stellen ein Hit geworden. Tonis Ansicht nach ist die Psychologie von Leuten, die ein erfolgreiches Werk aus den falschen Gründen loben, noch interessanter als die von Leuten, die es aus den falschen Gründen heruntermachen. (Julian Barnes: Metroland)


Baumann, Hans: Zwei Bücher

  Das eine versprach: "Ich mache dich klug,
in mir stehen Weisheiten mehr als genug."
das andere meinte: "Ich mache dir Spaß."
Da las ich das Buch und las und las -
und las dann im klugen Buch weiter,
doch das lustige war viel gescheiter.


Bayard, Pierre: Unendlichkeit der Lektüremöglichkeiten

  Von dieser Konfrontation mit der Unendlichkeit der Lektüremöglichkeiten ist es nicht mehr weit bis zu dem Gedanken der Ermutigung zum Nichtlesen. Denn wie sollte man angesichts der unermeßlichen Zahl von veröffentlichten Büchern nicht zum Schluß kommen, daß jedes Leseunterfangen, selbst wenn es auf ein ganzes Leben verteilt wird, vergebliche Liebesmüh ist im Hinblick auf all die Bücher, die für immer unbeachtet bleiben müssen? Lesen bedeutet in erster Linie nicht lesen, und selbst bei den großen Lesern, die ihr ganzes Leben dieser Tätigkeit verschrieben haben, verbirgt die Geste des Ergreifens und Öffnens eines Buches stets die ihr entgegengesetzte, die darin enthalten ist und demzufolge unbemerkt bleibt: die unfreiwillige Geste des Nichtergreifens oder Zuklappens sämtlicher Bücher, die bei einer anderen Organisation der Welt an die Stelle des glücklich auserwählten hätten treten können. (Pierre Bayard: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat, S. 20)


Bayard, Pierre: Lesen und Vergessen

  ... da auch das ernsthafteste und gründlichste Lesen schon bald einem Querlesen gleichkommt und sich im Nachinein als bloßes Überfliegen darstellt. Um dies festzustellen genügt es, dem Akt des Lesens eine Dimension hinzuzufügen, die von vielen Theoretikern übersehen wird, die Dimension der Zeit. Das Lesen ist nicht nur Kenntnisnahme eines Textes oder Erwerb von Wissen. Es ist immer auch, und zwar sobald es einsetzt, einem unabwendbaren Vorgang des Vergessens unterworfen. Schon während des Lesens fange ich an zu vergessen, und dieser Prozess, der unvermeidlich ist, setzt sich so lange fort, bis ich irgendwann wieder an dem Punkt bin, als hätte ich das Buch nicht gelesen, und ich von neuem zum Nichtleser werde, der ich, wäre ich besser beraten gewesen, geblieben wäre. Die Aussage, daß man ein Buch gelesen hat, kann ruhig als Metonymie betrachtet werden. Man hat von einem Buch immer nur einen mehr oder weniger großen Teil gelesen, und selbst dieser ist über kurz oder lang zum Verschwinden verurteilt. (Pierre Bayard: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat, S. 66)


Beach, Sylvia: Abgelenkt

  Valéry erzählte mir, was ihm als jungem Mann in London zugestoßen war. Es regnete jeden Tag. Er war allein und elend in seiner schäbigen Bude und wie er andeutete, sehr arm. Eines Tages entschloß er sich, Selbstmord zu begehen, aber als er den Schrank öffnete, um seinen Revolver herauszunehmen, fiel ein Buch zu Boden, er hob es auf, setzte sich hin und las. Der Autor hieß Scholl, an den Titel konnte er sich nicht mehr erinnern. Es war ein humoristisches Buch, er las es durch und unterhielt sich dabei so gut, daß ihm jede Lust an Selbstmord vergangen war, als er es beendet hatte. Wie schade, daß Valéry sich nicht an den Titel erinnern konnte! Es gelang mir nicht einmal, den Namen Scholl in irgendeinem Katalog aufzustöbern. (Sylvia Beach: Shakespeare and Company. Ein Buchladen in Paris, Suhrkamp, S. 178)


Becker, Jurek: Eine Art Krankheit

  Ich verstehe nicht viel von Literatur, doch so viel steht wohl fest, daß ein Buch, bevor es fertig ist, Seite für Seite geschrieben werden muß. Daran wird sie sich die Zähne ausbeißen. Meine Redaktion ist voll von Leuten, die Romane angefangen haben; das Romananfangen scheint eine Art Krankheit zu sein, von der viele in jungen Jahren befallen werden wie von Mumps. (Jurek Becker: Amanda herzlos, S. 33)


Bei Dao: Magische Anziehungskraft

  Wörter übten schon seit frühester Kindheit eine magische Anziehungskraft auf Bei Dao aus. In seinem Elternhaus gab es zwei Arten von Büchern: offen zugängliche, wie die von Marx und Mao, und in einem Oberschrank verborgene. Als er sieben Jahre alt war, kletterte er unermüdlich auf einen Stuhl, um an den nicht für ihn gedachten Lektürestoff zu gelangen - und stürzte immer wieder zu Boden: "Seitdem verbinde ich mit Lesen Schmerz." (Tobias Wenzel: Solange ich lebe, kriegt mich der Tod nicht. Friedhofsgänge mit Schriftstellern)


Beigbeder, Frederic: Chancen auf den Nobelpreis

  Angelo Rinaldi übertreibt, wenn er meint, dieses Buch hätte "Hundert Jahre Seichtigkeit" heißen sollen, auch wenn es immer Spaß macht, die altehrwürdige Kritikergröße Jean Daniel zu ärgern. Sergeant Garcia Marquez lebt immer noch, er hat 1982 den Literaturnobelpreis bekommen, und viele barocke Schriftsteller haben ihm alles zu verdanken: Jose Saramago; Günter Grass oder Salman Rushdie, die beiden Erstgenannten bereits nobelpreisgeschmückt. Letzterer nobelpreiswürdig. Und die Moral: Schreiben Sie ausufernde und unübersichtliche Romane und Sie haben größere Chancen auf den Nobelpreis, als wenn Sie Marguerite Duras paraphrasieren. (Frederic Beigbeder: Letzte Inventur vor dem Ausverkauf. Die fünfzig besten Bücher des 20. Jahrhunderts, S. 69)


Beigbeder, Frederic: Der Motor der Erzählung

  Viele Bücher des Jahrhunderts stellen unsere Geduld auf eine harte Probe: 'Das Ufer der Syrten' von Julien Gracq, das zehn Jahre später erschien, ebenso wie 'Warten auf Godot' von Beckett oder, in jüngerer Zeit und in einem ganz anderen Genre, 'Die Liebe in den Zeiten der Cholera' von Garcia Marquez. Im Grunde muß jedes gute Buch die Erwartung schüren, zumindest die des Lesers; damit er Lust hat weiterzublättern, bedarf es einer gewissen Anspannung, und was bewirkt eine stärkere Anspannung, als ihn warten zu lassen? Lesen heißt, auf die nächste Seite zu hoffen. Man mag das Buch am allerliebsten, das es geschafft hat, einem die Zeit zu vertreiben (das nennt man die "Spannung" oder den "Motor der Erzählung", je nachdem, ob man Alfred Hitchcock oder Schüler einer Elite-Hochschule ist. (Frederic Beigbeder: Letzte Inventur vor dem Ausverkauf. Die fünfzig besten Bücher des 20. Jahrhunderts, S. 79)


Bellermann: Der Bücher-Wurm

  Der Bücherwurm ist überall,
in einem Bus, im Wartesaal,
Im U-Bahnschacht und in der Nacht
liest er Bücher mit Bedacht.


Bellow, Saul: Suchen & Finden in Büchern

  Insgeheim jedoch, wenn es ganz schlimm um mich stand, blätterte ich häufig in Büchern, um vielleicht in ihnen ein paar hilfreiche Worte zu finden, und eines Tages las ich: "Die Vergebung der Sünden ist ewig, und der Rechtschaffenheit als Voraussetzung bedarf es nicht." Das beeindruckte mich so tief, daß ich es ständig vor mich hin sagte. Aber dann vergaß ich, in welchem Buch es stand. Es war eines von Tausenden aus der Hinterlassenschaft meines Vaters, der auch eine Anzahl davon geschrieben hatte. Und ich suchte in Dutzenden von Bänden, aber alles, was zum Vorschein kam, war Geld, denn mein Vater hatte Geldscheine als Lesezeichen benutzt - so wie er sie gerade in seinen Taschen vorfand - Fünf-, Zehn- oder Zwanzigdollarnoten. Ein paar ungültige der dreißiger Jahre, diese großen gelben Lappen, kamen zum Vorschein. Da sie an vergangene Zeiten erinnerten, freute mich das Wiedersehen mit ihnen, ich schloß die Tür zur Bibliothek ab, um vor den Kindern sicher zu sein, und verbrachte den Nachmittag auf einer Leiter mit dem Ausschütten von Büchern, und das Geld schwebte auf den Fußboden herunter. Doch jene Äußerung über die Vergebung habe ich nie wiedergefunden. (Saul Bellow: Der Regenkönig, S. 5)


Bender, Hans: Mit gezücktem Bleistift

  Fragt man nach meinem Hobby, antworte ich prompt: Lesen! Man erwartet wahrscheinlich eine andere Antwort; eher ein sportliches Steckenpferd. Und doch, ich weiß keine andere Tätigkeit, die mir ein vergleichbares Vergnügen bereitet. Auf jeder Bahnfahrt freue ich mich deshalb: nirgendwo bin ich so allein und so ungestört mit meinem Buch. Die Stationen, die Autobahnen, die Fabriken, die Atommeiler fliegen draußen vorbei. Fahrgäste steigen ein und aus. "Zehn Minuten Verpätung", klagen sie. Mich kümmert es nicht. Ich bin dem allen entrückt, ins viktorianische England, nach "Howards End": Charles hat eben den lästigen Mr. Bast erschlagen. Die Spannung wächst: wird die kurz zuvor geschlossene Ehe zwischen Margarete Schlegel und Heny Wilcox die Konflikte überstehen? Je älter ich werde, desto anspruchsvoller werde ich in der Wahl meiner Lektüre. Noch genieße ich Romane und Erzählungen, Kriminalromane sogar, doch mehr fesseln mich Tagebücher, Briefe, Aufzeichnungen, Autobiographien. Nicht erdichtete Gestalten, die Verfasser oder Verfasserinnen selber und seufzen. Lesen, was sie denken und fühlen. Selbstbeobachtung und Selbstprüfung ist ihr Motiv. Suche nach Wahrheit, die bis zur Selbstentblößung vordringt, treibt sie an. Lichtenberg, Rousseau, Emerson, Stendhal, Hebbel, van Gogh, Katherine Mansfield, Gide, Pavese, Julien Green, Canetti, Cioran will ich nennen; und Jules Renard, den liebenswürdigsten von allen. Die Ausgabe seines Tagebuchs besitze ich seit zwei Jahren. Sie liegt auf meinem Schreibtisch. Auf Reisen nehme ich sie mit. Renard ist weniger radikal als die aufgezählten Autoren. Ein "süßer Mann!", schwärmte Tucholsky. "Manches habe ich beinahe wörtlich so empfunden und auch so geschrieben", fährt Tucholsky fort, und gerade auch darin stimme ich mit ihm überein. Mit gezücktem Bleistift lese ich Renards Tagebuch. Ich will behalten, was er mir vor- und zuspricht. Ich will wiederfinden, was ich an seinen Notizen bewundere: die Genauigkeit der Beobachtungen, die Lakonik der Sprache, die Poesie der Vergleiche oder Metaphern. (Hans Bender: Mit gezücktem Bleistift, aus: Von Büchern und Menschen: Frankfurt/M.: FVA, 1988)


Benjamin, Walter: Vom Gelesenen beschneit

  Aus der Schülerbibliothek bekommt man ein Buch. In den unteren Klassen wird ausgeteilt. Nur hin und wieder wagt man einen Wunsch. Oft sieht man neidisch ersehnte Bücher in andere Hände gelangen. Endlich bekam man das seine. Für eine Woche war man gänzlich dem Treiben des Textes anheimgegeben, das mild und unheimlich, dicht und unablässig, wie Schneeflocken einen umfing. Dahinein trat man mit grenzenlosem Vertrauen. Stille des Buches, die weiter und weiter lockte! Dessen Inhalt war gar nicht so wichtig. Denn die Lektüre fiel noch in die Zeit, da man selber Geschichten im Bett sich ausdachte, Ihren halbverwehten Wegen spürt das Kind nach. Beim Lesen hält es sich die Ohren zu; sein Buch liegt auf dem viel zu hohen Tisch, und eine Hand liegt immer auf dem Blatt. Ihm sind die Abenteuer des Helden noch im Wirbel der Lettern zu lesen wie Figur und Botschaft im Treiben der Flocken. Sein Atem steht in der Luft der Geschehnisse, und alle Figuren hauchen es an. Es ist viel näher unter die Gestalten gemischt als der Erwachsene. Es ist unsäglich betroffen von dem Geschehen und den gewechselten Worten, und wenn es aufsteht, ist es über und über beschneit vom Gelesenen.


Bennett, Alan: Bücher buckeln nicht

  Der Reiz des Lesens lag in seiner Indifferenz: Literatur hatte etwas Erhabenes. Büchern war es egal, wer sie las oder ob sie überhaupt gelesen wurden. Vor ihnen waren alle Leser gleich, auch sie selbst. Die Literatur, dachte sie, ist ein Commonwealth; Bücher darin die Republiken. Tatsächlich hatte sie diesen Ausdruck, die Republik der Bücher, schon mehrfach gehört - bei Examensfeiern, Ehrendoktorverleihungen und dergleichen-, ohne genau zu wissen, was damit gemeint war. Zu jener Zeit hatte sie jegliche Erwähnung wie auch immer gearteter Republiken, noch dazu in ihrer Gegenwart, als leicht beleidigend oder zumindest taktlos empfunden. Erst jetzt begriff sie, was die Worte bedeuteten. Bücher buckelten nicht. Alle Leser waren gleich, und das erinnerte sie an ihre frühen Lebensjahre. Einer der aufregendsten Momenten ihrer Jugend was die Siegesnacht am Ende des Zweiten Weltkrieges gewesen, als sie und ihre Schwester sich aus dem Palast geschlichen und unbekannt unter die feiernde Menge gemischt hatten. Etwas Ähnliches geschah beim Lesen, spürte sie. Es war anonym, gemeinsam und allgemein. Und da sie ein Leben hinter Schranken verschiedenster Art geführt hatte, verlangte es sie nun genau danach. Auf diesen Seiten, zwischen diesen Buchdeckeln konnte sie unerkannt umherschweifen. (Alan Bennett: Die souveräne Leserin, S. 31)


Bennett, Alan: Inspriration

  Besonders beängstigend war ein schottischer Schriftsteller. Als sie ihn fragte, woher seine Inspiration komme, entgegnete er heftig: "Die kommt nicht, Eure Majestät. Man muß rausgehen und sie sich holen." (Alan Bennett: Die souveräne Leserin, S. 51)


Bennett, Alan: Lesen, Ma'am"

  "Lesen, Ma'am." "Verzeihung?" "Eure Majestät haben angefangen zu lesen." "Nein, Sir Claude. Man hat immer gelesen. Man liest nur dieser Tage ein wenig mehr." Nun wußte sie natürlich, warum er gekommen war und wer ihn dazu gebracht hatte, und so war er nicht länger nur Gegenstand ihres Mitgefühls, sondern wurde einer ihrer Verfolger; das Mitleid schwand also, sie fand ihre Fassung wieder. "Ich finde, Lesen allein kann nicht schaden, Ma'am." "Das hört man ja mit Erleichterung." "Nur, wenn es ins Extreme getrieben wird. Da liegt das Problem." "Wollen Sie mir raten, die Lektüre zu rationieren?" "Eure Majestät haben immer ein so vorbildliches Leben geführt. Daß Ma'am gerade aufs Lesen verfallen sind, ist beinahe glücklich zu nennen. Wenn Eure Majestät eine andere Beschäftigung mit solchem Eifer betrieben, wäre sicher manche Augenbraue tadelnd in die Höhe gegangen." "Womöglich. Allerdings hat man sein Leben lang versucht, genau das zu vermeiden. Manchmal habe ich das Gefühl, das war keine besondere Leistung." "Ma'am mochten doch immer gern Pferderennen." "Richtig. Im Augenblick allerdings finde ich daran wenig Gefallen." "Ach", sagte Sir Claude. "Das ist ja schade." Dann entdeckte er eine mögliche Verbidnung zwischen Lesen und Rennen. "Ihre Majestät die Königinmutter war immer ganz begeistert von Dick Francis." "In der Tat", sagte die Quee. "Ich habe eins oder zwei seiner Bücher gelesen, aber sie bringen einen nicht besonders weit. Swift, habe ich entdecktm schreibt sehr gut über Pferde." Sir Claude nickte bedächtig, da er Swift nicht gelesen hatte und hier offenbar nicht weiterkam.


Bennett, Alan: Lesen und Information

  "Natürlich", sagte die Queen, "aber Informieren ist nicht gleich Lesen. Es ist im Grunde sogar der Gegenpol des Lesens. Information ist kurz, bündig und sachlich. Lesen ist ungeordnet, diskursiv und eine ständige Einladung. Information schließt ein Thema ab, Lesen eröffnet es." (Alan Bennett: Die souveräne Leserin, S. 22)


Bennett, Alan: Abschweifungen

  Doch immer häufiger bezog die Queen ihren Lesestoff aus den eigenen Bibliotheken, vor allem aus der in Windsor, wo es zwar kein unbeschränktes Angebot an modernen Büchern gab, aber immerhin zahlreiche klassische Romane auf den Regalen standen, viele davon natürlich handsigniert - Balzac, Turgenjew, Fielding, Conrad; Bücher, die ihr vor nicht allzu langer Zeit als zu hoch erschienen wären, die sie jetzt jedoch rasch durchmaß, immer den Bleistift zur Hand. Im Verlauf dieser Klassikerlektüre versöhnte sie sich sogar wieder mit Henry James, dessen Abschweifungen sie inzwischen leichter ertrug: "Schließlich", so notierte sie, "muß ein Roman nicht der Vogelfluglinie folgen." (Alan Bennett: Die souveräne Leserin, S. 72)


Bennett, Alan: Bücher machen zart

  Untertanen schmollten selten in Gegenwart der Queen, dazu hatten sie kein Recht, und vor Zeiten wären sie deswegen im Tower gelandet. Noch vor ein paar Jahren hätte sie gar nicht bemerkt, was Norman oder sonst jemand tat, und wenn es ihr jetzt auffiel, dann nur, weil sich in die Lage anderer Menschen versetzen konnte, Aber das erklärte immer noch nicht, warum er so beleidigt war. "Bücher sind etwas Herrliches, nicht wahr?", sagte sie zum Vizekanzler, der zustimmte. "Auch wenn sich das vielleicht eher nach einem Steak anhört", fuhr sie fort, "sie machen einen zarter." (Alan Bennett: Die souveräne Leserin, S. 101)


Bergengruen, Werner: Der imaginäre Leser

  Was ich mit meiner Dichtung will, das ist nicht etwas die Erfüllung einer außerhalb meiner selbst und außerhalb meiner Dichtung gelegenen Aufgabe. Es ist zunächst etwas auf mich selber Bezogenes, nicht etwas auf die anderen Menschen Bezogenes, an die sich zugegebenermaßen und unmißverständlich meine Dichtung doch wendet. Und dennoch sind diese anderen, nenne man sie Leserschaft oder Publikum, auf eine Weise bei aller dichterischen Hervorbringung zugegen, denn zum mindesten unbewußt stellt der Dichter sich immer den Leser vor Augen, den er freilich mit sich selber zu identifizieren geneigt sein wird. Etwa wenn er sich über seiner Arbeit die Frage vorlegt: Ist dieser oder jener erzählerische Zusammenhang bereits deutlich genug geworden, ist dies Motiv, ist jenes Geschehnis schon genügend vorbereitet, erscheinen die Handlungen der und der Gestalt auf Grund dessen, was bisher von ihr ausgesagt wurde, auch glaubhaft, oder bedürfte der und der Zug am Ende einer Unterstreichung? Für den Dichter selber, der doch die darzustellenden Vorgänge kennt, brauchte es solcher Überlegungen ja nicht. Ich meine, dieses Beispiel mache es einleuchtend, wie sehr ein imaginärer Leser dem Schreibenden fortwährend über die Schulter guckt und wie sehr der Schreibende, der nur sich selber zu befriedigen, nur die eigene Lust zu sättigen denkt, diese Sättigung doch erst erreicht, und sei es auch nur in der Approximation, und wenn er diesem imaginären, diesem idealischen Leser Genüge getan zu haben glaubt. Denn dieser Leser ist ihm der Richter, und dieses Lesers zum wenigsten vermeintliches Urteil ist ihm der Maßstab, an dem er den nie ganz auf der Welt zu schaffenden Abstand zwischen dem von ihm Gewollten und dem ihm Gelungenen mißt. Dieser während des Hervorbringungsprozesses meist durchaus unbewußt auftretende Gedanke an den Leser wird den Dichter auch da beherrschen, wo er etwas schreibt, dessen Veröffentlichung er, aus welchen Gründen immer, keineswegs beabsichtigt. Der imaginäre Leser würde sogar zugegen sein, wenn ich a la Robinson auf eine wüste Insel verschlagen und, aller Hoffnung auf Rückkehr zu den Menschen endgültig beraubt, etwas auf getrocknete Palmblätter Gedichte oder Erzählungen schriebe.


Berg, Sibylle: Gelungene Kommunikation

  Der Mann steht auf. "Ich darf doch?" Er steht vor dem Bücherregal. "Ja. Klar." Er hält den Kopf albern schief, um die Buchrücken zu lesen. Dabei wippt er mit den Füßen. Auf und ab. Auf und ab. Bettina möchte ihm... "Ah. Tucholsky. Hm. Du magst Tucholsky?" "Hm." "Ich auch. Er ist so... so..." "Ja." (Sibylle Berg: Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot, S. 103)


Berg, Sibylle: Im Warmen sitzen

  Einen Job hat Karla gefunden. In einer Bücherei, und dort sitzt sie jeden Tag im Warmen, zwischen altem, staubigem Papier, da kaum jemand kommt, da kaum einer liest, wozu gibt es denn Fernsehen, lesen ist out, und wenn, dann bitte Bücher von Dreiundzwanzigjährigen, und so sitzt Karla ungestört, liest und ab und an kommt dann doch ein Mensch. (Sibylle Berg: Amerika, S. 70)


Bergk: Die Kunst, Bücher zu lesen

 Durch lautes Lesen kann man seine fehlerhaften Sprachorgane verbessern, wenn man nur die Töne langsam, nachdrücklich und deutlich ausspricht. Demosthenes vervollkommnete seine Sprachorgane durch Schreien: Uns leistet lautes Lesen dieselben wohltätigen Dienste. Im Stehen zu lesen ist für den Kopf und für die Füße nachteilig; jener bekommt den Schwindel, diese fühlen eine unnatürliche Schwäche, und wir sind fast nicht imstande, uns selber zu tragen. Dies rührt ohne Zweifel davon her, daß wir die beiden Endpunkte unseres Körpers zugleich heftig anstrengen, und anstatt die Lebenskraft auf einen Punkt zu ziehen, sie teilen und dadurch schwächen. Das Lesen von Büchern, die nicht allzu vieles Nachdenken erfordern, befördert den Schlaf. Wer also nicht gleich einschlafen kann, wenn er sich niederlegt, und durch die Begierde und den Willen zu schlafen, den geist noch mehr beunruhigt und bestürmt, muß sich in Schlaf lesen. Lautes Lesen nach Tisch ist ebenso ungesund, als ein angestrengter Spaziergang. Wir entziehen dem Magen die zur Verdauung nötigen Säfte und fühlen daher Mattigkeit und Mißbehagen. Die schwerste Probe des Lautlesens ist die Lektüre von Schauspielen.

  Wir müssen dabei alle Charaktere annehmen und uns in alle Launen schmiegen; unsere Stimmen und unsere Affekte müssen den auftretenden Personen entsprechen, und unsere Leidenschaften müssen sich in alle Farben kleiden. Bald Liebe, bald Haß, bald Gutmütigkeit, bald Menschenscheu, bald Heroismus, bald Feigheit, bald Stolz, bald Herablassung muß in unserem Busen abwechseln. Wer ist aber seiner so mächtig, daß er immer alle Tönde seines Geistes anschlagen kann und daß er immer unumschränkter Herr seiner Leidenschaften und Gefühle ist? Oft überwältigt uns die Last unseres Körpers, und wir erliegen der Materie. Wem gönnte das Schicksal das Talent, immer allen alles zu sein, und wer kann sich stets so ganz vergessen, daß er sich seiner Persönlichkeit entäußernd, immer fremde Charakter mit Ausdruck und Wahrheit darstelle? Philosophische Schriften dürfen nicht lauft gelesen werden, weil uns das Vernehmen der Töne an dem Überschauen des Ganzen hindert. Wir vergessen, was wir gelesen haben, und denken immer nur an das, was gegenwärtig ist. Wir können daher weder die Folgerichtigkeit noch die Wahrheit der behaupteten Sätze prüfen.


Bernhard, Thomas: Umblättern statt lesen

  Zu Hause lese ich schon seit Jahren kein Buch mehr, hier im Bordone-Saal habe ich schon Hunderte Bücher gelesen, aber das heißt nicht, daß ich alle diese Bücher im Bordone-Saal ausgelesen hätte, ich habe niemals in meinem Leben ein einziges Buch ausgelesen, meine Art zu lesen ist die eines hochgradig talentierten Umblätterers, ich habe in meinem Leben millionenmal mehr umgeblättert als gelesen, aber am Umblättern immer wenigstens so viel Freude und tatsächliche Geisteslust gehabt wie am Lesen. Es ist doch besser, wir lesen alles in allem nur drei Seiten eines Vierhundertseitenbuches tausendmal gründlicher als der normale Leser, der alles, aber nicht eine einzige Seite gründlich liest, sagte er. (Thomas Bernhard: Alte Meister, S 38)


Bernhard, Thomas: Mit Haut und Haaren

  Es ist besser, zwölf Zeilen eines Buches mit höchster Intensität zu lesen und also zur Gänze zu durchdringen, wie gesagt werden kann, als wir lesen das ganze Buch wie der normale Leser, der am Ende das von ihm gelesene Buch genausowenig kennt, wie ein Flugreisender die Landschaft, die er überfliegt. Er nimmt ja nicht einmal die Konturen wahr. So lesen heute die Leute alle alles im Flug, sie lesen und kennen nichts. Ich betrete ein Buch und lasse mich darauf nieder, mit Haut und Haaren. (Thomas Bernhard: Alte Meister, S. 39f.)


Bernhard, Thomas: Der gefräßige Leser

  Es ist nicht notwendig, den ganzen Goethe zu lesen, den ganzen Kant, auch nicht notwendig, den ganzen Schopenhauer; ein paar Seiten Werther, ein paar Seiten Wahlverwandschaften und wir wissen am Ende mehr über die beiden Bücher, als wenn wir sie von Anfang bis Ende gelesen hätten, was uns in jedem Fall um das reinste Vergnügen bringt. Aber zu dieser drastischen Selbstbeschränkung gehört so viel Mut und so viel Geisteskraft, daß sie nur sehr selten aufgebracht werden kann und daß wir selbst sie nur selten aufbringen; der lesende Mensch ist wie der fleischfressende auf die widerwärtigste Weise gefäßig und verdirbt sich wie der fleischfressende den Magen und die gesamte Gesundheit, den Kopf und die ganze geistige Existenz. (Thomas Bernhard: Alte Meister, S. 40f.)


Bernhard, Thomas: Am Ende ist es lächerlich

  Wenn Sie sich Zeit nehmen und einmal Goethe eindringlicher als normalerweise und mit einer viel größeren Unverschämtheit als normalerweise lesen, kommt Ihnen am Ende das Gelesene lächerlich vor, ganz gleich, was es ist, Sie brauchen es nur öfter als normalerweise zu lesen, es wird unweigerlich lächerlich und selbst das Gescheiteste ist am Ende eine Dummheit. Wehe, Sie lesen eindringlicher, Sie ruinieren sich alles, was Sie lesen. Es ist ganz gleich, was Sie lesen, es wird am Ende lächerlich und ist am Ende nichts wert. (Thomas Bernhard: Alte Meister, S. 68)


Bernhard, Thomas: Atlas lesen

  Noch heute ist meine Lieblingslektüre der Atlas. Immer die gleichen Punkte, immer andere Phantasien. Einmal würde ich in Wirklichkeit überall da sein, worauf mein Finger zeigte. Mit dem Finger über die Landkarte, für mich war das kein gedankenlos hingeworfener Spruch, es war ein Hochgefühl. (Thomas Bernhard: Ein Kind, S. 93)


Bernhard, Thomas: Bücherzimmer & Schopenhauer

  Ich hatte mir das kleinste der oberen Zimmer als sogenanntes Bücherzimmer hergerichtet und so ausgestattet, daß ich in ihm wirklich nichts anderes tun konnte als lesen, Bücher, Schriften studieren, zu welchem Zwecke ich nur einen einzigen Sessel in diesem Zimmer aufgestellt hatte, der vor dem einzigen Fenster stand, einen harten, für alle Begriffe unbequemen und vollkommen einfachen Sessel, den zum Lesen zweckmäßigsten, den man sich vorstellen kann, so vor dem Fenster auf diesem Holzsessel sitzend, konnte ich mich, war ich einmal dazu entschlossen, ungehindert in gleich was für eine gewünschte Lektüre vertiefen, an diesem Nachmittag, wie ich mich genau erinnere, in eine Ausgabe von Schopenhauers 'Die Welt als Wille und Vorstellung', die ich aus der Bibliothek meines Großvaters mütterlicherweits geerbt habe und in welcher ich immer dann gelesen habe, wenn ich vom Lesen nichts anderes erwartete, als ein mich in jeder Hinsicht reinigendes Vergnügen. 'Die Welt als Wille und Vorstellung' war mir schon von frühester Jugend an das wichtigste aller philosophischen Bücher gewesen und ich habe mich auf seine Wirkung, nämlich die vollkommene Erfrischung meines Kopfes, immer verlassen können. In keinem anderen Buch habe ich jemals eine klare Sprache und einen ebenso klaren Verstand gefunden, kein Literaturwerk hat jemals auf mich eine tiefe Wirkung ausgeübt. Mit diesem Buch zusammen, war ich immer glücklich gewesen. Aber nur selten hatte ich die für dieses Buch unbedingt notwendige natürliche und geistige Vorbereitung und also nur selten, die Möglichkeit gehabt, mit diesem außerordentlichen und wahrhaft weltentscheidenden Buche zusammenzusein, denn für 'Die Welt als Wille und Vorstellung' gilt wie für wenige andere 'höchste Bücher', daß sie sich nur in dem Zustande der äußersten Fähigkeit und also Aufnahmefähigkeit und Aufnahmewürdigkeit einem öffnen und sich entziffern lassen. (Thomas Bernhard: Ja, S. 66)


Bernhard, Thomas: Übersetzungen

  Bernhard macht Übersetzungen und Übersetzer zur Schnecke. "Ein übersetztes Buch ist wie eine Leiche, die von einem Auto bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt worden ist. Da können Sie dann die Trümmer zusammensuchen, aber es nützt nichts mehr. Übersetzer sind ja was Furchtbares. Das sind arme Leute, die nichts kriegen für ihre Übersetzung. Niedrigste Honorar, und machen auch eine furchtbare Arbeit. Da gleicht sichs wieder aus. Und warum übersetzt jemand? Da soll er gleich was eigenes schreiben. Das ist eine furchtbare Art des Dienens."


Bernhard, Thomas: Eine antimenschliche Last

  Goldschmidt bewohnte eine kleine Zweizimmerwohnung über seinem Geschäft und mache sich alles allein. Tagsüber sei er in seiner Buchhandlung mit der Geschichte und mit der Literatur zusammen und die halben Nächte mit ihren Erzeugern und Verleumdern, wie er, Goldschmidt, sich Koller gegenüber ausgedrückt ausgedrückt haben soll. Er, Goldschmidt, soll zu Koller gesagt haben, er diente der Geschichte und der Literatur, wenn er auch wisse, daß er damit dem falschen Herren diente. Er sei Buchhändler geworden, weil er genug Masochist sei zu diesem Zwecke einerseits, weil ihm ein Onkel, ein Bruder seiner Mutter, die Buchhandlung hinterlassen habe andererseits. Er empfinde natürlich an jedem Tage und im Grunde solange er die Buchhandlung unterhalte, den mit einem solchen Geschäft auf Gedeih und Verderb verbundenen Geschichts- und Geistesleerlauf, er habe sich aber damit abgefunden und wenn er sich an den Produkten, die er jetzt schon über drei Jahrzehnte verkaufe, genug geekelt habe, finde er dann immer wieder in einem jener historischen Sätze Zuflucht, die ein verrückter sogenannter Dichter oder Denker zur Beglaubigung seiner Verrücktheit geschrieben habe. Es seien aber schon lange Zeit keine Bücher mehr, die ihn retten könnten, sondern nurmehr noch Sätze, einzelne Sätze von Novalis beispielsweise, von Montaigne, von Spinoza, von Pascal, an welchen er sich von Zeit zu Zeit anklammern müsse, um nicht untergehen zu müssen. Die Buchhändler seien von allen die Bedauernswertesten, weil auf ihnen wie auf nichts sonst die ganze Scheußlichkeit und Gemeinheit der Menschengeschichte und die ganze Hilflosigkeit und Erbarmungswürdigkeit der Kunst laste und sie sich immer zu fürchten haben, von dieser antimenschlichen Last erdrückt zu werden. Der Buchhändler, der sein Geschäft ernst nimmt, ist der Bedauernswerteste des ganzen Menschengeschlechts, weil er tagtäglich und ununterbrochen mit der absoluten Sinnlosigkeit des jemals Geschriebenen konfrontiert ist und wie kein zweiter die Welt als Hölle erlebt, so Goldschmidt zu Koller. Goldschmidt sei aber einer der allerwenigsten Buchhändler, auf die der Begriff des Buchhändlers überhaupt noch anwendbar sei, denn die Buchhändler wie Goldschmidt, die ihren Buchhandel ernst nehmen und die den Buchhandel nicht als gemeines Geschäft, sondern tatsächlich noch als eine der Geschichte und der Literatur und der Kunst dienende Geistesarbeit und - liebe auffaßten, seien beinahe gänzlich ausgestorben. (Thomas Bernhard: Die Billigesser)


Bernhard, Thomas: Blochs Bibliothek

  Mein Vater klopfte an das Bürofenster und Bloch kam heraus. Er begrüßte uns freundlich und führte uns sofort in den ersten Stock hinauf, in die Bibliothek, und zwar, wie ich feststellte, lauter ständig in Gebrauch befindliche ohne den geringsten sogenannten bibliophilen Wert, in den man in den deutschsprachigen Ländern auf die lächerlichste Weise verliebt, ja vernarrt ist. (Thomas Bernhard: Verstörung)


Beyer, Johann Rudolph Gottlieb: Leselustige

  Über das Bücherlesen in so fern es zum Luxus unsrer Zeiten gehört. Das Lesen als Unterhaltung und Zeitvertreib ist eines der verführerischsten Vergnügen, welches den, der es einmal gekostet hat, so sehr fesselt und anzieht, daß er sich nicht wieder losmachen kann. Tagelang sitzt der Leselustige auf einer Stelle und betrachtet jedes ernsthaftere Geschäft, daß ihn von seinem Buche abruft, als eine Störung in seinem Vergnügen, die er so lange zu entfernen sucht, als es möglich ist. Und reißt er sich ja einmal loß, um dringende Geschäfte zu verrichten: so thut er sie doch nicht mit Attachement, Lust und Ernst, sondern seine Gedanken sind immer abwesend, und nach halbgethaner Arbeit eilt er wie ein Heißhungriger wieder an seinen Lesetisch, um seine gespannte Neugier zu befriedigen, die jedoch nie gesättiget wird. (Johann Rudolph Gottlieb, 1795)


Bichsel, Peter: Bücher, Tanten und Welt

 Ich muß als Kind auch Kinderbücher besessen haben. Man hat ja als Kind keine Möglichkeit, dem Geschmack alter geschenkfreudiger Tanten auszuweichen. Ich erinnere mich nur noch ganz schwach an jene Bücher. Meine Tanten haben mir offensichtlich all jene Bücher geschenkt, die ihnen so halbwegs gefielen: entweder weil ihnen Bücher nichts sagten oder weil sie überzeugt waren, daß ich für alles, was ihnen gefiel zu jung war. Oft legten sie es scheinbar sogar darauf an, mich zu beleidigen. Sie schenkten mir Bücher, die nach ihrer Meinung der Welt des Kindes entsprachen. In dieser Welt lebte ich aber sowenig wie alle anderen Kinder. Die Welt des Kindes ist eine anmaßende Vorstellung der Erwachsenen; sie meinen damit die Welt des Niedlichen, des Harmlosen, des Ungefährlichen. Was mich interessierte war nicht die Welt des Kindes, sondern ganz einfach die Welt.


Bichsel, Peter: Mitleser

 Ich muß als Kind auch Kinderbücher besessen haben. Man hat ja als Man ist, wenn man liest, in Gesellschaft. Leser brauchen Mitleser. Wenn ich ein Buch gelesen habe, suche ich einen, der es auch gelesen hat. Wir diskutieren dann nicht über das Buch, wir sagen nur: wunderbar! Und hast du das auch mitbekommen …? Wenn ich zwei Menschen auf der Strasse sehe, die aufeinander zueilen und sich umarmen, ist mein erster Gedanke immer: Die haben dasselbe Buch gelesen.


Biser, Eugen: Mausoleum des Geistes

 Ich muß als Kind auch Kinderbücher besessen haben. Man hat ja als Wenn Nietzsche sein spätes Selbstporträt, in dessen Mittelstück er sich um eine neue Lesart seiner Bücher bemüht, mit dem Passionstitel "Ecce homo" überschreibt, dann wohl auch deshalb, weil er bei allem Wissen um die Macht von Wort und Schrift - "ich habe Buchstaben, um auch Blinde sehend zu machen" - wie kaum ein anderer die dem schriftlichen Ausdruck gezogenen Grenzen zu spüren bekam. Obwohl das Wort durch die Schrift Dauer und Festigkeit gewinnt, erleidet es durch die Verschriftung doch zugleich eine Passion, und dies nicht selten mit jenem tödlichen Ausgang, der 'Schleiermacher' geradezu von einem "Mausoleum" des Geistes sprechen ließ. (Eugen Biser: Das Buch in medienkritischer Sicht)


Bisping, Stefanie: In Hay-on-Wye

  Ein Tag des Bücherwühlens in Hay-on-Wye hinterläßt Spuren. An den Armen hängen schwere Büchertaschen. Die Finger sind dunkelgrau , denn das Geschäft mit gebrauchten Büchern ist ein schmutziges. Wenn man die Augen schließt, sieht man unweigerlich Buchrücken in Regalen vor sich. Und ein bißchen benebelt ist man auch. So wie die Schweizerin, die nach getaner Büchersichtung im Pub aufseufzt: "Ich hätte nie gedacht, daß Bücher so stinken können." (in der HAZ 24. 01. 1998)


Blamberger, Günter: Über Gesamtausgaben

 Der große Rest der Leser heute blättert hin und wieder in Gesamtausgaben und behandelt sie nicht anders als Fernsehprogramme oder das Internet, als einen Verbund höchst unterschiedlicher und häufig heterogener Informationen, die man intensiv oder flüchtig aufnehmen und nur manchmal vernetzen kann. Gerade der Moloch Gesamtausgabe beweist, dass das Verstehenwollen des Ganzen auch bei Büchern ein viel zu aufwendiges und ihre Komplexität gerade reduzierendes Verfahren ist und lückenhafte Lektüre oft effektiver. Alles ist wichtig, oder auch nichts. Auch Bücher rauschen, die Informationen müssen erst herausgefiltert werden. Das scheinbar kindliche Sammeln von verwendbaren Stellen ist die zeitgemäße Datenverarbeitung und war immer schon legitim. Goethe an Schiller in einem Brief vom 19. 12. 1798: "Übrigens ist mir alles verhasst, was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren oder unmittelbar zu beleben." Um solche lebendigen Stellen in Büchern zu entdecken, muss man sie wieder und wieder durchforsten. Einmal ist keinmal. Und da ist es gut, wenn man die Bestände um sich weiß. Jede Gesamtausgabe spielt mit ihrem Leser und lässt ihn glücklich finden, was er nie gesucht hat.


Blanc: Wenn ich reich wäre...

  "Ich würde mir eine Bibliothek voller Bücher kaufen", sagte der Tiger, "mit Büchern, die Bücher erklären, und ich würde mir Bildung bis zum Abwinken reinziehen und dann den Intellektuellen spielen. Da wirst du fürs Reden bezahlt, dein Job ist es, immer recht zu haben. Sonst wird nichts von dir verlangt. Du frißt und du laberst, du laberst und du frißt: 'Ich würde sagen, ehem, ja, wissen Sie, man darf das Dingsda von dem Wieheißtdasnoch nicht mit dem Wieheißtdasnoch von dem Dingsda verwechseln, könnten Sie mir bitte den Senf rüberreichen, verstehen Sie, ehem, ich will damit sagen..."

  Sainte-Croix dagegen war in die Bücher vertieft, die er mitgenommen hatte. Eines davon hieß Discours sur la methode - Abhandlung über die Methode. Methode für was, war unklar. Wahrscheinlich eine Methode, um Brücken hochgehen zu lassen oder Fabriken zu sabotieren. Wenn es eine Methode war, um Maikäfern beizubringen, wie man Flügelhorn spielt, hätte der Autor nicht gezögert, das auch zu sagen. Da war noch ein anderes Buch, es hieß Essais - Versuche. Versuche über was, wieder unklar. Vielleicht hatte der Autor LSD probiert, und war mit dem Fahrrad nach Indien gefahren, hatte die Sahara mit Rollschuhen durchquert. Jedenfalls war das Buch dick, der Typ, der das geschrieben hat, muß ganz schön viele Sachen ausprobiert haben. (Henri-Frederic Blanc: Randale, S. 79, 81)


Blanc, Henri-Frederic: Sadistisch

  "Haben Sie vielleicht ein Buch über Dinosaurier?" Der alte Bouquinist betrachtete Joseph mit dem bekümmerten und resignierten Ausdruck eines Menschen, der sich im Laufe seines Lebens von sadistischen Kunden mit maßlosen Forderungen immer wieder die verrücktesten Fragen und hinterhältigsten Bitten hatte gefallen lassen müssen. (Henri-Frederic Blanc: Im Reich des Schlafes, S. 30)


Blanc, Henri-Frederic: Einschläfernde Wirkung

  Er hatte stets einen Stapel zeitgenössischer Romane zur Hand, die alle mit Preisen ausgezeichnet waren und deren wunderbar einschläfernde Wirkung er hoch zu schätzen wußte. War es nicht bewunderswert, daß sich in einem Land, wo die Schlaflosigkeit so rasant um sich griff, so viele Schriftsteller fanden, die sich mit derartigem Eifer der edlen Aufgabe widmeten, ihren Nächsten zu sanftem Schlummer zu verhelfen? Das jedenfalls dachte Joseph, als er versuchte, eine Seite eines Autors zu entziffern, der von den Medien mächtig gefeiert wurde und dessen ganze Kunst darin bestand, Belanglosigkeiten virtuos aneinanderzureihen. Das war auf brillante Weise nichtssagend, von hochberedter Leere und mit dem ständigen Bemühen fabriziert, dem Leser zu imponieren. Das funkelte von Intelligenz, aber es klang alles gekünstelt. Jede Zeile besaß die vulgäre Vornehmheit, das augenfällige Raffinement des Parvenus, der seinen Tee mit abgespreizten kleinen Finger trinkt, den falschen Adel des schöngeistigen Hochstaplers, der anderen seine Bildung wie Marmelade aufs Brot streicht und seinen Stil zur Schau stellt wie eine Nutte ihre Schenkel. Es war ein Roman, der nicht geschrieben worden war, um seine Leser zu berühren, sondern damit man seinen Autor bewunderte, das Werk eines sprachlichen Seiltänzers, eines hochgezüchteten Intellektuellen, der unaufhörlich den Frustrationen, dem Voyeurismus und dem Narzißmus des Lesers schmeichelte, statt ihm einen ordentlichen Eimers kaltes Wasser ins Gesicht zu schütten, damit er aufwacht. Nach einigen Seiten fiel Joseph, die Grenzen menschlicher Widerstandskraft waren erreicht, das Buch auf der Hand. (Henri-Frederic Blanc: Im Reich des Schlafes, S. 39f.)


Blanc, Henri-Frederic: Schaumschlägerliteratur

  Schaumschlägerliteratur, eine Literatur ohne Biß. Unter uns, Livingstone, es ist weniger vulgär, nach Herzenslust und mit Überzeugung seine Notdurft zu verrichten, als schöne Sätze zu ziselieren, wenn man nichts zu sagen hat. (Henri-Frederic Blanc: Im Reich des Schlafes, S. 23)


Blanc, Henri-Frederic: Ablenkung

  "Sagen Sie mir Leger, was halten Sie von Frauen?" fragte Joseph und zündete sich eine Zigarette an, während der andere ihm mit krummen Rücken ein altes Pergament brachte. Leger seufzte und antwortete mit bekümmerter Miene: "Es muß sie wohl geben. Aber sie schaden dem Studium der schönen Literatur. Ich persönlich bin der Meinung, sie sollten einen Schleier tragen, so daß wir nicht mehr durch das freche Schauspiel ihrer Frätzchen von unserer Arbeit abgelenkt würden." (...) "Sie sind manchmal so schön..." "Niemals so schön wie eine Maxime von La Rochefoucauld oder eine Originalausgabe des 'Verliebten Teufels' von Cazotte. Glauben Sie mir, mein lieber Doktor, das Vergnügen, das die Frauen uns verschaffen, entschädigt bei weitem nicht für die Qualen, die sie uns bereiten. (...) Schließlich kann man sich nicht mehr mit einem schönen alten Schmöker ruhig auf eine Bank im Jardin du Luxembourg setzen, ohne daß mitten im schönsten Satz eine dieser Kreaturen vorbeigeht und einige erlesene Teile ihres Körpers zur Schau trägt... (...) Als legte man es bewußt darauf an, uns in lüsterne Schweine zu verwandeln! ... Wenn die Freiheit darin besteht, daß einem das Wasser im Munde zusammenläuft, bis man nicht mehr weiß, wo einem der Kopf steht, dann zum Teufel mit der Freiheit. (Henri-Frederic Blanc: Im Reich des Schlafes, S. 69)


Blanc, Henri-Frederic: Inmitten alter Bücher

  Die Bibliothek war leer. Nur ein dicker Herr saß dort, friedlich schnarchend, am Ende eines Tisches, ein Stammgast, der nur inmitten alter Bücher schlafen konnte. Leger hatte eine Schildermanie, überall hatte er welche aufgestellt. 'Zugenageltes Fenster, gefährliche Leiter, wackliger Tisch, nicht unter dem Bord durchgehen...' Vor den Regalen war zu lesen: 'Vorsicht Rattenfallen...' Leger, der die Einsamkeit liebte und im übrigen überzeugt war, daß die Leute eigens in der Absicht kamen, seine Bücher zu ramponieren, tat alles, um seine Besucher abzuschrecken. Er erzählte ständig von schrecklichen Unfällen mit Büchern, grauenvolle Geschichten von mörderischen Lexika und von Schädeln, die durch herabstürzende Enzyklopädien zerschmettert worden waren. Joseph war einer der wenigen Leser, dessen Kommen er schätzte, vielleicht weil sie eines gemeinsam hatten. Beide liebten sie Bücher mehr um ihrer selbst als um des Lesens willen. (Henri-Frederic Blanc: Im Reich des Schlafes, S. 68)


Blanc, Henri-Frederic: Stromschnellen der Zeit

  Ganz unten, am Ende einer finsteren Treppe, lag ein langes Kellergewölbe, kaum erhellt von einigen schmutziges Fensterchen, hinter denen man eilige Schuhe vorbeihasten sah. Überall stapelten sich staubige Bücher oder Bücherstaub in einer Unordnung, die durch die Dunkelheit noch verschlimmert wurde. Manche Regale begannen in der sichtbaren Welt und verschwanden im schwarzen Nichts. Hoch aufgestapelte Folianten bedrohten den Besucher. Das Niesen einer Spinne, der Seufzer eines Gespenstes, ein Nichts, und Tausende Worte würden über dem Kopf des unvorsichtigen Neugierigen zusammenstürzen. Ein Buch zu berühren erforderte deshalb einen gewissen Abenteurergeist. Zwar gab es Leitern, aber sie hatten Zahnlücken, waren wurmstichig und abweisend wie Fallen. All diese undurchschaubaren Bände waren verschlossene Türen zu vergangenen Welten. Wenn ich das Ohr an die alten Einbände preßte, glaubte ich die Stromschnellen der Zeit rauschen zu hören, wie man das Meer in einer Muschel hört. Ich griff aufs Geratewohl nach einem Buch. Teufel, von... von... Man sah wirklich nicht viel. Ich hatte wohl laut gedacht, denn sogleich hallte eine Stimme durch das Gewölbe: "Herrliches Halbdunkel! Und außerdem spart man Strom." Ein kleiner Mann mit einem Bleistift hinter dem Ohr tauchte zwischen den Büchern auf. "Wenn Sie ein ferngesteuerter Leser sind, ist da der Ausgang, aber wenn Sie ein bereitwilliger Leser sind, der noch Zeit hat, neugierig zu sein, stehe ich Ihnen zur Verfügung!... Habe ich nicht recht? (Henri-Frederic Blanc: Teufelei)


Blazon, Nina: Diebischer Spaß

  Zum Schreiben kam ich unter anderem, weil ich das Lesen liebe. Bücher sind für mich sehr wichtig - ein Lebenselixier. Lesungen sind immer eine Chance, die Zuhörer für das Lesen an sich zu begeistern. Mir macht es trotz Lampenfiebers diebischen Spaß, auszuprobieren, ob und wie ich die Leute dazu bekomme, sich auf ein Buch einzulassen. Es ist fast wie eine Reise: Wir sind fremde Leute und werden zwei Stunden unseres Lebens zusammen in ein unbekanntes Land fahren. Manche fahren freiwillig mit, manche nur, weil es auf dem Stundenplan der Schule steht. Und ich bin der Reiseführer. Von mir hängt es zu einem großen Teil ab, ob sie das neue Land mögen werden oder nicht - eine echte Herausforderung.


Blei, Franz: Früher Wettbewerb

  Franz Blei, gelehrtester Essayist der Buchkultur, schrieb: "Der Ruhm der ersten Druckwerke ist nie übertroffen worden. Es ist, als ob die Schwierigkeit, welche die neue Erfindung zu überwinden hatte, zu den größten Anstrengungen getrieben und so den Erfolg verbürgt hätte. Es dürfte die Erfindung der Druckerkunst wohl aber auch deshalb sofort zu solch hohen Ergebnissen gekommen sein, weil sie mit der ganzen Sorgfalt arbeiten mußte, die der frühere Schreiber seiner Handschrift gab, ja sie mußte die Kunst der frühen Handschriften noch übertreffen, wollte sie sich gut einführen und behaupten. So rasch die Kunst sich auch ausbreitete, jeder Drucker setzte seinen Ehrgeiz darein, den andern zu übertreffen. Keiner nützte die Erfindung zu Schluderarbeit..."


Bloch: Kein Alltag in dieser Zeit

  Was Jungens gern lesen, ist immer gut. In frü hen Jahren las man in Weihnachtsbüchern so gegensätzliche Satzbilder wie etwas das folgende: "Eiskalt pfiff der Nordwind über die öde Prärie"; eine ungeheure Wä rme war in diesem kalten Satz, ein Hinterglas-Ich ritt mit dem Westmann durch ein Abziehbild, das sich wundervoll löste. In 'gebildeten' Bildern oder Büchern ist das Fenster niemals; doch freilich, ich vergesse: das Zimmer in der Bakerstreet, wo Sherlock Holmes wohnt, liegt noch heute manchmal dahinter: wenn der Regen an die Scheiben schlägt, Sherlock Holmes sitzt mir Dr. Watson am Kamin, und es schellt. Mit dem Fenster wie mit einer Maske abgetan trat man heraus und endlich nach außen, ins Freie. Da lag die Welt oder das Symbol der Welt aller unserer früheren und jetzigen Bücher, die man immer wieder las, weil man sie vergaß wie einen Traum. Das Licht in den Buden brannte und hinter den Bäumen leuchtet es vor, das Zigeunerweib hat das Grafenkind gestohlen, Rumpelstilzchen haust wo die Fü chse und Wölfe sich gute Nacht sagen, das Zauberpferd steigt, der Magnetberg droht, Zaleukos, so empfängst du deinen Gastfreund? Lässig schlugen die Segel an den Mast der Brigg, indessen saß Kilian in seiner Hü tte, Mitternacht war längst vorüber und ehe noch der Morgen graut, müssen die Yumas umzingelt sein, Sam Hawkens, Old Wabble, Old Death, Old Surehand, Old Firehand durchstreiften die weite Prärie. Nscho-tschi leuchtete, Winnetou umarmte Old Shatterhand und nun erst wurde er erkannt, der Blizzard rast, der Hurrikan, der Monsun, der Taifun, dumpf setzt er an, wie eine überblasene Baßtrompete, und nun schwang sich die Fahrt herüber, fort vom Furche la fave, von Little Rock, vom öden Llano estacado und den Rocky Mountains, tief ins heiße wimmelnde Asien, den Weg herauf von Bagdad bis Stambul, treu reitet Halef zur Seite, der verfolgte Krumir macht selbst den Führer über Schott Dscherid, den furchtbaren Salzsee. Kräftig begegnen sich Licht und Finsternis, Omar und Abrahim Mamur, Schimin der Schmied, der Bettler Busra, der alte Mübarek, der Tod des Schut und das Reich des silbernen Löwen. Wie das alles ineinander schä umte, so nährte und umklang es die Knabenseele, mischte ihr die Sehnsüchte, immer heftiger glühten Mädchen, energische Gelage, Tausendundeine Nacht herein. Über den Tälern, Ebenen, Schluchten, Gebirgen, gefährlichen Städten leuchtete bald das Nordlicht erster metaphysischer Ahnung. Kurz, es gab keinen Alltag in dieser Zeit, jenseits der Schule; alles war übertrieben oder wurde gänzlich still, in der ersten Liebe, an den Wassern des Rokokogartens, im Lesen der ersten spekulativen Bücher.


Boekenworm: Anonyme Büchersüchtige

  Manchmal stelle ich mir vor, daß ich in einem etwas trostlosen Raum sitze. Auf einem Plastikstuhl, wie man sie in Polizeiwachen oder anderen Behörden findet. Umgeben von vielen stillen Menschen, die leicht nach vorne gebeugt dasitzen, als betrachteten sie etwas auf ihren Knien. Und dann stehe ich auf und sage laut und mit zitternden Händen: "Mein Name ist boeki und ich bin Buchsüchtig" und alle um mich herum strahlen mich an und der erste Schritt der Therapie ist gemacht. Läuft das so nicht angeblich bei den Anonymen Alkoholikern? Was für ein Glück, dass die Lesesucht zwar auch abhängig macht, aber wesentlich weniger Nebenwirkungen zeigt. Nein, ernsthaft! Selbst wenn es die Anonymen Buchsüchtigen geben würde, würde ich bestimmt nicht hingehen, denn diese Art von Sucht ist ja eigentlich ganz schön. Eigentlich? Nun ja, bei mir läuft das meistens so ab wie heute: Ich habe hier einen Stapel von sagen wir mal 15 Büchern, die ich lesen möchte. Nachher darf ich mir zwei Pakete bei der Post abholen, die bestellte Bücher erhalten. Und eigentlich wollte ich in die Stadt gehen und meinem Süßen das schönste Geschenk der Welt kaufen. Und womit komme ich wieder? Jepp, ihr werdet es erraten haben, mit einer Tüte voller Bücher. Weil es die doch gerade auf dem Grabbeltisch gab (miese Ausrede) und ich sie sowieso mal kaufen wollte (schwache Ausrede) und die zwei kleinen Bücher, die ich dann noch mitgenommen habe, naja, die waren nicht reduziert, aber wenn ich doch schonmal hier bin..... AHHH! Ich besitze ungefähr 500 handfeste Ausreden, warum ich mir ein Buch gekauft habe (S-Bahn verpasst, es regnete, die Sonne schien, es schneite) und ich genieße immer wieder das Gesicht des besten Mannes der Welt, wenn er mir ungläubig zu hört und währenddessen vermutlich überlegt, wann er wohl die Zeit und die Kraft findet, mal wieder die aus allen Nähten platzenden Regale aufzustocken. Aber wenn ich dann sein verschmitzes Lächeln sehe, weil ich mich mal wieder mit Händen und Füssen um Kopf und Kragen rede, dann glaube ich, habe ich heute zumindest doch eine Art Geschenk gefunden. [© boeki]


Böll, Heinrich: Respektlosigkeit

  ... während sie seinen Kaffee trank (mit dem sie hin und wieder sogar antiquarische Rarissima befleckte - ihr Respekt vor jede Erscheinungsform von Büchern war gering. (Heinrich Böll: Gruppenbild mit Dame, S. 42)


Bonfiglioli, Kyril: Kavaliersdelikt

  ... Gutenachtlektüre, nahm ich an. Aus einer öffentlichen Bücherei geklaut, aber das hatte keine Bedeutung: Viele ansonsten unbescholtene Bürger glauben, daß Bücherklauen nicht zählt. (Kyril Bonfiglioli: Charlie Mortdecai in Das große Schnurrbart-Geheimnis, S. 129)


Börne, Ludwig: Originalschriftsteller

  "Nehmt einige Bogen Papier und schreibt drei Tage hintereinander ohne Falsch und Heuchelei alles nieder, was euch durch den Kopf geht. Schreibt, was ihr denkt von euch selbst, von euern Weibern, von dem Türkenkrieg, von Goethe, vom Kriminalprozess, vom Jüngsten Gerichte, von euern Vorgesetzten – und nach Verlauf der drei Tage werdet ihr vor Verwunderung, was ihr für neue, unerhörte Gedanken gehabt, ganz außer euch kommen. Das ist die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftseller zu werden."


Roberto Bolano: Lesen als Reichtum

  Lesen ist für mich seit je Luxus gewesen und bald eine Sucht. Meine Jugend verlief, um es mild auszudrücken, unregelmässig. Mit fünfzehn zog ich nach Mexiko, mit sechzehn ging ich nicht mehr zur Schule. Mit siebzehn war ich im Begriff, verrückt zu werden. Das einzig Beständige in jener Zeit ist, paradox genug, die Literatur gewesen, das Unsicherste überhaupt. Bücher besassen einen ganz besonderen und dazu geheimen Glanz. Zu lesen war, als sei man unermesslich reich und niemand wüsste davon. Ein deutscher Minnesänger hat das so ausgedrückt: Er reite in einer Rüstung in den Krieg, aber darunter trage er das Kleid eines Narren.


Roberto Bolano: Der erträumte Leser

  [Die Neue Zürcher Zeitung frage Roberto Bolano: Gibt es einen erträumten Leser? - Er antwortete:] Ja. Den, der sich gründlich mit dem Gesamtwerk eines Schriftstellers beschäftigt. Nur ein einziges Buch von Camus zu lesen, scheint mir zum Beispiel unverzeihlich. Oder ein einziges Buch von Flaubert. Oder von Stendhal. Man muss alles von Stendhal lesen, muss seine Bücher suchen, sammeln, liebkosen. Eine andere Art des erträumten Lesers ist der romantische Leser, der den "Werther" liest und dann Schluss macht, indem er sich eine Kugel in den Kopf schiesst; oder der, der Kerouac liest und auf einer Landstrasse im Regen endet, beim Trampen; oder der, der den Science-Fiction-Autor Philip K. Dick liest und dann beginnt, finstere Komplotte zu schmieden. Aber das geht vielleicht zu weit. Ich möchte nicht, dass meine Leser leiden. Ich möchte nicht, dass sie jung sterben.


Borges, Jorge Luis: Schreiben und Kritik

  Ich bin aufs Schreiben und auf die Kritik verfallen und muß gestehen (meiner Mängel bewußt und diese bedauernd), daß ich mit sehr erinnernder Wonne wiederlese und daß neue Lektüren mich nicht begeistern. Ich neige längst dazu, ihre Neuheit zu bestreiten, sie in Schulen, Einflüsse, Mischungen zu übersetzen. Ich vermute, wenn sie ehrlich wären, würden alle Kritiker auf der Welt (und sogar einige in Buenos Aires) das gleiche sagen. Es ist ganz natürlich: Die Intelligenz ist sparsam und ordnend, und ein Wunder erscheint ihr als schlechte Gewohnheit. Dies einzuräumen heißt bereits, sich zu disqualifizieren.


Borges, Jorge Luis: Gerechter Ruhm

  Die gerechte Zuteilung des Ruhms ist eines, die reine ästhetische Wonne etwas anderes. Mit Bedauern habe ich bemerkt, daß jeder, indem er viele Bücher liest, um sie zu beurteilen (und die Aufgabe des Kritikers ist nichts anderes), zum bloßen Genealogen von Stilen und Fahnder nach Einflüssen werden kann. Er lebt mit dieser erschreckenden und fast unaussprechlichen Wahrheit: Schönheit in der Literatur ist ein Zufall; sie hängt ab von Sympathie oder Antipathie gegenüber den vom Autor manipulierten Wörtern, und sie ist nicht mit Ewigkeit verknüpft. Epigonen, die längst poetisch behandelte Themen aufgreifen, erreichen gewöhnlich Schönheit; Erneuerer fast nie.


Borges, Jorge Luis: Unsterblichkeit

  Eine zarte und sichere Unsterblichkeit (zuweilen errungen von Menschen, die gewöhnlich sind, aber ehrliche Hingabe und langwierige Inbrunst besitzen) ist die des Dichters, dessen Name mit einem Platz auf der Welt verbunden ist. So die Unsterblichkeit von Burns, die auf Schottlands Äckern und gemächlichen Flüssen und Hügelzügen, liegt; oder die unseres Carriege, die am verschämten, verstohlenen, fast verschütteten südlichen Stadtrand von Palermo überdauert, wo extravagante archäologische Mühsal das leere Grundstück rekonstruieren kann, dessen gegenwärtige Ruine das Haus ist, und den Schnapsladen, der Warenhaus wurde. Es kommt auch vor, daß jemand in ewigen Dingen unsterblich wird. Der Mond, der Frühling, die Nachtigallen verkünden Heinrich Heines Glorie, das Meer, das grauen Himmel erduldet, die von Swinburne, die langen Bahnsteige und Landungsbrücken die von Walt Whitman. Aber die besten Unsterblichkeiten - die zur Domäne der Leidenschaft gehören - sind noch unbesetzt. Es gibt keinen Dichter, der die totale Stimme des Liebens, des Hassens, des Todes oder der Verzweiflung wäre. Das heißt, die großen Verse der Menschheit sind noch nicht geschrieben. Es ist dies eine Unvollkommenheit, die unsere Hoffnung aufmuntern sollte.


Borges, Jorge Luis: Übel der Menschheit

  Kein Mensch kann zweitausend Bücher lesen. In den vier Jahrhunderten, die ich jetzt lebe, habe ich nicht mehr als ein halbes Dutzend bewältigt. Außerdem kommt es nicht auf das Lesen an, sondern auf das Wiederlesen. Der Buchdruck, der heute abgeschafft ist, war eins der schlimmsten Übel der Menschheit, denn er lief darauf hinaus, überflüssige Texte zu vervielfältigen, bis einem schwindlig wurde. (Jorge Luis Borges: Spiegel und Maske. Erzählungen 1970 bis 1983)


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