Bibliomanische FAB / [B]


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Botton, Alain de: Wie zwei Liebende

 Es gibt Bücher, die so eloquent zu uns sprechen wie unsere Liebhaber und dabei viel verlässlicher sind. Unsere Peinlichkeiten, unsere Verstocktheiten, unsere Schuldgefühle, diese Phänomene können auf einer Buchseite so beschrieben werden, dass wir mit einem Gefühl des Wiedererkennens belohnt werden. Der Autor hat die Worte gefunden, eine Situation zu beschreiben, von der wir dachten, dass nur wir sie so empfinden. Und für ein paar Momente sind wir wie zwei Liebende auf einem ersten Date, die aufgeregt feststellen, wie viel sie gemeinsam haben (und völlig unfähig, etwas anderes zu tun, als die Meeresfrüchte-Linguine vor sich anzustarren). Und dann lassen wir das Buch vielleicht kurz sinken und starren auf seinen Rücken, lächeln schief, als wollten wir sagen: Wie gut, dass ich dich getroffen habe.


Bovenschen, Silvia: Sekundärliteratur

  Als ich die Mittelstufe des Gymnasiums erreichte und eine neue Deutschlehrerin auf meine kleine Bühne trat, eine Lehrerin, die ich mochte und der ich imponieren wollte, gab ich ruckartig die Sphärentrennung auf, beendete meine selbstverordnete Leseisolation, setzte massiv alles gestaute Wissen im Unterricht ein, ging ihr auf die Nerven und kam in den einschlägigen Fächern auf gute Noten. In diesem Alter entdeckte ich den Luxus öffentlicher Bibliotheken und stieß dort auf das Phänomen der Sekundärliteratur. Heimlich las ich, was Kluge, jedenfalls solche, die ich damals dafür halten mußte, über die Texte, die wir besprachen, schon einmal gesagt hatten. Ich tat es heimlich, weil ich diesen Gedankenklau für illegal gielt. Mußte man nicht alles selbst erstmalig denken, original aus eigenen tiefsten Gründen herausholen? Was konnte so ein Gedanke aus zweiter Hand schon noch wert sein? Wie ein Dieb schaute ich mich verstohlen um, wenn ich die Bibliothek mit hochgeklappten Mantelkragen betrat oder sie verließ, stets auf der Hut davor, bei dieser Ideenverschleppung ertappt zu werden. Einige Jahre älter, merkte ich dann, daß das, was ich dort mit schlechtem Gewissen betrieben hatte, ungefähr dem entsprach, was man "wissenschaftliches Arbeiten" nennt. Mit gutem Gewissen machte es aber nicht mehr so viel Spaß. Jetzt, 2001, bei meinem erneuten Umzug, habe ich unter dem Gebot des Platzmangels mit großer Lust die Sekundärliteratur nahezu komplett aussortiert. (Silvia Bovenschen: Älter werden, S. 65)


Bradbury, Ray: Picknickkorb voller Bücher

  Alle Frauen, die in meinem Leben eine Rolle gespielt haben, hatten ähnliche Berufe: waren Bibliothekarin, Lehrerin, Schriftstellerin oder Buchhändlerin. Peg vereinigte mindestens drei davon in sich, aber sie war jetzt weit weg, und das machte mir Angst. Sie hatte den ganzen Sommer in Mexiko-City verbracht, um ihr Studium der spanischen Literatur zu beenden und die Sprache richtig zu lernen. Sie war zusammen mit armseligen Peonen in Zügen gefahren, in Bussen zusammen mit glücklichen Schweinen, schickte mir vor Liebe glühenden Briefe aus Tamazunchale oder gelangweilte Schreiben auf Acapulco, wo die Sonne zu hell schien und die Gigolos nicht helle genug waren, wenigstens nicht für sie, die mit Henry James auf vertrautem Fuß lebte, die Voltaire und Bejamin Franklin als Ratgeberin diente. Sie hatte immer einen Picknickkorb voller Bücher bei sich. Oft schien mir, sie würde die Brüder Concourt als Sandwiches zum Nachmittagstee verspeisen. (Ray Bradbury: Der Tod ist ein einsames Geschäft, S. 71f.)


Bräker, Ulrich: Meine Zuflucht

  Bald flößte mir mein guter Geist frischen Muth und neue Hoffnung ein, daß mir doch noch einst durch die Zeit zu helfen seyn werde: Nur allzuoft aber verfiel ich wieder in düstere Schwermuth; und zwar, die Wahrheit zu gestehen, meist wenn ich zahlen sollte, und doch weder aus noch ein wußte. Und da ich mich, wie schon oft gesagt, keiner Seele glaubte entdecken zu dürfen, nahm ich in diesen muthlosen Stunden meine Zuflucht zum Lesen und Schreiben; lehnte und durchstänkerte jedes Buch das ich kriegen konnte, in der Hoffnung etwas zu finden das auf meinen Zustand paßte; fieng halbe Nächte durch weisse und schwarze Grillen, und fand allemal Erleichterung, wenn ich meine gedrängte Brust aufs Papier ausschütten konnte; klagte da meine Lage schriftlich meinem Vater im Himmel, befahl ihm alle meine Sachen, fest überzeugt, Er meine es doch am beßten mit mir; Er kenne am genauesten meine ganze Lage, und werde noch alles zum Guten lenken. Dann ward der Entschluß fest bey mir, die Dinge, die da kommen sollten, ruhig abzuwarten wie sie kommen würden; und in solcher Gemüthsstimmung gieng ich allemal zufrieden zu Bette, und schlief wie ein König. (Ulrich Bräker: Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg)


Bräker, Ulrich: Zum Freigeist geworden

  Daß, als ich auch im Ehestand mich betrogen sah, und statt des Glücks, das ich darinn zu finden mir eingebildet hatte, nur auf einen Haufen ganz neuer unerwarteter Widerwärtigkeiten stieß, ich mich wieder aufs Grillenfängen legte, und meine Berufsgeschäfte nur so maschienenmäßig, lästig und oft ganz verkehrt verrichtete, und mein Geist, wie in einer andern Welt, immer in Lüften schwebte; sich bald die Herrschaft über goldene Berge, bald eine Robinsonsche Insel, oder irgend ein andres Schlauraffenland erträumte, u.s.f. Da ich hiernächst um die nämliche Zeit anfieng, mich aufs Lesen zu legen, und ich zuerst auf lauter mystisches Zeug - dann auf die Geschichte - dann auf die Philosophie - und endlich gar auf die verwünschten Romanen fiel, schickte sich zwar alle dieß vortreflich in meine idealische Welt, machte mir aber den Kopf nur noch verwirrter. Jeden Helden und Ebentheurer alter und neuer Zeit macht' ich mir eigen, lebte vollkommen in ihrer Lage, und bildete mir Umstände dazu und davon wie es mir beliebte. Die Romanen hinwieder machten mich ganz unzufrieden mit meinem eigenen Schicksal und den Geschäften meines Berufes, und weckten mich aus meinen Träumen, aber eben nur zu grösserm Verdruß auf. Bisweilen, wenn ich denn so mürrisch war, sucht' ich mich durch irgend eine lustige Lektur wieder zu ermuntern. Alsdann je lustiger, je lieber; so daß ich darüber bald zum Freygeist geworden, und dergestalt immer von einem Extrem ins andre fiel. In dieser Absicht bedaur' ich die Gefehrtin meines Lebens von Herzen. (Ulrich Bräker: Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg)


Brandstetter, Alois: Fürbittgebete

 Jährlich halten die Studenten der Medizin einen Gedenkgottesdienst für die Seelen der Verstorbenen und in der Anatomie Sezierten ab. Einen ähnlichen Brauch sollte es auch bei den Literaturwissenschaftlern geben. Was sie ihren Opfern verdanken und was sie ihren Opfern antun, ist auch nicht eben wenig. Ein einziges Vaterunser wäre in nicht wenigen Fällen vermutlich besser und anständiger gewesen als ein paar Dutzend Aufsätze und Bücher. Liest man vieles über die verstorbenen Dichter, so möchte man in Fürbittgebeten den Herrn anflehen, er möge seinen heimgegangenen Diener vor weiterer Behandlung durch die sogenannte Wissenschaft bewahren und behüten. Vor den Gewalten der Hölle bewahre, o Herr, seine Seele und vor der Literaturwissenschaft sein Werk. O Herr, laß nicht zu, daß sein Werk der Sekundärliteratur anheimfalle. O Herr, gib ihm die ewige Ruhe. Bei wieder anderen Dichtern möchte man Gott schier bitten, daß er ihnen ihr eigenes Werk nicht anrechne, weil es sich wie eine einzige Sünde gegen die Moral, aber auch gegen die Ästethik ausnimmt.. O Gott, do wollest seines Werkes nicht achten und anehn. Schau über sein Werk hinweg. (Alois Brandstetter: Die Abtei, S. 203)


Brandstetter, Alois: Kein wahres Buch

  Ich glaube auch nicht, daß wir in den nächsten hundert Jahren mit einem Buch rechnen können. Ich meine, mit einem Buch von Belang, das diese Bezeichnung verdient. Ich glaube, es ist ausgeschrieben. Die Öffentlichkeit würde ein solches Buch, ein wahres Buch, auch gar nicht wahrnehmen und registrieren. Sie schaut mit starrem Blick, nmit einem sogenannten Hühnergeschau, auf die jährlich erscheinenden Afterbüchlein von ein paar Literaten, so daß sie etwas wirklich großes Neues gar nicht bemerken würde. Wie ins Narrenkästchen blickt die literarische Öffentlichkeit unverwandt auf die Neuerscheinungen von einem Dutzend Schreiberlingen, die Zeitungen und die Kritiker warten fiebernd auf den neuen X und den neuen Ypsilon. (Alois Brandstetter: Die Abtei, S. 208)


Brandstetter, Alois: Der Dichter

  Der Schreibmaschinist bringt sich leicht in den Verdacht, gar kein Dichter, sondern vielleicht doch nur ein Schriftsteller, wenn nicht überhaupt nur ein lächer- und kümmerlicher Feuilletonist zu sein. Was Schriftsteller schreiben, ist leider nicht so haltbar wie das von Dichtern Gestiftete, das ist besser abgedichtet. Die Poesie ist rostfrei. Dort schaut ein Autor bekümmert auf die Tastatur seiner Schreibmaschine und kann es nicht fassen, daß dieser Vorrat an Tasten für die größten noch zu schreibenden Werke der Weltliteratur ausreichen würde. Wenn ich nur die Reihenfolge wüßte, denkt er. Und in der Tat enthält die Maschine alles nur Mögliche. Selbst der beste Bestseller ist, so gesehen, nichts als eine Frage des organisierten und systematisch geordneten Hinlangens. Einer schreibt mit zwei Fingern, ein anderer mit zehn Fingen, sogar blind, hierin Homer ähnlich. Dem Lyriker, der alles klein schreibt, reicht der Zeigefinder der rechten Hand. (Alois Brandstetter: Der Leumund des Löwen, S. 84f.)


Brandstetter, Alois: Wort und Tat

  Du redest zuviel und tust zuwenig, sagte meine Frau bei ihrer 3. Intervention, ich sei ein typischer Theoretiker, aber kein Praktiker, am Anfang stehe bei mir immer das Wort und nicht die Tat. Ich aber ließ diesen Gegensatz nicht gelten, weil in meiner Situation als Bibliothekar das Wort die Tat sei. (Alois Brandstetter: So wahr ich Feuerbach heiße, S. 98)


Brandstetter, Alois: Feinde

 'Auctor auctori lupus', am meisten Feindschaft darf der Schriftsteller natürlich von den Berufskollegen erwarten. Der Erfolg provoziert den Neid. Willst du aber dem Kollegen eine wirkliche Freude machen, so erzähle ihm von deinem letzten Mißerfolg. Nirgends ist der Brotneid größer. So ist der Kollege der natürliche Feind des Schriftstellers, der Verleger aber der unnatürliche. (Alois Brandstetter: Kleine Menschenkunde, S. 63)


Brandstetter, Alois: Großunternehmer der Literatur

  Vor einiger Zeit gab es ein Franz-von-Assisi-Jubiläum, und in diesem Jahr entstand eine Fülle von Franz- Biographien. Und 'bei dieser Gelegenheit' hat sich auch mancher Autor an dem großen und einzigartigen Mann versucht und vergriffen, der Lichtjahre von jenem Geist entfernt ist, für den der Poverello steht. Literarisch und ethisch 'Mindere' versuchten sich an Franz und seinen Minderbrüdern. Franz hat seinen Leuten bekanntlich das Lesen von Büchern außer der Bibel verboten. Und nun entstanden in einem Jahr Bibliotheken voll Ausschuß. Das meiste waren eitle Selbstdarstellungen der Autoren und nicht solche des Heiligen. Mit großem Mißvergnügen sehe ich, daß einige Autoren überhaupt für jedes Jubiläum das entsprechende Buch liefern. Heuer eine Maria Theresia, nächstes Jahr einen Luther und so fort. In den Terminkalendern dieser Großunternehmer der Literatur stehen der Reihe nach die Gedenkjahre der Großen. Egal wer kommt, sie liefern das Buch für jede Saison. Sie machen einen glauben, sie hätten ununterbrochen mit den Größten der Vergangenheit geistigen Umgang, und erweisen sich dann bei Lektüre ihrer Hervorbringungen doch als kleine Geister, die, indem sie aus zwei Büchern abgeschrieben, ein neues erzeugt haben. Meistens wiederholen sie die schon im Umlauf befindlichen Klischees über eine Persönlichkeit oder sie verfahren nach der konträren Methode, die darin besteht, daß das gerade Gegenteil von alledem behauptet wird, was man bisher für gesichert hielt. (Alois Brandstetter: Altenehrung, S. 113)


Brandstetter, Alois: Balladen in der Schule

  Nun ist es gerade ein Vorzug der deutschen Balladen, jedenfalls jener bis in die Zeit Chamissos, daß sie keinesfalls "dunkel" oder "verrätselt" sind, sie stellen im Gegenteil ihre "Botschaft" deutlich und oft auch sehr plakativ heraus, weshalb sie sich auch so gut für die Schule eignen. Oder müßte ich sagen, weshalb sie heute von unverständigen Lehrern so gern übergangen und verschmäht werden? Die moderne Schule verachtet natürlich in ihrer Orientierungslosigkeit die idealistische Klarheit und Eindeutigkeit. (Alois Brandstetter: Die Burg)


Brandstetter, Alois: Der bessere Geschmack

  Georg verträgt nur den guten Ausgang einer Geschichte, der Tristanstoff käme für ihn mit seinen vielen Toten am Schluß nicht in Frage. Und natürlich auch wegen seines amourösen Inhaltes! Liebesgeschichten langweilen ein Kind, und ich denke mir manchmal, wenn ich Erwachsene sehe und erlebe, die kein anderes Thema kennen und deren Bibliotheken voll sind der lächerlichsten und trivialsten sentimentalen Liebesromane, daß die Kinder, verglichen mit ihnen, auf jeden Fall den besseren Geschmack haben und daß man diesen Erwachsenen ein wenig Immunität gegenüber diesem Thema wünschen möchte. (Alois Brandstetter: Die Burg)


Brant, Sebastian: Von unnützen Büchern

  Im Narrentanz voran ich geh,
denn ich viel Bücher um mich seh,
die ich nit les und nit versteh.

Daß ich sitz voran in dem Schiff,
hat wahrlich ein' besondern Griff:
ohn Ursach ist das nit getan,
auf meine Librei kommt mirs an.
Von Büchern hab ich großen Hort,
versteht doch drin gar wenig Wort
und halt sie dennoch so in Ehren -
ich tu sogar den Fliegen wehren.
Von Wissenschaft man reden tut -
sprech ich: "Daheim steht sie sehr gut!"
Damit begnüg ich mich seit je,
daß ich viel Bücher um mich seh.
Ptolemäus für sich bestellt,
daß er all Bücher hätt der Welt,
und hiet das für ein' großen Schatz;
doch fand er nicht den rechten Satz,
noch konnt daraus belehren sich.
Ich hab viel Bücher auch um mich
und les doch ganz wenig darin.
Warum sollt ich ändern den Sinn,
beschweren mich mit Wissenslast?
Wer viel studiert, wird ein Phantast.
Ich halte mich für einen Herrn,
bezahl einen, der für mich lern.
Und habe ich doch ein' groben Sinn,
doch wenn ich bei Gelehrten bin,
so kann ich "ita" sprechen: "So".
Des deutschen Ordens bin ich froh,
denn ich gar wenig kann Latein;
ich weiß, daß vinum heißet Wein,
gucklus ein Gauch, stultus ein Tor
und daß ich heiß domne doctor.
Die Ohren sind verborgen mir,
man sähe sonst gleich des Müllers Tier.


Braun, Felix: Der Leser

  Sag: Ist das nicht ein wundersames Leid?
Um fremde Menschen trauern, die nicht leben,
und über Dinge, die sich nie begeben,
voll Sehnsucht träumen in der Einsamkeit.

  Geheimnis, dessen Sinn ich nie verstand,
Sich über Worte atemlos zu neigen
und zu vernehmen in gespanntem Schweigen
was einer dachte, träumte und empfand.

  Wenn dann die letzte Zeile still verrinnt,
sich weit zurück im weichen Sessel lehnen,
die Arme breiten, lächeln unter Tränen
und wieder müßig blättern wie ein Kind.

  Und stundenlang wie tief im Nebel gehn
und Verse summen, die wie Glocken läuten,
die tiefstes Glück und tiefstes Leid bedeuten
und dennoch langsam in den Wind verwehn.


Brecht, Bertold: Bücherverbrennung

  Als das Regime befahl, Bücher mit schädlichem Wissen
Öffentlich zu verbrennen, und allenthalben
Ochsen gezwungen wurden, Karren mit Büchern
Zu den Scheiterhaufen zu ziehen, entdeckte
Ein verjagter Dichter, einer der besten, die Liste der
Verbrannten studierend, entsetzt, daß seine
Bücher vergessen waren. Er eilte zum Schreibtisch
Zornbeflügelt, und schrieb einen Brief an die Machthaber.
Verbrennt mich! schrieb er mit fliegender Feder, verbrennt
mich!
Tut mir das nicht an! Laßt mich nicht übrig! Habe ich nicht
Immer die Wahrheit berichtet in meinen Büchern? Und jetzt
Werd ich von euch wie ein Lügner behandelt! Ich befehle euch,
Verbrennt mich!


Brezan, Jurij: Eine Buch-Brille

  Genau weiß ich noch, daß er (Kuba) mit Vehemenz seine Ansicht vertrat, ein Blick ins Buch und zweie in das Leben, das sei das rechte und notwendige Verhältnis von Lesen und Leben, und daß man die Brille von der Nase zu nehmen habe, wenn man ins Leben blicke, denn die Buch-Brille verfälsche die Wahrheit. Wie auch immer das umstrittene Verhältnis sein möge - und ob es da überhaupt einen für alle gültigen Wert gibt - und welche Buch-Brille für wen welche Wahrheit verfälsche und welche Wahrheit sichtbar mache - unbestreitbar scheint mir, daß Leben und Lesen etwa so zusammengehören wie die zwei Beine, die man hat - und die man abwechselnd vorsetzt, um voranzukommen. (Juri Brezan: Eine Geschichte in tausend Varianten)


Bronsky, Alina: Wie ein Alkoholiker den Schnaps

  Er winkt mit einem Buch, das er in der Hand hält. "Hast du je in deinem Leben Castaneda gelesen, Baba Dunja?" "Nein." Ich setze mich auf einen Stuhl mit abgesägter Lehne, den er in den Hof gestellt hat, und falte die Hände. "Du hast es überhaupt nicht so mit Lektüre, nicht wahr?" "Wie bitte?" "Du hast wohl nie viel gelesen, wollte ich wissen", brüllt er, dabei kann ich ihn sehr gut hören. "Bei uns zu Hause gab es keine Bücher. Zeitschriften vielleicht. Und Nachschlagewerke, für die Arbeit. Lehrbücher während meiner Ausbildung. Die habe ich alle Irina geschickt, als sie angefangen hat, Medizin zu studieren." "Alle? Hast du keine mehr da?" "Nein, alle weg." "Und wenn du hier etwas nachschlagen mußt?" "Ich muß nichts mehr nachschlagen. Was ich brauche, weiß ich auch so." "Komisch. Mir geht es umgekehrt." Er wirft das Buch nachlässig auf die Erde. "Und es wird dir ohne Bücher nie langweilig?" (..) So spricht Petrow eben. Er ist ein Mann, der Bücher braucht wie ein Alkoholiker den Schnaps. Wenn er nicht genug zu lesen hat, wird er unaustehlich. Und er hat nie genug. Tschernowo hat keine Nationalbibliothek, und er hat hier schon alles verschlungen bis zu den Gebrauchsanweisungen, die älter sind als er. (Alina Bronsky: Baba Dunjas letzte Liebe)


Brontë, Anne: Nutzung jeden Augenblicks

  Der jüngere der beiden Herren lag in tiefem Schlaf, den Kopf in den Schoß der Dame gebettet; der andere saß an ihrer Seite, in der Hand die Taschenausgabe eines Klassikers. Ohne einen solchen Begleiter pflegte er sich nirgendwohin zu begeben, um nur jeden freien Augenblick zu nutzen, denn jeder Moment schien ihm vergeudet, der nicht seinen Studien gewidmet war oder zur bloßen Erhaltung seines Lebens von seiner physischen Natur beansprucht wurde. (Anne Brontë: Die Herrin von Wildfell Hall, S. 99)


Brown, Pamela: Kraft der Worte

  Worte haben Kraft, weit über ihre Bedeutung hinaus. Ich erinnere mich an Geschichten aus meiner Kindheit und ich erinnere mich besonders an einzelne Begriffe, die in den Erzählungen aufschienen: Milch und Brot, eine Flasche Wein, frisch geschnittener Kohl aus dem Garten. Ich sehe vor mir das Weiß, fühle Krümeliges, wundere mich über ein Tröpfchen Feuchtigkeit auf dünnem, kaltem Glas, höre das Geräusch des Messers beim Durchschneiden des Kohlstrunkes und berühre den Tau auf den gerippten Blättern. Ich würde gern wieder Geschichten lesen, die mir solche Wahrnehmungen vermitteln. Es scheint, sie lassen ein älteres Leben widerhallen, jenseits von dem das ich kenne.


Brown, Pamela: Heiliger Zufluchtort

  Wir leben inmitten einer Welt von Stenogrammen, Textauszügen, Zusammenfassungen, Kurzformen, Schlagzeilen und Sprechblasen. Wir werden geradezu bombardiert von visuellem Material, das uns sekkiert, unseren Geist durchbohrt und am Ende der Woche auf den Müll geworfen wird. Der Roman, für dessen Entstehung ein Mann oder eine Frau oft jahrelange Nachforschungen betrieben haben, dessen Handlungsablauf sorgfältig konstruiert wurde, jedes Wort gewählt und Phrasen gegeneinander abgewogen, Themen verflochten und Höhepunkte gesteigert - dieser Roman ist nun reduziert auf eine Fortsetzungstory in vier Teilen, produziert mit stolzer Ausstattung und brillanten Schauspielern, die Hintergrundmusik zu jeder Einstellung passend. Aber nur Worte kann dies vermitteln, nicht Gesinnung; nur Wissen, nicht tiefere Bedeutung. Aus dem Buch wurde etwas gemacht was nicht mehr selbst lebt, sondern was man vorgeführt bekommt. Wir müssen für das geschriebene Wort kämpfen, wie wir für die Rettung der Wale kämpfen. Wir müssen für uns ein Plätzchen finden, einen heiligen Zufluchtort, wo eine Lampe nur den Tisch beleuchtet an dem wir mit unserem Buch sitzen und wo die Vorhänge zugezogen sind, um die neuzeitlichen Einflüsse auszuschließen. Laßt uns beginnen.


Brown, Pamela: Kinderbücher

  Für Kinder besteht die Freude an einem Buch nicht nur aus der Geschichte, sondern auch daraus, wie es sich anfühlt, wie es riecht, was für ein Papier es hat, welches Format, welcher Art Schriftbild und Illustrationen sind, Risse, Flecken, ja sogar die Seitenzahlen prägen sich ein. Mein Peter-Pan-Buch war eine billige Ausgabe mit vier eingekratzten Namen auf dem roten Umschlag: Marbel Lucy Atwell Peter. Das Papier war dick, die Illustrationen waren Zeichnungen zwischen dem Text. ich weiß alles, als hielte ich das kleine Buch in den Händen. Die Erinnerung hält sogar die kalte Luft meine Schlafzimmers fest, das Nachtlicht im Untersetzer, die Autoscheinwerfer, deren Strahl über die Zimmerdecke lief - und meines Vaters Stimme.


Brown, Pamela: Abschluß

  Vor einem Augenblick noch war es tiefer Winter; das einsame Moor verlief sich im schneeigen Dunkel. Nun, plötzlich, ist es sonnig, der Duft des Sommers erfüllt den vertrauten Raum. Das Buch liegt auf den Knien. Geschlossen. Die Geschichte ist fertig.


Broyard, Anatole: Etwas Arroganz

  Wie auch immer, Dick war ein ernstzunehmender Rivale, ein brillanter Redner, ein attraktiver Mann. Er hätte vielleicht sogar gut ausgesehen, hätte er nicht diesen etwas eitlen Gesichtsausdruck gehabt, angesichts all der Bücher, die er gelesen hatte. (Anatole Broyard: Verrückt nach Kafka. Erinnerungen an Greenwich Village, S. 30)


Bruyn, Günter de: Ausflug

  In der Bickhardtschen Buchhandlung führte die knarrende Treppe noch immer hinauf zur Empore, wo ich fünfundvierzig Jahre zuvor stundenlang in den für mich unerschwinglichen antiquarischen Büchern geblättert und in Hölderlins Namen eine wichtige Bekanntschaft geschlossen hatte. Auch heute herrschte hier wohltuende Stille. Denn die freudig erregte Menge, die das angebliche Leseland hinter sich hatte, schob sich an dem Schaufenster mit Büchern ohne Interesse vorbei. Ich war erfahren genug, um Enttäuschung darüber nicht aufkommen zu lassen, dachte an die alte politische Weisheit, die die geistige Freiheit gegen das Huhn im Topf aufwiegt, und versuchte, in zwei Ostberliner Studenten, die nach Enzensberger und Walser fragten, den Beweis für meine Kulturnationseinheitsthese zu sehen. Die beiden staunten über die Titelfülle, erschraken über die ungewohnt hohen Preise, zählten noch einmal ihr westliches Kleingeld und entschlossen sich schließlich zu meiner Befriedigung doch noch dazu, die Bücher zu kaufen - und nicht einen der billigen Radiorekorder, die viele am Abend nach Hause trugen, auf der U-Bahn-Rückfahrt nach Osten auf volle Laustärke drehten und sich, den Lärm überschreiend, Dummheiten zuriefen, die sie früher gedämpfter von sich gegeben hatten. Die neue Freiheit kam also mit Getöse einher. [Aus: Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht, Fischer]


Bruyn, Günter de: Szene in der Bibliothek

  Daß ich Sie hier finden werde, habe ich mir gedacht. Ihretwegen habe ich heute nicht abgeschlossen, was ich sonst immer tue. Nicht nur der Leute wegen, die den Diebstahl von Büchern nicht als solchen betrachten. Ich kann Besoffene in meiner Bibliothek nicht ausstehen. Nennen wir es also Pietät, was mich zum Abschließen veranlaßt. Das da draußen und das hier drinnen sind getrennte Welten. Das Sakrale und das Profane meinetwegen. Und nun sitzen Sie hier, und ich habe das erwartet.(Günter de Bruyn: Märkische Forschungen)


Bruyn, Günter de: Hilfreich

  Selbst die Verzweiflung darüber, westliche Buchhandlungen und Bibliotheken nicht mehr aufsuchen zu können, legte sich mit der Zeit. Zur Information fanden sich andere Wege, zum Beispiel die dritten Hörfunkprogramme, die nun für mich größere Bedeutung gewannen, die wissenschaftlichen Bibliotheken, die einem, wenn man in ihnen Bescheid wußte und ein Vertrauensverhältnis zu den Bibliothekaren hatte, viel geistige Konterbande vermitteln konnten. Hilfreich waren auch Verwandte und Freunde von jenseits der Mauer, die die strapaziösen und zeitraubenden Kontrollen nicht scheuten und den Mut hatten, Zeitschriften und Bücher zu schmuggeln, und dann später die Korrespondenten, deren Bekanntschaft auch immer Informationsgewinn war. Der Erste von ihnen, der Ost- Berlin schon eifrig besuchte, als noch keine Akkreditierungen möglich waren, war der Tübinger Christoph Müller, der damals als Lokalreporter für den Tagesspiegel arbeitete und nebenbei mich und andere mit Neuerscheinungen von Enzensberger, Arno Schmidt, Uwe Johnson und Grass versorgte und einmal auch Martin Walser in mein Hinterhaus brachte, der freilich, wofür ich Verständnis hatte, an den anwesenden Damen mehr interessiert war als an mir. (Günter de Bruyn: Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht. Frankfurt/M.: S. Fischer, 1996, S. 110-111)


Bruyn, Günter de: Unsterblichkeit

  Nur wenige der für die Nachwelt bestimmten Werke erreichen die Adressatin auch, und da die meisten Autoren das wissen, geben sie vor, nur für die Zeitgenossen schreiben zu wollen, doch geht die Trauer um dieses Wissen unmerklich in ihre Hervorbringungen mit ein. Manch Dichterzorn und manch Endzeitgedankne hat sicher auch damit und nicht nur mit dem schlimmen Zustand der Welt zu tun; und wenn Apoll die Autoren zwischen dem Platz auf der Bestsellerliste und dem auf dem Parnaß wählen ließe, würde die Mehrzahl sich wohl für die Unsterblichkeit entscheiden - allen voran natürlich die Bestsellerautoren, weil denen, die das schon haben, das andere besonders fehlt. (Günter de Bruyn: Jubelschreie, Trauergesänge, S. 66)


Bruyn, Günter de: Bilanz des Leselebens

  Nehmen wir also an, ein Mensch, der sein Leben mit Büchern verbracht hat, habe nur solche, die ihm gehörten, gelesen, sich diese auch aufgehoben und ungelesene nicht im Regal. Wenn dieser Bücherfreund nun am Ende seines Leselebens in der Weise Bilanz zöge, daß er an seine Lektüre zu erinnern versuchte, müßte er, wenn er Neigung zum Systematisieren hätte, zu einer Dreiteilung seines Bestandes kommen, die als erste und weitaus stärkste Rubrik die der total vergessenen Titel enthielte, der die mit der noch immer beträchtliche Reihe von Werken folgte, an die er sich, ohnde den Drang zum Wiederlesen zu spüren, in guten oder auch schlechten Sinne erinnern könnte, so daß für die dritte Rubrik nur das Minimum übrig bleiebe, das er sich, wenn er auf ein ruhiges Einzelzimmer im Himmel hoffte, mit ins Grab legen ließe - (denn in der Hölle, mit Dauerbeschallung, wird ferngesehen). (Günter de Bruyn: Jubelschreie, Trauergesänge, S. 67f)


Bruyn, Günter de: Bücherzensoren

  Erste Bürgerpflicht für die Macht ist Ruhe, für die Literatur dagegen Bewegung; der Zensor, als Beauftragter der Macht, soll also etwas zur Ruhe zwingen, in deren Natur es liegt, unruhig zu sein und Unruhe zu verbreiten; er würde es umbringen, wäre er konsequent. Das aber liefe seinen Aufgaben als Ordnungshüter zuwider; er muß also berechnende Inkonsequenz üben - und damit seinen Auftraggebern Anlaß zum Mißtrauen geben, oder vielmehr ihr Mißtrauen vermehren; denn sein mehr oder weniger großes Literaturverständnis, das ihn zu diesem Posten befähigt, macht ihn in den Augen seiner Herrren auch verdächtig: hat sich doch auch bis zu ihnen herumgesprochen, daß es intime Kenntnis der Literatur ohne Liebe zu ihr nicht gibt. (Günter de Bruyn: Jubelschreie, Trauergesänge, S. 75)


Bruyn, Günter de: Lesetraining

  Viktor schlägt, wie seine Eltern, jeden Tag die Zeitung auf. Das ist ihm anerzogen worden, wie das Waschen und das Zähneputzen: ein Zwang, der, wenn er lange genug wirkt, zum Selbstzwang wird. Zu sehr beansprucht wird er durch die tägliche Lektüre aber nicht. Übung verkürzt die Lesezeit von Jahr zu Jahr. Denn seine Augen sind auf die Wörter, auf die es ankommt, so trainiert, daß sie sie mit einem flüchtigen Blick sofort erfassen. (...) Selbst wenn er nur sein Pflicht- und Stammblatt rechnet (die anderen, auch fremden Blätter, die er oft lesen muß, also unbeachtet läßt), kann er mit Sicherheit behaupten, daß er in seinem Leben mehr Zeitungs- als Buchseiten umgeblättert hat. Er sagt sich das oft selbst entschuldigend, wenn Bücherlesen ihm schwerfällt. Die unlebendigen, gleichmäßig bedruckten Seiten töten seinen Elan, machen ihn mutlos. Eine Seite sieht aus wie die andere, verzweifelt sucht er nach Bildern, begrüßt dankbar jeden Kursiv- oder Fettdruck, blättert vor in der Hoffnung, die Abwechslung eines Kapitelseinschnitts bald zu erreichen. Er wünscht sich Bücher so, wie manche Lehrbücher sind: das Wichtige eingerahmt, das Unwichtige durch Kleindruck als überflüssig entlarvt. Bibliotheksbände mit Gebrauchsspuren fleißiger Studenten hat er zu schätzen gelernt. Im jeweiligen individuellen Anstreichungen findet er sich schnell zurecht, weiß bald, ob die blauen Randhaken, die schwarzen Punkte oder die roten Unterstreichungen hochwertiger sind, und folgt dann flink und freudig dem anonymen Vorarbeiter von Höhepunkt zu Höhepunkt, wobei der in Glücksfällen sogar noch Randbemerkungen entziffern und sich aneignen kann. (Günter de Bruyn: Neue Herrlichkeit, S. 30.f)


Bruyn, Günter de: Leicht unfruchtbar

  Er ist ein Mensch, will er ihr bei Gelegenheit mal sagen, der Menschen braucht, um leistungsstark zu sein; Bücher dagegen, die von Sozialem isolieren, machen, zumindest ihn, leicht unfruchtbar. (Günter de Bruyn: Neue Herrlichkeit, S. 105)


Bucheli, Roman: Das Gewicht der Literatur

  Das Gewicht der Literatur bemisst sich nicht nach dem Nutzen, den ihre Leser aus ihr ziehen. Solchen Ansprüchen müsste Benjamins Verteidigung der Kunst entgegengehalten werden: "Dichtung im eigentlichen Sinn entsteht erst da, wo das Wort vom Banne auch der grössten Aufgabe sich frei macht." Es wäre dies eine Literatur, die im emphatischen Sinn des Wortes unumgänglich ist. Sie entsteht ungeachtet des Zuspruchs, den sie erfährt, und unabhängig von der Förderung, die ihr insgesamt zufällt, weil sich ihre Notwendigkeit aus sich selbst heraus erfüllt. Dass sie dann einen "angemessenen Platz in der Gesellschaft" finden wird, steht ausser Frage - und ist weder zu vermeiden noch die Folge strategischer Kalküle welcher Arbeitsgruppe auch immer.


Burger, Hermann: Bücher und Bäume

  So, bibliophile Gräfin, stirbt der Wald, und wahrlich, man müßte der Bäume gedenken, die für eine Bibliothek wie die Ihrige gefällt wurden, als Ihr Schattenminister und Totastförster weiß ich, was ein pathologischer Naßkern ist, nicht zu verwechseln mit der durch Hallimasch hervorgerufene Holzfäule, die Tanne, man erkennt es an der Verlichtung des oberen Viertels, an der verfrühten Ausbildung einer Storchennestkrone, die Folge des reduzierten Spitzentriebwachstums, ebenso an der Veränderung des Mykorrhizabesatzes, die Kiefer, Pinus sylvestris, Vergilbung der Nadelspitzen, Übergang zu Braunfärbung, Punkt und Rinden-Nekrosen, die Fichte bildet Angsttriebe und hat einen hohen Totwurzelanteil, die Buche in schütterster Belaubung verkahlt und rollt ihre Blätter ein, halten Sie Umschau im Blankenburger Forst, von den Agaven bleibt oft nur ein Neptundreizack übrig, dürrastige Scheuchen einstiger Könige, würden Sie, Hand aufs Herz, Ihre dreißigtausend Bände zurückverholzen, wenn Sie damit dem Wald helfen könnten? (Hermann Burger: Blankenburg, S. 58)


Burger, Hermann: Vom Nutzen des Blindbands

  Nun, liebe Blanca [...] haben Sie es doch tolldreisterweise gewagt, mir, dem Leselosen, der verramscht und daféisiert hat, was in den Schränken dicht bei dicht, Rücken an Rücken gegen ihn stand, einen Bücherpacken zu schicken, als Stein in den Garten zu werfen, nichts Geringeres als den kompletten Grimm, und zwar den Faksimile- oder Reprint-Grimm, dazu einen Blindband mit der Bemerkung, Sie hätten immer einen solchen auf Ihrem Schreibtisch liegen zum Umblättern und Streicheln der leeren Seiten, die unabdingbare Etüdenzärtlichkeit vor dem Einstieg in welche Lektüre auch immer, auch erfordere, so Ihr Postscriptum, jede größere Bibliothek solche Editionen der Leere als Pufferzone zwischen allzu streitbaren Geistern - ja, auch in einer friedlichen Schloßbibliothek gebe es Querelen, Rangeleien. (Hermann Burger: Blankenburg, S. 89)


Burger, Hermann: Nur das Gute lesen

  Schreibt doch Schopenhauer, um das Gute zu lesen, sei es eine Bedingung, daß man das Schlechte nicht lese, denn das Leben sei kurz, Zeit und Kräfte beschränkt, und wenn man dies einmal begriffen habe, falle es einem um so leichter, auch auf das Gute zu verzichten; es sei in der Literatur nicht anders als im Leben, wohin man sich auch wende, treffe man sogleich auf den inkorrigiblen Pöbel der Menschheit, welcher überall legionenweise vorhanden sei und alles beschmutze wie die Fliegen im Sommer, daher die Unzahl schlechter guter oder guter schlechter Bücher. (Hermann Burger: Blankenburg, S. 107)


Burger, Hermann: Instinktive Reserve

  Wenn ich sage, das müßte man aufschreiben, Wiederkehr, alle diese Geschichten müßte man zu einer Engelhofchronik zusammentragen, wird er sofort mißtrauisch. Es ist die instinktive Reserve der Tätigen allen Schriftgelehrten gegenüber. (Hermann Burger: Schilten)


Robert Burton: Diese unstete Art

  Diese unstete Art (wenn auch nicht immer in solchem Maße) habe ich schon mein Leben lang, und wie ein launiger Spaniel jedem Vogel nachspringt, den er sieht, und darüber sein Wild vergißt, habe ich alles verfolgt, nur das nicht, was ich sollte, und darf mit Fug und Recht beklagen (denn wer allenthalben ist, ist nirgends) ... daß ich, da mir die rechte Methode fehlte, viele Bücher gelesen habe, doch zu geringem Zwecke, & mit Willkür bald diesen, bald jenen Verfasser in unseren Bibliotheken aufsuchte, und mit kaum Nutzen, denn es mangelte mir an Kunst, Ordnung, Erinnerung und Urteil. (Robert Burton: Anatomie der Melancholie)


Busch, Günther: Bücher entfesseln Fragen

  Bücher sind, nach wie vor, an Minderheiten adressiert. Gegenüber jedermann beharren sie auf dem Gebrauch seiner Einbildungskraft, der Anstrengung seines Denkvermögens. Sie entfesseln Fragen. Zum Beispiel, wie und warum wir zu dem geworden sind, was wir sind; was wir verlorengegeben oder verdrängt haben, um Frieden zu schließen mit den Bedingungen, unter denen wir leben, reden, schweigen; wozu wir fähig sind und was wir mit unseren Fähigkeiten anzurichten bzw. auszurichten vermocht haben; was der Fortschritt des Wissens kostet und welchen Preis das Nichtwissen fordert; worin wir tatsächlich frei in unserm Handeln und zu welchem Ende die Realität gedacht werden kann. Es sind dies Fragen der menschlichen Selbstauffassungen und Selbstaufklärung, formuliert unter den Verhältnissen der modernen Zivilisation und im Lichte ihrer Ausdrucksmittel, ihrer Verhaltensmuster, ihres Erklärungsnotstands und ihrer hoch verwundbaren Erfindungsleistungen. (Günther Busch: Zur Zukunft der Bücher; in: Klaus Wagenbach (Hrsg.): Warum so verlegen. Über die Lust an Büchern und ihre Zukunft, S. 105)


Busch, Günther: Das kollektive Gedächtnis wachhalten

  In Büchern nämlich, den belangvollen jedenfalls, materialisiert sich eines der faszinierendsten geistigen Experimente der Menschengattung: die Welt zu entziffern, unsere Erfahrungen mit ihr zu deuten, unsere Geschichtlichkeit zu erhellen. Dieses Experiment ist nicht abgeschlossen, ja, es gibt gute Gründe zu vermuten, daß es, solange mit offenem Visier gedacht und geschrieben werden wird, immer wieder aufgenommen werden muß. Inmitten einer ahnungslos gewordenen Wirklichkeit gemahnt es uns an das, was unverwirklicht ist. Es bestreitet den Zustand, in dem sich die Dinge und wir uns befinden, die Anmaßung des Selbstverständlichen und des Endgültigen. Warum also Bücher? Weil sie uns in der Befangenheit unabhängig werden lassen; weil sie das kollektive Gedächtnis wachhalten, das vollends abzuschaffen die heutige Gesellschaft keinen Aufwand scheut; weil sie uns daran hindern, in tauben Gewißheiten grau, gedankenarm und einfallslos zu werden; weil die Verlockung, mit Buchstaben uns selbst und die Dinge umzugraben, so bald kein Ende nehmen darf. (Günther Busch: Das kollektive Gedächtnis wachhalten, in: Klaus Wagenbach (Hrsg.): Warum so verlegen. Über die Lust an Büchern und ihre Zukunft, S. 105)


  Bücher sind, nach wie vor, an Minderheiten adressiert. Gegenüber jedermann beharren sie auf dem Gebrauch seiner Einbildungskraft, der Anstrengung seines Denkvermögens. Sie entfesseln Fragen. Zum Beispiel, wie und warum wir zu dem geworden sind, was wir sind; was wir verlorengegeben oder verdrängt haben, um Frieden zu schließen mit den Bedingungen, unter denen wir leben, reden, schweigen; wozu wir fähig sind und was wir mit unseren Fähigkeiten anzurichten bzw. auszurichten vermocht haben; was der Fortschritt des Wissens kostet und welchen Preis das Nichtwissen fordert; worin wir tatsächlich frei in unserm Handeln und zu welchem Ende die Realität gedacht werden kann. Es sind dies Fragen der menschlichen Selbstauffassungen und Selbstaufklärung, formuliert unter den Verhältnissen der modernen Zivilisation und im Lichte ihrer Ausdrucksmittel, ihrer Verhaltensmuster, ihres Erklärungsnotstands und ihrer hoch verwundbaren Erfindungsleistungen. (Günther Busch: Zur Zukunft der Bücher)


Busch, Wilhelm: Ein harmloses Tierchen

  Ein Buch ist ja keine Drehorgel, womit uns der Invalide unter dem Fenster unerbittlich die Ohren zermartert. Ein Buch ist sogar noch zurückhaltender als das doch immerhin mit einer gewissen offenen Begehrlichkeit von der Wand herabschauende Bildnis. Ein Buch, wenn es zugeklappt daliegt, ist ein gebundenes, schlafendes, harmloses Tierchen, welches keinem was zuleide tut. Wer es nicht aufweckt, den gähnt es nicht an; wer ihm die Nase nicht gerade zwischen die Kiefer steckt, den beißt's auch nicht. (Wilhelm Busch: Eduards Traum)


Busch, Wilhelm: Dichten

  Der Mensch, durchtrieben und gescheit,
Bemerkte schon zu alter Zeit,
Daß ihm hienieden allerlei
Verdrießlich und zuwider sei.
Die Freude flieht auf allen Wegen;
Der Ärger kommt uns gern entgegen.
Gar mancher schleicht betrübt umher;
Sein Knopfloch ist so öd und leer.
für manchen hat ein Mädchen Reiz,
Nur bleibt die Liebe seinerseits.
Doch gibt’s noch mehr Verdrießlichkeiten.
Zum Beispiel läßt sich nicht bestreiten:
Die Sorge, wie man Nahrung findet,
Ist häufig nicht so unbegründet.
Kommt einer dann und fragt: "Wie geht’s?"
Steht man gewöhnlich oder stets
Gewissermaßen peinlich da,
Indem man spricht: "Nun, so lala!"
Und nur der Heuchler lacht vergnüglich
Und gibt zur Antwort: "Ei, vorzüglich!"
Im Durchschnitt ist man kummervoll
Und weiß nicht, was man machen soll. -

  Nicht so der Dichter. Kaum mißfällt
Ihm diese altgebackne Welt,
So knetet er aus weicher Kleie
Für sich privatim eine neue
Und zieht als freier Musensohn
In die Poetendimension.
Die fünfte, da die vierte jetzt
Von Geistern ohnehin besetzt.
Hier ist es luftig, duftig schön,
Hier hat er nichts mehr auszustehn,
Hier aus dem mütterlichen Busen
Der ewig wohlgenährten Musen
Rinnt ihm der Stoff beständig neu
In seine saubre Molkerei.
Gleichwie die brave Bauernmutter.
Tagtäglich macht sie frische Butter.
Des Abends spät, des morgens frühe
Zupft sie am Hinterleib der Kühe
Mit kunstgeübten Handgelenken
Und trägt, was kommt, zu kühlen Schränken
, Wo bald ihr Finger, leicht gekrümmt,
Den fetten Rahm, der oben schwimmt,
Beiseite schöpft und so in Masse
Vereint im hohen Butterfasse.
Jetzt mit durchlöchertem Pistille
Bedrängt sie die geschmeidge Fülle.
Es kullert, bullert, quietscht und quatscht,
Wird auf und nieder durchgematscht,
Bis das geplagte Element
Vor Angst in Dick und Dünn sich trennt.
Dies ist der Augenblick der Wonne.
Sie hebt das Dicke aus der Tonne,
Legt’s in die Mulde, flach vom Holz,
Durchknetet es und drückt und rollt’s,
Und sieh, in frommen Händen hält se
Die wohlgeratne Butterwälze.

  So auch der Dichter. - Stillbeglückt
Hat er sich was zurechtgedrückt
Und fühlt sich nun in jeder Richtung
Befriedigt durch die eigne Dichtung.

  Doch guter Menschen Hauptbestreben
Ist, andern auch was abzugeben.
Dem Dichter, dem sein Fabrikat
Soviel Genuß bereitet hat,
Er sehnt sich sehr, er kann nicht ruhn,
Auch andern damit wohlzutun;
Und muß er sich auch recht bemühn,
Er sucht sich wen und findet ihn;
Und sträubt sich der vor solchen Freuden,
Er kann sein Glück mal nicht vermeiden.
Am Mittelknopfe seiner Weste
Hält ihn der Dichter dringen feste,
Führt ihn beiseit zum guten Zwecke
In eine lauschig stille Ecke,
Und schon erfolgt der Griff, der rasche,
Links in die warme Busentasche,
Und rauschend öffnen sich die Spalten
Des Manuskripts, die viel enthalten.
Die Lippe sprüht, das Auge leuchtet,
Des Lauschers Bart wird angefeuchtet,
Denn nah und warm, wie sanftes Flöten,
Ertönt die Stimme des Poeten. -
"Vortrefflich!" ruft des Dichters Freund,
Dasselbe, was der Dichter meint;
Und, was er sicher weiß zu glauben,
Darf sich doch jeder wohl erlauben.
Wie schön, wenn dann, was er erdacht,
Empfunden und zurecht gemacht,
Wenn seines Geistes Kunstprodukt,
im Morgenblättchen abgedruckt,
Vom treuen Kolporteur geleitet,
Sich durch die ganze Stadt verbreitet:
Das Wasser kocht. - In jedem Hause,
Hervor aus stiller Schlummerklause,
Eilt neu gestärkt und neu gereinigt,
Froh grüßend, weil aufs neu geeinigt,
Hausvater, Mutter, Jüngling, Mädchen
Zum Frühkaffee mit frischen Brötchen.
Sie alle bitten nach der Reihe
Das Morgenblatt sich aus das neue,
und jeder stutzt und jeder spricht:
"Was für ein reizendes Gedicht!"
Durch die Lorgnetten, durch die Brillen,
Durch weit geöffnete Pupillen,
erst in den Kopf, dann in das Herz,
Dann kreuz und quer und niederwärts
Fließt’s und durchweicht das ganze Wesen
Von denen allen, die es lesen.
Nun lebt in Leib und Seel der Leute,
Umschlossen vom Bezirk der Häute
Und andern warmen Kleidungsstücken,
Der Dichter fort, um zu beglücken,
Bis daß er schließlich abgenützt,
Verklungen oder ausgeschwitzt.

  Ein schönes Los! Indessen doch
Das allerschönste blüht ihm noch.
Denn Laura, seine süße Qual,
Sein Himmelstraum, sein Ideal,
Die glühend ihm entgegenfliegt,
Besiegt in seinen Armen liegt,
Sie flüstert schmachtend inniglich:
"Göttlicher Mensch, ich schätze dich!
Und daß du so mein Herz gewannst,
Macht bloß, weil du so dichten kannst!"

  Oh, wie beglückt ist doch ein Mann,
Wenn er Gedichte machen kann!


Butler, Samuel: Weglassen

  Wenn ein Autor dem Prinzip folgt, innezuhalten, wo er geht und steht, und seine Notizen zu machen, so wie der echte Maler skizziert, wo er geht und steht, wird er in der Lage sein, seine Werke kräftig zu kürzen. Seine Leistung besteht nicht im Schreiben - das kann jeder Narr -, sondern im Fortlassen. Man faßt sich kurz, weil man so viel zu sagen hat, daß die Zeit dafür nicht ausreicht. Zu wissen, was man fortlassen kann, ist eine der größten Künste. (Samuel Butler, Notizbücher)


Byatt, Antonia S.: Bis zum Ende lesen

  Ich kann es nicht ertragen, den Ausgang einer Geschichte nicht zu ertragen. Die allergewöhnlichsten Dinge lese ich bis zum Ende - nur aus der fieberhaften Gier heraus, mir das Ende der Geschicht einverleiben zu können - ob süß, ob bitter - und um hinter mich gebracht zu haben, womit ich mich niemals hätte abzugeben brauchen. Ergeht es Ihnen ebenso? Oder sind Sie eine anspruchsvolle Leserin? Legen Sie beiseite, was keinerlei Gewinn verspricht? (Antonia S. Byatt: Besessen, S. 226)


Byatt, Antonia S.: Verschiedene Lektüren

  Ein und derselbe Text erlaubt verschiedene Lektüren - ehrerbietige Lektüren, Lektüren, die nachzeichnen und sezieren, Lektüren, die das Rascheln unerhörter Töne vernehmen, und solche, die zum Vergnügen oder zur Belehrung triste kleine Pronomen zählen und eine Zeitlang nichts von golden oder von Äpfeln mitbekommen. Es gibt persönliche Lektüren, die sich persönliche Bedeutungen zusammenklauben: Liebe, Widerwillen, Angst, die den Leser beherrschen und ihn nach den entsprechenden Gefühlen suchen lassen. Und es gibt tatsächlich unpersönliche Lektüren, bei denen das geistige Auge die Zeilen verfolgt und das geistige Ohr sie singen hört. Hin und wieder gibt es Lektüren, die dem Leser buchstäblich die Haare zu Berge stehen lassen, wo jedes einzelne Wort lodert und leuchtet - hart und klar, unendlich und unmißverständlich, wie feurige Steine, wie Sternenfunkeln im Dunkeln-, und Lektüren, wo das Wissen, daß wir den Text anders, besser oder genauer erkennen werden, jeder Möglichkeit vorauseilt zu sagen, was wir von ihm erkannt haben, und wie wir es erkannt haben. Bei solchen Lektüren folgt dem Eindruck, daß der Text dem Leser als etwas völlig Neues, nie Gesehenes erscheint, beinahe gleichzeitig der Eindruck, daß dieses Neue immer schon enthalten war, daß der Leser dies wußte und es immer schon gewußt hat, obwohl dieses Wissen sich in diesem Augenblick zum erstenmal bemerkbar gemacht hat, erkannt worden ist. (Antonia S. Byatt: Besessen, S. 586f.)


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