Bibliomanische FAB  / [C]


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Calvino, Italo: In der Buchhandlung

  Schon im Schaufenster hast du den Umschlag mit dem gesuchten Titel entdeckt. Der Blickspur folgend bist du im Laden vorgedrungen, mitten durch die dichten Reihen der Bücher, Die Du Nicht Gelesen Hast, die dich finster anstarrten von Regalen und Tischen, um dich einzuschüchtern. Aber du weißt, daß du dich davon nicht abschrecken lassen darfst, denn hektarweise erstrecken sich unter ihnen die Bücher, Von Deren Lektüre Du Absehen Kannst, die Bücher, Die Zu Anderen Zwecken Als Dem Der Lektüre Gemacht Sind, sowie die Bücher, Die Schon Gelesen Sind Bevor Man Sie Aufschlägt Weil Zugehörig Zur Kategorie Des Schon Gelesenen Bevor Es Überhaupt Geschrieben Wurde. So überwindest du rasch den ersten Verteidigungsring, und nun überfällt dich die Infanterie der Bücher, Die Du Bestimmt Gern Lesen Würdest Wenn Du Mehrere Leben Hättest Aber Leider Sind Deine Tage Eben Was Sie Sind. Mit einer raschen Bewegung schiebst du sie beiseite und stürzt dich auf die Phalanx der Bücher, Die Du Irgendwann Mal Zu Lesen Gedenkst Aber Vorher Mußt Du Noch Andere Lesen, der Bücher, Die Dir Zu Teuer Sind Und Bei Denen Du Ruhig Abwarten Kannst Bis Sie Als Sonderausgabe Zu Ermäßigtem Preis Erscheinen, der Bücher Dito Bis Sie In Einer Taschenbuchreihe Erscheinen, und schließlich der Bücher, Die Alle Bereits Gelesen Haben So Daß Es Beinahe Ist Als Ob Du Sie Auch Schon Gelesen Hättest. (Italo Calvino: Wenn ein Reisender in einer Winternacht)


Canetti, Elias: Romane

  ...Nur wird von Romanen kein Geist fett. Den Genuss, den sie vielleicht bieten, überzahlt man sehr: sie zersetzen den besten Charakter. Man lernt sich in allerlei Menschen einfühlen. Am vielen Hin und Her gewinnt man Geschmack. Man löst sich in die Figuren auf, die einem gefallen. Jeder Standpunkt wird begreiflich. Willig überlässt man sich fremden Zielen und verliert für länger die eigenen aus dem Auge. Romane sind Keile, die ein schreibender Schauspieler in die geschlossene Person seiner Leser treibt. Je besser er Keil und Widerstand berechnet, umso gespaltener lässt er die Person zurück. Romane müssten von Staats wegen verboten sein... (Elias Canetti: Die Blendung)


Canetti, Elias: Der Dichter

  Ein Dichter wäre also einer, der von Worten besonders viel hält, sich unter ihnen so gern, ja vielleicht lieber umtut als unter Menschen, sich beiden ausliefert, aber doch mit mehr Vertrauen den Worten, diese von ihren Sitzen wohl auch herunterzerrt, um sie mit umso größerem Aplomb wieder einzusetzen, sie befragt und betastet, streichelt, zerkratzt, hobelt, bemalt, ja, dazu imstande ist, nach all seinen intimen Frechheiten sich in Ehrfurcht vor ihnen wieder zu verkriechen. Selbst wenn er, wie oft, als Übeltäter am Worte erscheint, so ist er auch dann ein Übeltäter aus Liebe.


Canfora, Luciano: Plagiatoren entlarvt

  Anläßlich eines der, von den Ptolemäern regelmäßig ausgetragenen, Dichter-Wettstreite - es war bereits zur Zeit der Regentschaft des Euergetes-, wurde es notwendig, das Preisgericht von sechs auf sieben Richter zu ergänzen. Der Herrscher wandte sich diesbezüglich an die Hauptverantwortlichen der Bibliothek, und diese machten ihn auf einen Gelehrten mit Namen Aristophanes aufmerksam, der aus Byzanz stammte. Dieser - so berichtete sie ihm -, tue "jeden Tag, den ganzen Tag über, nichts weiter als alle Bücher der Bibliothek ihrer Aufstellung nach aufmerksam zu lesen und wiederzulesen". Aristophanes kannte daher die Systematik der Bibliothek bis zur Perfektion. Das zeigte sich wenig später, als er, um Dichter zu entlarven, die im Begriffe waren, mit Plagiaten die höchsten Preise zu gewinnen, die Sitzung der Preisjury verließ, "sich auf das eigene Erinnerungsvermögen verlassend" (wie Vitruv erläutert, der diese Geschichte überliefert hat) geradewegs auf einige "ihm wohlvertraute Regale" zusteuerte und nach einer Weile wiederauftauchte: in der Hand schwenkte er die Originaltexte, die die Plagiatoren versucht hatten, als ihre eigenen auszugeben. (Luciano Canfora: Die verschwundene Bibliothek. Das Wissen der Welt und der Brand von Alexandria, S. 47f.)


Capote, Truman: Lesen Sie viel?

  Antwort auf die Frage, ob er viel lese: "Viel zuviel. Ich verschlinge alles, Flaschenetiketten, Rezepte und Reklametexte nicht ausgenommen. Ich bin auch ein leidenschaftlicher Konsument von Zeitungen; ich lese alle New Yorker Tageszeitungen, auch die, die sonntags erscheinen, außerdem mehrere Periodica des Auslands. Was ich nicht kaufe, lese ich stehend am Aushang. Ich schaffe etwa fünf Bücher die Woche; für einen Roman von Durchschnittsumfang brauche ich zwei Stunden. Sehr gern lese ich Thriller und möchte selbst mal einen schreiben. erstklassige Erzählungen allerdings ziehe ich allem anderen vor, und doch habe ich in den letzten Jahren in erster Linie Briefe, Tagebücher und Biographien verschlungen. Das viele Lesen stört mich auch nicht beim Schreiben; das heißt, mir ists noch nie passiert, daß mir plötzlich der Stil eines anderen Autors aus der Feder fließt. Einmal allerdings als ich längere Zeit bei Henry James hospitiert hatte - da wurden auf einmal auch meine Sätze furchtbar lang."


Capote, Truman: Angehender Schriftsteller

  Larry Hendricks, Englischlehrer, siebenundzwanzig Jahr alt, wohnte im Dachgeschoß des Lehrerhauses. Er wollte schreiben, aber sein Wohnung war nicht gerade ideal für einen angehenden Schriftsteller. Sie war kleiner als die Kidwells, und außerdem teilte er sie mit seiner Frau, drei lebhaften Kindern und einem ständig laufenden Fernsehapparat. ("Es ist das einzige Mittel, die Kinder ruhig zu halten.") Hendricks hat zwar noch nichts veröffentlicht, aber der betont männliche ehemalige Seemann aus Oklahoma, der Pfeife raucht und einen Schnurrbart trägt, sieht mit seinem wilden schwarzen Haarschopf zumindest wie ein Literat aus - tatsächlich sieht er Jugendfotos des von ihm am meisten bewunderten Schriftstellers - Ernest Hemingways - erstaunlich ähnlich. (Truman Capote: Kaltblütig, S. 67f.)


Caduff, Corina: Spuren der Erregung

  Wo Literatur genügend Ecken und Kanten hat, da schärft sie die Wahrnehmung des Lesers jenseits solcher Aufrufe. Wer mit einem Stift in der Hand liest, hinterläßt Spuren im Text, die genau das markieren: die Schärfung der eigenen Wahrnehmung. Man kann Anstreichungen generell als Spuren der Erregung betrachten, als Spuren einer plötzlichen erhöhten Aufmerksamkeit, mit der man für oder gegen etwas eintritt, als Spuren einer intelligiblen Schärfe. Und wo solche am Einzeltext gewonnene Schärfe über diesen einzelnen Text hinausgeht und sich auch anderen Verhältnissen zuwendet, da wird sie gesellschaftlich. (Corina Caduff: Land in Aufruhr. Die Künste und ihre Schauplätze, S. 142)


Carl, Heidi: Literarischer Unrat

  Nicht alles, was gedruckt ist, dient der Wahrheit, dem Schönen und dem Guten. Nicht wahr, Du würdest es nicht dulden, wenn sich jeder schmierige Kerl an Dich heranmachen möchte. Genauso wenig solltest Du es zulassen, daß Dir Bücher die Phantasie verderben, deren Schreiberlinge es nicht wert sind, in Deinem Zimmer zu Dir sprechen zu dürfen. Laß die Hände von schlechten Büchern. Sie können gefährlicher sein als Tuberkelbazillen. Darum meide gewisse Leihbüchereien, die oft bewußt nur schmierigen Lesestoff anbieten. Verdirb Dir die Lust am Lesen nicht durch das wahllose Verschlingen minderwertiger Broschüren, kitschiger Liebesromane und verlogener Sensationszeitschriften. Wer diesen Unrat verschlingt, wird bald die Fähigkeit zum Lesen wertvoller Bücher verloren haben. (Carl, Heidi: Meine kostbare Zeit. Würzburg: Echter, 1958. 45 S.)


Carrere, Emmanuel: Samisdat lesen

  Von 1988 an wurde das öffentlich, wozu bis dahin einzig die intellektuelle Elite in Form des Samisdat oder heimlich importierter ausländischer Editionen Zugang gehabt hatte, und die Russen packte eine wahre Lesewut. Jede Woche erschien ein neues Buch, das bis dahin verboten gewesen war. Die hohen Auflagen waren schnell ausverkauft. Man sah Leute, die im Morgengrauen an den Kiosken Schlange standen und dann in der Metro, im Bus oder selbst im Gehen auf der Straße wie Besessene das lasen, was sie sich ergattert hatten. Eine Woche lang las ganz Moskau Doktor Schiwago und sprach nur noch davon, in der Folgewoche war es Leben und Schicksal von Wassili Grossman und in der nächsten Orwells 1984 oder die Bücher des großen englischen Vordenkers Robert Conquest, der bereits seit den sechziger Jahren die Geschichte der Kollektivierungen und Säuberungen geschrieben hatte und sich von allem, was im Westen darum besorgt war, das Proletariat nicht zu entmutigen, als CIA- Agent hatte beschimpfen lassen müssen. (Emmanuel Carrere: Limonow)


Carrere, Emmanuel: Geschichtskorrekturen

  1986 veröffentlichte ich einen kleinen Essay, dessen Titel Die Beringstraße auf eine Anekdote verwies, die mir meine Mutter erzählt hatte: Nachdem Beria, der Chef des NKWD unter Stalin, in Ungnade gefallen und exekutiert worden war, erhielten die Subskribenten der Großen sowjetischen Enzyklopädie die Anweisung, in ihrem Exemplar die diesem glühenden Verehrer des Proletariats gewidmete Lobeshymne herauszuschneiden und sie durch einen Artikel von identischem Kaliber über die Beringstraße zu ersetzen. Beria, Bering: Die alphabetische Ordnung blieb unberührt, während Beria nicht mehr existierte. Er hatte niemals existiert. Genauso hatte man nach Chruschtschows Sturz in den Bibliotheken die Scheren klappern lassen müssen, um Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch aus den alten Exemplaren der Zeitschrift Nowy Mir zu eliminieren. Der sowjetische Machtapparat nahm sich ein Privileg heraus, das der Heilige Thomas von Aquin selbst Gott absprach: etwas Geschehenes ungeschehen zu machen; und nicht George Orwell, sondern Pjatakow, einem Wegbegleiter Lenins, verdanken wir folgenden außergewöhnlichen Satz: "Wenn die Partei es verlangt, ist ein wahrer Bolschewik bereit zu glauben, dass schwarz weiß ist und weiß schwarz." (Emmanuel Carrere: Limonow)


Cavelty, Gion Mathias: Endlich Nichtleser

  Es gab Zeiten in meinem Leben, da las ich mehrere hundert Seiten täglich. Es waren schreckliche Zeiten. Ich rasierte mich nicht mehr. Ich wusch mich nicht mehr. Meine Augen wurden immer kränker. Ich bekam einen Ausschlag am ganzen Körper. Und ich hatte immer nur das eine im Kopf: lesen. Das waren die Zeiten, als sich meine Eltern von mir abwandten. Und auch meine wenigen Freunde wollten nichts mehr mit mir zu tun haben. Ich war allein. Ich...und die verfluchten Bücher. Zu tausenden lagen sie in meinem Zimmer herum und hatten nur den eigen Wunsch: gelesen zu werden. Ich schmiss meinen Job. Ich verschuldete mich. Ich verliess mein Bett nicht mehr. Ich hatte mich auf kein spezielles Genre festgelegt. Ich las alles, was es gab. 328 Romane erscheinen weltweit Tag für Tag. Eine nicht zu bewältigende Menge. Doch ich wollte sie alle. Die dicken. Die dünnen. Die schweren. Die leichten. Das Aussehen spielte keine Rolle. Ja, ich war der Schlimmste von allen. Man hätte mich steinigen können, ich hätte nicht aufgehört zu lesen. Es wurde immer schlimmer. (Gion Mathias Cavelty: Endlich Nichtleser, S.8)


Cechov, Anton: Hymne auf Maupassant

  "Von allen modernen Schriftstellern lese ich übrigens ab und zu einzig Maupassant". Lysevic bewegte sich auf dem Diwan. "Ein wunderbarer Künstler! Ein furchtbarer, ungeheuerlicher, übernatürlicher Künstler!" Lysevic erhob sich vom Diwan und hielt die rechte Hand hoch. "Maupassant! Eine Seite von ihm gibt Ihnen mehr als alle Reichtümer der Erde! Jede Zeile, - ein neuer Horizont. Die weichsten und zärtlichsten Regungen der Seele wechseln mit starken, stürmischen Empfindungen; ihre Seele verwandelt asich, wie unter dem Druck von vierzigtausend Atmosphären, in ein winziges kleines Stückchen irgendeines Stoffes von unbestimmter rosiger Farbe, könnte man ihn auf die Zunge legen, würde man, glaube ich, einen herben, wollüstigen Geschmack verspüren. Was für tolle Übergänge, Motive, Melodien! Sie ruhen auf Maiglöckchen und Rosen, und plötzlich fliegt Ihnen ein furchtbarer, herrlicher, unwiderstehlicher Gedanke gleich einer Lokomotive entegegn, faucht Sie mit heißem Dampf an und betäubt Sie mit seinem Pfeifen. Lesen Sie, lesen Sie Maupassant! Meine Liebe, ich verlange es!" (Anton Cechov: Rothschilds Geige, Erzählungen, S. 98f.)


Cechov, Anton: Eine krankhafte Angewohnheit

  In der Stadt mochte man ihn trotz seiner scharfen Urteile und seiner Nervosität und nannte ihn hinter seinem Rücken zärtlich Vanja. Seine angeborene Feinfühligkeit, Hilfbereitschaft, Anständigkeit und moralische Sauberkeit, sein schäbiges Röckchen, das kränkliche Aussehen und die Unglücksfälle in der Familie erweckten gute, warme und wehmütige Gefühle; dazu war er sehr gebildet und belesen, er wußte nach Meinung der Städter alles und war in der Stadt so etwas wie ein wandelndes Lexikon. Er las sehr viel. Früher saß er oft im Klub, zupfte nervös an seinem Bärtchen und blätterte in Zeitschriften und Büchern; an seinem Gesicht sah man, daß er nicht einfach las, sondern alles geradezu verschlang und kaum Zeit hatte, es zu durchdenken. Man glaubte, das Lesen sei eine seiner krankhaften Angewohnheiten, weil er sich gierig auf alles stürzte, was ihm unter die Finger kam, sogar auf Zeitungen und Kalender aus dem Vorjahr. Bei sich zu Hause las er immer im Liegen. (Anton Cechov: Krankenzimmer Nr. 6, S. 13)


Cechov, Anton: Andrej Efimyc liest

  In dem angenehmen Gedanken, daß er Gott sei Dank schon seit langem keine Privatpraxis mehr hat und daß ihn keiner stören wird, setzt sich Andrej Efimyc, gleich wenn er nach Hause kommt, in seinem Arbeitszimmer an den Tisch und liest. Er liest sehr viel und immer mit großer Begeisterung. Die Hälfte seines Gehalts gibt er für Bücher aus, und von den sechs Zimmern seiner Wohnung sind drei voller Bücher und alter Zeitschriften. Am meisten schätzt er Werke über Geschichte und Philosophie; auf medizinischem Gebiet hat er nur die Zeitschrift "Vrac" abonniert, die er immer von hinten zu lesen beginnt. Die Lektüre zieht sich bei ihm jedesmal über einige Stunden hin, ohne Pause, und ermüdet ihn nicht. Er liest nicht so schnell und fahrig, wie es Ivan Dmitric tat, sondern langsam und aufmerksam, und er hält oft an Stellen inne, die ihm gefallen oder unklar sind. Neben dem Buch steht immer eine kleine Karaffe mit Vodka, und auf dem Tisch, nicht auf einem Teller, liegt eine Salzgurke oder ein eingemachter Apfel. Jede halbe Stunde schenkt er sich, ohne die Augen von dem Buch zu heben, ein Gläschen Vodka ein und trinkt es aus, dann tastete er, ohne aufzublicken, nach der Gurke und beißt ein Stückchen ab. (Anton Cechov: Krankenzimmer Nr. 6, S. 27)


Cechov, Anton: Egor Savvic

  Menschen, die das Leben nicht kennen, malen es sich für gewöhnlich nach Büchern aus, aber Egor Savvic kennt auch keine Bücher. Er hatte sich einmal vorgenommen, Gogol zu lesen, war aber schon nach der zweiten Seite eingeschlafen. (Anton Cechov: Gespräch eines Betrunkenen mit einem nüchternen Teufel. Erzählungen)


Cela, Camilio Jose: Inspiration

  Ein Jüngling mit Künstlermähne schmiedet Verse inmitten all des Lärms. Er ist entrückt und merkt nichts von dem, was um ihn herum vor sich geht. Das ist die einzig mögliche Art, schöne Gedichte zu machen. Wenn er rechts und links gucken würde, dann würde ihm die Inspiration entfliehen. Die Inspiration ist wohl so etwas wie ein blinder und tauber Schmetterling, der aber herrliche Farben hat. Wenn's nicht so wäre, könnte man vieles nicht erklären. (Camilio Jose Cela: Der Bienenkorb, S. 13)


Cela, Camilio Jose: Auf dem Klosett

  Luxuriöse Klosetts, deren Brille und Deckel elegant geschwungen sind, supermoderne niedrige Klospülungen, auf die man vielleicht sogar die Ellbogen stützen und einige Bücher aufstellen könnte, sogfältig ausgewählte und schön eingebundene: Hölderlins, Keats, Valery, für den Fall, daß eine Verstopfung etwas Zeitvertreib nötig macht. Ruben Dario und Mallarmé - vor allem Mallarmé! Was für eine Sauerei! (Camilio Jose Cela: Der Bienenkorb, S. 60)


Celati, Gianni: Glückliches Ende

  Er war über die letzte Seite eines Buches gebeugt, auf die er gerade einen Papierstreifen klebte. Jahre später ging seine große Bibliothek auf eine Nichte über; diese stöberte darin und glaubte schließlich herausgefunden zu haben, wie der alte Gelehrte den letzten Abschnitt seines Lebens verbracht hatte. Für diesen Mann mußten alle Erzählungen, Romane und Epen gut ausgehen. Offensichtlich duldete er bei keiner Geschichte einen tragischen, melancholischen oder deprimierenden Schluß. Deshalb hatte er sich im Laufe der Jahre damit befaßt, das Ende von etwa hundert Büchern in allen Sprachen neu zu schreiben. Indem er an den neu geschriebenen Stellen kleine Blättchen oder Papierstreifen in die Bücher einsetzte, veränderte er deren Schluß und ließ sie alle glücklich ausgehen. Viele seiner letzten Lebensjahre muß er darauf verwendet haben, das achte Kapitel des dritten Teils von Madame Bovary, das Kapitel, indem Emma stirbt, neu zu schreiben. In der neuen Version wird Emma gesund und versöhnt sich mit ihrem Mann. Seine allerletzte Arbeit ist aber der Papierstreifen, den er in der Hand hielt und, praktisch schon verhungert, noch auf die letzte Zeile eines russischen Romans in französischer Übersetzung kleben wollte. Dies ist vielleicht auch sein vollkommenstes Werk, denn hier hat er, indem er nur drei Wörter veränderte, eine Tragödie in eine gute Lebenslösung verwandelt. (Gianni Celati: Vorstellungen eines Erzählers vom glücklichen Ende)


Cermak, Ida: Unter dem Blickwinkel des Todes

  Er [Reinhold Schneider] hat die Stunden, die er in Schmerzen verbrachte, beschrieben. Vieles, was er gesehen hat, ist aus der Perspektive des Leidenden gesehen, der allein in seinem Zimmer bleibt: Die Tür zur Terasse ist geöffnet, Eichhörnchen finden den Weg vom Garten über den Balkon bis zu seiner Bettstatt, zur Nuß, die er vorbereitet hat. Er kennt den Laut der Vögel, er horcht auf ihren Flügelschlag. Seine Blicke gehen über die Bücher, die an den Wänden des Raumes angeordnet sind. Welche dieser Bücher, fragt er sich, wird er noch einmal aufschlagen, welche sind bereits fern entrückt in den Schatten, in das Vergessen? Das Leid ist eine unsichtbare Wand, die ihn trennt von dem, was anderen wichtig ist. So begnügt er sich damit, sich erinnern zu erinnern, was hinter den mattschimmernden Bücherrücken früher einmal auf ihn gewartet hat und jetzt so fern liegt; nur weniges bleibt, das aber erhält ein besonderes Gewicht. Alles betrachtet er unter dem Blickwinkel des Todes, eines nicht gefürchteten, sondern ersehnten Todes. (Ida Cermak: Ich klage nicht. Begegnungen mit der Krankheit in Selbstzeugnissen schöpferischer Menschen, S. 31)


Chaucer, Geoffrey: Lob seiner Bücher

  Obgleich mein Wissen stets recht klein gewesen,
Hab ich doch Bücher immer gern gelesen.
Ich schenke ihnen Glauben und Vertrauen,
Kann achtungsvoll und freudig auf sie bauen,
Daß ich kaum ein Vergnügen nennen könnte,
Das mich von meinen Büchern jemals trennte,
Es sei vielleicht an einem Feiertag,
Im schönen Mai auch, wo's geschehen mag.
[Geoffrey Chaucer: Canterbury Tales]


Chaucer, Geoffrey: Wir Büchermenschen

Selbst von Nachbarn, die Du fast
Zunächst der Haustür wohnen hast,
Hörst du nicht dies noch das; denn ist,
Dein Tagewerk vollbracht und bist
Mit Deinem Rechnen fertig Du,
Suchst Du Zerstreung nicht, noch Ruh;
Nein, gehst zu Haus, und wie ein Stein
Sitzes Du stumm für Dich allein
Und nimmst ein andres Buch zur Hand
Und trübst dir Augen und Verstand,
Lebst wie ein Klausner, hältst du gern
Dich auch vom strengen Fasten fern.
[Geoffrey Chaucer: Das Haus der Fama]


Cheever, John: Briefstil

  Briefstil des Verfassers (schrieb Leander) in der Tradition von Lord Timothy Dexter, der alle Satzzeichen, Präpositionen, Adverbien, Artikel usw. an den Schluß seiner Schriften setzte und den Leser aufforderte, sie so zu verteilen, wie er es für richtig hielt. (John Cheever: Die Geschichte der Wapshots, S. 123)


Chesterton, Gilbert Keith: Was schlechte Literatur kann

  Aus einem Grund wenigstens ist es lohnender, schlechte Literatur zu lesen als gute. Gute Literatur kann uns vom Denken und Fühlen vieler Menschen erzählen. Ein guter Roman erzählt die Wahrheit über seinen Helden, ein schlechter hingegen die Wahrheit über seine Leser; und seltsamerweise erzählt er all das um so besser, je zynischer und unmoralischer das Motiv für seine Verfertigung ist. Je unehrlicher ein Buch als Buch, desto ehrlicher ist es als öffentliches Dokument. (Gilbert Keith Chesterton: Ketzer. Ein Plädoyer gegen die Gleichgültigkeit, S. 171)


Chorherr: Bibliothek und Kulturbegriff

  Professor S. hat [...] einige Male erwähnt, daß Umberto Ecos Bestseller "Der Name der Rose" vor allem in einer Klosterbibliothek spielt. Sie geht am Ende in Flammen auf und mit ihr das ganze Kloster. Nun gebe ich zu, daß ich nichts von Bestsellerlisten halte und der Meinung bin, sie würden zumeist, jedenfalls bei uns, mit Absicht zusammengestellt, etlichen Büchern, denen es an Publikumserfolg mangelt, wenigstens einen entsprechenden Verkaufserfolg zu verschaffen. Daß dies beim ersten Eco-Roman nicht der Fall war, könnte man nebst anderen Gründen auch als einen positiven Ausdruck des Kulturempfindens interpretieren. Mit der Bibliothek gehen das Kloster und alles das, was mit ihm als Kulturbegriff zusammenhängt, in Flammen auf. Oder, anders gesagt: Wer Bücher verbrennt, verbrennt Kultur.

  Aber irre sind die Menschen gewesen, seit die Bibliothek von Alexandrien in Brand gesteckt worden ist. Der blutrote Faden zieht sich herauf bis zum Balkankrieg von 1996 und den brennenden Bibliotheken in Bosnien. Wir sind nicht nur unterwegs in einen neuen Analphabetismus. In dem Buch "Fahrenheit 451" von Ray Bradbury wird ein Land geschildert, in dem der Besitz von Büchern verboten ist. Die Menschen lernen den Inhalt der Bücher auswendig und geben ihn gleichsam von Ohr zu Ohr weiter. Dem steht die Tatsache gegenüber, daß es Bibliotheken schon bei den alten Ägyptern gegeben haben soll. Das heißt also, daß die kulturelle Institution, der wir die Bibliothek ohne Frage - wirklich ohne Frage - zuordnen könne, seit der Zeit existiert, da man die Begriffe Menschheit und Kultur miteinander in Zusammenhang bringen konnte.


Cincius Romanus: Besuch in St. Gallen

  Als wir den Turm neben der St. Galluskirche besichtigten, in dem unzählige Bücher wie Gefangene eingesperrt sind, und wir diese von Staub, Schmutz, Würmern und allen sonstigen Begleiterscheinungen des Bücherzerfalls jammervoll zugerichtete Bibliothek sahen, brachen wir alle in Tränen aus (. . .) Wahrlich, könnte diese Bibliothek für sich selbst sprechen, sie würde laut rufen: "Ihr Männer, die ihr die lateinische Sprache so liebt, lasst mich nicht in solch sträflicher Vernachlässigung völlig zugrunde gehen!" (Cincius Romanus: Besuch in St. Gallen)


Claus, Hugo: Büchertürme

  Er stemmte die Schulter gegen eine klemmende Tür. "Voilà. Sie kennen die Abmachung. Kein Mucks. Mucksmäuschenstill." Die beiden stillen Mäuschen, kein Mucks!, nickten. "Nicht mal husten!" "Versteht sich", sagte Papa. Er fiel der Länge nach in einen Bücherstapel und riss Louis mit. Sie hörten, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte. Der Raum lag in dem fahlen Licht, das durch eine Kellerluke fiel. Ein überarbeiteter, wahnsinniger Bibliothekar hatte tagelang Hunderte, Tausende Bücher durcheinandergeworfen. Der Fußboden bestand aus einem Hügel kreuz und quer aufgetürmter Bücher, die hier hineingeschmissen oder mit einer Riesenschaufel wie Kohlen durch die Kellerluke gekippt worden waren. Das konnte nicht sein, denn an einer Wand waren sie bis an die Decke gestapelt, der stapelnde Gefangene war dann geflohen und die Büchertürme waren eingestürzt. Papa rappelte sich auf und setzte sich auf einen Haufen wörterbuchartiger, rotlederner Bände, Werke von Heinrich Heine. Er knipste eine Taschenlampe an. Louis sollte alle in Leder gebundenen und mit Illustrationen versehenen Bücher auf einen Stapel legen. Bei gesammelten Werken musste er sämtliche Bände zusammensuchen. "Wenn sie nicht komplett sind, sind sie keinen Franc wert. Und am besten französische Bücher, dafür habe ich mehr Kunden, es ist menschenunwürdig, aber da, wo das Geld steckt, lesen die Leute französisch." (Hugo Claus: Der Kummer von Belgien)


Collins, Wilkie: Deklamationen

  Ich habe bisher unbegreiflicherweise versäumt, eines der größten Talente des Reverend Finch zu erwähnen: Er beherrschte meisterlich jene Form der Menschenquälerei, die man Vorlesen nennt, und verübte diese Kunst bei jeder nur möglichen Gelegenheit im trauten Familienkreis. Was wir dabei erduldeten, ist nicht zu schildern. Es genügt, wenn ich versichere, daß der Pfarrer selbst keinen größeren Genuß kannte, als sich reden zu hören. Wenn dieser Drang ihn überkam, gab es kein Ausweichen. Häufig verschaffte er sich unter fadenscheinigen Vorwänden auch bei Lucilla und mir Eintritt, das Buch auf dem Rücken, trieb uns an eine Wand des Salons, setzte sich an die andere und eröffnete erbarmungslos das Trommelfeuer seiner Deklamationen auf uns - stundenlang. Manchmal las er uns Shakespeare und Milton vor, manchmal die Parlamentsreden Burkes oder Sheridans. Es war ganz gleichgültig, welchen Text er gerade vorhatte; er las alles mit demselben dröhnenden Pathos, spielte sich so in den Vordergrund und drängte die jeweiligen Dichter oder Politiker dermaßen in den Hintergrund, daß sie jede Spur ihrer Eigenpersönlichkeit verloren und zu Karikaturen Mr. Finchs wurden.


Compton-Burnett, Ivy: Verbotenes

  "Haben Sie letzthin irgend etwas Interessantes gelesen, Gregory" sagte Geraldine. "Nein. Es ist mir nichts Verfängliches in die Hände gefallen. Und ich bin zu jung, um nur das zu lesen, was für mich paßt. Bücher, die ich nicht vor meiner Mutter verstecken muß, interessieren mich nicht." (Ivy Compton-Burnett: Männer und Frauen, S. 37)


Compton-Burnett, Ivy: Büchertalk

  "Ich gehöre wohl zu den Leuten, die zu anspruchslos sind. Man sagt mir, ich verlöre mich gern in Büchern, und sich so verlieren können beweist, daß man sich selbst nicht besonders wichtig nimmt." "Oh, ich gestehe, an dieser Art von Selbstverleugnung zu leiden", sagte Geraldine. "Das muß auch ich gestehen, Miss Dabis", sagte Mrs. Christy, mit einem Blick zu Harriet. "Instinktiv und fast wie unter einem Zwang neige ich dazu, mich in die Meister vergangener Tage zu versenken, besonders solche, denen ich mich geistig verwandt fühle. Ich finde, wir schulden den Geistern, die uns die Vergangenheit klar sehen lassen, unendlich viel." "Eine Stunde mit einem guten Buch", murmelte Gregory. (Ivy Compton-Burnett: Männer und Frauen, S. 112f.)


Conservations-Lexikon: Lautes Lesen

  Das laute Lesen ist eine von den Aerzten sehr empfohlene Art der Bewegung. Besonders ist es, sowie das Sprechen, für die Erhaltung der Gesundheit derjenigen sehr vortheilhaft, welche zu andern Arten von körperlichen Bewegungen nicht die gehörige Zeit und Gelegenheit haben. Indessen ist ein sehr lautes Sprechen oder sonstiges Anstrengen der Stimme unmittelbar nach dem Essen, sowohl für die Lungen, als für die Verdauungswerkzeuge schädlich. (Conservations- Lexikon für alle Stände. Leipzig/Stuttgart: J. Scheible, 1834; S. 281)


Zizou Corder: Das Buch hüstelte

  "Entschuldigung", sagte das Buch. Noch eine Geschichte! Toller Anfang. Ich überlegte, ob ich mich aufsetzen sollte, um das Buch zu ermutigen, doch ich entschied mich dagegen. Als würde es das Buch interessieren, wie ich dasaß! Entweder war es ein neumodisches Gerät - elektronischer Schnickschnack aus einer reicheren Welt als meiner, irgendein auf alt gemachtes E-Book. Oder es war, na ja, ein Wunder. Ein Buch mit magischen Kräften. So oder so, und ehrlich gesagt wußte ich tief im Innern, daß es kein E-Book war - dem Buch würde es völlig egal sein, wie ich dasaß. Das Buch hüstelte. Jetzt war ich verwirrt. Ich wußte, daß ein Buch mit "Entschuldigung" anfangen konnte - vielleicht gefolgt von "sagte der dicke Mann spöttisch, während er seine weiße Katze streichelte" oder "krächzte die Gräfin, und da wußte Murdoch, der Wunderdieb, daß das Spiel vorbei war..." oder... Na ja, jedenfalls konnte eine Geschichte mit "Entschuldigung" anfangen. Aber ich konnte mir kaum vorstellen, daß eine Geschichte mit "Entschuldigung" anfing, und dann kam ein Hüsteln. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß irgendwer wußte, wie man ein Hüsteln schrieb. Es würde heißen: "Die Gräfin hüstelte" - oder? Ich wußte zwar nicht viel über das Schreiben, woher auch, aber das schien mir doch irgendwie... Das Buch hüstelte wieder, und dann sagte es: "Äh... möchtest du noch eine Geschichte hören?" Das war mit Sicherheit nicht der Anfang einer Geschichte. Das war eine Einladung. Ein Angebot. Es war eine Unterhaltung. Das Buch sagte: "Wenn du noch eine Geschichte hören möchtest, erzähle ich dir gerne noch eine, aber falls nicht, wäre ich dir sehr verbunden, wenn du mich wieder schließen könntest." Hastig setzte ich mich auf. Ein bißchen zu hastig. Das Buch fiel von meiner Brust auf den Boden. Es sagte: "Au." Und dann fluchte ich. Ich fluchte gepfeffert. Und das Buch sagte: "Sapperlot." Wie ein Dorfpastor aus einem alten Film. "Tut mir leid", sagte ich. "Nicht doch", sagte es, "woher denn. Ich bin tief beeindruckt. Welch ein Wortschaft. Könntest du mich jetzt bitte wieder aufheben?" Und ich dachte: Ich spreche mit einem Buch, und das Buch spricht mit mir. Heute Abend mußte in der Kanalisation etwas sehr Starkes in der Luft sein. Vielleicht die Drogen aus den Diskotheken in Soho... Vielleicht... Aber es kam mir alles so echt vor. Ich hob das Buch auf. Klopfte es behutsam ab. "Danke", sagte es. Mein Mund stand offen, doch es kam kein Wort mehr raus. (Zizou Corder: Lee Raven, S. 88)


Corso, Gregory: Spion des Menschen

  Als ich durch Europa reiste, schleppte ich einen Koffer, mit 50 Gedichten und Unterwäsche drin, herum. Wenn ich am Zoll den Koffer öffnen musste, war das Einzige, was die Zöllner sahen, Gedichte, Gedichte, Gedichte. Nur ein Diplomat reist mit soviel Papier herum. Natürlich hielt mich niemand für einen Diplomaten. Was konnte ich also anderes sein, als ein Spion oder ein Dichter, oder beides zusammen. Auch Dichter sind Spione, keine politischen, sondern Spione für jedermann. Der Dichter John Keats behauptete, er sei Gottes Spion. Ich glaube an den Menschen, das macht mich zum Spion der Menschen.


Cortazar, Julio: Das Leben eben

  Gerade erklärte er ihr, daß er schon gerne läse, aber daß die viele Arbeit für die Schule... Was? Mußte man für die Schule denn nicht lesen? Ja, natürlich liest man, aber nur Schulbücher oder das, was man mitgeschrieben hat. Nichts, was man ein Buch nennen könnte, wie etwas einen Roman von Somerset Maugham oder von Erico Verissimo. Nun, eins war mal sicher, er war nicht wie ein paar von seinen Schulkameraden, die schon mit Brillen herumliefen, weil sie so viel lasen. Das Leben vor allem! Das Leben? Was für ein Leben? Nun, eben das Leben: ausgehen, Dinge sehen, reisen so wie jetzt, Leute kennenlernen... Ihr Lehrer Peralta sage ihnen immer, sdas einzig Wichtige sei die Erfahrung. (Julio Cortazar: Die Gewinner: S. 153f.)


Cortazar, Julio: Eine neue Literatur

  "In drei Tagen werde ich eine skandinavische Göttin sein", sagte Paula. "Ich freue mich, daß du gekommen bist, denn ich habe das Bedürfnis über Literatur zu reden. Seit wir unterwegs sind, haben wir uns nicht über Literatur unterhalten, und das ist kein Leben." "Schieß los", sagte Raul und fügte sich in sein Los, ohne ganz bei der Sache zu sein. "Neue Theorien?" "Nein, neue Beunruhigungen. Mit mir geschieht etwas ziemlich Unheimliches, Raulito, und zwar je besser das Buch ist, das ich lese, desto mehr stößt es mich ab. Ich meine, seine literarische Qualität stößt mich ab, genauer gesagt, die Literatur stößt mich ab." "Dem läßt sich einfach abhelfen, indem du aufhörst zu lesen." "Nein, denn hier und da stoße ich auf ein Buch, das zwar nicht zur großen Literatur zählt, das mich aber trotzdem nicht anekelt. Ich ahne langsam, warum: weil der Autor auf Effekte und formale Schönheit verzichtet hat, ohne darum gleich in einen journalistischen Tonfall oder den Stil einer knochentrockenen Abhandlung zu verfallen. Es ist schwer zu erklären; ich verstehe es selbst nicht genau. Ich glaube, wie müssen auf einen neuen Stil hinarbeiten, den wir, wenn du so willst, weiterhin Literatur nennen könnten, obwohl es richtiger wäre, ihm statt dessen irgendeinen anderen Namen zu geben. Dieser neue Stil kann nur aus einer neuen Sicht der Welt erwachsen. Aber wenn er eines Tages erreicht ist, wie blödsinnig werden uns dann die Romane vorkommen, die wir heute bewundern, die nur so wimmeln von billigen Kunstgriffen, von Kapiteln und Unterkapiteln mit wohlberechneten Anfängen und Schlüssen." "Du gehörst zur Gilde der Lyriker", sagte Raul, "und alle Lyriker sind schon per definitionem Feinde der Literatur. Aber wir gewöhnlichen Sterblichen finden ein Kapitel von Henry James oder Juan Carlos Onetti, die zum Glück für uns nichts von Lyrikern an sich haben, noch immer wundervoll. Im Grunde wurfst du den Romanen vor, daß sie dich an der Nase herumführen, oder vielmehr, daß ihr Wirkung auf den Leser von außen nach innen geht und nicht umgekehrt wie in der Lyrik. Aber warum stört dich der Anteil des Konstruierten und Ausgeklügelten dabei, wenn du es doch bei Picasso oder bei Alban Berg so gut findest?" (Julio Cortazar: Die Gewinner: S. 233f.)


Cortazar, Julio: Nur für sich schreiben

  Ich schreibe gern, nur für mich; ich habe einen ganzen Packen Hefte, Gedichte und sogar einen Roman, aber am liebsten schreibe ich, um zu schreiben, und wenn ich aufhöre, dann ist es so, wie wenn man sich nach der Liebe zur Seite rollt, in den Schlaf sinkt, und am nächsten Tag gibt es neue Dinge, die ans Fenster klopfen, eben das ist Schreiben, die Fensterläden öffnen und die Dinge hereinkommen lassen, ein Heft nach dem anderen füllen; ich arbeite in einer Klinik und lege keinen Wert darauf, daß man liest, was ich schreibe, weder Flora noch sonst jemand; ich freue mich immer, wenn ein Heft voll ist, denn dann ist mir, als hätte ich es schon veröffentlicht, aber es würde mir nie einfallen, es tatsächlich zu veröffentlichen. (Julio Cortazar: Alle lieben Glenda, S. 71)


Crace, Jim: Eine wilde Macht

  Ich bin zwar der Schöpfer der Bücher, aber kein kaltblütiger Erfinder, der das, was er macht, kontrolliert und beherrscht. Die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, ist sehr alt und intuitiv. Wenn man intuitiv schreibt, ist die Kontrolle nicht total. Ich benutze gerne das Bild eines kleinen Jungen, der einen Drachen auf einem Hügel steigen lässt. Man sieht, wie der Junge den Drachen lenkt und er macht das gut, schreibt seinen Namen in den Himmel, lässt ihn Schleifen fliegen. Aber es wäre sehr dumm zu glauben, der Junge könnte den Drachen steigen lassen, wenn es keinen Wind gäbe und genauso dumm wäre es, wenn man glaubte, der Junge würde den Wind kontrollieren oder der Wind würde den Jungen kontrollieren. Das Geschichtenschreiben ist für mich. Es gibt eine wilde intuitive Macht, das ist die Macht der Erzählens und die gibt es bereits seit vielen tausend Jahren. In meiner schrecklichen Metapher ist das der Wind. Und dann gibt es den Künstler - das ist der kleine Junge, der den Drachen fliegen lässt und zwischen diesen beiden Mächten, der kontrollierenden des Jungen und der wilden des Windes steht der Drache. Er ist der Roman, er vermittelt zwischen beiden Mächten. Sicherlich bin ich der Schiedsrichter, treffe ich die Entscheidungen, aber ein Buch, das sich nicht dieser wilden Kraft überlässt, wird niemals vom Boden abheben.


Csikszentmihalyi, Mihaly: Lesen und Flow

  Im Rahmen einer großangelegten Untersuchung in Deutschland stellte man fest: Je mehr die Befragten berichteten, sie läsen Bücher, desto mehr flow erlebten sie nach eigenem Bekunden, wobei sich der entgegengesetzte Trend für das Fernsehen ergab. Über besonders viel flow bericheten die Personen, die viel lasen und wenig fernsahen, über besonders wenig diejenigen, die selten lasen und oft fernsahen. (Mihaly Csikszentmihalyi: Lebe gut! S. 93f.)


Cunningham, Michael: Wenn Schwangere lesen

  Sie stößt eine dicke graue Rauchwolke aus. Sie ist so müde. Sie war bis nach zwei auf, hat gelesen. Sie faßt sich an den Bauch - schadet es dem Baby, wenn sie so wenig schläft? Sie hat den Arzt nicht danach gefragt; sie hat Angst, daß er sie auffordern könnte, das Lesen gänzlich einzustellen. Sie nimmt sich fest vor, heute nacht nicht so lange zu lesen. Um Mitternacht wird sie schlafen, spätestens. (Michael Cunnigham: Die Stunden, S. 52)


Cunnigham, Michael: Nur eine Seite

  Eine Seite, beschließt sie; nur eine. Sie ist noch nicht bereit; die Aufgaben, die vor ihr liegen (den Morgenmantel anziehen, die Haare bürsten, hinunter in die Küche gehen), sind noch zu nichtig, zu unbestimmt. Einen kurzen Moment wird sie sich hier, im Bett, noch gönnen, bevor sie sich dem Tag stellt. (Michael Cunnigham: Die Stunden, S. 45)


Cunnigham, Michael: Eine andere Welt

  Sie atmet tief ein. Es ist so wunderschön; es ist soviel mehr als... nun ja, als fast alles eigentlich. In einer anderen Welt hätte sie ihr ganzes Leben lang nur gelesen. Aber das hier ist eine neue Welt, die errettete Welt - hier ist nicht viel Platz für Müßiggang. So viel ist aufs Spiel gesetzt und verloren worden, so viele sind gestorben. (Michael Cunnigham: Die Stunden, S. 43)


Cunnigham, Michael: Das vordringlichste Tagewerk

  Sie wußte, daß es ihr schwerfallen würde, an sich zu glauben, an die Zimmer in ihrem Haus, und als ihr Blick auf das neue Buch auf ihrem Nachttisch fiel, das über dem lag, das sie gestern nacht ausgelesen hatte, griff sie unwillkürlich danach, als sei Lesen das eigentliche und vordringlichste Tagewerk, die einzige Möglichkeit, den Übergang vom Schlaf zur Pflicht zu schaffen. Weil sie schwanger ist, darf sie sich diese Nachlässigkeit erlauben. Sie darf derzeit unmäßig lesen, im Bett herumtrödeln, wegen Nichtigkeiten weinen oder wütend werden. (Michael Cunnigham: Die Stunden, S. 42)


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