Bibliomanische FAB  / [K2]


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Klein, Georg: Koeppen

 Meine Mutter war eine leidenschaftliche, aber auch wilde Leserin. Sie hatte keine höhere Schulbildung, trug jedoch an Büchern nachhause, was sie kriegen konnte. Wir lasen kreuz und quer Romane jeder Couleur. Ich weiß noch, Koeppen kam aus der Arbeitstasche meines Onkels Karl. Der war Elektriker und bekam vom Pförtner einer Druckerei, in der er oft zu tun hatte, Fehldrucke zugesteckt. Dieser Onkel, der um das Lesefieber bei uns wusste, stemmte seine Tasche immer auf den Küchentisch und sagte: "Schaut mal, ob für Euch was dabei ist". Für mich war eben Koeppen dabei. In der Lektüre hat er mich zu Anfang vollkommen überfordert. Schon die ersten Seiten waren gespickt mit griechischer Mythologie, dieser Bildungshorizont ließ sich zunächst nicht ausmessen. Aber ich wusste, ich muss darüber weglesen, um zu den schlüpfrigen Stellen zu kommen, auf die ich insgeheim wartete.


Klein, Georg: Literarischer Kanon (1)

  Der Kanon (...) - in seinem Kern ist er etwas weit Ärgeres, er ist eine jener ganz schlimmen Sachen, die sicherheitshalber einen in die Irre führenden Namen tragen. Um den literarischen Kanon zu verstehen, hilft es, ihn mit zwei Scheuklappen zu vergleichen. Wie diese ist er eine Vorrichtung, die zum Tunnelblick führt und ein gleichmäßiges Dahintrotten befördert. Die Scheuklappen machen das Pferd zur Mähre. Der Kanon verwandelt das Abschweifen, das spielerische Verharren, die Bocksprünge unserer Lektürewahl in einen zwanghaft steten Prozess. Der Kanon ist eine selbstgewählte Fron, die man von Buch zu Buch schreitend hinter sich bringt.


Klein, Georg: Literarischer Kanon (2)

  Warum nur sehnen wir Leser uns nach so etwas? Oder besser gefragt: Was muss unserem Lesevermögen, unserer Leserschaft zugestoßen sein, dass wir nach einer Erlösung durch Scheuklappen verlangen? Warum laufen wir Gefahr, dieser dogmatischen Versuchung nachzugeben? Haben wir nicht von unseren ersten Lesetagen an geahnt, dass es unendlich viele Bücher gibt? Und schien uns diese Unermesslichkeit nicht lange Zeit ein Glück? War uns das närrische Nebeneinander von großartigen und miserablen Werken, wie es jede Buchhandlung darbietet, lange Zeit nicht gerade recht? Wie ist aus dem Entzücken über den wunderbar-wüsten Überfluss die Klage über ein Zuviel geworden? Unsere Sehnsucht nach dem Kanon zeugt auf verräterische Weise davon, dass auch unser Lesevermögen einem Alterungsprozess unterworfen ist. Noch wollen wir lesen, aber das Gelesen-Haben- Wollen greift langsam um sich. Und irgendwann droht uns die Fülle der Literatur vom Objekt der Begierde zum Quell einer Angst zu werden. Vielleicht ist es eine Todesangst. Die Angst vor dem Tod unserer Fantasie. Die Poesie ist ewig, aber unsere Phantasie kann kränkeln, ja sterbenskrank werden. Ach, jedem wahren Leser, jeder wahren Leserin sollte erspart bleiben, aus einem solchen Siechtum der Fantasie in einen Tod zu Lebzeiten - in den Kanon! - flüchten zu müssen.


Klein, Georg: Zu Verbrennen

  Die Bücher, die ich Ihnen zu verbrennen rate, fallen ja keinem Gewaltregime zum Opfer und landen nicht bündelweise auf kollektiven Scheiterhaufen. Im Gegenteil: Jedes geht vereinzelt und gemäß Ihrer intimen Entscheidung den Weg ins Feuer. Gewiss fällt Ihnen gleich der eine oder andere Kandidat für diesen Flammentod ein. Das tintenfleckige Reclam-Heftchen, schon zu Schulzeiten ungeliebt - hat es nicht seit Jahren die Einäscherung verdient? Der nie gelesene Irrläufer, aus dem Bücherbestand eines verflossenen Lebensteilzeitbegleiters in Ihr Regal geraten - muss er Sie partout weiterhin an Liebesmissgeschick und Trennungsleid erinnern? Erlösen Sie die beiden aus einer Existenz, die diesen Büchern vielleicht selbst hochpeinlich ist! Und dann stehen da noch, Rücken an Rücken, die vielen Romane, denen die erste Lektüre sogleich jedes Mark ausgesogen hat. Leider Gottes sind die meisten Bücher so beschaffen, dass sie den einmaligen Zusammenstoß mit einer vitalen Leserin, mit einem starken Leser nicht überleben. Warum sollen die Opfer dieser Verkehrsunfälle in Ihrem Wohnzimmer ewig auf eine Wiederbeatmung warten? Vielleicht besitzen Sie einen Kaminofen. Oder Sie grillen gelegentlich im eigenen oder in einem fremden Garten. Sogar auf freier, feuchter Wiese dürfen Sie ein zentralheizungsgedörrtes Taschenbuch abfackeln, ohne sich gleich als Barbar fühlen zu müssen. Behalten Sie nur, was Sie zu einer erneuten Lektüre verlocken könnte! Und selbst diese Bücher - auch die von mir verfassten - sollten eines fernen Tages jüngeren Schreibwerken Platz machen. Gerade die Langgeliebten gehen dann ohne Klage. Denn wenn sie wirklich wahr und groß und gut gewesen sind, steht ihnen sogar das Verlangen nach Vergänglichkeit und damit die Sehnsucht nach dem erlösenden Feuer ins papierene Herz geschrieben.


Klima, Ivan: Macht der Literatur

  Vor dem Tod fürchtete ich mich jedoch sehr, ich fürchtete mich so sehr, daß ich nicht einmal in den Spiegel zu schauen wagte. So verbrachte ich Wochen in diesem Bannkreis, bis meine Mutter mir einmal die drei Bände von "Krieg und Frieden" brachte; sie legte sie auf das Tischchen neben dem Kanapee und verbot mir, sie selbst zur Hand zu nehmen, sie seien zu schwer. Ich war wirklich geschwächt, aber als Mutter mir den ersten Band gereicht hatte, stützte ich ihn gegen die Knie und las im Liegen. So geriet ich allmählich in einer andere Gesellschaft. Manchmal dachte ich daran, daß auch die Menschen, von denen ich las, schon tot waren und auch dann hätten sterben müssen, wenn der Tod sie auf den Buchseiten nicht ereilt hätte. Doch obwohl sie tot waren, lebten sie. Und ich wurde mir der seltsamen Macht der Literatur oder überhaupt der menschlichen Phantasie bewußt: der Macht, auch die Toten leben und die Lebenden nicht sterben zu lassen. Ich staunte über dieses Wunder, über die magische Macht des Schriftstellers, und in mir begann sich der Wunsch zu regen, etwas Ähnliches schaffen zu können. (Ivan Klima: Liebe und Müll, S. 42f.)


Klinger, Friedrich Maximilian: Faust

  Vernehmt nun die Veranlassung zu dem Feste, das ich heute mit euch feiern will. Faust, ein kühner Sterblicher, der gleich uns mit dem Ewigen hadert, und durch die Kraft seines Geistes würdig werden kann, die Hölle einst mit uns zu bewohnen, hat die Kunst erfunden, die Bücher, das gefährliche Spielzeug der Menschen, die Fortpflanzer des Wahnsinns, der lrrtümer, der Lügen und Greuel, die Quelle des Stolzes, und die Mutter peinlicher Zweifel, auf eine leichte Art tausend und tausendmal zu vervielfältigen. Bisher waren sie zu kostbar, und nur in den Händen der Reichen, blähten nur diese mit Wahn auf, und zogen sie von der Einfalt und Demut ab, die der Ewige zu ihrem Glück in ihr Herz gelegt hat, und die er von ihnen fordert. Triumph! bald wird sich das gefährliche Gift des Wissens und Forschens allen Ständen mitteilen! Wahnwitz, Zweifel, Unruhe und neue Bedürfnisse werden sich ausbreiten, und ich zweifle, ob mein ungeheures Reich sie alle fassen möge, die sich durch dieses reizende Gift hinrichten werden. (Friedrich Maximilian Klinger: Faust's Leben, Thaten und Höllenfahrt)


Klüger, Ruth: Orange County

  Orange County behandelt die Vergangenheit so mißtrauisch wie die Ausländer und die Fremdsprachen, und ebenso sorgfältig pflegt es sein knowhow in Sachen Elektronik und Sport. Die Leute sind weder dumm noch uninformiert, man liest, aber keine Bücher, sondern Zeitungen und Zeitschriften, Wegwerfbares. Und wenn Bücher, dann die billigen Paperbacks, die es in den Supermärkten gibt. Auch diese wegwerfbar. In den Wohnungen und Häusern sieht man selten ein volles Bücherregal. Meist stehen ein paar Bücher neben Vasen und Nippessachen. Eine Privatbibliothek kommt den Kaliforniern wie ein Antiquariat vor. Und den Südkaliforniern, die Antiquariate kaum kennen, wie eine unhygienische Ansammlung von Altpapier. (Ruth Klüger: Weiter leben)


Kluge, Alexander: Landkarten menschlicher Erfahrungen

  Bücher, das ist für mich nicht das bedrucktes Papier. Sie sind Landkarten menschlicher Erfahrung. Für mich selbst sind Bücher die Verbindung zu Autoren, zu deren Texten ich Vertrauen habe (...) Das ist wie ein zweites Gemeinwesen. In einer Zeit, in der wir nicht wissen, wie rißfest die Wirklichkeiten sind, sind Netzwerke über 2000 Jahre, wie sie die Bücher darstellen, kein Luxus, kein Freizeitbedarf, sondern notwendiges Überlebensmittel. Es ist diese Vertrauenswürdigkeit, wegen der ich die Bücher allen anderen Medien vorziehe. (...) Einen Leser stelle ich mir bildlich in der Dämmerung unter einer Lampe sitzend vor, allein lesend. Zwei Intimitäten, die des Autors, die des Lesers, korrespondieren miteinander. Ihr Thema heißt: gemeinsame Erfahrung. So bilden sie (mit vielen anderen) die Öffentlichkeit der Bücher: Ich bin allein, aber ich bin nicht wirklich allein.


Kluge, Alexander: Netzwerk Bücher

  Bücher sind weder Schonkost, noch sind sie Trostmittel. Aber ihr Netzwerk tröstet. Vor seinem Tod kaufte Heiner Müller, seine erste Operation hatte er hinter sich, ich bin sicher, daß er wußte, daß er nicht mehr lange leben wird, in Kalifornien ein seltsames Buch: eine Übersetzung von Ovids Metamorphosen aus dem Lateinischen übersetzt in englische Blankverse, etwa 300 Jahre alt. Dieses Buch führte er zuletzt immer mit sich und eigentlich sollte eine Serie von Theaterstücken aus dieser Wurzel entstehen. Solche Bündnisse über die Zeiten bilden die Mehrheit, an die in unserer zweiten "Welt der Nacherzählung" ich innig glaube, weshalb ich Bücher für eine Gottesgabe halte und für die Schlüssel zu einer Öffentlichkeit, an der wir, möglicherweise ohne es zu wissen, längst gemeinsam arbeiten.


Knoche, Michael: Relikt oder Hort?

  Zu welchem eigentlichen Zweck werden die Bücherinstitute aus einer anderen Zeit weiterbetrieben? "Bibliotheken sind das Gedächtnis der Menschheit", hat Leibniz gesagt. Bibliotheken sichern das Material für den Prozess unserer kulturellen Selbstverständigung. Eine Gesellschaft, die über die Grundlagen ihres Zusammenlebens immer wieder einen Konsens herstellen muss, braucht ein funktionierendes Reservoir der geistigen Überlieferung. Die Bücher in der Bibliothek – Inhalt, äußere Gestalt und Schicksal zusammengenommen – repräsentieren die wirkungsmächtigen Hauptstrecken der Tradition, aber auch ihre vergessenen Irr- und Umwege, also die kanonisierten und ausgegrenzten Linien gleichermaßen. Jede alte Bibliothek bewahrt etwas auf, was in keiner anderen zu finden ist. Je weiter man in die Geschichte zurückgeht, umso unähnlicher werden die Bibliotheken in ihren Beständen. Deshalb ist jede Bibliothek mit historischen Beständen von Wichtigkeit für das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft. Jede Epoche aktiviert sie in neuer Weise. (Michael Knoche)


Koch, Michael: Autor, Leser, Kritiker

  Ich denke ja immer noch, dass ich nur ein gutes Buch schreiben kann, wenn ich massiv auf Gedankenstromtechnik zurückgreife. Wortwitz ist, zusammen mit Sprachrhythmus, bei dieser Technik wichtiger als alles andere. Der Leser muss in den Strom hineingezogen werden, muss reinkommen in das eigene Denken, muss das Gefühl bekommen, dass er vorausahnen kann, was vom Autor vorgedacht wurde, wird dann aber wieder durch einen unerwarteten Kommentar überrascht und somit noch stärker an den Strom gebunden, der für den Leser als Leitfaden durch das Denken des Autors dient. Die Handlung ist dabei irrelevant und bildet lediglich den Rahmen in dem die Sichtweise des Autors offenbart wird. [x]

  Ein Autor hat es ja immer leicht. Veröffentlicht er erstmal sein Werk, so wird die Hauptarbeit, nämlich die Auslegung des Textes, von Horden von Literaturrezensenten übernommen. Sie übertragen den Text auf die heutige Zeit, den Nationalsozialismus oder nach Tibet. Und in jedem Stück Text kann man tagesaktuelle, geschichts- und gesellschaftskritische Stellen entdecken, wenn man nur lange genug danach sucht. Auch wenn sie gar nicht da sind. Der Leser akzeptiert eine der Interpretationen, vornehmlich die, die am besten auf sein Leben passt, und ist vom Werk hellauf begeistert. (©  Michael Koch)


Köhler, Andrea: Das Neue

  Weil das Neue in der Literatur unter avantgardistischem Generalverdacht steht, man aber trotzdem nicht darauf verzichten zu können glaubt, hat sich die Kritik in Ermangelung präziser poetologischer Kriterien angewöhnt, von einem "ganz neuen Ton" zu sprechen. Das "Neue" muss offenbar immer neu konstatiert werden. Nachdem die Postmoderne die unbekümmerte Wiederkehr schöner Gestrigkeit und die sogenannte Popliteratur uns eine neue Spielart des Jugendbuchs beschert haben, ist das Neue der ästhetischen Form allein vielleicht nicht mehr zuzumuten. Musil sprach davon, dass die Literatur die Konkurrenz der aktuellen wissenschaftlichen Systeme nicht nur aushalten, sondern überbieten müsse. Diese Forderung liesse sich heute leicht übertragen auf die neuen Medien oder die neuen Technologien. Dann müsste die Literatur den technologischen Vorsprung mit ihren Mitteln zu überflügeln versuchen. Es leuchtet sofort ein, dass sie dabei schnell den Kürzeren zöge. Vielmehr scheint, auch wer die Nanotechnik zum Sujet seines Schreibens wählt, nicht umhinzukönnen, sich auf das zu besinnen, was die Literatur immer schon besser konnte als alle Medien zusammengenommen: die Konventionen der Weltbetrachtung im Kopf auseinander zu nehmen und im Kosmos der Buchstaben wieder zusammenzusetzen. Auch das ist die wiederkehrende Dauer des Neuen. (Andrea Köhler)


Köpf, Gerhard: Lesesessel

  Außerdem stand da noch der geliebte Lesesessel mit verstellbarer Rückenlehne und ausziehbarem Fußteil: eine durchdachte Konstruktion, die selbst eine ausgiebige Siesta ohne Bandscheibenvorfall ermöglichte. (Gerhard Köpf: Ein alter Herr, S. 41)


Köpf, Gerhard: Beginn des Zweifels

  Da begann der alte Herr zu zweifeln. Er zweifelte mit jener bohrenden Gründlichkeit an sich, mit der er früher seine wissenschaftlichen Arbeiten verfaßt hatte. Obgleich er leidenschaftlich gerne las, hatte er sich vorgenommen, solche Lektüre zu meiden, die seine Resignation nur beförderte, anstatt sie zu mildern. Aber er konnte so wenig vom Lesen lassen wie vom Rauchen. Mitunter fand er sich jedoch vor seinen Regalen ohne zu wissen, was er eigentlich suchte. Schritt er seine Bücherwände ab, oder waren es die Heldengräber seiner geistigen Emigrationsarmee? Nach und nach zweifelte er an den Möglichkeiten seines Glücks, und alle Entwürfe des Lebensabends schienen bereits widerlegt. (Gerhard Köpf: Ein alter Herr, S. 14)


Köpf, Gerhard: Getöse um alte Knacker

  Ich habe nie verstanden, warum die Literaten ein derartiges Getöse um die Angelegenheit von alten Knackern und jungen Dingern machen. Wir Mediziner sind da ungleich nüchterner, wenngleich ich mir die Liste Deiner Belege durchaus vorstellen kann. Du wirst mir von Chaucer bis Svevo, von Philipp Roth bis Garcia Marquenz, von Cervantes bis Martin Walser auf Anhieb alle jene Belegstellen zu den fragwürdigen 'Herrenreitern in Not' aufzählen können, die sich um einen letztlich lächerlichen Sachverhalt drehen, der nicht umsonst als Topos in die Geschichte der menschlichen Komödie eingegangen ist. Komm mir jetzt bitte nicht mit Goethe und Ulrike von Levetzow, sondern denk lieber an das schreckliche Ende von Humbert Humbert und Lolita. Lieber Freund, Du kennst doch Deinen Cicero. Und was ruft er Dir zu? 'Otium cum dignitate' Halte Dich daran, dann bleiben Dir Peinlichkeiten ebenso erspart wie unnötiger hormoneller Kummer. (Gerhard Köpf: Ein alter Herr, S. 84)


Koeppen, Wolfgang: Trunken vom Alphabet

  Die Bibliotheken zogen mich an. Ich suchte sie heim, gierig und süchtig. Zu ihren Verwaltern war ich wie ein Liebhaber, unwiderstehlich. Die Bibliothekare waren wehrlos. Sie wurden mir hörig. Sie öffneten ihre Schränke, trennten sich von ihren Schätzen. Ich breitete Schrift um mich aus. Ich verschlang, was gedruckt war. Ich vergaß mich. Auf belebtem Platz saß ich wie trunken. Das Alphabet trug mich fort. (Wolfgang Koeppen: Jugend, S. 130)


Koeppen, Wolfgang: Sinnloses gestalten

  "Der Zwang zu schreiben quält mich entsetzlich. Den Rat, den ich einem jungen Mann geben würde, der Schriftsteller werden möchte: Er sollte sich nicht, oder erst spät, möglichst spät, in die furchtbare Sklaverei begeben, vom Schreiben leben zu müssen. Zu empfehlen wäre ein Familienvermögen, wie Proust es besaß. Wer unglücklicherweise sein Brot verdienen muß, sollte keinen halbliterarischen Beruf wählen, nicht Redakteur, Dramatiker, Lektor werden, eher Börsenmakler, Bankangestellter oder Portier in einem Bordell, nichts, was an den Kräften zehrt. Wenn ich aber schreibe, freut es mich. Ich bin manchmal sogar zufrieden mit dem, was ich schreibe, und dann wieder bin ich überzeugt, eine Tätigkeit auszuüben, die vollkommen sinnlos ist, eine Tätigkeit, die versucht, Sinnloses zu gestalten, was wiederum ganz sinnlos ist." (Martin Lüdke: Tasso oder die Disproportion. Wolfgang Koeppens wahres opus magnum)


Koestler, Arthur: Neu lesen gelernt

  Ich lernte neu lesen, mit einer längst vergessenene Hingabe an jeden Satz, an jedes Adjektiv; ich lernte neu lesen, so wie einer nach langer Bettlägerigkeit neu gehen lernt und beglückt die Spannung seiner Muskeln und Sehnen erlebt. Ich glaube, die Römer mußten so gelesen haben, als die Bücher noch auf langen Rollen handschriftlich vervielfältigt wurden: andachtsvoll, Satz um Satz, jeden Tag nur einige Zoll von der Rolle, um den Rest für morgen zu sparen. Die Autoren damals wußten, wie sorgfältig man sie las und vertrauten ihren Lesern. Heute mißtrauen alle Autoren ihrem Publikum. (Arthur Koestler: Autobiographische Schriften. Abschaum der Erde)


Kolbeck, Markus: Lebensquell Literatur

  Literatur erhält mich am Leben, sie tröstet, ermuntert, belebt, sie unterhält mich, regt zum Hinterfragen ein, läßt mich zustimmen oder widersprechen. Sie ist immer und überall verfügbar. Nichts einfacher, als ein Buch mit sich herumzutragen und hineinzuschauen. Literatur ist also Lebensquell für mich. Mit Büchern wird die Welt zwar nicht besser, als sie momentan ist, aber man kann wenigstens mit anderen Misanthropen ein gepflegtes Leiden an dieser Welt kultivieren oder aber Anlaß finden, ihm etwas entgegenzusetzen. Man ist, wenn man Bücher hat und liest, nie allein, weder in seinem Optimismus noch in seinem Pessimismus. Der Einwand, Literatur verleite doch auch zum Eskapismus, ist zweifellos richtig. Wenn ich aber schon flüchte, dann in die richtige und die schönste aller Richtungen.


Kolbeck, Markus: Entgegen dem Fluch

  Bücher lesen und verschlingen
will mir immer nicht gelingen
Entweder die Arbeit oder tausend Pflichten
die meine Leselust vernichten
Oder es fallen einem die Lider
nach der erste Seiter nieder.
Und man sinkt mit wohligen Schauer
In seligen Schlaf von einiger Dauer
Erwacht am Morgen mit dem Gedanken
vergeblichen Lesens und vieler Schranken.
Und faßt den Vorsatz; entgegen dem Fluch
liest du heute Abend zu Ende das Buch.


Kolbeck, Markus: Mein Harem

  Bücher ausleihen, das ist wie zu einer Nutte gehen. Ein Dienst, den man beansprucht, durch den man Lust erfährt, der einem aber zu nichts verpflichtet, wo die Ware einem wieder entschwindet. Bücher ausleihen ist für mich eine haarsträubende Unverbindlichkeit. Bücher MUSS man besitzen, mit ihnen ist man verheiratet. Allerdings gleicht die Ehe mehr einem Harem. Die private, häusliche Bibliothek ist mein Harem.


Konecny, Jaromir: Liebesgedichte

  Zum Glück hab ich mir eine super Strategie ausgeknobelt, wie ich Katja kriegen kann: Ich werde ihr anonym ein paar Liebesgedichte zustecken, und wenn die Liebesreime ihren Hormonzyklus durchgekurbelt haben, oute ich mich vor ihr: "Die sind von mir, Catty-Baby. Und jetzt bin ich dein persönlicher Johann Wolfgang!" (Jaromir Konecny: Doktorspiele, S. 28)


Konecny, Jaromir: Lange Leseliste

  Der Fritz gab uns gleich am Anfang der Deutschstunde eine lange Leseliste. Schlimmer als die Einkaufszettel meiner Mutter! Das sollten wir in den Ferien alles lesen? Alle Autoren auf der Liste waren schon irre lang tot. Darf man überhaupt ein Buch von so 'nem Typ aufschlagen? Ist das nicht Grabschändung? "Was kannst du mit sechszehn groß lesen?", sagte Harry. "Vor lauter Wichsen kommst du doch zu gar nichts." (Jaromir Konecny: Doktorspiele, S. 72)


Konecny, Jaromir: Lusche und Bücherwurm

  Vater kam herein, blätterte in einem Buch. "Die Verwandlung von Franz Kafka!", sagte er. "Die Titelauflage. Hab gar nicht gewußt, daß ich das habe. Ein Sammler würde dafür sicher ein paar Tausend Euro zahlen!" "Dann finde den!", sagte Mutter: "Wir schulden dem Finanzamt ein paar Tausend Euro. Ich weiß nicht, wo ich das Geld auftreiben soll. Wenn du nicht bald etwas verdienst, müssen wir das Haus aufgeben. Langsam habe ich das Gefühl, daß ich mehr Steuer zahle, als ich Geld verdiene. Gestern hab ich beim Finanzamt angerufen und den Beamten dort angebettelt, ob ich die Vorsteuer erst im September zahlen könnte, und da sagt mir der Typ, wenn wir bis Ende des Monats nicht zahlen würden, müsse er Maßnahmen ergreifen. Ja, wo sind wir denn? Ein junger Bursche kann jetzt Maßnahmen ergreifen und eine ganze Familie in den Ruin treiben! Bald kriege ich von denen Bescheid über das vorletzte Jahr. Verkauf ein paar von deinen Büchern, bevor wir beim Sozialamt landen!" Klar würde Vater sich nie von einem seiner Bücher trennen. "Ich bin kein Händler mit alten Büchern", brummte er verlegen. "Ich kenne keine Sammler!" Er versuchte, der Mutter einen Guten-Morgen- Kuß auf die Backe zu geben, aber sie zuckte weg. Jede Berührung von meinem Vater versetzte Mutter in Panik. Vater hat's wohl immer noch nicht gecheckt. So was von unsensibel! Sex hatten die sicher keinen mehr. Nach vierzig hockst du als Mann wohl wieder in der Wichsfalle. (...) Gleich lief er an mir vorbei in den Keller. Zehn Minuten später schleppte er einen Bananenkiste mit alten Büchern in sein Zimmer. Er würde jetzt uralte Schinken streicheln und sie verliebt angucken. Typischer Fall von Realitätsverlust. Mir war endgültig klar, daß du als Lusche und Bücherwurm ohne Kohle bei den Frauen keine Chance hast. (Jaromir Konecny: Doktorspiele, S. 77/78)


Koppitz, Hans-Joachim: Der Batlen

  "Den seltsamsten Beruf", berichtet er, "hat der ostjüdische Batlen, ein Spaßmacher, ein Narr, ein Philosoph, ein Geschichtenerzähler. In jeder kleinen Stadt lebt mindestens ein Batlen. Er erheitert die Gäste bei Hochzeiten und Kindstaufen, er schläft im Bethaus, ersinnt Geschichten, hört zu, wenn die Männer disputieren, und zerbricht sich den Kopf über unnütze Dinge. Man nimmt ihn nicht ernst. Er aber ist der ernsteste aller Menschen... Seine Geschichten würden wahrscheinlich in Europa Aufsehen erregen, wenn sie gedruckt würden. Viele behandeln Themen, die man aus der jiddischen und aus der russischen Literatur kennt." Damit wird angedeutet, daß diese Geschichten offenbar nicht so spontan und neu geschaffen wurden, wie es Roth darstellt. Dies nur in Parenthese, als Rückverweis auf das, was ich über die südslawischen Barden gesagt habe. (Hans-Joachim Koppitz: Gedrucktes Buch - gesprochenes Wort)


Koppitz, Hans-Joachim: Lesen und Vorlesen

  Die Gewohnheit, ein Buch still für sich in seinem Zimmer zu lesen, blieb daher lange unbekannt. Noch bis ins 19. Jahrhundert hinein war es üblich, innerhalb der Familie gewöhnlich vorzulesen. Es ist häufig bezeugt, daß zum Beispiel in England zur Zeit der Königin Victoria ein Familienmitglied als Vorleser fungierte oder daß man das Buch von einer Stimme zur anderen wandern ließ. Ein großer Teil, selbst der neueren Literatur, war nicht für die private Lektüre gedacht, sondern ausgerichtet auf Rezitation, auf die Mimesis der gehobenen Stimme und die Antwort des lauschenden Ohres, wie es George Steiner einmal ausgedrückt hat. Lesen und Vorlesen hatte damit eine heute weithin verlorengegangen soziale Funktion, was schon angedeutet wurde. Bedenkt man, daß in Deutschland und in den anderen europäischen Ländern bis ins 17., 18. Jahrhundert, bis zur Aufklärung, überwiegend religiöse und erbauliche Literatur auf dem Buchmarkt abgeboten wurde - im Spätmittelalter natürlich Bibeln, Auszüge daraus, Postillen, Plenarien, Legenden, erbauliche Chroniken und dergleichen, nach der Reformation in noch größerem Maße natürlich Bibeln, Postillen usw. -, so ersieht man daraus, daß Lesen, gleich weithin Vorlesen, vielfach einen religiösen oder teilweise religiösen, zumindest erbaulichen Charakter hatte. Besonders trifft das später auch auf konventikelhafte Kreise, im Pietismus etwa, und auf andere religiöse Kreise im Protestantismus und Lesepraxis zu. Dabei war auch der weniger Gebildete, dem das Lesen schwerfiel, und der weniger Bemittelte, der sich kaum Bücher kaufen konnte, einbezogen in die Gemeinschaft der im Hause Versammelten. (Hans-Joachim Koppitz: Gedrucktes Buch - gesprochenes Wort)


Kottkamp, Ingo: Zeitalter des Lesens

  Im 18. Jahrhundert, besonders in Der zweiten Hälfte, verbreitete sich die Kulturtechnik Lesen in einem bisher unbekannten Ausmaß. Lesen war nicht länger eine reine Gelehrtentätigkeit. Man las jetzt Taschenkalender, Musenalmanache, Moralische Wochenschriften und vor allem Romane: Schauerromane, Ritterromane, empfindsame Romane. War dieses Übermaß an Lesekost auch bekömmlich für die Jugend und für das weibliche Geschlecht? Gehörte das Buch, vormals Inventar der Klöster und Studierzimmer, wirklich in die guten Stuben der Bürger oder gar in die freie Natur? Die neue "Lesesucht" und "Lesewuth" wurde den Gelehrten verdächtig; sie mußten enttäuscht feststellen, daß Aufklärung und Beförderung der Sitten nicht die einzigen Motive des Lesens sind. Seitdem hinken sie den Phänomenen hinterher. Über die Lesesucht konnte man Bücher lesen, im Fernsehen wird über die Gefahren des Fernsehens diskutiert, und die Suchmaschine im Internet liefert Hunderte von Ergebnissen, wenn man das Stichwort "Internetsucht" eingibt. Die Argumente gegen das Lesen sind nicht tot. Wie viel von ihnen reaktionäres Vorurteil und wie viel richtige Beobachtungen sind, ist nach wie vor schwer zu entscheiden.


Kottkamp, Ingo: Anton Reiser

  Über das Lesen nicht nur im 18. Jahrhundert erfährt man viel in dem autobiographischen Roman Anton Reiser von Carl Philipp Moritz. Erzählt wird die oft triste Geschichte einer Jugend etwa zwischen 1760 und 1780. Das Leben des Anton Reiser ist beinahe von Anfang an ein Leben mit Büchern. Mit ihnen verbringt er seine glücklichsten Momente, gibt sich während eines besonders verzweifelten Abschnittes seiner Schulzeit ganz der Lesesucht hingibt. Er ging zu einem Antiquarius und holte sich einen Roman, eine Komödie nach der anderen und fing nun mit einer Art von Wut an zu lesen. – Alles Geld, was er sich vom Munde absparen konnte, wandte er an, um Bücher zum Lesen dafür zu leihen; und da nach einiger Zeit der Antiquarius ihn kennen lernte und ihm ohne jedesmalige Bezahlung Bücher zum Lesen liehe, so hatte sich Reiser, ehe er es merkte, tief in Schulden hineingelesen. Das Lesen war ihm nun einmal so zum Bedürfnis geworden, wie es den Morgenländern das Opium sein mag, wodurch sie ihre Sinne in eine angenehme Betäubung bringen. Vorzüglich lagerten Reiser und sein Freund sich am Abhang des Steigerwalds mit Blick in das anmutsvolle Tal. Hier saßen sie oft stundenlang und lasen sich aus irgendeinem Dichter wechselweise vor; welches die meiste Zeit eine wahre Mühe und Arbeit und ein peinlicher Zustand für sie war, den sie sich aber einander nicht gestanden. Wenn man erwägt, wie viele kleine Umstände sich ereignen müssen, um das Stillsitzen und Lesen unter freiem Himmel angenehm zu machen, so kann man sich denken, mit wie viel kleinen Unannehmlichkeiten Reiser und sein Freund bei diesen empfindsamen Szenen kämpfen mußten: wie oft der Boden feucht war, die Ameisen an die Beine krochen, der Wind das Blatt verschlug...


Krämer, Philipp: Lektoren

  Die Lektoren, die sagen: dies Buch ist langweilig , ahnen oft nicht, welche Stümper des Lesens sie sind. Sie wollen nur lesen, was sie unterhält oder anspricht. Sie gehen dem Lesen, was sie unterhält oder anspricht. Sie gehen dem Lesen als Arbeit aus dem Wege und wundern sich, daß sie bei aller Belesenheit nicht vorandringen, sondern sich im Kreise bewegen, dessen Radius gleich null ist, das heißt also um sich selbst. (Philipp Krämer: Lob des Lesens und der Bücher, S. 11)


Krämer, Philipp: Gefahren fürs Lesen

  Die Gefahr ist heute nicht das "Verlesen", das Vergessen des Lebens über dem Lesen, wie es die Gefahr des mittelalterlichen Ritters war, sich zu "verliegen". Die Gartenlaubenromantik ist dahin, wiewohl es Gärten und Lauben, Geißblatt und rankende Rosen zu unsrer Beglückung genug noch gibt, wie zur Biedermeierzeit unsrer Urgroßväter. Die Gefahr ist heute das "Zerlesen", das flüchtige Vielerlei, das luftige Geplätscher in allerlei seichtem Gewässer, das Probieren und Naschen an mancherlei Tischen, das öberflächliche "Lebenskampf - leicht gemacht" oder das einfältige "Fünf Minuten täglich - und nicht mehr nervös" oder das törichte "Kleine Liebe - ganz groß" oder das prahlerische "Fremde Sprachen - leicht gemacht". Lesen als Schnellstanhäufung zusammenhanglosen Wissens. Lesen als Selbsttäuschung, Sensation oder Kitzel. Lesen als Flucht vor dem Leben, die gemildert und verfälscht Erholung vom Leben, die gemildert und verfälscht Erholung vom Leben genannt wird. Lesen als künstliche Selbstübersteigerung. Lesen als Verwechseln des großen Lebens anderer mit dem kleinen eigenen. (Philipp Krämer: Lob des Lesens und der Bücher, S. 9)


Krämer, Philipp: Einbürgerung von Leichtigkeit

  Die Leichtigkeit des Lesens hat sich im Schrifttum eingebürgert, seitdem die allgemeine Hast und die Zeitschriften, die diese Bewegung beschleunigen oder anspornen, zur Herrschaft gelangt sind... Die Kunst, mit Muße und in Abgeschiedenheit zu lesen und dabei wohlweislich die Unterscheidungen zu treffen, eine Kunst, die ehedem der Zähigkeit und dem Eifer des Schriftstellers dank einer gleichwertigen Gespanntheit und Geduld entsprach, geht verloren: sie ist verloren. (Philipp Krämer: Lob des Lesens und der Bücher, S. 14)


Krämer, Philipp: Geschwindigkeiten

  Es ist keine Frage: Je schneller sich ein Buch liest, um so weniger hat es Aussicht, zweimal gelesen zu werden, um so seichter muß es sein. Je mehr Geduld wir aufwenden müssen, um uns in ein Buch "einzulesen", wie wir uns in Stifter und Carossa erst einlesen müssen, desto mehr Funde und Entdeckungen werden wir machen. Die besten Bücher verschenken sich nicht, sie wollen erobert sein. (Philipp Krämer: Lob des Lesens und der Bücher, S. 16)


Krämer, Philipp: Der höchste Stand

  Wie, so fragen wir noch einmal, wie kann ich wissen, ob ein Buch gut oder schlecht ist, ob es für mich etwas bedeuten kann, wenn in der öffentlichen Meinung gewichtige Stimmen laut werden, die ebenso das eine wie das andere behaupten? Wenn du noch nicht so weit fortgeschritten bist in der Kunst des Lesens - und es ist dies der höchste Stand, den du als Leser erreichen kannst -, daß du nach wenigen Seiten schon den Geist erkennst, der hier mit dir sein Spiel treibt, dann versuche es einmal mit dem Warten. Wir brauchen oft gar nicht lange zu warten, und schon ist das Interesse an jenem wichtigen, das "Gesicht der Zeit völlig verändernden" Werk gänzlich erlahmt. Es ist wie weggewischt und führt in Schaufenstern von Althändlern und auf Berliner Straßenbücherwagen ein billiges Dasein. Es gab eine wahre Industrie zur Erzeugung tageswichtiger Werke, die jedoch nur leben konnte, wenn sie in der folgenden "Saison" etwas Neues vorlegte, das tunlichst das Heutige auf den Kopf stellen mußte. Wir waren die Opfer. (Philipp Krämer: Lob des Lesens und der Bücher, S. 19)


Krämer, Philipp: Kraft durch Bücher

  Das Meer der Bücher erwartet Sie. Es ist herrlich, sich in es hineinzustürzen. Im Alter aber steht man als Angler in geduldigem Warten, so wie in den Bücherbrettern die Bücher selber stehen in geduldigem Warten, bis unsre Hände nach ihnen greifen, den Staub abschütteln und sie öffnen, um uns von ihnen schenken zu lassen, was wir brauchen: Kraft durch Bücher. (Philipp Krämer: Lob des Lesens und der Bücher, S. 36)


Krämer, Philipp: Der Bleistiftarbeitende

  Um zu nüchterner Betrachtung äußerer, doch keineswegs zu verachtender Hilfen bei arbeitendem Lesen zu kommen, sei dies empfohlen: Der arbeitend Lesende bediene sich eines Bleistifts. Er unterstreiche die Worte, Sätze, Abschnitte, die ihm von besonderer Wichtigkeit waren. Er findet sich mit ihrer Hilfe später schnell zurecht, vielleicht gar gerät er in verwundertes Staunen, was ihm einmal wichtig war und worüber er hinweggelesen. Allein aus der Bleistifttätigkeit des Lesenden ließe sich eine Seelenbeschreibung ablesen. Und weil sich der Lesende durch Unterstreichen auf verräterische Weise preisgibt, darum kann er seine Bücher nicht beliebig verleihen an andere. Erst recht nicht, wenn der Bleistift nicht nur unterstreicht, sondern Bemerkungen des Beifalls oder Zornes einfügt oder auch nur mit Ruf- und Fragezeichen, mit kurz einfließenden Hinweisen auf andere Werke mitarbeitet (Philipp Krämer: Lob des Lesens und der Bücher, S. 24)


Krämer, Philipp: Bücher besitzen

  Nur die leichten Unterhaltungsbücher kann man verleihen, und es sollte mehr und mehr eine Taktfrage derer sein, die es angeht, keinen Bücherliebhaber dadurch in Verlegenheit zu bringen, daß man ihn um Leihüberlassung eines wichtigen Buches angeht, wie man sich ja auch nicht einen schönen Hut oder Gürtel oder Möbel entleiht. Bücher, die einen zuinnerst angehen, soll man besitzen. Man braucht sie immer wieder. Sie müssen zur Hand sein im Augenblick ihrer Bestimmung. Zeige mir deine Bücher, laß mich nur ein wenig darin blättern, und ich will dir sagen, wer du bist. (Philipp Krämer: Lob des Lesens und der Bücher, S. 25)


Krämer, Philipp: Rundfunk statt Vorleser?

  Man kann statt des Vorlesers nicht etwa "den Rundfunk" anstellen. Der Rundfunk verhält sich zum persönlichen Vorleser wie das Kino zum Theater. Weil beide ihre eignen Gesetze und ihren eignen Sinn haben, darum wird keines durch das andere überflüssig, wie zum Verwechseln ähnlich sie sich auch sehen mögen. (Philipp Krämer: Lob des Lesens und der Bücher, S. 31)


Krämer, Philipp: Rundfunk & Bücher

  Wir müssen schließlich in einer Abhandlung fragen, die vom Lesen und von den Büchern spricht -, ist eigentlich durch den Rundfunk das Lesen vermindert oder gar verdängt worden? Mitnichten! Er hat das Lesen ebensowenig beeinträchtigt wie etwa sein älterer Bruder, der Fernsprecher. Vielleicht sogar hat er manchem Buch erst den Weg gebahnt. Nur das Schreiben haben beide geschwächt. Von uns wird man nicht so lange und zahlreiche Briefe veröffentlichen wie von Cicero oder Schleiermacher. Wir haben andere Wege der Mitteilung und können uns häufiger sehen und uns sprechen. Das Tagebuch ist im Aussterben begriffen, weil wir nicht mehr hören müssen. Liest aber ein Dichter im Rundfunk aus seinem Werk und hat er uns getroffen, so verlangen wir nach seinen Büchern. Das Rundfunkwort verweht. Die Bücher dauern in der Zeit. Darum ist der Rundfunk kein Feind der Bücher. Beide suchen einandern, weil sie einander bedürfen. (Philipp Krämer: Lob des Lesens und der Bücher, S. 33)


Krausser, Helmut: Thanatos

  Das Archiv hatte, als Johanser es zum ersten Mal durchstöberte, schlaraffische Gefühle erzeugt. Oft ließ er sich über Nacht einsperren, um in den Schätzen zu wühlen und die Geheimnisse des Giftschrankes zu erkunden. Wie ein Kind kam er sich vor, das man bei Ladenschluß in der Spielwarenabteilung eines Kaufhauses vergessen hatte. Er sortierte die Autographen seiner literarischen Lieblinge, strich weihevoll über die von ihnen zum Wort gelenkte Tinte, ärgerte sich, wenn er etwas nicht entziffern konnte, und grübelte über mancher Hieroglyphe stundenlang. Urtextforschung wurde zum beinah religiösen Erlebnis, er fühlte sich bevorzugt unter allen Menschen und lebte in einem Rausch, der an Glücksintesitäten die Liebe zu Kathrin noch hinter sich ließ. Bald war Johanser ein Handschriftenexperte geworden, der Falsifikate und inkorrekte Zuschreibungen traumwandlerisch sicher erkennen konnte und mit dem individuellen Strich Hunderter fast vergessener Dichter vertraut war. Das Archiv, ein Saal, stuckbeprunkt, Kassettendecke, glatte, kühle Granitsäulen, rotbraun, vier Meter hoch. Zwischen den Säulen metallene Regale, die den Raum in Schluchten teilten. Hinten, auf einer Empore, das breite Schreibpult, von der Arroganz einer kafkaesken Kanzlei. Zettelkästen umrahmten eine voluminöse Schreibmaschine. Manchmal, beim Betrachten der Regale, dachte Johanser über die Verfallsdaten der Kunst nach. Bei vielen Autoren hatte nur ein einziger zu Ruhm gelangter Vers genügt, ihrem zigtausendseitigen Werk die Gnade der Archivierung zukommen zu lassen - was dem Autor keine Gelesenheit eintrug, doch immerhin Gewesenheit attestierte. (Krausser, Helmut: Thanatos, S. 40)


Krausser, Helmut: Eine Geschichte

  Mir gefiel die Geschichte. Sie erschien ausbaufähig, so hergeholt und konstruiert sie auch klang. Einige Änderungen würden wohl nötig werden, dachte ich, um das Ganze glaubhafter zu gestalten, organischer. Von Brücken hatte sich mit mir den Richtigen ausgesucht. Es galt, dem ganzen Brimborium, dem Konstrukt, dem Skelett, Fleisch auf die Knochen zu hieven, und zuletzt eine Haut. Zuallerletzt ein Schimmern auf der Haut. (Helmut Krausser: Eros, S. 139)


Krausser, Helmut: Bücherverbrennung

  Am zweiten Mai, einen Tag nach der Bücherverbrennung unliebsamer Autoren, neben Rosa Luxemburg auch Freud, Brecht und Heinrich Mann, überlegten Max und Karl Loewe, aus purer Scham das Land zu verlassen. Sie waren beide unabhängig voneinander vor Ort gewesen, hatten Erich Kästner in der Menge der Zuschauer erkannt, der mitansehen mußte, wie seine eigenen Bücher dem Scheiterhaufen übereignet wurden. Goebbels hielt eine geifernde Rede an die deutschen Studenten, benutzte die Worte Schmutz und Unrat. Und die Funken knackten; ein lauer Wind trug Aschefetzen über den Platz. Der Kopf einer Magnus-Hirschfeld-Statue, dessen Sexualkunde- Institut den Nazis schon lange ein Dorn im Auge gewesen war, wurde auf eine Lanze gespießt und geschwenkt. Unter dem Applaus von 70.000 Zuschauern. Leider hingen die Brüder zu sehr an ihren neuen Wohnungen und ihrem vom Erbe des Vaters gepolsterten Alltag, um Deutschland sofort den Rücken zu kehren. Max beruhigte sich alsbald, redete sich die Sache klein. Es seien nur Bücher verbrannt worden, keine Menschen. Karl verwies auf einen prophetischen Spruch von Heine, wonach, wo Bücher verbrannt werden, am Ende auch Menschen – aber Max wiegelte ab. Griffige Sprüche seien eben nur Sprüche, keine Orakel, und Theater bleibe Theater, wie pyromanisch illuminiert auch immer. (Helmut Krausser: Nicht ganz schlechte Menschen)


Krekeler, Elmar: Der Wein zum Buch

 Normalerweise geht einem diese Kolumne fast schon zu leicht von der Hand. Ein Buch fällt einem in die Finger. Dann fällt man in seinen Keller. Und wenn dann der Wein und das Buch und der Kopf so richtig schön zusammengestoßen sind, fällt einem über diesen Vorgang etwas ein. Das geht natürlich nicht immer so. Es gibt auch schwierigere Fälle. Dieses war so einer. Da sitzt man fern vom eigenen Keller, wirklich fern, nämlichschräg links vom Central Park im minibarfreien New Yorker Hotelzimmer mit Thomas Morans "Wasser trage mich" auf den Knien, einem doppelbödigen und blutigen Roman der von der dramatischen Liebe eines irischen Mädchens zu einem getarnten IRA-Kämpfer erzählt (Lichtenberg, München. 304 S., 39,80 Mark). Ein schwieriger Fall: Guinness geht nicht für eine Weinkolumne. Irischen Wein gibt's gar nicht. Deutschen Wein nur daheim im Keller (weit weg!). Komplizierte Fälle (und spannende Bücher) verlangen einfache Lösungen: In den nächsten Liquor-Shop, ein abenteuerliches Etikett suchen, kaufen, trinken, weiterlesen. Derlei Zufälle spielen einem immer wieder glückliche Begegnungen auf die Zunge. Der Tasman Bay Sauvignon Blanc, im neuseeländischen Nelson abgefüllt war einer. Trocken, sehr trocken, fruchtig, nicht zu fruchtig, ein bisschen spitz. Das perfekte Äquivalent für Morans tragfähiges Wasser.


Krekeler, Elmar: Das Buch ist nicht tot

  Jetzt müssen wir erst einmal etwas zugeben. Wir haben uns geirrt. Das Buch, das gute alte Tote-Bäume-Buch, ist gar nicht tot. Es erfreut sich bester Gesundheit. (...) Wir schrieben Nachrufe auf das Buch, diesen publizistischen Langweiler, vor Jahrhunderten erfunden und seitdem - seien wir ehrlich - nicht wirklich relauncht. (...) Auch wenn allenthalben wieder die Kulturpessimisten herumschleichen auf der Messe, vom Untergang des Lesens faseln und über Bohlen lästern. Es besteht Hoffnung für den wichtigsten Kulturträger der Welt. Eine bessere Form der Informationsübermittlung, der literarischen Unterhaltung ist noch nicht gefunden. Ob sie je gefunden wird? Wozu eigentlich?


Kretschmer, Christina: Ewig liest das Murmeltier

  Es gibt genügend Leute, die mich für bescheuert halten, weil ich Bücher mehrfach lese. Die finden nichts schlimmer, als schon am Anfang zu wissen, wer den Mord begangen hat und wer wen am Ende kriegt. Vielleicht sind die auch einfach intelligenter als ich. Aber für mich ist die Lektüre dieser Bücher ein bisschen wie keine Sorgen haben. Ich weiß, was mich erwartet, ich weiß, dass nichts allzu Schlimmes passieren wird und ich weiß, dass am Ende das Gute siegt. Das sind Qualitäten, die mir besonders dann wichtig sind, wenn ich sonst nicht viel weiß. christina-kretschmer


Kröhnke, Friedrich: Eine furchtlösende Kombination

  Es war die Autorin La Motte, die ihrem dreizehnjährigen Abel in einem Hotelzimmer an der Mosel verraten hat, daß es zwei Formen der Rettung vor unbestimmter Furcht gibt: Kriminalromane und alle diejenigen Wirkstoffe, deren Name das Wort Codein enthält. Schon sie ließ durchblicken, daß beides kombinierbar war. (Friedrich Kröhnke: Ein Geheimnisbuch, S. 123)


Krüger, Michael: Zwischen den Büchern

  Ich lungerte oft den ganzen Tag herum, stöberte in alten Projekten oder las hemmungslos und ohne Richtung in den Büchern, die wie durch Zauberkraft sich immer noch vermehrten und seit dem Auszug meiner Ehefrau selbst dort heimisch geworden waren, wo sie vorher nicht geduldet wurden, in der Küche und im Bad. Wie eine unheilbare Krankheit hielten die Bücher die Wohnung besetzt, und die jetzt überall ausgesprochene Drohung, das Zeitalter des Buches ginge seinem Ende zu, schien ihre Abwehrkräfte nur zu steigern. Wie oft hatte ich mir vorgenommen, wenigstens eine ungefähre Ordnung in die Massen zu bringen! Musikbücher ins Musikzimmer, deutsche Literatur ins Schlafzimmer, die lateinischen Klassiker in den Erker, Geschichte auf den Flur, die Poesie in die begehbare Speisekammer, die nach der Scheidung wieder leer geworden war. Mein fataler Ordnungssinn hatte zur Folge, daß ich Kisten für unentschiedene Fälle anlegte, die sich auf dem Boden ausbreiteten und immer dann, wenn ich mir nicht mehr zu helfen wußte, in eine gerade freie Lücke gestellt wurden. Plötzlich fand sich Lukrez neben den Essays von Mandelstam in der russischen Abteilung wieder, und ich hatte den Verdacht, der jeder vernünftigen Klassifizierung spottete, daß beide die Nachbarschaft genossen. Eigentlich gab es nichts Schöneres, als den ganzen Tag lesend zwischen den Büchern herumzustolpern. (Michael Krüger: Die Cellospielerin, S. 24f.)


Krüger, Michael: Speicher geballten Wissens

  Auf der anderen Seite glaube ich, dass in einer vernetzten Gesellschaft die Notwendigkeit der Konzentration, Besinnung und Ruhe zunehmen wird. Je lauter, gefährlicher und unwägbarer die Welt wird, desto mehr wird man Orientierung, Deutung und Auslegung suchen. Deshalb bin ich sicher, dass auch essayistische Bücher, die uns diese Welt zu erklären versuchen, in Zukunft ein größeres Publikum finden. Das Buch als Speicher geballten Wissens und geballter Imagination wird es also auch in Zukunft geben, und eine Form der Nachdenklichkeit hat eine größere Zukunft als es in den vergangenen zehn Jahren schien.


Krüger, Michael: Messung literarischen Geschmacks

  Im Zeitalter der Messung und der Statistik - die ja ursprünglich zur Überwachung erfunden wurde... (...) Inzwischen wissen wir, daß z.B. die Messung des literarischen Geschmacks, wie sie durch die Software von Scannerkassen an buchhändlerischen 'Points of Sale' möglich geworden ist, nach ihrer Transsubstanziation in Bestseller-Listen, doch eher zur Belohnung eingesetzt wird. (Michael Krüger; Faude, Ekkehard: Literatur & Alkohol. Zur Konvergenz von Flüssigkeitsbedarf und exzessivem Buchstabenverbrauch, S. 16)


Krüger, Michael: Pro-Kopf-Verbrauch

  Nehmen wir uns den Pro-Kopf-Verbrauch von Wein in Westeuropa vor, dann hellen sich die Hintergründe auf, laut Statistik von 1977 tranken die Westdeutschen im Jahr 23,4 Liter Wein, die Iren nur 4,3 Liter, die Spanier 65,0 Liter, die Italiener 93,5 Liter und die Franzosen 100,9 Liter. Wenn wir damit den Pro-Kopf-Verbrauch von Büchern vergleichen, erhalten wir ein deutlicheres Bild:

  Deutschland: 23,4 Liter Wein = 20 Bücher pro Jahr
Irland: 4,3 Liter Wein = 4 Bücher pro Jahr
Spanien 65,0 Liter Wein = 4 Bücher pro Jahr
Italien: 93,5 Liter Wein = 6 Bücher pro Jahr
Frankreich: 100,9 Liter Wein = 12 Bücher pro Jahr

  Aus dieser Statistik folgt zwingend, daß Deutschland und Irland, vom Standpunkt des Weins aus betrachtet, ausgeglichen arbeiten: 23,4 Liter Wein lassen die Lektüre von 20 Büchern zu (BRD) bzw. 4,3 Liter 4 Bücher (Irland); wohingegen die Franzosen 100,9 Liter Wein brauchen, um läppische 12 Bücher zu lesen. Ich glaube, ich brauche das volkwirtschaftliche Übel nicht näher auszumalen. Auf der Produktionsseite zeigt sich freilich ein anderes Bild. Ein deutscher Professor zum Beispiel braucht nach Pittmann/Schneider, Wolgenbüttel 1982, rund 18 Liter Wein für die Abfassung eines philosophischen Buches von ca. 360 Seiten, das heißt 0,05 Liter oder einen Schluck pro Seite; während ein französischer Philosoph bereits für einen Aufsatz zur Ethik von 30 Seiten ca. 24 Liter rechnet, das heißt eine Sieben-Dezi-Flasche pro Seite. Ich glaube, ich brauche nicht näher auszuführen, woher die relative Trockenheit deutscher philosophischer Bücher rührt. (Michael Krüger; Faude, Ekkehard: Literatur & Alkohol. Zur Konvergenz von Flüssigkeitsbedarf und exzessivem Buchstabenverbrauch, S. 23ff.)


Küchemann, Fridtjof: Schweigt vom Lesen!

  Für eine Subspezies der Bücherfreunde - die nicht Bildungsbeflissenen, die Lust betonten - ist das Lesen keine Fleißarbeit, sondern augesuchtester Müßiggang. Eine eskapistische, intime Lust, so einzigartig, dass sie sich mit niemandem teilen lässt. Schon darüber zu sprechen, fällt schwer. Freunden von der Buchlust zu erzählen, von dieser Mischung aus Fülle und Verlorenheit, die einen beim Lesen ereilt, von der Trauer, wenn ein Buch beendet ist, und von der Gier, ein neues zu beginnen, ist eigentlich unmöglich. Lasst uns nicht vom Lesen sprechen! Diese Leidenschaft bedarf keiner Wörter. Wer sie nicht kennt, wird sie eines Tages für sich entdecken. Und dankbar sein für jedes Buch, das ihm nicht bis dahin durch die Qual der Schullektüre oder die Empfehlung eines Langeweilers verdorben worden ist. Eltern, lasst euch beim lustvollen Lesen erwischen, statt euren Kindern die Bedeutung des Lesens für die Karriere zu predigen! Lasst uns am Welttag des Buches schweigen vom Lesen. Literatur lässt sich nur im Stillen entdecken. Wir rufen an diesem Tag, an dem soviele Reden gehalten werden, inmitten dieses Rummels, zu einer Schweigeminute für das Buch auf. Oder nehmen Sie ein gutes Buch zur Hand - und verwandeln Sie eine Minute in einen ganzen Nachmittag. Bringen Sie die Welt zum Stillstand. (Fridtjof Küchemann)


Kubiczek, André: Unterm-Tisch-Buchhandel

  Dabei waren ein paar von unseren Büchern echt selten. Es gab sie nicht so zu kaufen. Da konntest du Kohle haben bis zum Gehtnichtmehr, aber wenn's was nicht gab, dann gab's das eben nicht. Basta. Da nutzte kein Geld der Welt was, sprich: keine Mark der DDR, logisch. Und ich rede hier nicht von Tomatenketchup, Badezimmerfliesen, Autos und dem ganzen anderen Schwachsinn, den man nicht kaufen konnte. Ich spreche hier nur von Büchern, allerdings von den sogenannten guten. Baudelaire und Konsorten. Aber selbst wenn es diese Bücher zu kaufen gegeben hätte, wären sie wahrscheinlich unterm Ladentisch weggegangen. Das sah man ja bei Karl May, der lange verboten gewesen war, wegen Revanchismus oder so. Und als sich dann vor ein paar Jahren der Wind drehte, weil er nicht mehr revanchistisch genug war oder weil sich die Maßstäbe für Revanchismus geändert hatten, da kamen plötzlich die ganzen Fliesenleger und Klempner und Autoschlosser in die Volksbuchhandlung und schnappten den armen Kindern die Karl-May-Bücher vor der Nase weg. Weil sie ja was nachzuholen hatten zwecks ihrer eigenen Kindheit. Und selbstverständlich kriegten sie die Bücher als Erste, weil ja auch Buchhändlerinnen ein Bad hatten, wo, wie bei den meisten Bürgern unseres Landes, nur Tapete über der Wanne klebte, die naß wurde beim Duschen und sich irgendwann von der Wand schälte. Klar, und weil die Buchhändlerinnen obdendrein einen gebrauchten Moskwitsch besaßen, der jeden Winter von zwei Grad plus abwärts nicht mehr ansprang. Und weil auch die Toilette der einen oder anderen Buchhändlerin mal verstopft war und das ausgerechnet am Sonntag. (André Kubiczek: Skizze eines Sommers)


Kubiczek, André: Baudelaire'sche Dekadenz

  An Baudelaire kam man praktisch nicht ran. 73 hatte es mal eine Ausgabe gegeben. Insel Verlag, Leipzig. 'Die Blumen des Bösen. Der Spleen von Paris.' Stand in keiner Bibliothek - immer geklaut. War in keinem Antiquariat zu finden. Und einen wie Rimbaud kriegte man nicht mal unterm Ladentisch, um erst gar nicht Malarme anzufangen. Die waren quasi verboten, obwohl es keiner so direkt sagte, und zwar nicht wegen Revanchismus, sondern wegen Dekadenz. (...) Von den 'Blumen des Bösen' jedenfalls gab's in freier Wildbahn nur ein einziges Exemplar. Es stammte von achtzehnhundertnochwas und gehörte der Wissenschaftlichen Allgemeinbibliothek in der Heinrich-Rau-Allee. Aber wir hatten da so eine Art Abo drauf, Michael, Dirk und ich. Immer, wenn einer von uns das Buch abgab, stand der nächste quasi schon hinter ihm in der Schlange bereit und lieh es sofort wieder aus. Auf diese Weise schützten wir unsere Stadt vor der Baudelaire'schen Dekadenz. (André Kubiczek: Skizze eines Sommers)


Küng, Max: Bücherbrocki

  Delphine löffelte und las weiter in ihrem Taschenbuch. Sie hatte es des Titels wegen gekauft. Er war ihr ins Auge gesprungen, als sie im Bücherbrockenhaus stöberte: 'Die vollkommene Leere'. Sie war mindestens einmal wöchentlich im Bücherbrocki. Es war einer ihrer Lieblingsorte. Sie mochte den Geruch der alten Bücher, und sie mochte, daß das Brocki in einem Kellergeschoß lag, in dem es kühl blieb, egal wie vulgär heiß sich der Sommer draußen gebärdete. Schon als Kind spielte sie am liebsten im Keller. Dort war es ruhig und geheimnisvoll. Dort waren all die Dinge, die ihre Eltern nicht mehr brauchten, von denen sie sich jedoch noch nicht endgültig zu trennen vermochten. Besonders angetan hatten es ihr die Stapel mit dem Altpapier, die ihre Mutter mit farbiger Schnur bündelte und ihr Vater immer hinuntertrug und unter der Treppe stapelte. Bündel, aus denen sie Zeitschriften zog und zerschnipselte. Jede Visite im Bücherbrocki war auch eine Rückkehr in ihre Kindheit. Ja, es war Geborgenheit. Zudem mochte sie die Musik, die gespielt wurde. Dramatisch klingende klassische Musik, von der sie keine Ahnung hatte. Was für eine Kombination: Orchestermusik und abertausend stumme Bücher, die auf neue Besitzer warteten, von denen viele niemals kommen würden. Die Absichtslosigkeit faszinierte sie. Sie konnte Stunden damit zubringen, nach nichts zu suchen und Schätze zu finden. (Max Küng: Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück)


Kundera, Milan: Mutter eines Dichters

  Nachdem sie die Gedichte mehrmals gelesen hatte, traten endlich auch Tränen gerührter Bewunderung in ihre Augen, weil ihr die Verse unverständlich vorkamen und es ihr folglich schien, es läge darin mehr, als sie selbst zu verstehen vermochte, daß sie also Mutter eines Wunderkindes war. (Milan Kundera: Das Leben ist anderswo)


Kundera, Milan: Passierschein

  Und Jaromil? Er war stolz darauf, daß der Maler ihm Bücher aus seiner Bibliothek lieh (der Maler hatte dem Jungen gegenüber mehrmals betont, daß er niemandem Bücher ausleihe und Jaromil der einzige sei, der dieses Privileg genieße), und da er mehr als genug Zeit hatte, verweilte er träumend über den Seiten. Die moderne Kunst war damals noch nicht zum Besitztum der bürgerlichen Schichten geworden und hatte den anziehenden Charme einer Sektiererei, die Kindern verständlich ist, die von romantischen Clans und Bruderschaften träumten. Jaromil war für diesen Charme empfänglich und las die Bücher ganz anders als die Mutter, die sie von A bis Z durchlas wie ein Lehrbuch, über das sie geprüft werden sollte. Jaromil, dem keine Prüfung drohte, las keines der Bücher des Malers richtig durch; er schmökerte vielmehr darin, blätterte, verweilte da über einer Seite, verharrte dort bei einem Vers, ohne sich daran zu stören, daß der Rest eines Gedichts ihm nichts sagte. Doch dieser einzige Vers, dieser einzige Prosaabsatz genügte, um ihn glücklich zu machen, nicht nur durch seine Schönheit, sondern vor allem dadurch, daß er ihm als Passierschein ins Reich der Auserwählten diente, der wahrzunehmen verstand, was anderen verschlossen bliebe. (Milan Kundera: Das Leben ist anderswo, S. 60)


Kundera, Milan: Graphomanie

  Graphomanie (die Besessenheit, Bücher zu schreiben) wird zwangsläufig zur Massenepidemie, wenn die gesellschaftliche Entwicklung drei grundlegende Voraussetzungen erfüllt: 1) hoher Grad allgemeinen Wohlstands, der es den Leuten ermöglicht, sich unnützen Tätigkeiten zu widmen; 2) hohes Maß an Atomisierung des gesellschaftlichen Lebens und daraus hervorgehend allgemeine Vereinsamung der Individuen; 3) radikaler Mangel bedeutender gesellschaftlicher Veränderungen im inneren Leben eines Volkes. (...) Allerdings beeinflußt das Ergebnis rückwirkend die Ursache. Die allgemeine Vereinsamung verursacht Graphomanie, die massenweite Graphomanie wiederum verstärkt und steigert die allgemeine Vereinsamung. Die Erfindung des Buchdrucks hat es der Menschheit ermöglicht, sich untereinander zu verständigen. Im Zeitalter der allgemeinen Graphomanie erhält das Bücherschreiben einen umgekehrten Sinn: jeder ist von seinen Buchstaben umzingelt wie von Spiegelwänden, durch die von außen keine Stimme mehr dringt. (Milan Kundera: Das Buch vom Lachen und Vergessen, S. 128)


Kundera, Milan: Zwei Schuster

  ... erinnerte mich an einen Vers aus Goethes West-östlichen Divan: Lebt man denn, wenn andre leben? In Goethes Frage verbirgt sich das Geheimnis aller Schriftstellerei: Durch das Schreiben von Büchern verwandelt sich der Mensch in ein Universum (man spricht schließlich von Balzacs, Tschechows, Kafkas Universum), und die Eigenschaft eines Universums besteht eben darin, daß es einmalig ist. Also wird es durch die Existenz eines anderen Universums in seinem Wesen bedroht. Zwei Schuster können, wenn ihre Läden nicht gerade in derselben Straße liegen, in wunderbare Harmonie miteinander leben. Sobald sie aber anfangen, ein Buch über das Los des Schusters zu schreiben, stehen sie einander im Weg und fragen sich: Lebt der Schuster denn, wenn andre Schuster leben? (Milan Kundera: Das Buch vom Lachen und Vergessen, S. 145)


Kundera, Milan: Universen von Wörtern

  Das unaufhaltsame Anwachsen der Massengraphomanie unter Politikern, Taxifahrern, Gebärerinnen, Geliebten, Mördern, Dieben, Prostituierten, Präfekten, Ärzten und Patienten beweist mir, daß ausnahmslos jeder Mensch den Schriftsteller als Möglichkeit in sich trägt, so daß die Menschen zu Recht auf die Straße gehen und schreien könnten: Wir sind alle Schriftsteller! Jeder leidet nämlich darunter, ungehört und unbemerkt im teilnahmslosen Universum unterzugehen, und will sich deshalb rechtzeitig in ein Universum von Wörtern verwandeln. Wenn der Schriftsteller einmal (und das wird bald der Fall sein) in allen Menschen erwacht sein wird, werden die Tage der allgemeinen Taubheit und Verständnislosigkeit anbrechen. (Milan Kundera: Das Buch vom Lachen und Vergessen, S. 146)


Kundera, Milan: An die anonyme Welt

  Er beschreibt sein Leben. Die Geschichte eines Menschen, der drei Tage lang im Meer schwamm, mit dem Tode rang, die Fähigkeit zum Schlafen verlor und seinen Lebenswillen trotz allem bewahrte. "Schreiben Sie es für Ihre Kinder auf? Als Familienchronik?" Er lachte bitter: "Meine Kinder würde das nicht interessieren. Ich schreibe es als Buch. Ich glaube, daß es vielen Menschen helfen könnte." Dieses Gespräch mit dem Taxichauffeur hat mir mit einem Mal das Wesen des schriftstellerischen Daseins enthüllt. Wir schreiben Bücher, weil unsere Kinder sich nicht für uns interessieren. Wir wenden uns an die anonyme Welt, weil unsere Frauen sich die Ohren zuhalten, wenn wir mit ihnen sprechen. (Milan Kundera: Das Buch vom Lachen und Vergessen, S. 127)


Kundera, Milan: Adaptionen

  "Überhaupt nicht schade. Es ist eine Chance. Heutzutage stürzt man sich auf alles, was je geschrieben worden ist, um es in einen Film, eine Fernsehwerbung oder einen Comic zu verwandeln. Da das Wesentliche in einem Roman aber das ist, was sich nicht anders als durch einen Roman ausdrücken läßt, bleibt in jeder Adaption nur das Unwesentliche enthalten. Wenn jemand verrückt genug ist, heute noch Romane zu schreiben, muß er sie, wenn er sie schützen will, so schreiben, daß sie sich nicht adaptieren lassen, mit anderen Worten, daß man sie nicht erzählen kann." (Milan Kundera: Die Unsterblichkeit)


Günter Kunert: Bücherlesen

  Bücherlesen ist vonnöten,
soll euch nicht die Dummheit töten:
Wer nicht gerne Bücher liest,
ist für mich ein blödes Biest!

  Bücherlesen, liebe Leute,
nicht erst morgen, sondern heute!
Heute gilt's, den Kopf zu füllen,
daß nicht laut vor Lachen brüllen

  alle Affen hier im Zoo
über euren Kopf voll Stroh:
Stroh soll raus und Wissen rein,
das gilt nicht für euch allein,

  sondern klar für jedermann,
der das Alphabet schon kann.
Ohne Bücher seid ihr Tröpfe,
sogar Holz- und Wasserköpfe!

  Nur durch Bücher wissen wir:
Warum gibt es Menschen hier?
Denn kein Schaf gibt euch Bescheid,
keine Katze ist bereit,

  Menschenkinder zu belehren,
die nicht auf die Bücher hören.
Hühner, Enten, Spatzen, Spechte
wissen leider nicht das Rechte,

  was für Menschen wichtig wär.
Also: Nehmt die Bücher her,
Lest und werdet sacht gescheit,
daß ihr einst die Klügren seid.


Kunze, Heinz Rudolf: Lesen

  Ich gibt viele Leute, die mich begeistern: Franz Kafka, Gottfried Benn, Hans-Henny Jahn, Heinrich von Kleist, Peter Handke, Botho Strauss, Thomas Bernhard. Eigentlich wollte ich ja Professor für Germanistik werden und nicht Musiker. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich rund um die Uhr lese. Ich sehe auch ganz gern mal fern. Das Lesen gehört einfach zu meinem Beruf, ich muss mich ja informieren. Insofern lese ich manchmal von 10 Uhr morgens bis 18 Uhr abends und mache das Buch nur dann zu, wenn ich etwas schreibe. Als professioneller Leser möchte man allerdings nach 18 Uhr nicht mehr weiterlesen.


Kunze, Reiner: Fülle des zu Lesenden

  Ich entsinne mich eines Buches von Reiner Kunze, in dem er beschreibt, wie man sich einen eigenen Literaturkosmos aufbaut: Man liest ein Buch, findet einen Hinweis auf einen anderen Autor und geht dem nach. So entwickelt sich Buch für Buch eine eigene Leselandschaft mit Landmarken. Erst so kann aus der Vielzahl der Bücher eine lebendige Landschaft werden. Doch die Fülle des zu Lesenden bleibt unendlich. George Steiner hat in seinem letzten Buch "Der Garten des Archimedes" eine Liste der Bücher veröffentlicht, von denen er annimmt, sie in seinem Leben nicht mehr lesen zu können, und das hat wer auch als Entschuldigung gegenüber den Büchern gemeint. Jeder von ins hat irgendwann diese Liste im Kopf, trotzdem darf man die Ruhe nicht verlieren und die Lektüre fahrig werden lassen: Lesen auch weiterhin als Prozeß zuzulassen, der das Geschriebene rekonstruiert, der das Gedicht aus der Sicht des Lesers noch einmal schreibt, um die Welt, die vor dem Gedicht liegt, einzuholen und zu entdecken. Das ist eine Lektüre, die Zeit braucht. (Aus einem Interview mit Reiner Kunze, der Interviewer unbekannt, der Text leicht redigiert)


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