Bibliomanische FAB  / [I-L]


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Lange, Hartmut: Frei liegende Wunden

  Oswald Spengler klagte in seinen letzten Jahren über seelischen Druck beim Schreiben. Er war oft wochenlang allein und sprach mit niemandem, trotzdem sind seine Klagen rätselhaft. Waren es Depressionen, die er durch den Akt des Schreibens verdrängte? Geistige Arbeit ist ohne psychische Erregung kaum vorstellbar. Offenbar irrt Freud, wenn er behauptet, der Schriftsteller wäre zur Selbstheilung fähig, weil er seine subjektiven Befindlichkeiten zu Papier bringt und damit verobjektiviert. Ich selbst habe erfahren, wie sehr die Psyche beim Schreiben belastet wird, und je ehrlicher man schreibt, desto schonungsloser legt man jene Wunden an sich frei, die man durch Schweigen zum Heilen hätte bringen können. (Hartmut Lange: Tagebuch eines Melancholikers, S. 44)


Lange, Hartmut: Ein Triebtäter

  Der Schriftsteller wird in der Regel als Chronist aufgefaßt, und seine Beschreibungen gelten als poetische Quintessenz objektiver Beobachtungen. Er ist aber ein Triebtäter, der ausschließlich den eigenen Belangen, der eigenen existenziellen Not den Schein der Objektivität verleiht. Alles, was bei einem großen Schriftsteller objektiv erscheint, ist in Wirklichkeit subjektives Empfinden. Er kann nur über sich selbst sprechen, indem er über andere Personen und andere Sachverhalte spricht. Er beobachtet nur, weil er sich in den Beobachtungen selbst wiederfindet. (Hartmut Lange: Tagebuch eines Melancholikers, S. 55)


Lange, Hartmut: Bedürfnis ihrer Zeit

  Auch die Literatur ist ein Bedürfnis ihrer Zeit, wird aber von jenen, an die sie gerichtet ist, ihrer Zeitgenossenschaft wegen oft übersehen. Statt dessen werden Surrogate, die der Literatur auf modische Weise ähneln, um so sicherer aufgenommen. Da Mode aber immer im Unbehagen endet und die nächste Mode dieses Unbehagen nur für kurze Zeit hinwegzaubern kann, bleibt der Rückgriff auf alle überkommene Literatur erhalten. So las man in den zwanziger Jahren, nachdem man sich durch das Modische überanstrengt hatte, hin und wieder Balzac, zur Not auch Goethe, aber nie Kafka. (Hartmut Lange: Tagebuch eines Melancholikers, S. 110)


Lange, Hartmut: Geistige Arbeit

  Schön bei Kierkegaard die Beschreibung seiner Lust an geistiger Arbeit: Er fühlt seinen Kopf schwer von Gedanken und neigt ihn tief wie eine überreife Ähre, um die Ernte zu Papier zu bringen. (Hartmut Lange: Tagebuch eines Melancholikers, S. 124)


Lange, Hartmut: Bibliomanie-Definition

  Keine üble Definition auch der Bibliomanie, der man eine gewisse Zwanghaftigkeit ja wohl kaum absprechen kann: "Wir haben die Freiheit, jeder zwanghaften Handlung eine Beimischung persönlicher Kultur zu geben. Oder mit anderen Worten, mit den Worten des Philosophen meiner Wahl (Hegel) gesprochen: 'Der Mensch kann durch Anstrengung seines vernüntigen Willens dafür sorgen, daß alle Zwanghaftigkeit durch den Schein seiner schönen, freien Individualität verdeckt wird.'" (Hartmut Lange: Tagebuch eines Melancholikers, S. 137)


Lange, Hartmut: Literarische Sublimation

  Gastgeber: Sie treiben ihre Affären in der Phantasie, sozusagen vermittels Papier und Tinte, bis ins Absolute, hier bis in den Tod. - Ordinow: Und werden auf diese Weise jede Affäre los. Ich verstehe, hier hat sich ein Poet in den doppelten Genuß seines Lebens und Sterbens gebracht. - Gastgeber: Er ließ sein Leben und Sterben in Schweinsleder binden. - Ordinow: Er bringt überhaupt seine Biographie der Länge nach zu Papier. - Gastgeber: Er verkauft sich wie ein zweite Haut. - Ordinow: Wird gelesen, gerühmt, wärmt sich an der Sonne einer allgemeinen Beliebtheit. - Gastgeber: Und dies ist eine Voraussetzungen seiner andauernden Gesundheit, seiner literarischen Fruchtbarkeit und seines hohen Alters. - Ordinow: Da Goethe sich als Werther erschossen hat, kann er nun als Doktor Heinrich Faust achtzig Jahre alt werden. (Hartmut Lange: Tagebuch eines Melancholikers, S. 135)


Lange-Müller, Katja: Vom Schreiben und Lehren

  Ich hatte kluge Lehrer (...), die uns beibrachten, dass es für einen angehenden Schriftsteller nicht ausreiche, einen Text gut oder schlecht zu finden; o nein, ein solcher müsse auch und vor allem erkennen können, wie dieser Text gebaut ist, welchen Metaphern und Formen er sich verdankt, was er nennt und was er ausspart, damit es gerade darum wahrgenommen werde. Dichtung, das Wort sage es deutlich genug, sei eben das Gegenteil von weitschweifigem Gesülze, das Weggelassene daher oft beredter als das Hingeschriebene. Mancher reagierte auf diese Anleitung zum Wortgeiz wie jener Bartleby aus Herman Melvilles Erzählung (...) mit dessen unvollständigem, dennoch die fabelhafte Eskalation des Verhängnisses melodieartig begleitendem Satz: "Ich möchte lieber nicht." [X]


Laxness, Halldor: Abschriften

  Er schickte mir als Geschenk eine Abschrift davon, die so gemacht war, wie es daheim üblich ist: Wenn der Schreiber nicht selber falsch liest, will er ständig den Schreiber des alten Textes korrigieren. Ich selber besaß viele bessere Abschriften des Buches. (Halldor Laxness: Islandglocke, S. 415)


Laxness, Halldor: Verlorenes Buch

  Er wickelte das Buch mit geschickten, aber langsamen Bewegungen aus, und sie wartete voller Neugier darauf, in seinen Augen wieder jenes Leuchten zu sehen, das ein neuentdecktes alte Buch dort immer hervorgerufen hatte. Plötzlich hielt er mit dem Auspacken inne, schaute auf, lächelte und sagte: Ich habe mein liebstes Buch verloren. Welches, sagte sie. Das Buch, das wir beide gemeinsam gefunden hatten, sagte er - im Haus Jon Hreggvidssons. Dann berichtete er ihr mit einfachen Worten und ohne Scheu, wie ihm das Buch Skalda abhanden gekommen war. Das war ein großer Verlust, sagte sie. Am schwersten, sagte er, ist es, die Liebe zu verlieren, die man für ein kostbares Buch empfunden hat. Ich glaubte, man liebe eine verschwundene Kostbarkeit genauso lange, wie man sie vermißt, sagte sie. (Halldor Laxness: Islandglocke, S. 414)


Leo, Per: Die Tätigkeit des Schreibens

  Jeder Schreibende geht ja ein eigenartiges Verhältnis zu sich selbst ein. Wie die Schrift ein Zwischending ist oder ein Doppelding, zugleich körperlich und geistig, so ist es auch die Tätigkeit des Schreibens. Die Verbalform suggeriert eine falsche Eindeutigkeit. Wer schreibt, handelt nicht einfach. Vielmehr geschieht etwas mit ihm, während er etwas tut. Der Schreiber ist immer aktiv und passiv zugleich. Mag das Geschriebene hundertmal einem anderen gelten, es gilt immer auch und zuallererst ihm selbst. Noch während die Hand im Schreibakt etwas gibt, nimmt das Auge es wieder auf. Zeigen und Schauen sind beim Schreibakt nicht zu unterscheiden. Lange bevor ein Kind anfängt, in fremden Schriftbildern einen Sinn zu erkennen, hat es das sich selbst zuschauende Zeigen tausendfach am eigenen Leib erfahren: im Gekritzel, das Schrift und Bild noch amorph zusammenhält; in den unsicheren Gemälden, die immer auch sprechen wollen, in denen sich darum bald Buchstaben und Namen unter die Ikonen von Sonne, Haus und Schiff mischen; schließlich auch in der richtigen Schrift, die nie zum reinen Bedeutungsträger wird, sondern auch weiterhin Bild bleibt, gelobt oder getadelt, geschätzt oder missachtet für ihre Gestalt. Einmal mit dem Auge verwachsen, lässt sich die Empfänglichkeit für Schriftgestalten nie wieder ablegen. Nicht nur der junge Schreiber selbst, auch jeder andere hat für ihn ab jetzt eine Schrift, ja er ist Schrift, denn sie gehört so untrennbar zu ihm wie seine Stimme und sein Gesicht. Und auch wenn sie längst nicht alles verrät, so kann man sich ihrer Macht doch kaum entziehen. Für den Schüler, der mühsam lernt, die Buchstaben nach Vorschrift zu verbinden, ist die kaum leserliche, doch in ihrem schnellen Flug so sichere Handschrift der Eltern ein Hoheitszeichen. (Per Leo: Flut und Boden)


Leo, Per: Der Reiz des Briefeschreibens

  Wenn mein Freund Sven Waas und ich etwa alle zwei Wochen zwischen Bremen und München Briefe tauschten, was taten wir dann anderes, als das Spiel zu wiederholen, das schon Reuchlin und Melanchthon, Friedrich und Voltaire, Goethe und Zelter zwischen Wittenberg und Ingolstadt, Paris und Potsdam, Weimar und Berlin getrieben hatten? Wir ersetzten das Dauergespräch durch den Austausch mehr oder weniger spärlicher Notizen, und wir begnügten uns, da wir das Lachen des anderen nicht hören, die Spannung seiner Muskeln nicht sehen und den frühen Bart nicht fühlen konnten, mit dem Anblick seiner Schrift. (...) Menschen, ohne die man sich ein Leben nicht vorstellen konnte, waren allein durch ihre Schrift anwesend, also achtete man peinlich genau auf sie. Nicht nur war ja der Körper eines anderen in ihr enthalten, nicht nur erlebte man ihn beim Lesen typische Bewegungen vollführen und idiomatische Sätze sprechen. Sie wies auch, teils in Verstärkung, teils in Kontrast zum Inhalt, auf Gleichmut oder Erregung hin, auf Gedrücktheit oder Freude. (Per Leo: Flut und Boden)


Leo, Per: Bücher systematisch ordnen

  Wie sehr das Ordnen für ihn mehr als ein Mittel zum Zweck ist, nämlich eine Eigenart seines Geistes, zeigt sich gerade da, wo Martins Talente fehl am Platz sind. Als er dem Drang nachgibt, die verwaiste Bibliothek im Turmzimmer neu zu sortieren, zerstört er im Handstreich einen über viele Jahre gewachsenen Organismus. Der Vater hatte in gut wissenschaftlicher Manier den Standort eines Buches von der Signatur im systematischen Katalog abhängig gemacht. Der so entstandenen Ordnung entsprach nichts in der Anschauung; aber sie half dem Kundigen, Antworten auf offene Fragen zu finden. Wollte er etwa einen Aufsatz zum mittelalterlichen Salzhandel schreiben, musste er nur wissen, unter welchen Stichwörtern er zu suchen hatte. Dagegen ist die alphabetische Reihe, in die Martin die mehreren tausend Bände jetzt stellt, ein Akt der Barbarei. Der Junge mag nun mit einem Griff Brehms Thierleben oder Schwabs Sagen des klassischen Altertums finden, und auch Cäsars De Bello Gallico oder die Colloquia Desiderii Erasmi Roterodami dürften dem Gymnasiasten schnell zur Hand sein. Aber schon den Namen Ranke kennt er womöglich nicht, weshalb er ab jetzt ohne Not auf dem Trockenen säße, wenn er sich mal über die Schlacht bei Kunersdorf oder Papst Gregor XIII. informieren wollte; und Bücher wie Otto Fürsens Geschichte des kursächsischen Salzwesens bis 1586 hat er in seinem Eifer vollends lebendig begraben. Doch so unzweckmäßig Martins Ordnung sein mag, man kann sie sehen: Wie ein wandumfassendes Alphabet steht die Bibliothek nun als Ganzes vor ihm. (Per Leo: Flut und Boden)


Lesage, Alain-René: Purer Realismus

  Da es Menschen gibt, die nicht lesen können, ohne nach den Modellen der lasterhaften oder lächerlichen Gestalten zu suchen, die sie in einem Werke finden, so erkläre ich diesen boshaften Lesern, daß sie nur zu Unrecht die im vorliegenden Buch enthaltenen Porträts auf lebende Vorbilder beziehen könnten. Ich beteure öffentlich: Mein Ziel war einzig, das Leben der Menschen darzustellen, wie es ist; Gott verhüte, daß ich irgend jemanden hätte insbesondere kennzeichnen wollen! Also nehme auch kein Leser für sich in Anspruch, was sich, so gut wie auf ihn, auf andere beziehen kann; oder, wie Phädrus sagt, er verrät sich törichterweise: Stulte nudabit animi conscientiam. (Alain-René Lesage: Gil Blas)


Leskov, Nikolaj S.: Eine un-gebildete Frau

  Lesen hatte sie sich selbst beigebracht, und sie konnte auch mit ihrem Namen unterschreiben. Sie hatten nur zwei Töchter; Die ältere war neun Jahre alt, die jüngere sieben. Die Kinder wurden von einer russischen Gouvernante unterrichtet. Nastasja Petrowna nannte sich selbst oft im Scherz "eine ungebildete, dumme Gans". Dabei wußte sie kaum weniger als viele andere, sogenannte gebildete Damen. Französisch konnte sie nicht, aber russische Bücher verschlang sie geradezu, Ihr Gedächtnis war einfach fabelhaft. Aus der Geschichte Karamsins gab sie bisweilen ganze Abschnitte fast wörtlich aus dem Kopf wieder. Und Gedichte kannte sie ohne Zahl auswendig. Am meisten liebte sie Lermontow und Nekrassow. Als einstige Leibeigene, die viel hatte erdulden müssen, verstand sie Nekrassow besonders gut und hatte ihn in ihr Herz geschlossen. Im Gespräch entschlüpften ihr oft bäuerliche Wendungen, besonders, wenn sie in Begeisterung geriet; diese volkstümliche Redeweise paßte ausgezeichnet zu ihr. Wenn sie bisweilen in dieser Sprache wiedererzählte, was sie gelesen hatte, wurde ihre Erzählung so ausdrucksstark, daß man danach keine Lust mehr verspürte, selbst zu lesen. (Nikolaj S. Leskov: Am Ende der Welt, S. 62)


Reinhard Lettau: Buch Bein Flug Reim

  Warum ich mit dem Buch schon
lange durch die Luft geflogen bin?
Wir fanden's kühl und still hier.
Es kommen keine Leute hin:
Mit einem Buch am Bein
Fliegt man nie allein!


Leve, Edouard: Die lebenden Toten

  Du hast lieber stehend in einer Buchhandlung als sitzend in einer Bibliothek gelesen. Du wolltest die Literatur von heute entdecken, nicht die von gestern. Die Vergangenheit den Bibliotheken, die Gegenwart den Buchhandlungen. Und doch interessierten dich die Toten mehr als die Zeitgenossen. Du hast vor allem Autoren gelesen, die du "die lebenden Toten" nanntest: gestorbene Schriftsteller, die noch immer veröffentlicht werden. Für die Vergegenwärtigung des Wissens von gestern vertrautest du auf die Verleger. Du glaubtest nicht an wundersame Entdeckungen vergessener Schriftsteller. Du meintest, die Zeit erledige die Auslese, und dementsprechend solle man eher Autoren der Vergangenheit lesen, die heute verlegt werden, als Autoren von heute, die morgen vergessen sein werden. (Edouard Leve: Selbstmord)


Leve, Edouard: Die Macht eines Gottes

  Ob wahr oder falsch – du hast an das geschriebene Wort geglaubt. Handelte es sich um Lügen, so waren ihre Spuren Beweise, die man eines Tages gegen ihre Autoren verwenden konnte, die Wahrheit war also nur aufgeschoben. Im Übrigen sprechen Lügner eher, als dass sie schreiben. Ob dokumentiert oder erfunden, in den Büchern erschien dir das Leben wirklicher als jenes, das du rings um dich herum hörtest und sahst. Beim Betrachten des realen Lebens warst du allein. Und wenn du dich daran erinnertest, wurde es durch die Lückenhaftigkeit deines Gedächtnisses verkürzt. Das Leben in Büchern dagegen war von anderen erfunden worden: Was du last, war die Überlagerung zweier Wahrnehmungen, deiner eigenen und der des Autors. Du zweifeltest an dem, was du sahst, aber nicht an dem, was andere erfanden. Das wirkliche Leben musstest du in seinem kontinuierlichen Fluss hinnehmen, den Verlauf des erfundenen hingegen konntest du kontrollieren, indem du ihm deinen eigenen Rhythmus diktiertest: Du konntest es anhalten, beschleunigen oder verlangsamen, zurückspringen oder in die Zukunft blättern. Als Leser hattest du die Macht eines Gottes: Die Zeit war in deinen Händen. (Edouard Leve: Selbstmord)


Lewitscharoff, Sybille: Los des Kritikers

  Solide beurteilen lassen sich Werke erst, wenn der Autor gestorben ist. Wenn im Großen Buch Leben und Todesart vermerkt sind, wenn die herumschwänzelnden Werke nicht mehr korrigiert werden können, wissen wir Bescheid. Alle, die professionell über Bücher sprechen, leiden unter einer Krankheit. Nur das freie Lesen eines Buches, das keinen Zwecken dient, ist imstande, einen Nachhall zu erzeugen: zart lebt das gelesene Buch als Erinnerungsphänomen fort. Ein ungeliebtes Buch wird weggelegt und zündet vielleicht Jahre später. Muss man sofort darüber schreiben, wird dieser Prozess gestört. Ein Kritiker wird beim Lesen gleichsam zu einem permanenten coitus interruptus gezwungen. Das schlägt aufs Gemüt. Viele alte Kritiker sind berufskrank. Frauen werden launisch, Männer sexeln unentwegt herum. Junge Kritiker sind überspannt, erfahrungslos und klammern sich zu sehr an ihre Szene. Wer Verrisse schreibt, muss über die Quellen des Ressentiments Bescheid wissen, sollte scharfsinnig und gründlich sein, nicht temperamentlos und nicht allein vom Widerspruchsgeist getrieben. Rechnen wir die Charakterfestigkeit hinzu, kommt ein seltenes Wesen heraus. Es hat die Ohren einer Fledermaus. Seine Pfeile sitzen millimetergenau und geben uns eine Ahnung davon, wie schwierig es ist, Stellvertreter des HERRN zu sein.


Lewitscharoff, Sybille: Leser sind Halunken

  Leser sind Halunken. Sie lesen mal dies, gucken ein bißchen fern, lesen mal das und gucken wieder ein bißchen fern. Man kann sich nicht auf sie verlassen. Dem zeitgleichen Leser Kurzweil zu verschaffen ist nicht allzu schwer. Um auf die Leser Eindruck zu machen, die noch nicht geboren sind, muss man ganz andere Kunststücke vollbringen. Am schwierigsten ist es – und die kleinste Schwierigkeit ist noch dabei, dass man dazu fest an die Auferstehung glauben muss –, die sehr wählerischen, gestorbenen Leser zu beeindrucken. (Sibylle Lewitscharoff)


Lewitscharoff, Sybille: Den Zumutungen entgehen

  Was, außer der Erinnerung ans Händchenhalten, verbindet uns Schwestern heute? Bücher. Während sich die Eltern einen Stock tiefer in ihr Elend verbohrten, schlüpften wir oben in unsere Betten und lasen. Wir lesen nach wie vor, lesen und lesen, um den allfälligen Zumutungen, die ja immerfort nachwachsen, zu entgehen. Mit dem Unterschied, daß meine Schwester dickleibige Bücher liebt, während ich eine flotte Zickzackleserin bin. Gutzkow! Seelenruhig hat sich meine Schwester durch den kompletten Gutzkow durchgewühlt; ich verstehe immer noch nicht, wie sie mit ihren zarten Handgelenken diese Gutzkow-Gewichte stundenlang in die Höhe gestemmt haben will. Ich hingegen liebe den Wechsel. Auf einen Ellroy, fies und fett und blutig, Schneewandern mit Stifter. Nach einem menschenleeren Buch, in dem die Feige in allen ihren Zuständen beleuchtet wird, ein Menschenwimmelbuch aus Indien. (Sibylle Lewitscharoff: Apostoloff, S. 43)


Lichtenberg: Ermattende Bücher

  Es gibt eine gewisse Art von Büchern, und wir haben in Deutschland eine große Menge, die nicht vom Lesen abschrecken, nicht plötzlich einschläfern, oder mürrisch machen, aber in Zeit von einer Stunde den Geist in eine gewisse Mattigkeit versetzen, die zu allen Zeiten einige Ähnlichkeit mit derjenigen hat, die man einige Stunden vor einem Gewitter verspürt. Legt man das Buch weg, so fühlt man sich zu nichts aufgelegt, fängt man an zu schreiben, so schreibt man eben so, selbst gute Schriften scheinen diese laue Geschmacklosigkeit anzunehmen, wenn man sie zu lesen anfängt. Ich weiß aus eigener Erfahrung, daß gegen diesen traurigen Zustand nichts geschwinder hilft als eine Tasse Kaffee mit einer Pfeife Varinas. [aus den Sudelbüchern]


Locke, John: Pestilenzialische Bücher

  Bücher scheinen mir pestilenzialische Dinge zu sein, darvon alle, so mit ihnen zu schaffen haben, mit einer gar schmählichen und thierischen Kranckheit angestecket sind. Druckern, Bindern, Händlern und anderen, welche bey ihnen ihr Gewerbe suchen und Gewinst daraus ziehen, eignet gemeiniglich eine so sonderbare Geistesweise und verdorbene Sinnesart, daß man ihren Handel und Wandel als einen zur Gänze nur ihnen eigenthümlichen bezeichnen muß, indem derselbe weder nach der gemeinen Wohlfahrt fragt noch nach jener gemeinen Sittlichkeit, welche die Menschheit untereinander verbindet.


Lodge, David: Buchmarkierungen

  Heute habe ich in der Universitätsbibliothek die geisteswissenschaftlichen Magazine durchstöbert und im Schlagwortverzeichnis vergeblich nach Hinweisen auf Selbstmordbriefe gesucht, habe aber zwei Bücher über Dokumentenanalyse ausgeliehen, die in diesem Zusammenhang von Belang sein könnten. Schockiert stellte ich fest, daß in dem einen mehrere Absätze mit einem türkisfarbenen Textmarker hervorgehoben waren, nicht nur am Rand, sondern mit parallelen Strichen direkt im Text, von links nach rechts. Ich meldete die mutwillige Beschädigung an der Ausgabe. "Daß jemand, der Zugang zu einer Universitätsbibliothek hat und demnach doch wohl ein gebildeter Mensch ist, einem Buch so etwas antun kann, finde ich schon erstaunlich", sagte ich. Der Bibliothekar verzog das Gesicht und zuckte die Schultern. Da die Studierenden jetzt über einen Computerterminal selbst Bücher ausleihen und sie durch eine Art Wäscheschacht im Eingangsbereich zurückgeben könnten, lasse sich der Zustand der Bücher nicht mehr kontrollieren. "Aber Sie haben doch bestimmt die Daten aller Ausleiher eines bestimmten Buches auf Ihrem Rechner", sagte ich. "Können Sie die nicht alle herzitieren und nacheinander befragen? Mag sein, daß diese Vandalen sich nicht zu ihrer Tat bekennen, aber sie würden so etwas nicht noch einmal machen." Er sah mich an, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank. Wenn es um dieses Thema geht, hat er vielleicht nicht einmal so unrecht. Für mich zeigt sich Kultur oder Unkultur eines Menschen daran, wie er ein Buch behandelt. Hin und wieder - das gebe ich gern zu - kennzeichne ich eine Stelle in einem Bibkiotheksbuch vorsichtig mit Bleistift, radiere aber die Striche gewissenhaft wieder aus, wenn ich später, um meine Anmerkungen zusammenzuschreiben, systematisch Seite für Seite durchgehe. Es macht mich rasend, wenn ich in ausgeliehenden Büchern Absätze entdecke, die von einem Vorbenutzer kräftig, meist mithilfe eines Lineals, unterstrichen wurden, offenbar in der irrigen Annahme, das Wissen ließe sich auf diese Weise wirksam im Hirn verankern, und das Vergehen wiegt natürlich noch viel schwerer, wenn dabei nicht ein Bleistift, sondern ein Kugelschreiber zum Einsatz kam. Dafür einen Marker zu mißbrauchen ist neu und besonders verwerflich, da mit grellen Farbstreifen hervorgehobener Text beim Lesen natürlich stark ablenkt. (David Lodge: Wie bitte? S. 135f.)


Lodge, David: Literatur ist opak

  Nach Morris Zapps Ansicht lag die Wurzel allen Übels bei der Literaturkritik in der naiven Verwechslung von Literatur und Leben. Das Leben war transparent, die Literatur opak. Das Leben war ein offenes, die Literatur ein geschlossenes System. Das Leben bestand aus Sachen, die Literatur aus Worten. Das Leben war, was es zu sein vorgab. Wenn man Angst vor einem Flugzeugabsturz hatte, ging es um den Tod, wenn man versuchte, eine Frau ins Bett zu bekommen, ging es um Sex. Die Literatur war nie das, was sie zu sein vorgab, obgleich es bei einem Roman beträchtlicher Findigkeit und eines scharfen Blicks bedurfte, um den Code der realistischen Trugbilder zu knacken, weshalb er sich auch von Berufs wegen zu diesem Genre so hingezogen fühlte (selbst der unbedarfteste Literaturkritiker begriff, daß es bei Hamlet nicht um den Typ ging, der seinen Onkel umbringt, und beim 'Ancient Mariner' nicht um Tierquälerei, aber man konnte nur staunen, wie viele Leute meinten, bei Jane Austens Romanen ginge es darum, daß die Heldin den Mann ihres Herzens findet. (David Lodge: Ortswechsel)


Lodge, David: Wir schreiben einen Roman

  Fünf Minuten später hatte er 'Wir schreiben einen Roman' gefunden. Der grüne Rücken war abgegangen, deshalb waren sie vorhin nicht darauf gestoßen. Das Werk war 1927 herausgekommen und gehörte zu einer Reihe, in der auch 'Wir weben einen Teppich, Wir gehen angeln, Wir photographieren' mit Erfolg erschienen waren. "Jeder Roman muß eine Geschichte erzählen", hub es an. (Was du nicht sagst, bemerkte Morris ironisch.) "Und es gibt drei Arten von Geschichten. Die Geschichte mit glücklichem Ausgang, die Geschichte mit unglücklichem Ausgang und die Geschichte, die weder glücklich noch unglücklich endet, die mit anderen Worten gar keinen Ausgang hat." Aristoteles lebt! Morris war wider Willen gefesselt. Er blätterte zurück zur Titelseite und sah nach dem Namen des Autors. "A.J. Beamish, Verfasser von 'Die herzlose Schöne, Wildes Geheimnis, Glynis aus dem Glen' etc. etc." Er las weiter: "Die beste Geschichte ist die mit einem glücklichen, die nächstbeste die mit einem unglücklichen Ausgang, und die schlechteste ist diejenige, die gar kein richtiges Ende hat. Dem Anfänger sei geraten, mit der ersten Kategorie zu beginnen. Falls er nicht über ein gewisses Maß an Genialität verfügt, sollte er sich an keiner anderen Art versuchen." Bahn frei für Beamish, brummelte Morris. Solche unverblümten Feststellungen wären für die Teilnehmer von Englisch 305 bestimmt gar nicht unbekömmlich. Meist waren es arrogante Faultiere, die sich einbildeten, sie könnten den Großen Amerikanischen Roman zustandebringen, indem sie einfach ihre Lebensbeichte heruntertippen und die Namen änderte. (David Lodge: Ortswechsel)


Lodge, David: Bücher auf dem Klo

  Die Sache ist die: Ich habe ein Exemplar der Festschrift in seinem Haus gefunden. Auf dem Klo, um es genau zu sagen. Übrigens ein sehr merkwürdiges Klo, offenbar mal für einen anderen Zweck vorgesehen, als Tanzsaal vielleicht, das WC steht auf einem Sockel in einer Ecke. Ein gefliester Boden und eine kleine Öllampe, die das Einfrieren der Wasserrohre verhindern soll, geben dem Ganzen einen leicht gespenstisch-sakralen Anstrich. Auch Bücher sind da, nicht ausgewählte Klolektüre, sondern Überschuß aus den übrigen Räumen, die praktisch vom Boden bis zur Decke mit widerlichen, nach Schimmel und Buchwurmkot stinkenden Schwarten, vollgestopft sind. (David Lodge: Ortswechsel)


Loschütz, Gert: Mitglied einer Familie

  Wenn ich in einem sonst leeren Abteil ein Buch liegen sah, das ich kannte, stellte ich mich ans Fenster, um auf die Rückkehr seines Besitzers zu warten. Nachdem er wieder Platz genommen hatte, betrachtete ich sein Spiegelbild im Fenster, in der Hoffnung, durch ihn etwas über mich zu erfahren: als seien die Leser derselben Bücher Mitglieder einer Familie, die sich weniger in Gesichts- oder Körperähnlichkeit zeigte als vielmehr in einer bestimmten Haltung, die ich, bei ihm entdeckt, auch bei mir finden zu können meinte. (Gert Loschütz: Dunkle Gesellschaft. Roman in zehn Regennächten)


Ludwig, Daniel: Ausgeglichene Balance

  Ein Leben wird nicht dadurch ärmer, daß es mit Wissen und Erkenntnissen bereichert wird. Sogar ganz im Gegenteil, aus den Büchern kann vieles geschöpft werden, was das Leben interessanter und spannender macht. Durch Bücher wird der Mensch auf vieles sensibilisiert, was ihm sonst entgangen wäre, er bekommt bessere Vergleichs- und Erkenntnismöglichkeiten, die er wiederum gewinnbringend in seinem "wirklichen" Leben einsetzen kann. Aber auch umgekehrt, aus dem Leben können Erkenntnisse gewonnen werden, mit denen Bücher relativiert und eingeschätzt werden können. Es ist eher wichtig, eine vernünftige Balance zwischen diesen "Extremen" zu verschaffen. Jeden Tag von morgens bis Abends nur mit Büchern beschäftigt zu sein, ist ebenso krank, wie niemals in seinem Leben ein Buch gelesen zu haben. (gelesen in der Newsgroup de.rec.buecher)


Luminet, Jean-Pierre: Koran lesen

  Lies! Im Namen deines HERRN, der erschuf! Lies! Das sind die ersten Worte, die der Erzengel Gabriel, Allahs Bote, in der Höhle des Berges Hira, wo Mohammed die Offenbarung erfuhr, zum Propheten sprach." "Ein großartiger Befehl!" Philoponos nickte zustimmend. "Ich glaube, ich werde deinen Koran doch noch studieren." "Nicht übel, in der Tat", befand nun auch Rhazes. "Klingt ein wenig nach Buch Baruch." Lesen, schön und gut, dachte Hypatia versonnen. Aber was und wie? Nur den Koran lesen oder voller Wißbegierde sich auch anderen Werken zuwenden? Lesen, ohne zu verstehen, ist nicht schlimm. Aber lesen, ohne zu zweifeln, das ist gefährlich. Lesen ohne Vergnügen ist nicht lesen. Aber das diesem Mannsbild von Beduinen klarzumachen, ist vergeblich. Dem ist nur ein Vergnügen das höchste, und womöglich werde ich gezwungen sein, es ihm zu bieten. (Jean-Pierre Luminet: Alexandria. Roman einer Bibliothek, S. 223)


Luminet, Jean-Pierre: Feindes des Buches

  Die vier Elemente sind auch die vier Feinde des Buches. Die Luft läßt es zerfallen, wenn man es nicht sorgfältig in schützende Schränke verschließt, das Wasser macht es unleserlich, wenn man es nicht regelmäßig an der Sonne atmen läßt, der Staub überdeckt es, wenn man es zu lange unbeachtet liegen läßt. Das Feuer aber ist der schlimmste Feind der Bücher, und auch der Mensch kann sie nicht vor ihm schützen, denn der Mensch ist es ja gerade, der das Feuer auslöst - durch Krieg, aus Haß auf die Gebildeten, aus Angst vor der Wahrheit oder, was am häufigsten der Fall ist, durch schlichte Nachlässigkeit. Man kann sie gar nicht zählen, die durch Flammen vernichteten Bibliotheken, und nie hat man erfahren, warum und wie das Feuer ausgebrochen war. Dennoch wurde der Brandstifter immer geächtet, ob er für das Unheil wirklich verantwortlich war oder nicht! Selbst wenn er unschuldig war, vermochte er sich niemals gänzlich vom Verdacht reinzuwaschen; die Schmach war zu groß: Wer Bücher verbrennt, der verbrennt seine Ahnen, verbrennt Vater und Mutter, verbrennt seine Seele und die ganze Menschheit gleich mit. (Jean-Pierre Luminet: Alexandria. Roman einer Bibliothek, S. 150)


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