Bibliomanische FAB  / [M1]


A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  X  Y  Z   [^] 

Macdonald, Marianne: Antiquariat

  Meine gute Laune ließ sich selbst von dem Kontoauszug kaum verderben, der, nachdem ich wieder zurück war, hinterhältig auf dem Boden im Laden auf mich lauerte. Wenn ich mich wirklich für Geld interessieren würde, hätte ich eine Bank aufgemacht und kein Antiquariat. Ich überprüfte die Kontoführungsgebühren, stellte fest, daß sie zwar korrekt, aber viel zu hoch waren, und machte mich mit dem Gedanken vertraut, daß das Antiquariat Dido Hoare tief in den roten Zahlen stand und daß seine Besitzerin Dido Hoare schleunigste etwas dagegen unternehmen mußte. Die restliche Post bestand größtenteils aus Katalogen, Wurfsendungen und kleinen Rechnungen . Darunter war auch eine Bestellung für ein zwanzig Pfund teures Buch aus meinem letzten Katalog, für das ich löblicherweise sofort die Rechnung schrieb; dann fing ich an, es einzupacken, während ich auf bessere Zeiten wartete und einen bemerkenswert großen, bebrillten jungen Mann im Auge behielt, der hereinspaziert kam und in den Regalen mit den philosophischen Werken herumstöberte. Er wirkte auf mich wie ein Leser und nicht wie ein Käufer und bestätigte mir diesen Eindruck, als er (nachdem er lange mit sich gerungen hatte) mit der leicht stockfleckigen, dreibändigen Ausgabe von Russells Autobiographie wieder abzog. Ich überließ sie ihm für acht Pfund - das würde meinen Bankmanager zwar nicht zu Begeisterungsstürmen hinreißen, aber wenigstens würde Mr Spock vierzehn Tage lang etwas zu fressen haben. (Marianne Macdonald: Das Manuskript, S. 127f.)


Machfus, Nagib: Es schadet nicht

  Ohne sich dessen bewußt zu werden, trank sie Unmengen von Kaffee, und es schien geradezu, als wäre alles, was mit Kaffee zusammenhing, die Zubereitung und das Trinken, zum einzigen Vergnügen ihrer sonstigen Einsamkeit geworden. Es kam durchaus vor, daß sie fünf, sechs, bisweilen auch zehn Tassen Kaffee nacheinander hinunterschlürfte. Kamal verfolgte voller Unruhe diese Unmäßigkeit, und wenn er sie vor den Folgen warnte, dann bestand die Antwort zunächst in einem Lächeln, das die Frage zu enthalten schien, was sie denn sonst wohl machen sollte, und erst dann erklärte sie im Brustton der Überzeugung: "Kaffee schadet nicht." "Du liest zuviel. Immer sitzt du über den Büchern, selbst in den Ferien. Keinen Tag gönnst du dir Ruhe. ich habe Angst, daß du dich unnötig überanstrengst." "Ein Tag hat viele Stunden", sagte Kamal, und seinem Tonfall war anzuhören, daß ihm dieses Verhör nicht willkommen war. "Wenn man ein paar Stunden liest, dann erschöpft es einen nicht gleich. Lesen ist eine Art Unterhaltung, selbst wenn es sich um nützliche Bücher handelt." "Ich fürchte", erklärte sie nach kurzem Zögern, "daß das Lesen der Grund ist, warum du so oft schweigst und geistesabwesend bist." Ach nein, das Lesen war nicht der Grund. Wüßte sie nur, wie sehr ihm die Bücher Zuflucht boten. Etwas anderes beschäftigte seinen Kopf, und nicht einmal beim Lesen konnte er dem entrinnen. Er litt an einer Krankheit, gegen die weder die Mutter noch sonst ein Mensch ein Heilmittel wußte. Es war das Leiden des Herzens, das vor liebender Anbetung immer verstörter wurde und nicht wußte, wohin die Pein es trieb. "Lesen ist wie Kaffeetrinken", meinte er verschmitzt. "Es schadet nicht. Wolltest du nicht, daß ich ein 'Gelehrter' wie mein Großvater werde?" (Nagib Machfus: Palast der Sehnsucht)


Machfus, Nagib: Mit größerer Klarheit

  "Übrigens, was liest du gerade?" Das war genau das Thema, das Kamal - außer allem, was mit Aida zusammenhing - am allerliebsten war, und so antwortete er: "Ich kann dir im Augenblick nur soviel sagen, daß bei dem, was ich lese, eine gewisse Systematik eingetreten ist. Mir geht es nicht mehr um irgend etwas, so zwischen übersetzten Romanen, Gedichtanthologien und Artikeln, sondern ich suche meinen Weg mit größerer Klarheit. Ich habe jetzt angefangen, jeden Abend zwei Stunden in der Nationalbibliothek zu lesen, und versuche, in Enzyklopädien dunklen, mysteriösen Begriffen wie 'Literatur', 'Philosophie', 'Denken', 'Kultur' auf die Spur zu kommen. Ich notiere Titel von Büchern, die mir in die Hände fallen, und muß sagen, daß das eine wunderbare Welt ist, in der man vor lauter Neugier und Eifer sich verlieren kann." (Nagib Machfus: Palast der Sehnsucht)


Machfus, Nagib: Literaturstudium

  "Warum interessieren sich Mädchen fast nur für die Philosophische Fakultät, vor allem für Literatur?" "Weil ihnen der Lehrerberuf noch die meisten Möglichkeiten zum Arbeiten bietet." "Das mag der eine Grund sein, aber als zweiter kommt hinzu, daß das Literaturstudium etwas Weibisches an sich hat. Rouge, Maniküre, Kuhl, Lyrik, Erzählungen - das gehört alles in einem Topf." (Nagib Machfus: Zuckergäßchen)


Maelicke, Bernd: Gefängnisbibliothek

  Wenn die Gefangenen für einen Automaten mit Schokoladenriegeln kämpfen, dann weiß ich, daß es in Wirklichkeit um den Transport von Drogen geht. Die Lieferung der Schokolade kann leicht durch das eine oder andere Kistchen ergänzt werden. Wenn ich den Leiter einer Gefängnisbibliothek vor mir habe, denke ich nicht als Erstes an die Bücher, die er liest, sondern daran, daß diese leute in der Gefangenenhierarchie eine entscheidende Rolle spielen. Nicht immer, aber oft.


Malpass, Eric: Zuvorgekommen

  Paps saß, mit der Feder in der Hand, meditierend vor jungfräulich weißem Papier. Wie die meisten Humoristen war er melancholisch und grüberlisch veranlagt. Wie die meisten Humoristen hätte er lieber den Hamlet geschrieben, wäre ihm der Barde nicht zuvorgekommen - eine Tatsache, die ihn immer wieder mit Groll gegen den Dichterfürsten der englischen Literatur erfüllte. (Eric Malpass: Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung, S. 33)


Manguel, Alberto: Auf neue Weise

  Wir kehren nie zu demselben Buch oder auch nur zur selben Passage zurück, denn im wechselnden Licht verändern wir uns, und auch das Buch verändert sich, unsere einst leuchtenden Erinnerungen verblassen, dann erstrahlen sie von neuem, und wir wissen nie genau, was wir lernen, vergessen oder behalten. Sicher ist nur, daß wir im Lesen die Stimmen der Vergangenheit aufrufen und diese Stimmen manchmal für die Zukunft bewahren, wo sie vielleicht in neuer, ganz unerwarteter Weise zu uns sprechen. (Alberto Manguel: Eine Geschichte des Lesens)


Manguel, Alberto: Bücherkategorien

  Manche Bücher durchqueren wir im Fluge. Schon beim Umblättern vergessen wir, was auf der vorigen Seite stand. Andere lesen wir mit Ehrfurcht, ohne Widerspruch oder Zustimmung zu wagen. Wieder andere dienen lediglich der Information und bleiben ohne Kommentar. Dann gibt es Bücher, die uns in vielen Jahren so sehr ans Herz gewachsen sind, daß wir sie nur Wort für Wort wiederholen können, denn wir kennen sie längst auswendig. Lesen ist Gespräch. So wie Psychotiker mit ihren inneren Stimmen reden, lassen sich Lesende durch Worte auf der Buchseite zu einem Dialog provozieren. (Alberto Manguel: Tagebuch eines Lesers, S. 7)


Manguel, Alberto: Latenzstadium

  Physiker stellen sich vor, daß das Universum vor seiner Entstehung in einem Zustand der Latenz verharrte, Zeit und Raum blieben bis zum Urknall in der Schwebe, in einem "Nebel der Möglichkeiten", wie es ein Autor formulierte. Die Latenz dürfte Leser nicht überraschen, für die jedes Buch in einer Art Schlummer verharrt, bis es durch die Hände, die es aufschlagen erweckt wird. (Alberto Manguel: Tagebuch eines Lesers, S. 9)


Manguel, Alberto: Lesegeschwindigkeiten

  Vor Jahren fragte mich Michael Ondaatje nach dem Namen eines britischen Sergeanten in "Kim", weil er ihn in seinem Roman verwenden wollte. "Lesen Sie ihn langsam, Mädchen", sagt der Englische Patient zu Hana. "Sie müssen Kipling langsam lesen. Achten Sie genau darauf, wo die Kommas hinkommen, damit Sie die natürlichen Pausen herausfinden. Er ist ein Schriftsteller, der Tinte und Papier benutzt hat. Vermutlich hat er recht oft von einer Seite aufgeschaut." (Alberto Manguel: Tagebuch eines Lesers, S. 60)


Manguel, Alberto: Worte finden

  Die alten Binsenweisheiten gelten noch: daß Gewalt zu Gewalt führt; daß alle Macht Mißbrauch bedeutet; daß Propaganda Propaganda bleibt, selbst wenn sie beansprucht, gegen das Unrecht zu kämpfen; daß ein Krieg nur in den Augen der Sieger ruhmreich ist, die glauben, daß Gott auf der Seite der stärkeren Bataillone steht. Vielleicht ist das der Grund, weshalb wir lesen und warum wir in Zeiten der Finsternis zu den Büchern zurückkehren: um Worte für das zu finden, was wir schon wissen. (Alberto Manguel: Tagebuch eines Lesers, S. 74)


Manguel, Alberto: Workaround

  Julien Green erzählt, im Schottland des 18. Jahrhunderts sei das Wort 'wrath' - Zorn - auf der Kanzel so häufig verwendet worden, daß einem Drucker von Predigttexten die Ws ausgingen und er gezwungen war, stattdessen Vs zu verwenden. (Alberto Manguel: Tagebuch eines Lesers, S. 77)


Manguel, Alberto: Geborgte Bücher

  Don Quijote erzählt Cardenio, daß er "mehr als dreihundert Bücher" besitzt. Die Bücher von und über Cervantes belegen drei Fächer in meiner Bibliothek. Ich stelle fest, daß ich das Cervantes-Buch, das Javier Cercas mir unbedingt leihen wollte, noch immer habe. Ich muß es zurückschicken. Bücher anderer Leute habe ich ungern im Haus. Entweder will ich sie behalten oder sofort zurückgeben. Geborgte Bücher haben etwas von Besuchern, die ihren Aufenthalt überziehen. Ihre Lektüre hat für mich etwas Unvollkommenes, Unbefriedigendes. Das trifft auch auf Bibliotheksbücher zu. (Alberto Manguel: Tagebuch eines Lesers, S. 159)


Manguel, Alberto: Sei Shonagon

  Sei Shonagon über das Lesen: "Erfreuliche Dinge: Eine große Menge von Geschichten zu erfinden, die man noch nie gelesen hat. Oder den zweiten Band einer Erzählung zu erwerben, deren erster Band einem Freude gemacht hat. Aber oft ist er enttäuschend." (Alberto Manguel: Tagebuch eines Lesers, S. 194)


Manguel, Alberto: Geheime Freuden

  Ich zeige der argentinischen Schriftstellerin Alicia Borinsky meine Bibliothek. An Punkten gemeinsamen Wiedererkennens bleiben wir stehen: alte Bände argentinischer Autoren, die wir beide in unserer Jugend lasen: Silvina Ocampo, Cortazar, Oliverio Girondo. Dann zeige ich auf kanadische Autoren, die sie nicht kennt: Sandra Birdsell, Sharon Butala, Anna Michaels, Andreas Schroeder, Susan Swan. Ein Eingeständnis geheimer Freuden in alphabetischer Reihenfolge. (Alberto Manguel: Tagebuch eines Lesers, S. 208)


Manguel, Alberto: Den Faden verlieren

  Bioy Casares erzählte, daß der argentinische Schriftsteller Enrique Larreta ihm einmal versicherte, "sein Geist sei so wach, daß er ihm das Lesen unmöglich mache; jeder Satz löse in ihm so viele Vorstellungen und Bilder aus, daß er sich in den Abgründen seiner eigenen Gedanken verirre und beim Lesen den Faden verliere." (Alberto Manguel: Tagebuch eines Lesers, S. 220)


Manguel, Alberto: Ausschlußverfahren

  Beim Essen erzählt mir der Lektür Anders Björnsson: Als seine Bibliothek bei einem Feuer verbrannte und er überlegte, eine neue einzurichten, kam ihm plötzlich der Gedanken, daß er zuvor wissen mußte, welche Bücher er nicht aufnehmen würde. (Alberto Manguel: Tagebuch eines Lesers, S. 224)


Manguel, Alberto: Bibliothekstraum (1)

  In einem seiner Tagebücher erzählt Gide einen Traum: Er besucht Proust in seiner Bibliothek, und plötzlich wird seine Aufmerksamkeit auf ein Stück Bindfaden gelenkt, das ein Bücherbündel zusammenhält. Er zieht daran, und mehrere Bände fallen herunter, wobei die Rücken schwer beschäfigt werden, "das ist die Saint-Simon-Ausgabe von...", und er nennt das Jahr. Da begreift Gide, daß er eine der seltensten und meistgesuchten Ausgaben beschädigt hat. (Alberto Manguel: Tagebuch eines Lesers, S. 229)


Manguel, Alberto: Bibliothekstraum (2)

  Schauplatz meiner Träume ist oft die Bibliothek. Letzte Nacht träumte ich, daß sie voller Leute war, als ich hereinkam, meist Schriftsteller, die ich kannte und die nun tot sind. Ich war überglücklich, Denis Levertow zu sehen, und wollte sie küssen, aber sie wandte sich lächelnd ab, dann zog sie Bücher aus dem Regal und warf sie übermütig in die Höhne. Ich hatte Angst, daß jemand von den Büchern getroffen wurde. (Alberto Manguel: Tagebuch eines Lesers, S. 228)


Mann, Klaus: Ragnars Bibliothek

  "Jetzt müssen Sie auch noch meine Bibliothek sehen." Es klang, als wolle er sagen, daß sie allem Wichtigen im Hause begegnet sei, wenn sie die Hunde und die Bibliothek kenne. Sie gingen durch den Salon, der in einem sanft-graurosa Halblicht lag, in das Arbeitszimmer. Hier bestand die Einrichtung nur aus den Bücherschränken, die die Wände einnahmen; aus einem schweren Schreibtisch mit Schubfächern, einem breiten ledernen Klubsessel und einem niedrigen Tischchen, auf dem ein Grammophon stand. Ragnar sagte, und lächelte etwas befangen: "Ja, das sind meine Bücher..." Er machte eine feierlich vorstellende Geste zu den Schränken hin. Johanna konstatierte, daß sie zum großen Teil mit französischen, gelbbroschierten oder schön in Leder gebundenen Editionen gefüllt waren; in einigen Fächern gab es englische, in anderen schwedische, in einigen wenigen deutsche Bände. "Sie sehen", erklärte Ragnar, "ich lese auch deutsch, aber nicht viel. Am liebsten Lessing oder Goethe, nie Schiller und fast nie Modernes. Ich habe ja Deutschland nie sehr gerne geliebt", sagte er und blickte Johanna ernst an. Er sprach sehr gut Deutsch, wenn auch mit einem etwas stärkeren Akzent als Karin und die Mutter - ein Akzent, der übrigens auch bei ihm eher russisch als skandinavisch klang - und mit mehr kleinen Fehlern oder Ungeschicklichkeiten als diese. "Aber von den großen Franzosen ist alles da", sagte er mit Stolz. "Sie sehen, von Racine bis Claudel, und Rimbaud und Stendhal und Flaubert und Andre Gide, Cocteau und Verlaine. Was für eine herrliche Literatur!" "Ich bin in den letzten Jahren so schrecklich wenig dazu gekommen, solche Dinge zu lesen", sagte Johanna etwas beschämt. "Wissen Sie, es gab so viel anderes zu tun..." "Aber nun haben Sie ja doch Zeit!" Ragnar rief es sehr eifrig. "Kennen Sie Rimbaud nicht? Sie müssen ja doch jedenfalls Rimbaud lesen!" Er nahm einen Band aus der Reihe, blätterte hastig darin. "'Le bateau ivre'", rief er. "Wie ist es möglich geworden, daß Sie 'Le bateau ivre' versäumt haben!" Er deklamierte, im Zimmer hin- und hergehend, die ersten Zeilen des großen Gedichtes. "Aber, warten Sie", unterbrach er sich. "Sie können es auf diese Weise ja gewiß nicht kennenlernen. Sie müssen es an sich nehmen, richtig mitnehmen müssen Sie es, und es ganz inständig lesen. Ganz fabelhaft ist das ja! Ich beneide Sie, daß Sie es jetzt erst kennenlernen." Er gab ihr das Buch in die Hand. (Klaus Mann: Flucht in den Norden, S. 50)


Mann, Thomas: Der Ehrgeiz am Werk

  Nicht immer sind es die größten Werke, die mit den größten Absichten geschrieben werden. Im Gegenteil halte ich es für die Regel, daß die großen Werke das Ergebnis bescheidener Absichten waren. Der Ehrgeiz darf nicht am Anfang stehen, nicht vor dem Werk. Er muß mit dem Werk heranwachsen und diesem mehr angehören als dem Ich des Künstlers. Es ist nichts falscher als der abstrakte und vorsachliche Ehrgeiz, der Ehrgeiz an sich und unabhängig vom Werke, der bleiche Ehrgeiz des Ich. (Thomas Mann: Über mich selbst. Autobiographische Schriften, S. 62)


Mann, Thomas: Kunst und Leben

  Doch war ich niemals ein Arbeits-Anachoret wie Flaubert, wünschte nicht, weltfremder zu sein, als es nun einmal in der Natur des Poeten liegt, und habe mich immer bemüht, dem Menschlichen und dem sozialen Leben, dem Staate, soweit seine Sphäre sich mit der Kultur berührt, der Familie, der Geselligkeit und Freundschaft, der Zerstreuung und dem Genuß das Ihre zu geben. Das Problem des Gegensatzes von Kunst und Leben, Künstlertum und Menschentum hatte mich früh und tief beschäftigt, und so sehr ich mich zur Kunst berufen, um nicht zu sagen: verurteilt fühlte, wollte ich mich nicht in ihr verzehren, sondern ein Mensch sein, so gut ich es nur vermochte. (Thomas Mann: Über mich selbst. Autobiographische Schriften, S. 150)


Mann, Thomas: Was ein Dichter ist

  Diejenigen, die meine Schriften durchblättert haben, werden sich erinnern, daß ich der Lebensform des Künstlers, des Dichters stets mit dem äußersten Mißtrauen gegenüberstand. In der Tat wird mein Erstaunen über die Ehren, welche die Gesellschaft dieser Spezies erweist, niemals enden. Ich weiß, was ein Dichter ist, denn bestätigtermaßen bin ich selber einer. Ein Dichter ist, kurz gesagt, ein auf allen Gebieten ernsthafter Tätigkeit unbedingt unbrauchbarer, einzig auf Allotria bedachter, dem Staate nicht nur nicht nützlicher, sondern sogar aufsässig gesinnter Kumpan, der nicht einmal sonderliche Verstandesgaben zu besitzen braucht, sondern so langsamen und unscharfen Geistes sein mag, wie ich es immer gewesen bin, - übrigens ein innerlich kindischer, zur Ausschweifung geneigter und in jedem Betrachte anrüchiger Scharlatan, der von der Gesellschaft nichts anderes sollte zu gewärtigen haben - und im Grunde auch nichts anderes gewärtigt - als stille Verachtung. Tatsache aber ist, daß die Gesellschaft diesem Menschenschlage die Möglichkeit gewährt, es in ihrer Mitte zu Ansehen und höchstem Wohlleben zu bringen. Mir kann es recht sein; ich habe den Nutzen davon. Aber es ist nicht in der Ordnung. es muß das Laster ermutigen und der Tugend ein Ärger sein. (Thomas Mann: Über mich selbst. Autobiographische Schriften, S. 168)


Mann, Thomas: Außer Konkurrenz

  Übrigens habe ich nie gefürchtet, daß irgend jemand, und sei es der Überragendste, mich durch die promptere Behandlung eines mir angelegenen "Stoffes" matt setzen könnte. Hätte ich es zu fürchten, meine Langsamkeit würde zur Dauerkatastrophe. Aber was ist "Stoff"! Das Persönliche ist alles. Der Stoff ist nur durch das Persönliche. Und meine allzu subjektive Art stellt mich wenigstens sicher gegen jede ernstliche Kollision mit Gleichzeitigem und schneller Fertigem. (Thomas Mann: Über mich selbst. Autobiographische Schriften, S. 356)


Mann, Thomas: Reden & Schreiben

  Zu den geborenen Nichtrednern zähle ich die Schriftsteller überhaupt: es bestehen tiefe Unterschiede, ja Gegensätze zwischen den Produktions- und Wirkungsarten des Redners und des Schriftstellers, und namentlich wird das Improvisatorische, das literarische Ungefähr allen Redens, das Prinzip künstlerischer Aussparung, das vieles, ja Entscheidendes der nachhelfenden Persönlichkeitswirkung zur Ergänzung offenläßt, den Instinkten der entschiedenen Schriftstellerpersönlichkeit zuwider sein. (Thomas Mann: Über mich selbst. Autobiographische Schriften, S. 418)


Mann, Thomas: Bücher als Rüstzeug

  Er liebte zu lesen, trachtete nach dem Wort und dem Geist als nach einem Rüstzeug, auf das ein tiefer Trieb ihn verwies. Aber niemals hatte er sich an ein Buch hingegeben und verloren, wie es geschieht, wenn einem dies eine Buch als das wichtigste gilt, als die kleine Welt, über die man nicht hinausblickt, in die man sich verschließt und versenkt, um Nahrung noch aus der letzten Silbe zu saugen. Die Bücher und Zeitschriften strömten herzu, er konnte sie alle kaufen, sie häuften sich um ihn, und während er lesen wollte, berunruhigte ihn die Menge des noch zu Lesenden. (Thomas Mann: Schwere Stunde, Erzählungen, S. 135)


Mann, Thomas: Reiche Sprache

  Verzückte Poeten haben mir vorgesungen, die Sprache sei arm, ach, sie sei arm - o nein, mein Herr! Die Sprache, dünkt mich, ist reich, ist überschwenglich reich im Vergleich mit der Dürftigkeit und Begrenztheit des Lebens. Der Schmerz hat seine Grenzen: der körperliche in der Ohnmacht, der seelische im Stumpfsinn, - es ist mit dem Glück nicht anders! Der menschliche Mitteilungsbedürfnis aber hat sich Laute erfunden, die über diese Grenzen hinweglügen. (Thomas Mann: Der Wille zum Glück, Erzählungen, S. 99)


Mann, Thomas: Schwerer als anderen

  Die Worte schienen ihm durchaus nicht zuzuströmen, für einen, dessen bürgerlicher Beruf das Schreiben ist, kam er jämmerlich langsam von der Stelle, und wer ihn sah, mußte zu der Anschauung gelangen, daß ein Schriftsteller ein Mann ist, dem das Schreiben schwerer fällt als allen anderen Leuten. (Thomas Mann: Der Wille zum Glück, Erzählungen, S. 244)


Mann, Thomas: Der Verleger

  Der Beitrag des Verlegers an die Zeit, an die Entwicklung ist nicht individuell, er ist organisatorisch; er ist - ich sage es mit jenem Neid, dessen ich eingestandenermaßen diese Existenzform für wert halte - geistig genommen sowohl bequemer als großartiger. Der Verleger ist kein Solist der geistigen Anstrengung, er ist ihr Kapellmeister. Wo der Schriftsteller, in seiner öffentlichen Einsamkeit, nur auf sich selbst gestellt, sich für die Zeit, für sein Volk notdürftig ichbedingt ins Rechte denkt, um Goethes schönes Wort zu gebrauchen, da zieht der Verleger, überschauend, von der Gesamtbemühung all das an sich, was seinem Instinkt, seinem Gefühl des Notwendigen recht, gut und förderlich scheint, übernimmt es, drückt ihm das Zeichen seines Unternehmens auf und wirft es gesammelt ins Treffen des Lebens gegen die Mächte der Renitenz, der Dumpfheit und des Todes. Welch ein herrlicher Beruf, diese Mischung aus Geschäftssinn und strategischer Geistfreundschaft! (Thomas Mann: Der Verleger; Ansprache 1928)


Mansfield, Katherine: Henry der Bücherfreund

  Henry war ein großer Bücherfreund. Zwar las er weder viel noch besaß er mehr als ein halbes Dutzend. In der Mittagspause schaute er sich in der Charing Cross Road alle Auslagen an und zu allen erdenklichen Zeiten in London. Die Menge derer, denen er einen Gruß zunickte, war erstaunlich. Nach der peniblen, korrekten Art, wie er mit ihnen umging, und seinen wohlgesetzten Worten, wenn er mit dem einen oder anderen Buchhändler darüber sprach, hätte man geglaubt, daß er seinen Brei nur gegessen hätte, wenn an der Brust der Frau ein Buch lehnte. (in: Etwas Kindisches, aber sehr Natürliches)


Manutius, Aldus: Belästigungen eines Autors

  Zwei Dinge sind es besonders außer hundert andern, die mich fortwährend stören. Zuerst die häufigen Briefe hervorragender Männer, welche von allen Seiten an mich geschickt werden. Wollte ich auf alle diese antworten, so müßte ich Tag und Nacht mit Schreiben von Briefen zubringen. Das zweite sind die zahlreichen Besucher. Diese kommen teils um zu sehen, wie es mir geht, teils um zu fragen, was neues im Werke ist, teils aus Mangel an eigener Beschäftigung. Gar nicht erst sprechen will ich von denen, welche kommen, um mir ihre Erzeugnisse in Vers und Prosa vorzulesen, die sie von mir gedruckt haben wollen. Für sie alle habe ich jetzt dieses Schild an der Tür: "Wer du auch seist, du wirst dringend ersucht, mit wenigen Worten abzumachen, was du willst, um dich dann schleunigst zu entfernen". (Aldus Manutius, 1514)


Marai, Sandor: Schwerfällige Bekannte

  Es reicht nicht, zu lesen. Wiederlesen ist (...) wichtiger. Und man muß nicht nur das Buch wiederlesen, das in der Erinnerung verblaßt oder das wir beim Lesen nicht ganz verstanden haben: Auch der Satz, das Substantiv, das Verb, das Attribut, das im Buch etwas schicksalhaft bestimmt, muß wieder gelesen werden. Denn was will ein Buch? Sich verständlich machen. Aber derlei geht langsam, fast so langsam und kompliziert wie im Leben. Ehepartner brauchen bisweilen Jahrzehnte, bis sich der eine dem anderen endlich verständlich machen kann. Auch Bücher sind so schwerfällige Bekannte. Es reicht nicht, nach Katalog, nach der Mode oder der Tradition zu lesen; mit Instinkt muß man die Lektüre aufspüren, die - uns, ganz persönlich - etwas sagen kann. Man muß regelmäßig lesen, so wie man zu schlafen, zu essen, zu lieben und zu atmen pflegt. Die Bücher geben, wie Menschen auch, ihr Geheimnis, ihr Vertrauen nur preis, wenn auch du dich ihnen hingibst und öffnest. Ich mag keine anderen Bücher lesen, nur solche, die mein Eigentum sind. Es reicht nicht, den Gedanken und das Wissen zu besitzen, die das Buch enthält. Auch das Buch selbst soll ganz mir gehören - bedingungslos, so wie man die Geliebte ganz haben will -, die irdische Staubhülle des Gedankens. (Sándor Márai, Himmel und Erde, 129f.)


Marai, Sandor: Armer Gutenberg

  Immer mehr Leute wollen schreiben. Immer weniger wollen lesen. (...) Armer Gutenberg. Er glaubte, bewegliche Buchstaben würden die Literatur retten. Heute werden Gedanken vervielfältigt wie Wassertropfen vom Wasserfall. (Tagebücher 1984-89)


Marai, Sandor: Werdende Mutter

  Seit Wochen habe ich nicht das Krimimanuskript aus dem Schubfach genommen, ich vertraue weder mir noch dem Manuskript. Noch dem Zweck, der Berechtigung von "Literatur". Wenn ich gelegentlich schreibe, ist das nur noch eine Art Frühgymnastik, ein Schutz gegen die Verkalkung. Wenn ich jetzt das Manuskript aufschlage und Seiten zu lesen versuche, ist es so, wie wenn der Arzt das Stethoskop auf den Bauch der werdenden Mutter hält und lauscht, ob Herztöne des Embryos zu hören sind. (Sandor Marai: Tagebücher 1984-1989, S. 15)


Marai, Sandor: Exilschriftsteller und Muttersprache

  Die Exilpresse über die Zweisprachigkeit. Für jede Emigration ist es ein Schicksalsproblem, inwieweit der Emigrant bereit ist, sich auf Kosten der Muttersprache die Sprache der neuen Gemeinschaft anzueignen. Für Exilschriftsteller ist das keine Frage, denn wenn sie sich von der Muttersprache lösen und in einer fremden Sprache zu schreiben versuchen, zerschneiden sie die Nabelschnur, die sie mit der lebenspendenden Muttersprache verbindet und die ihr Selbstbewußtsein, ihre schriftstellerischen Fähigkeiten speist. Man kann sehr wohl Gedanken in einer fremden Sprache schriftlich ausdrücken, aber "schreiben", also schöpfen, kann man nur in der Muttersprache. Das war für mich kein Geheimnis, als ich vor 36 Jahren Ungarn verließ: Wohin es mich verschlägt, dort werde ich ein ungarischer Schriftsteller sein. (Sandor Marai: Tagebücher 1984-1989, S. 17)


Marai, Sandor: Auswahl & Beschleunigung

  Habe die Auswahl für den Tagebuchband 1976-83 beendet. Es ist nicht wahrscheinlich, daß darüber hinaus zu meinen Lebzeiten noch ein Tagebuchband erscheint. Das Auswählen ging schwer, im Jahrhundert der Beschleunigung verändert sich alles unglaublich schnell, auch die Verlautbarung von Gedanken. Schopenhauer hat zum Ende hin gesagt, er lese nur noch Bücher, die vor wenigstens 50 Jahren erschienen - so viel Zeit war im vergangenen Jahrhundert nötig, damit sich in einem Buch der Inhalt "setzte". Heute, 50 Jahre später, hat ein Gedanke einen anderen Klang als zur Zeit seiner Niederschrift. Das bemerke ich beim Auswählen aus den Tagebüchern. (Sandor Marai: Tagebücher 1984-1989, S. 28)


Marai, Sandor: Säulenheilige

  Schriftsteller, die mehr und etwas anderes über den Menschen und seine Situation hervorbringen wollten als Tratsch und Märchen, gab es immer nur wenige. Aber sie waren denen nahe, über die und für die sie schreiben wollten. Es gibt sie auch heute, und sie sind auch heute nur wenige, aber vom Leser trennt sie eine Distanz wie den Säulenheiligen, der auf den unversehrten Kopf einer Säule einer ruinösen Zivilisation flüchtet; dort hockt er hoch über den Massen, Raben speisen ihn mit Sandwiches und Coca-Cola, ab und zu brüllt er hinunter zu der Menge, und weil er nicht anders kann, entleert er sich auch aus der Höhe. Solche Säulenheilige sind die paar Schriftsteller, die es heute noch gibt. (Sandor Marai: Tagebücher 1984-1989, S. 13)


Marai, Sandor: Feigenblatt

  In der Bibliothek haben sich die Obdachlosen von San Diego eingenistet. Mehrere tausend von diesen Männern und Frauen streichen durch die Stadt, die Heilsarmee und ähnliche Asyle könen sie gar nicht mehr aufnehmen, sie schlafen in Hausfluren. Viele sind Mexikaner, aber auch aus den Staaten mit kaltem Klima kommen Unbehauste her. Sie haben die Bibliothek besetzt, das Hauptpostamt, den Bahnhof. Sie kommen mit ihrem Bündel, setzen sich an die Tische und schlagen als Feigenblatt eine Zeitschrift, ein Buch auf, ohne hineinzublicken, so bleiben sie den ganzen Tag sitzen. (Sandor Marai: Tagebücher 1984-1989, S. 66)


Marai, Sandor: Unter schweren Bedingungen

  Seit drei Monaten Tag und Nacht Krankenpflege. L.s Arm ist besser, ihr körperlicher und sselischer Zustand unverändert schlecht. Ich versuche die Zwangsarbeit in Pflege und Haushalt durch planmäßige Aktivitätsreduzierung zu kompensieren, berechne die unbedingte Notwendigkeit anfallender Aufgaben. - Lesen bis zwei Uhr nachts, wenn L. schläft. (Sandor Marai: Tagebücher 1984-1989, S. 70)


Marai, Sandor: Ein altes Buch

  Was ich lese: 'Memoires du Duc de Sully'. Das Buch wurde um 1760 in London gedruckt. Ein Geschenk. - In einer Zeit der in Millionenauflagen erscheinenden Pocketbooks ist dieses "Buch" praktisch ein urzeitliches Phänomen. Buchstaben, Papier, Satzspiegel, Bindung: alles wirkt weihevoll. Das Buch war damals noch etwas Liturgisches, wie der Weihwasserbehälter oder das Tabernakel. Sein Inhalt wandte sich die Person, den Leser, nicht an den Konsumenten. (...) Der Duc de Sully: als wäre er kein Gegenstand, sondern als trete eine Person ins Zimmer. Jemand aus der Zeit, als das Buch noch Streitpartner war, Freund und Gegner. Heute ist es nur noch Papier und Wörter. (Sandor Marai: Tagebücher 1984-1989, S. 72)


Marai, Sandor: Lebens-Mittel

  Jede Nacht ein paar Seiten aus der 'Aeneis'. Dann Prosa von Arany, die Parallele Zrinyi - Tasso. Wie ein Erstickender, der den letzten Schluck Sauerstoff schlüft. (Sandor Marai: Tagebücher 1984-1989, S. 72)


Marai, Sandor: Geschwätziges, eitles Schreiben

  Habe seit anderthalb Jahren nichts geschrieben. Wie jemand nach einer Drogenentwöhnungskur denke ich nur mit Ekel an das geschwätzige, eitle, irre "Schreiben". Aber den 'Roger' schreibe ich vielleicht noch. Wenn mir die Kraft bleibt, schreibe ich etwas Unpublizierbares, etwas, das die Druckerschwärze scheut. (Sandor Marai: Tagebücher 1984-1989, S. 13)


Marias, Javier: Morgen in der Schlacht ...

  Sein Schreibstil ist so formell, wie seine Redeweise ungeniert ist, zweifellos einer jener Fälle, wo jemand mit solcher Ehrerbietung für die Literatur lebt, daß er, mit einem weißen Blatt Papier konfrontiert, selbst dann, wenn er ein Schlitzohr ist, nicht die Spur von seinem respektlosen und unverschämten Wesen auf das versehrte Papier zu bringen vermag, das er niemals mit einer Zote, einem bösen Wort, einer bewußten Unkorrektheit, einer Ungebührlichkeit oder Frechheit verunzieren würde. Nie würde er sich gestatten, seinem wahren Charakter Ausdruck zu verleihen, weil er ihn vielleicht als unwürdig erachtet, schriftlich festgehalten zu werden, und befürchtet, er könnte dieses so erhabene Handwerk besudeln, in welchem der schamlose Geselle sozusagen sein Heil findet. Ruiberriz de Torres, der offenbar vor nichts wirklich Respekt hat, betrachtet das Schreiben als etwas Heiliges (worauf wahrscheinlich zum Teil sein mangelnder Erfolg beruht). Im Verein mit seiner soliden humanistischen Schulbildung eignet sich sein hochtrabender Stil perfekt für Reden, die sich niemand anhört, wenn sie gehalten werden, und die niemand liest, wenn sie tags darauf zusammengefaßt in der Presse abgedruckt werden. (Javier Marias: Morgen in der Schlacht denk an mich, S. 119)


Maron, Monika: Trotz desselben Alters...

  Von der Langeweile, die ihn im Alter erwartete, sprach Bruno immer, wenn er bemerkte, daß ich nicht alle Bücher von Dostoevskij, Beckett oder Joyce kannte. Dann seufzte er und sagte, ach, du bist zu beneiden, Rosa, während ich mich schämte, weil ich, obwohl Bruno und ich gleichaltrig waren, nicht halb so viel gelesen hatte wie er. (Monika Maron: Stille Zeile Sechs, S. 176)


Maron, Monika: Latente Wirkung

  ... was wir uns als Lebenserfahrung und Lebensgefühl einverleiben, was uns von den Büchern, die wir gelesen haben, bleibt, auch dann noch, wenn wir uns an ihre Geschichten nur noch dunkel erinnern. (Monika Maron: Ein Schicksalsbuch)


Maron, Monika: Männliche Schriftsteller

  Natürlich ist der Mann ein Mensch, zwar ein ziemlich anderer als die Frau, aber nicht weniger ein richtiger Mensch als sie. Nach zwei Jahrzehnten kämpferischen Feminismus sind wir, die Frauen, selbstbewußt genug, um zuzugeben, daß selbstverständlich auch der Mann ein Mensch ist, ein fühlender, leidender, zu verletzender, auszubeutender Mensch, der ebenso wie die Frau als unschuldiges und hilfloses Baby geboren wird. Manchmal versuche ich mir sogar vorzustellen, ich selbst wäre ein Mann, ein männlicher Schriftsteller zum Beispiel, obwohl ich nicht glaube, daß ich als Mann Schriftsteller geworden wäre, eben um mir nicht anzutun, woran ich die männlichen Schriftseller leiden sehe: Euripides, Shakespeare, Goethe, Kleist, Hölderlin, Kafka, Flaubert, Dostoevskij, Beckett - einer Heerschar göttlicher Konkurrenten sehen sie sich gegenüber, deren Zitate sie verzweifelt den eigenen Büchern als Motti voranstellen, um sich der Welt als legitimer geistige Nachfahren, sogar als Brüder jener Giganten darzubieten. (Monika Maron: quer über die gleise. Essays, Artikel, Zwischenrufe, S. 79)


Maron, Monika: Wesen des Schriftstellers

  Es spricht für das avantgardistische Wesen der Schriftsteller, daß sie ihre traditionelle Geschlechterrollen nicht nur aufgegeben, sondern sogar vertauscht haben. Während der normale Mann sich noch immer als sozialer Garant der ihm anvertrauten Minderheiten (Frauen und Kinder) versteht, bedarf der Schriftsteller oft selbst eines solchen Garanten oder eben einer Garantin. Ob er seinen Beruf gewählt hat, um der Welt von vornherein seine Unlust auf ein Leben als berechenbarer Familienernährer zu signalisieren, oder ob ihm seine poetische Bestimmung einfach keine Wahl gelassen hat, wage ich nicht zu beurteilen. Auf jeden Fall aber muß er an seine Auserwähltheit fest glauben, denn meine Freundin J.J., die sich in den Fragen der Psychoanalyse genau auskennt, behauptet, Geld sei für Männer Ausdruck ihrer Potenz. Ich glaube aber, daß es mehr potente als wohlhabende Schriftsteller gibt. (Monika Maron: quer über die gleise. Essays, Artikel, Zwischenrufe, S. 80)


Maron, Monika: Warum?

  Ich weiß nicht, ob andere Schriftsteller wirklich wissen, warum sie schreiben. Ich jedenfalls weiß es nicht. Ich könnte mir eine Antwort ausdenken, eine ernste oder komische, eine psychologische oder ästhetische, ich könnte sie so lange formen und schmücken, bis sie mir gefällt und ich bereit bin, sie als einzig wahre Auskunft selbst zu glauben. Aber selbst dann könnte ich nicht erklären, warum ich alle anderen Berufe, die mich im Leben hätten interessieren können, nicht ausübe. Warum bin ich nicht Malerin oder Biologin geworden? Vielleicht bin ich nur Schriftstellerin geworden, weil es mir sehr früh als eine trostreiche Beschäftigung erschien, Wörter auf einen Zettel zu schreiben. (Monika Maron: quer über die gleise. Essays, Artikel, Zwischenrufe, S. 88)


Maron, Monika: Literaturkritik

  Wie findet ein Rezensent zu seinem Urteil? Spürt er dem Autor nach und mißt das Mißlingen oder Gelingen an dessen erkennbarem Vorhaben und das Vorhaben an seiner Neuheit und Besonderheit? Oder spricht er dem Wollen des Autors jede Bedeutung ab und fahndet stattdessen nach dem Unbewußten im Text, was er dann Dekonstruktivismus nennt? Aber wer fragt dann nach dem Unbewußten des Kritikers, oder nach dessen schlechter Laune, Hormonspiegel, gar Trunkenheit oder auch nur nach seinem Charakter? Oder gesteht sich der Literaturkritiker selbst die Autonomie des Künstlers zu, allein durch seine Subjektivität legitimiert? Erhebt er seine Lektüre in den Rang eines Kunstwerks? (Monika Maron: quer über die gleise. Essays, Artikel, Zwischenrufe, S. 99)


Marzi, Christoph: Bücherwürmer

  "Aber was tun Sie mit all den Buchstaben?" Pérez, der gerade nach einem ganzen Wort gegriffen hatte, rief herüber: "Wir fangen sie ein." "Und dann fügen wir sie wieder zusammen." ergänzte Reverte. Firnis deutete zu den raupenartigen Tierchen auf den Pflanzen hinüber. "Das sind Bücherwürmer", sagte er. "Wir geben ihnen die einzelnen Buchstaben zu fressen. Nach einer Weile verpuppen sie sich und am Ende schlüpft ein neues Buch aus dem Kokon." (Christoph Marzi: Malfuria)


Maugham, William S.: Lebensabend eines Autors

  Nach reiflicher Überlegung bin ich zu dem Schluß gelangt, daß der wahre Grund für den Beifall, der den Lebensabend eines Autors erhellt, der die den Menschen gewöhnliche zugemessene Zeitspanne überdauert, darin liegt, daß vernünftige Leute, sobald sie einmal über dreißig sein, überhaupt nicht mehr lesen. Je älter sie werden, um so mehr sehen sie die Bücher, die sie in ihrer Jugend gelesen, in einer frühlingshaften Verklärung, und mit jedem Jahr, das verstreicht, schreiben sie ihrem Verfasser ein größeres Verdienst zu. Selbstverständlich muß der Schriftsteller weiterarbeiten; er muß dafür sorgen, daß das Auge der Öffentlichkeit dauernd auf ihn gerichtet bleibt. Er darf nicht meinen, daß es genügt, ein oder zwei Meisterwerke zu schreiben, vielmehr muß er diese durch dreißig bis vierzig Werke von geringerer Bedeutung solide unterbauen. Das erfordert Zeit. Seine Produktion muß, wenn er den Leser nicht durch Charme bezaubern kann, ihn durch ihr Gewicht erdrücken. (William S. Maugham: Seine erste Frau, S. 156ff)


Maugham, William S.: Lesen ein Narkotikum

  In meiner freien Woche, so nahm ich mir vor, würde ich selbstverständlich lesen, denn dem gewohnheitsmäßigen Leser ist das Lesen ein Narkotikum, dem er verfallen ist; entzieht man ihm Gedrucktes, so wird er nervös, gereizt, ruhelos; und wie der Alkoholiker, wenn man ihm den Schaps nimmt, Schellack oder Methylalkohol trinkt, so wird er sich mit dem Annoncenteil einer fünf Jahre alten Zeitung begnügen; er wird sich mit einem Telephonbuch abfinden. Doch der professionelle Schriftsteller ist selten ein desinteressierter Leser. Mir schwebte eine Art von Lektüre vor, die bloß eine andere Form von Müßiggang sein sollte. (William S. Maugham: Lord Mountdrago, S.21)


Maugham, William S.: Lesefreiheit

  "Meine liebe Eleanor, was werden wir noch alles zu hören bekommen? Du hast doch sicherlich nie ein Buch von Quida gelesen?" "Doch, Onkel Edwin. Ich habe 'Unter zwei Flaggen' gelesen, und es hat mir sehr gefallen." "Ich bin erstaunt und erschrocken. Diese jungen Mädchen von heutzutage! Ich weiß wirklich nicht, wohin das noch führen soll!" "Du hast immer gesagt, wenn ich dreißig Jahre alt bin, gibst du mir vollkommene Freiheit, zu lesen, was ich will." "Freiheit darf nicht verwechselt werden mit Zügellosigkeit, liebe Eleanor", sagte Mr.St.Clair leicht lächelnd, um seiner Zurechtweisung den Stachel zu nehmen, aber doch mit einem gewissen Ernst. (William S. Maugham: Lord Mountdrago, S.153)


Maugham, William S.: Wertvolle Begabung

  Es passiert nicht viel ihren Büchern, und dennoch, wenn man das Ende einer Seite erreicht hat, wendet man das Blatt begierig, um zu sehen, was nun geschehen würde. Nichts Wesentliches ereignet sich - und wieder blättert man eifrig um. - Ein Dichter, welcher die Macht gat, dies zu erreichen, hat die wertvollste Begabung, die ein Dichter besitzen kann. (Äußerung über Jane Austen)


Maugham, William S.: Behutsam

  Er schlug die kostbaren Seiten um, wie ein Blumenfreund Rosenblätter anfassen würde. (W. Somerset Maugham: Der Magier, S. 66)


Maugham, William S.: Porhoets Bibliothek

  Sie gingen durch ein steifes französisches Speisezimmer mit reicher Täfelung und schweren scharlachroten Vorhängen in die Bibliothek, einen großen Raum, der aber durch Bücherregale, die sich an den Wänden entlanggezogen, und einen breiten, mit Büchern beladenen Schreibtisch erheblich verkleinert wurde. Überall lagen Bücher. Sie waren auf dem Fußboden gestapelt und häuften sich auf jedem Stuhl. Es blieb kaum Platz, sich zu bewegen. Susi schrie begeistert auf. "Sie dürfen mich jetzt nicht ansprechen. Ich möchte mir alle Ihre Bücher ansehen." "Eine größere Freude könnten Sie mir gar nicht machen", sagte Dr. Porhoet, "aber Sie werden leider enttäuscht sein. Die Auswahl ist zwar recht groß, doch fürchte ich, daß wenige darunter sind, die eine junge Dame aus England interessieren." Er suchte auf seinem Schreibtisch, bis er ein Päckchen Zigaretten fand. Mit ernster Miene bot er jedem seiner Gäste eine an. Susie war entzückt über den eigentümlichen, muffigen Geruch der alten Bücher und verschaffte sich einen ersten, allgemeinen Überblick. Die meisten waren broschiert, manche davon sahen noch neu aus, die meisten allerdings hatten aufgebrochene Rücken. und schmutzige Ecken; in gedrängten Reihen, unordentlich, ohne System oder Plan, standen sie auf den Regalen; auch viele ältere waren darunter, in Kalbs- oder Schweinsleder gebunden, Schätze aus Buchhandlungen halb Europas. Dazwischen standen große Foliobände wie preußische Grenadiere und kleine Elzevirs, die Patrizierdamen in Venedig gelesen hatten. Wenn Arthur im Operationssaal ein anderer Mann war, so war Dr. Porhoet inmitten seiner Bücher wie verwandelt. Es blieb zwar die liebenswerte Heiterkeit, die ihn immer so anziehend machte, er trat aber hier mit einer amüsanten Schroffheit auf, die in sonderbaren Gegensatz zu seiner sonstigen Ruhe stand. (W. Somerset Maugham: Der Magier, S. 66)


Maugham, William S.: Gespräch über das Schreiben

  "In diesem Augenblick hatte Mrs. Bulfinch den Einfall, der so wesentliche und großartige Folgen zeitigen sollte. "Warum schreiben Sie nicht einen Detektivroman, einen richtigen, spannenden Detektivroman?" "Ich?" rief Mrs. Forrester außer sich. "Das ist gar keine schlechte Idee", sagte Albert. "Gar keine schlechte Idee." "Die Kritiker würden wie Geier über mich herfallen." "Das weiß ich nicht. Gib den geistigen Menschen die Chance, ein bißchen 'ungeistig' zu sein, ohne sich etwas zu vergeben, und man wird dir ewig dankbar sein." "Ich lege keinen Wert auf derartige Verdienste", murmelte Mrs. Albert Forrester. "Die Kritiker werden ein solches Buch schlucken, sage ich dir. Wenn du es schreibst in deinem wunderbaren Englisch, werden sie sich nicht scheuen, es für ein Meisterwerk zu erklären." "Eine irrsinnige Idee. Nichts ist mir fremder. Ich habe nie für die Massen geschrieben und darf auf ihrem Beifall nicht rechnen." "Warum nicht? Die Massen haben den Wunsch, gute Bücher zu lesen, aber sie wollen sich nicht langweilen. Sie kennen alle deinen Namen, aber sie lesen dich nicht, weil du sie langweilst. Du bist uninteressant, meine Liebe." "Ich verstehe nicht, wie du das sagen kannst, Albert", antwortete Mrs. Albert Forrest mit ebensowenig Groll wie ihn etwa der Äquator empfinden würde, wenn man ihm den Vorwurf machte, er wäre 'kühl'. "Jeder weiß, daß ich allerhand Sinn für Humor habe und schon in ein Semikolon soviel Witz legen kann wie selten ein Mensch." "Wenn du den Massen eine gute, spannende Geschichte gibst und ihnen die Illusion läßt, daß sie mit dieser Lektüre gleichzeitig etwas für ihre Bildung tun, wirst du ein Vermögen verdienen." (W. Somerset Maugham: Die Macht der Umstände, S. 186)


Maugham, William S.: Mit Beharrlichkeit lesen

  Hayward besaß eine Gabe, die sehr wertvoll war. Er hatte ein wirkliches Gefühl für Literatur und konnte seine eigene Begeisterung mit bewundernswerter Beredsamkeit weitergeben. Er konnte sich in einen Autor versenken, das Beste an ihm ausfindig machen und dann mit Verständnis über ihn reden. Philip hatte sehr viel, aber wahllos gelesen, und es war ihm von großem Nutzen, jemandem zu begegnen, der seinen Geschmack lenkte. Er lieh sich Bücher aus der kleinen städtischen Leihbibliothek und fing an, die wunderbaren Dinge zu lesen, auf die Hayward ihn hinwies. Er las nicht immer mit Genuss, aber stets mit Beharrlichkeit. (W. Somerset Maugham: Der Menschen Hörigkeit)


Maugham, William S.: Ein sich öffnendes Blütenblatt

  "Ich sehe nicht ein, was es bringen soll, dieselben Bücher immer und immer wieder zu lesen", sagte Philip. "Das ist nur eine sehr geschäftige Form der Trägheit." "Bildest du dir vielleicht ein, dass du einen äußerst tiefgründigen Schriftsteller beim ersten Lesen verstehen kannst?" "Ich will ihn gar nicht verstehen. Ich bin kein Kritiker. Ich habe nicht seinet-, sondern meinetwegen Interesse an ihm." "Warum liest du dann überhaupt?" "Teilweise zum Vergnügen, weil es eine angenehme Gewohnheit ist, und weil ich mich genauso unbehaglich fühle, wenn ich nicht lese, wie wenn ich nicht rauche; und teilweise, weil ich mich selbst kennenlernen möchte. Wenn ich ein Buch lese, so scheinen zuerst nur meine Augen zu lesen, aber dann treffe ich hin und wieder einmal eine Stelle, vielleicht auch nur einen einzigen Satz, der mir etwas sagt, und so wird es ein Teil von mir. Ich habe aus dem Buch dann alles, was für mich von Nutzen ist, herausgeholt, und mehr kann ich nicht bekommen, auch wenn ich es noch ein dutzend Mal lese. Weißt du, mir scheint es, als sei man eine geschlossene Knospe, und das meiste, was man liest und tut, hat überhaupt keine Wirkung; aber es gibt gewisse Dinge, die eine besondere Bedeutung haben, durch sie wird ein Blütenblatt geöffnet, und so öffnen sich die Blütenblätter eines um das andere, und schließlich ist eine volle Blüte da." (W. Somerset Maugham: Der Menschen Hörigkeit)


[Nach oben]