Bibliomanische FAB  / [S_1]


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Salter, James: Beschreibung ist Auslöschung

  Über jemanden ausführlich zu schreiben heißt, ihn zu zerstören, ihn aufzubrauchen. Ich denke, das gilt auch für die Erfahrung - indem man eine Welt beschreibt, löscht man sie aus -, und in einem Buch der Erinnerung zerfällt vieles zu Staub. Dinge werden eingefangen und zur gleichen Zeit ihres Lebens beraubt, so dass sie nie wieder schimmern oder Licht zurückwerfen. (James Salter: Verbrannte Tage, S. 427)


Sanders, Barry: Schwermütige Tradition

  Die Art und Weise, wie heutigentags in den meisten Schulen Lesen und Schreiben, das klassische Grundinstrumentarium des Wissens und logischen Denkens, unterrichtet wird, könnte einen uneingeweihten Beobachter leicht zu dem Schluß verführen, daß die Erzählliteratur aus dem Geist leichenbitterhaften Trübsinns hervorgegangen sei und daß die Lehrer sich ganz natürlicherweise dem Ziel verschrieben haben, diese schwerblütige und schwermütige Tradition fortzusetzen. (Barry Sanders: Der Verlust der Sprachkultur, S. 112)


Saramago, Jose: Zusammen-Hängend

  Erzählen ist wie Kirschen essen, man greift nach einem Wort, und schon hängt ein anderes mit dran, wie Kletten sind sie, es ist schwer, eins vom anderen zu lösen, ein Wort kommt nicht allein, sogar das Wort Einsamkeit nicht, denn es benötigt den, der unter ihr leidet, und so muß es auch sein. (Jose Saramago: Hoffnung im Alentejo, S. 282)


Sartre, Jean-Paul: Zielsicherheit

  Mein Großvater, der für gewöhnlich so ungeschickt war, daß meine Mutter ihm die Handschuhe zuknöpfte, handhabte diese Kulturobjekte mit der Geschicklicheit eines Meßdieners. Ich habe tausendmal gesehen, wie er geistesabwesend aufstand, um den Tisch ging, mit zwei Schritten beim Bücherboard war, ohne zu zögern ein Buch nahm, ohne sich die Zeit zur Wahl zu lassen, es aufblätterte, während er zu seinem Sessel zurückkehrte, um es dann, kaum daß er wieder Platz genommen, durch eine kombinierte Bewegung von Daumen und Zeigefinger brüsk "auf der richtigen Seite" zu öffnen, wobei er es wie ein Schuh krachen ließ. Manchmal kam ich näher, um die Büchsen zu beobachten, die sich aufspalteten wie Austern, und ich entdeckte die Nacktheit ihrer Eingeweide: verschimmelte Blätter, leicht aufgerieben, bedeckt mit schwarzen Äderchen, die Tinte tranken und wie Pilze rochen. (Jean-Paul-Sartre: Die Wörter)


Sartre, Jean-Paul: Die lesende Großmutter

  Im Zimmer meiner Großmutter waren die Bücher gebettet. Sie entlieh sie bei einer Leihbücherei, und ich habe niemals mehr als zwei auf einmal gesehen. Dieser Tand ließ mich an die Süßigkeiten zu Neujahr denken, denn die geschmeidigen und glänzenden Blätter sahen aus, als wären sie aus Silberpapier ausgeschnitten. Lebhaft weiß, fast neu, dienten sie als Vorwand für leichte Mysterien. Jeden Freitag zog sich meine Großmutter an, um auszugehen, und sagte: "Ich will sie zurückbringen." Wenn sie wieder da war, legte sie erst den schwarzen Hut und den Schleier ab, zog sie sodann aus dem Muff, und ich fragte mich irritiert: Sind es dieselben? Sie machte ihnen sorgfältig einen Schutzumschlag, suchte sich dann eins von ihnen aus, nahm in ihrem Ohrensessel nahe am Fenster Platz, setzte die Brille auf, seufzte müde und beglückt, senkte die Lider mit einem feinen und wollüstigen Lächeln, wie ich es später auf den Lippen der Mona Lisa wiederfand; meine Mutter schwieg und hieß auch mich ruhig sein. Ich dachte an die Messe, an den Tod, den Schlaf; ich erfüllte mich mit einem sakralen Schweigen. Von Zeit zu Zeit lachte Louise ein bißchen; sie rief ihre Tochter, zeigte mit dem Finger auf eine Zeile, die beiden Frauen tauschten einen Blick des Einverständnisses. (Jean-Paul-Sartre: Die Wörter)


Sartre, Jean-Paul: Lesen und Erleben

  Madame Picard war der Meinung, ein Kind dürfe alles lesen: "Ein gut geschriebenes Buch richtet keinen Schaden an." In ihrer Gegenwart hatte ich früher gebeten, 'Madame Bovary' lesen zu dürfen, und meine Mutter hatte mit ihrer melodischen Stimme gefragt: "Aber wenn mein kleiner Liebling schon jetzt solche Bücher liest, was wird er dann tun, wenn er einmal groß ist?" - "Ich werde sie erleben!" Diese Antwort hatte echten und dauerhaften Erfolg gehabt. (Jean-Paul Sarte: Die Wörter, S. 61)


Sartre, Jean-Paul: Chronologische Rangordnung

  Von einem bestimmten Alter an haben es die Schriftsteller nicht gern, wenn man sie allzusehr wegen ihrer ersten Werke feiert. Eines ist sicher: mir selbst machen diese Komplimente am allerwenigsten Freude. Mein bestes Buch ist dasjenige, das ich gerade schreibe; gleich danach kommt jenes, das vor kurzem erschienen ist; aber insgeheim bereite ich mich schon darauf vor, es demnächst peinlich zu finden. Wenn die Kritiker mein letztes Buch schlecht finden, werden sie mich vielleicht verletzen, aber in sechs Monaten werde ich ungefähr ihrer Meinung sein. Unter einer Bedigung freilich: sie mögen dieses Werk armselig und nichtig finden wie immer, ich will jedoch, daß sie es weit über alles stellen, was ich vorher gemacht habe; ich bin einverstanden mit einer gänzlichen Abwertung, vorausgesetzt, daß die chronologische Rangordnung beibehalten wird. Die einzige, die mir die Chance läßt, morgen etwas Besseres zu schaffen, übermorgen etwas noch Besseres, schließlich ein Meisterwerk. (Jean-Paul Sarte: Die Wörter, S. 136f.)


Scheffel, Joseph Victor: Bücherfluch

  Er wandte sich zur Bibliothek, den Virgil auszulesen. Wie er droben stand im hochgewölbten Saal, einsam unter den schweigenden Pergamenten, da kam ein Gefühl der Wehmut über ihn; auch das Leblose stellt sich bei Abschied und Wiedersehen vor den Menschen, als trüg's eine Seele in sich und nähme Anteil an dem, was ihn bewegt. Die Bücher waren seine besten Freunde. Er kannte sie alle und wußte, wer sie geschrieben; – manche der Schriftzüge erinnerten an einen vom Tode schon entführten Gefährten... Was wird das neue Leben bescheren, das von morgen für mich anhebt? Eine Träne stand ihm im Auge. Jetzt fiel sein Blick auf das kleine in metallene Decke gebundene Glossarium, in dem einst der heilige Gallus, der am Bodensee üblichen Landessprache unkundig, sich vom Pfarrherrn zu Arbon die notwendigsten Worte hatte verdeutschen lassen.5) Da gedachte Ekkehard, wie des Klosters Stifter mit so wenig Ausrüstung und Hilfe dereinst ausgezogen, ein fremder Mann unter die Heiden, und wie sein Gott und sein unverzagt Herz in Not und Fährlichkeit ihn immerdar frisch gehalten... sein Mut stärkte sich, er küßte das Büchlein, nahm den Virgil aus dem Schrein und wandte sich, zu gehen. "Wer dies Buch wegträgt, den sollen tausend Peitschenhiebe treffen und Lähmung und Aussatz dazu!" stand auf dem ersten Blatte. Er schnitt's weg. Noch einmal schaute er um, als wollten ihm von Brett und Kasten die Bücher einen Gruß zuwinken. Da hub sich ein Knistern an der Wand, der große Bauriß, den der Architekt Gehrung einst auf drei Schuh langer Tierhaut zu des Abts Hartmuth neuem Klosterbau angefertigt hatte, löste sich von dem festhaltenden Nagel und stürzte nieder, daß eine Staubwolke daraus emporstieg. Ekkehard machte sich keine Gedanken drüber. Joseph Victor von Scheffel Ekkehard. 5. Kapitel. Ekkehards Auszug)


Schenda, Rudolf: Damalige Leseintentionen

  Freilich hatten die Aufklärer zunächst nur daran gedacht, den neuen Lesern mit Hilfe von praktischen Büchern nützliche Kenntnisse zu vermitteln, und durch die Verbreitung solcher praktischer Hilfsbüchlein sollte dem gesamten Staat ein wirtschaftlicher Nutzen erwachsen. Doch ließen sich schon kurz nach der französichen Revolution die neuen Leserschichten nicht mehr auf diese Weise gängeln. Man wollte Neuigkeiten lesen: erfahren, was in der Welt vorging; schließlich wollten die Leser auch nicht fortwährend unterrichtet, sondern immer mehr auch unterhalten sein. Der Sinn der jugendlichen Leser stand nicht nur nach moralischen Ermahnungen und Mehrung des Wissens, sondern auch nach Abenteuern, Reiseberichten, Märchen und Sagen. [...] Denn ein Volk, das zuviel las, mochte wohl auf falsche Gedanken kommen, die Obrigkeit tadeln, mit seinem harten Los unzufrieden werden und schließlich gar eine Revolution nach französischem Vorbild anzetteln! Also galt es, die Lesewut zu hemmen, die Volksbüchlein als verderblich zu erklären, die populären Lesestoffe der Zensur zu unterwerfen, die Buchdrucker zu kontrollieren und die Hausierer wachsam im Auge zu behalten. (Rudolf Schenda: Die Lesestoffe der kleinen Leute. Studien zur poulären Literatur des 19. und 20. Jahrhundert. München: C. H. Beck, 1976)


Schiffrin, Andre: Beibehaltung des Diskurses

  Bücher unterscheiden sich ganz wesentlich von anderen Medien - anders als bei Zeitschriften spielen die Inserenten keine Rolle, und anders als Fernsehen und Kino ist das Buch nicht auf ein Massenpublikum angewiesen. Bücher können es sich leisten, antizyklisch zu sein, neue Ideen zu präsentieren, den Status quo herauszufordern, all das in der Hoffnung, langfristig ein Forum für ihr Anliegen zu finden. Die Bedrohung, der sich solche Bücher und die in ihnen enthaltenen Idee - eben das, was man früher als den Markt der Ideen bezeichnet hat - neuerdings ausgesetzt sehen, stellt nicht allein für die gewerbsmäßigen Büchermacher, sondern auch für die Gesellschaft als Ganzes eine gefährliche Entwicklung dar. Wir müssen daher neue Mittel und Wege zur Beibehaltung des Diskurses finden, der füher als unverzichtbarer Bestandteil einer demokratischen Gesellschaft galt. (Andre Schiffrin: Die Notwendigkeit der Bücher; in: Klaus Wagenbach (Hrsg.): Warum so verlegen. Über die Lust an Büchern und ihre Zukunft, S. 125)


Schiller: Dilettantische Privatbibliothek

  Ich konnt es nicht ganz vermeiden auch andre Menschen hier kennen zu lernen, doch ist es bis jezt noch gnädig zugegangen. Ein Original ist darunter, das sich aber weniger schildern läßt, der Herr von Kettelhodt, der Minister und eigentliche Landesregent. Eine groteske Species von Menschen, und eine monströse Composition von Geschäftsmann, Gelehrten, Landjunker, Galanthomme und Antike. Als Geschäftsmann soll er vortreflich seyn und dabey tragen wie ein Esel; sein größter Anspruch geht aber auch gelehrte Wichtigkeit. Er hat eine Bibliothek angelegt, die für einen Particulier erstaunend groß, dabey aber zu keinem Zwecke ganz brauchbar ist. Sie enthält schöne und selbst rare Werke in allen Fächern, aber keins ist nur leidlich complett. Da es ihm mehr um die Mange die ins Auge fällt als um einen vernünftigen Gebrauch zu thun war, so hat er alles durcheinander gekauft. Aus der Geschichte habe ich trefliche Werke da gefunden, und im Fach der alten Romane aus dem Mittelalter mag wohl das meiste zu finden seyn. Die Anlage von aussen fällt gut ins Auge, der Saal und der Eintritt ist fürstlich. Die Bibliothek würde ich übrigens, wärs auch nur um in dem alten Schutt der Romane und Memoires ein Goldkörnchen auszuwühlen, fleißig besuchen, wenn der Wirth zu vermeiden wäre. Aber zum Unglück ist er äuserst eitel, besonders auf gelehrte oder gar berühmte Bekanntschaften, und man wird ihn nicht los. Nachdem er in Erfahrung gebracht hat, daß ich seine Bibliothek gelobt habe mußte ich ein Souper bei ihm aushalten, und er ließ meinen Burschen von der Gaße auffangen, mich nach Volkstädt mit Wein zu regalieren. (Aus einem Brief von F. Schiller an Christian Gottfried Körner vom 27. Juli 1788)


Schischkin, Michail: Überall Leben

  Wo du hinschaust, ist Leben: Du hast das Buch nur für einen Moment im Gras abgelegt, um das T-Shirt auszuziehen - als du es wieder zur Hand nimmst, krabbeln Ameisen über die Seite wie panisch gewordenen Buchstaben... (Michail Schischkin: Venushaar)


Schlaffer, Heinz: Hören statt Lesen

  Ein Buch ist ein Tyrann: Es erlaubt keine andere Beschäftigung nebenbei. Der Devise unserer Zeit "Double your time!" gehorchen zwar die Hörbücher, die uns beim Bügeln oder beim Auto fahren unterhalten, aber nicht die gedruckten Bücher, die nur versteht, wer ganz bei der Sache ist. Das allgemeine Glück der Sinne hat das besondere Unglück der Literatur zur Folge. Über diese missliche Lage versucht der Literaturbetrieb der Gegenwart hinwegzutäuschen, indem er die Leiden der Lektüre hinter den Freuden des Sehens und Hörens verbirgt. Wie nie zuvor sind Bücher sichtbar und hörbar geworden: samt ihrem Autor abgebildet auf Verlagsprospekten, ausgestellt auf Buchmessen, vorgestellt im Fernsehen, vertreten durch ihren Autor auf Lesungen, in Interviews, bei Preisverleihungen: Wozu sollte man sie, nachdem man sie schon so gut kennen gelernt hat, zu allem Überfluss noch lesen? Kaufen vielleicht, um sie zu besitzen oder zu verschenken; aber lesen? Selbst ein Analphabet könnte heute, da es im literarischen Leben so viel zu sehen und zu hören gibt, das Ansehen eines Kenners der Literatur erwerben.


Schlaffer, Heinz: Klassische Lektüre

  Einen Kanon der Gegenwartsliteratur kann es nicht geben, denn kein Geschmacksurteil ist unsicherer als das über die Werke der eigenen Zeit. Es dauert dreißig bis fünfzig Jahre, oft viel länger, bis sich herausstellt, was die Zeit überdauert hat und beginnt, klassisch zu werden. Klassische Werke verlangen, wie es im Begriff des Klassischen liegt, wiederholte Lektüre. Wer vermöchte dies unter dem Andrang der Neuerscheinungen, die von Saison zu Saison gelesen und durch noch neuere ersetzt sein wollen, auf sich zu nehmen? Liest jemand die im Frühjahr und im Herbst vordringlich empfohlenen zwei, drei Romane, so findet er genügend Zeitgenossen, die sie auch gelesen oder wenigstens davon gehört haben, mit denen er also darüber sprechen könnte. Mit wem aber kann er über seine Lektüre der Ilias, der Aeneis, des Parzival, des Canzoniere, der Fairy Queen, des Don Quijote, des Tristam Shandy, der Lehrjahre, der Flegeljahre reden? Er müsste die Sprechstunde der Professoren an den philologischen Instituten einer Universität aufsuchen. Vereinsamung ist heute der Preis klassischer Lektüren.


Schlaffer, Heinz: Nur nostalgische Reize

  Der Roman ist zum Normalfall der Literatur geworden und hat das Vergnügen an älteren Gattungen der Literatur – an Epos, Lehrgedicht, Eklogen, sogar die Erinnerung an sie ausgelöscht. Deshalb reicht das Gedächtnis für vergangene Literatur nicht weit zurück. Romane um 1900, Fontanes "Effi Briest" und Thomas Manns "Buddenbrooks", sind die ältesten literarischen Werke, die heutige Leser ohne den pädagogischen Zwang literaturhistorischer Seminare wahrzunehmen bereit sind. Da dies nicht zu ändern ist, läuft die Rede vom Kanon ins Leere. Im Zeitalter des Fortschritts löst das Vergangene nostalgische Reize aus, aber nicht den Entschluß, den Geist der Gegenwart daran zu bilden.


Schlapp, Manfred: Aufgeklügelte Überschwemmung

  "In einem gewissen Sinn", argwöhnt der amerikanische Publizist Ben H. Bagdikian, "ist die ausgeklügelte Überschwemmung des Individuums mit Informnationsfluten frei Haus nur das Pendant zur Ignoranz der Massen vergangener Zeiten - mit dem bösen Unterschied, daß jetzt auch noch die Illusion umfassenden Wissens geweckt wird". Solche Illusionen werden dort genährt, wo das tägliche Brot für unsere Gehirne gebacken wird: in den Redaktionsstuben und Nachrichtenstudios. Das Weltgeschehen wird mediengerecht - sprich: zu leicht verdaubaren Brocken, wie sie für Analphabeten bekömmlich sind - aufbereitet; es wird zu Schlagzeilen verkürzt und auf ein Bild eingegrenzt. (Manfred Schlapp: Lesen als Lebenskunst und Luxus)


Schlesinger, Klaus: Erste Sätze

  Natürlich gibt es auch anstrengende, zähe erste Sätze. Wer "Effi Briest" in der Schule lesen mußte, weiß, wovon ich rede. Die ersten zehn Zeilen über den Sonnenfall auf die Vorder- und Rückseite eines märkischen Herrenhauses haben mich damals derart eingeschläfert, daß ich die Lektüre des restlichen Buches aufs Rentenalter verschoben habe. Damit meine ich nicht, daß ein guter erster Satz nicht lang sein darf. Thomas Manns Anfangssätze sind nicht kürzer als Fontanes, aber es liegt über ihnen ein solch mildes ironisches Lächeln, daß man sich mit der Gelassenheit eines Menschen, der über ein reichlich gefülltes Bankkonto verfügt, auf sein Sofa legen, eine gute Zigarre anstecken und für die nächsten zwei Wochen aus der Realität unseres anstrengenden Jahrhunderts verschwinden möchte. (Klaus Schlesinger: Von der Schwierigkeit, Westler zu werden, S. 147)


Schlink, Bernhard: Äquivalente

  Mein Großvater, den ich sehr geliebt habe, hat zwar viel gelesen, zumal über Geschichte und Sprache, aber keine schöne Literatur. Er saß lieber am See und schaute aufs Wasser. Inzwischen verstehe ich, warum der Blick auf das Meer oder einen See oder ins offene Feuer eines Kamins und das Lesen schöner Literatur ein Stück weit funktionale Äquivalente sein können. Es ist das Zugleich von Sich-gleich-Bleiben und Sich-Verändern des Gegenstands bzw. das Zugleich von Wiederbegegnung und Neuerfahrung in der Zuwendung zum Gegenstand, das das Meer, das offene Feuer und die schöne Literatur bzw. die Beschäftigung damit verbindet, und auch, was die Beschäftigung damit zugleich aufregend und beruhigend machen kann.


Schmidt, Arno: Werkausgaben

  Warnung : "Überlegen Sie sich's zwanzig Mal, ehe Sie irgend "Gesammelte Werke" kaufen ! Sie werden von selbst vorsichtiger, wissen Sie erst, daß Sie sich jedesmal mit einem kompletten Fremdleben, einem Superschicksal, belasten : mehr, als Sie bewältigen können. - Wer mehr als 1 Dutzend 'Gesamtausgaben' besitzt, ist ein Charlatan! - Oder aber : er hat sie nicht gelesen." (Die Gelehrtenrepublik (BA) S. 317.)


Schmidt, Arno: Leseberechnung

 Es gibt noch weit beunruhigendere Betrachtungen hier! Setzen wir, daß man vom 5000. Tage an leidlich mit Verstand zu lesen fähig sei; dann hätte man, bei einem green old age von 20000, demnach rund 15000 Lesetage zur Verfügung. Nun kommt es natürlich ebenso auf das betreffende Buch, wie auch auf die literarische Aufnahmefähigkeit an. Das Kind schlingt seinen dicklichen MAY=Band in 2 Tagen hinunter (und die schönsten Stellen werden sogar mehrmals genossen); der Mann, tagsüber im Büro, oder hinter Pflug Schraubstock, druckst, selbst bei bestem Willen, 3 Wochen lang über’m ‹WITIKO›, den ihm ein sinniger Kollege empfahl. Sagen wir, durchschnittlich alle 5 Tage 1 neues Buch – dann ergibt sich der erschreckende Umstand, daß man im Laufe des Lebens nur 3000 Bücher zu lesen vermag! Und selbst wenn man nur 3 Tage für eines benötigte, wären’s immer erst arme 5000. Da sollte es doch wahrlich, bei Erwägung der Tatsache, daß es bereits zwischen 10 und 20 Millionen verschiedener Bücher auf unserem Erdrund gibt, sorgfältig auswählen heißen. Ich möchte es noch heilsam=schroffer formulieren: 34092:008 _Sie haben einfach keine Zeit, Kitsch oder auch nur Durchschnittliches zu lesen: Sie schaffen in Ihrem Leben nicht einmal sämtliche Bände der Hochliteratur! (Schmidt, Arno: Julianische Tage. Bargfelder Ausgabe III/4, S. 91 f.)


Schmidt, Arno: Edward Bulwer-Lytton

  Von Kindheit an ist der kleine Edward (Bulwer-Lytton)- übrigens der jüngste von 3 Brüdern; von denen 1 auch noch Lord wurde, und ebenfalls Bücher geschrieben hat, allerdings nur politische & militärische - Edward also ist zum BuchMenschen prädestiniert; seine erste Erinnerung=überhaupt ist 'Opas Haus': 'es schwebt mir noch vor, wie ein verworrener Eindruck von endlosen Buchnissen - Bücher geistern vor mir, in jeglichem Zimmer, das ich betrat - ich glaube, selbst die Korridore und TreppenAbsätze waren damit tapeziert.' Und auch die Folge bleibt nicht aus: 'Ich muß lesen gekonnt haben, und zwar fließend, in einem ganz ungewöhnlich zarten Alter; kann ich mich doch keiner Epoche meines Lebens entsinnen, wo es mir nicht geläufig=selbstverständlich gewesen wäre. Wo immer mir ein englisch geschriebenes Buch aufstieß, gleichviel wie trocken es war, oder meine Fassungskraft übersteigend -: dennoch starrte ich hinein wie gebannt; und brütete darüber; und las mehr davon, und staunte'; diese Neigung zu ausdauerndster und vielseitigster Lektüre blieb ihm sein ganzes Leben. Auch das schicksalhaft: der erste Band, der ihn ihm ganze Reigen von KinderTräumungen weckt, ist eine umfangreiche 'Englische Geschichte'; und historische Studien sind denn auch eine seiner Steckenpferde geblieben. (Arno Schmidt: Siebzehn sind zuviel! Funk- Essays 3, S. 48f.)


Schmidt, Arno: Im Antiquariat

  Bei einem der Besuche, den ich der grossen Antiquariatsbuchhandlung unserer Nachbarstadt wie immer um Weihnachten machte, war ich ein wenig später als üblich zu dem älteren, freundlichen Manne gelangt, der mich bei meinen Einkäufen stets väterlich beriet. Auch heute lächelte er mir erfreut zu, wie immer, wenn ein Mensch seinen Laden betrat, von dem er wusste, dass er seine altväterlichen Folianten aus Leder und Gold pflegen und behüten würde. Zugleich mit mir fuhr ein kalter Windstoss in den Laden und einige Schneeflocken huschten in kurzem, elegantem Bogen mit hinein, glänzten silbern und vergingen; gleich bei meinem Eintritt fasste mich der ewige Zauber der Bücher, jene fast krankhafte, unwiderstehliche Sucht, die jeder Bibliophile kennt; die Lust, alle diese zahllosen Werke zu sehen, zu riechen - ja, zu riechen, geniesserisch die Einbände in der Handfläche zu fühlen und mit den Fingerspitzen der Blindpressung des Rückens nachzugehen, griechisch zu lesen und Latein, bedächtig das alte, gelbfleckige Papier zu wenden, und vom erlesenen seltenen Text zu kosten, hier und dort, bis man berauscht ist, wie ein weiser Trinker. Edelster Rausch, mit ehrfürchtig feinen Händen ein Buch zu halten, und beim Umherschauen zu sehen, wie die Bände in den nahen Regalen noch einzeln und deutlich um dich herumstehen, bis sie sich in den alten Gewölben oben verlieren wie ein Gewölk von Braun und Gold und du nur noch sie in ihrer Gesamtheit fühlst wie sternhelle leidenschaftliche Musik. (Arno Schmidt: Die Insel)


Schmidt, Arno: Unruhige Lektüre

  Er las gut und mit wohltuendem Verständnis, wie sie denn Beide oft von den großen Dichtern bis zu Tränen gerührt wurden, aber heut mochte wohl nicht die rechte Stimmung Raum gewinnen können; er spürte beim Lesen, wie sich ein warmes Händchen verstohlen in die seine schlich aber hin und wieder unruhig zuckte und heimliche Spiele mit seinen Fingern zu treiben versuchte. Auch seine Unruhe nahm immer mehr zu, so daß er endlich nach einer Stunde das Buch beiseite räumte - ohne sich die Stelle anzumerken, bei der er den Text unterbrach; denn als Mann von festem Gedächtnis haßte er Lesezeichen, und pflegte trotz der lächelnden sprudelnden Entrüstung seiner Frau aus allen Büchern die blauen oder roten Bändchen herauszuschneiden... (Arno Schmidt: Der junge Herr Siebold)


Schmidt, Arno: Lexikalisches Zuarbeiten

  (Zettelschneiden=zettelschneiden=zettelschneiden : wenn mir das Einer am Wäschekorb gesungen hätte, daß ich im 50. Lebensjahre mal bei Anlegung der Register zu einem zwölfbändigen Heiligenlexikon helfen würde...! Und wieder einmal mehr aus dem freien Augeneckchen die Dinger betrachten : etwas das keinen Bauch hatte, sondern nur einen Rücken; (und auch den manchmal nicht : ein Buch, ein krankes Buch, ein schwerkrankes Buch); er mießfiel mir mehr mehr dieser Alban Butler!). (Arno Schmidt: Die Abenteuer der Sylvesternacht, Anfang)


Schmidt, Arno: Kunst fürs Volk?

  Dichter : erhälst Du den Beifall des Volkes, so frage Dich : was habe ich schlecht gemacht?! Erhält ihn auch Dein zweites Buch, so wirf die Feder fort : Du kannst nie ein Großer werden. Denn das Volk kennt Kunst nur in Verbindung mit -dünger und -honig (Keine Mißverständnisse : sonst mögens Wackermänner sein, aber schlechte Musikanten !) - Kunst dem Volke ?! : das jault vor Rührung, wenn es Zarewitschens Wolgalied hört, und bleibt eiskalt gelangweilt beim Oprheus des Ritter Gluck. Kunst dem Volke ?! : den slogan lasse man Nazis und Kommunisten : umgekehrt ists : das Volk (Jeder !) hat sich gefälligst zur Kunst hin zu bemühen ! (Arno Schmidt: Brand's Haide)


Schmidt, Arno: Untergangsszenario

  Wenn es der Menschheit nur bald gelänge, sich zu vernichten. (...) Nun, sie werden's schon schaffen (wenn mir schon so viel einfällt !) Denn alles verkehrt sich ihnen ins Böse. Die Schrift : sie ist bestimmt, ewige Dichtungen oder Weisheit oder Erinnerungen aufzuzeichnen - sie aber schmieren Myriaden von Schundromanen und Hetzschriften. (Arno Schmidt: Enthymesis oder W.I.E.H.)


Schmidt, Arno: Weniger ist mehr

  Nicht dies ist das Kennzeichen des literarischen Realisten, daß er - oft in betonter, provozierender Rücksichtslosigkeit - Vorgänge und Dinge beschreibt, die dem Bürger unangenehm oder, um es mit einem rechten Philisterwort herauszusagen: "peinlich" sind: dies Verfahren, bosheitsfroh geübt, führt letzten Ende nur gefährlich in die Nähe einer, aus dem Naturalismus bekannten "Apotheose des Misthaufens". Nein: das Verfahren des echten Realisten ergibt sich ihm aus der Erkenntnis, daß "In Wirklichkeit" viel weniger "geschieht" als die katastrophenfreundlichen Dramatiker uns weismachen wollen. Das Leben besteht, was "Handlung" anbelangt, aus den bekannten kleinen Einförmigkeiten: also verweigert man sich als Realist "um der Wahrheit willen" der Fiktion pausenlos=aufgregter Ereignisse. (Arno Schmidt: Nichts ist mir zu klein. Funk=Essays Bd.1)


Schmidt, Arno: Empfehlungen eines Vorlesers

  Wie aber, wenn man, literarischen Stammbäumen nachgehend, 'leichter' zu unbekannten großen Kunstwerken fände? - verschollenen und vergessenen - die man ansonsten schwerlich, vielleicht 'nie' aufspürte? Verstehen Sie mich recht: ich sage mir - völlig ehrerbietig, wohlgemerkt -: 'wenn' ich ein Buch weiß, welches des sehr großen Edgar Poe Phantasie so entscheidend entzündet hat: 'dann muß doch schon etwas an diesem Buche sein!' Oder anders ausgedrückt: 'wenn' ein bedeutender Dichter Ihnen ein Werk 'empfiehlt' - sei es nun durch offene Nennung des Titels; oder durch schamhaft=verschwiegene Benützung - was vielleicht das noch größere Lob ist - dann folgen Sie getrost diesem gewichtigen Hinweis! Es hat Ihnen ja dann ein Mann von Kenntnissen und Geschmack verläßlich vorgearbeitet, 'vor=gelesen': für Sie 1000 ältliche Bände Spreu ausgeschieden. Es hieße doch kostbarste, unersetzlich= aufgewendete Lesestunden eines ehrwürdigen Vorgängers gedankenlos=hochmütig beiseite schieben, wenn ich solche seiner Hinweise nicht dankbar benützte. (Arno Schmidt: Nichts ist mir zu klein. Funk=Essays Bd.1, S. 50)


Schmidt, Arno: Zwei Klassen Bücher

  Es gibt ja zwei Klassen von Büchern, die uns umwerfen : die eine, weil sie so vollkommen ist in Sprache, Landschaft, wildem Ereignis, daß wir uns in ihnen auflösen : zu unserer eigenen bisherigen Existenz wird eine neue addiert. Die zweite Klasse : die so geschrieben ist, daß wir unwiderstehlich zur Lieferung unserer eigenen Substanz gezwungen werden, die uns zur Illustration herausfordert; zur Neuordnung und = Gruppierung unsere eigenen Bildervorrats. (Arno Schmidt: Nichts ist mir zu klein. Funk=Essays Bd.1, S. 52)


Schmidt, Arno: Großbibliothek

  Des Zacharias Scholastikos Buch gegen die Ewigkeit der Schöpfung. Über die Pflichten eines christlichen Regenten. Metaphrasten genug. (Also immer noch nichts für mich. Aber man müßte tatsächlich näher an einer Großbibliothek wohnen; Alexandria hat 700.000, Byzanz 300.000 Bände : das sind eben Vorzüge des Stadtlebens. Allerdings so ziemlich die einzigen !). (Arno Schmidt: Kosmas oder Vom Berge des Nordens)


Schmidt, Jochen: Arbeitszimmer im Keller

  Judiths Vater hatte ein Arbeitszimmer im Keller, das er nie benutzte. Nur durch ein kleines Fenster unter der Decke fiel Tageslicht herein, es war immer kühl hier unten, und die Bücher, zehn Bände 'Kirchliches Dogma', alte Predigtkommentarzeitschriften, Philosophen in zerfallenden Ortsausgaben, rochen feucht und muffig. Schlug man einen Band auf, waren die Wörter sauber mit Lineal und verschiedenfarbigen Kugelschreibern unterstrichen. Er mußte das alles gelesen haben, vielleicht neigte er deshalb zur Migräne. (Jochen Schmidt: Müller haut uns raus)


Schmidt, Jochen: Straffrei

  War es ein Verbrechen, im Leben nur spazieren und lesen zu wollen? Wenigstens beging man dann keine anderen Straftaten, das müßte der Gesellschaft doch etwas wert sein. Es gab so viele geheimnisvolle Autoren zu entdecken, und dahinter verbarg sich eine ganze Riege noch geheimnisvollerer Autoren, die in früheren Jahrhunderten totgeschwiegen oder vergessen worden waren. (Jochen Schmidt: Müller haut uns raus)


Schmidt, Jochen: Kartoffelnetz voller Bücher

  Vom Einkaufen kam ich immer wieder statt mit Brot und Milch mit einem Kartoffelnetz voller Bücher zurück, weil ich unterwegs einen Abstecher in die Antiquariate der Gegend gemacht hatte. Oft stieß ich auf ganze Nester von Büchern, die denselben Namensstempel trugen. Wie konnte sich jemand so leichtfertig von seinen Schätzen trennen? Hatten sie ihn enttäuscht? Hatte er sich umgebracht? Ich baute mir zu Hause Stapel aus Büchern, die ich mir zu lesen vornahm, von oben nach unten, aber dazu brauchte man mehr Zeit als ein Leben. Ich führte eine Liste mit gelesenen Bücher, wieviel wertvolle Zeit verstrich zwischen jeder Eintragung! Wer das alles für sein Studium lesen durfte, mußte doch der glücklichste Mensch der Welt sein. (Jochen Schmidt: Müller haut uns raus)


Schmidt, Jochen: Bücherklau

  Ich stand allein im oberen Geschoß der Buchhandlung, nur ein Mann blätterte in den Neuerscheinungen. Ich behielt ihn im Auge und steckte mir die Karten unbemerkt in den Rucksack. Dann stöberte ich noch ein wenig in der Belletristikabteilung. Ich hatte mir hier schon so oft Bücher in den Jackenärmel geschoben, daß ich mich fast ein bißchen wie zu Hause fühlte. Nur einmal war ich in Schwierigkeiten geraten, als ich einen Band "Thomas Mann, ein Leben in Bildern" durchblätterte und gleichzeitig versuchte, ein etwas größer geratenes Beckett-Taschenbuch in den Jackenärmel zu schieben. Suhrkamp gab da eine sehr unpraktische Reihe heraus. Der Beckett klemmte fest, ich bekam ihn nicht hinein und nicht wieder raus. Ich blinzelte immer wieder zur Verkäuferin hinüber, und während ich den Bildband bis zum Ende durchblättern mußte, blickte Thomas Mann mich immer strenger an. (Jochen Schmidt: Müller haut uns raus)


Schmidt, Jochen: Zweimal Bibliotheksleihe

  In der Bibliothek baute ich einen Berg aus Büchern vor mir auf. Man nahm sie einfach aus dem Regal und konnte sie sogar vorher durchblättern. In Berlin mußte ich zu dieser Zeit noch für jedes Buch Zettel mit Geburtsdatum, Adresse der Eltern, eidesstattlicher Erklärung des Vermieters und polizeilichen Führungszeugnis ausfüllen, nur um eine Woche später gesagt zu bekommen, daß es ausgeliehen war. (Jochen Schmidt: Müller haut uns raus)


Schmidt, Jochen: Nur wenn man muß

  Seitdem der Kontakt zu Judith abgebrochen war, hatte ich auch meinen Kult ums Schreiben verdrängt. Wir hatten uns ja schon früher ab und an nachts mit der Ankündigung: "Du, ich glaube, ich schreibe nicht mehr" erschreckt. Aber diesmal war es ernst. Es war nur deprimierend, daß mir von meinen Bemühungen nichts geblieben war als schlechte Charaktereigenschaften. Ich fühlte mich als Verräter und reagierte aggressiv und eifersüchtig, wenn andere über Literatur redeten. Aber wie sollte ich Deborah erklären, was ich empfand, wenn ich von jemandem hörte, der jeden Tag an einem Roman schrieb? Sie hatte eine sehr einfache Meinung dazu: "Man soll nur schreiben, wenn man muß." Als sei es so etwas wie Alkoholismus. (Jochen Schmidt: Müller haut uns raus)


Schmidt, Jochen: Anstreichungen in Büchern

  Ich schreibe nur mit Bleistift in Bücher, obwohl ich noch nie etwas wegradiert habe. Ich mache mir aber Gedanken, wie meine Anstreichungen später von anderen interpretiert werden könnten, die ja nicht wissen, daß eine gewellte Linie bei mir nicht Zustimmung für einen Satz, sondern Zweifel oder sogar Mißfallen bedeutet. Manchmal lese ich ein Buch ein zweites Mal und wundere mich über meine alten Anstreichungen, die mir etwas über ein fernes, abgelegtes Ich erzählen. Neue Anstreichungen mache ich dann mit einer anderen Bleistiftstärke, um die Vergangenheit nicht zu verfälschen. (Jochen Schmidt: Zuckersand)


Schnitzler, Arthur: Mit Buch im Bett

  Er öffnete die Tür. Da lag Katharina oder saß vielmehr aufrecht in seinem Bett und sah von einem dicken Buche auf, das sie auf der Decke in beiden Händen hielt. "Du bist doch nicht böse", sagte sie einfach. Ihre braunen, leicht gelockten Haare rannen aufgelöst über ihre blassen Schultern. Wie schön sie war" Gräsler stand noch immer in der Tür, ohne sich zu regen. Er lächelte, denn das Buch, das auf der Decke ruhte, war der anatomische Atlas. "Was hast du dir denn da ausgesucht?" fragte er, mit einiger Befangenheit nähertretend. "Es ist auf deinem Schreibtisch gelegen. Hätt' ich nicht sollen? Verzeih! Aber sonst wär' ich vielleicht eingeschlafen, und da bin ich nicht wach zu kriegen." Ihre Augen lächelten, ganz ohne Spott, - hingebungsvoll beinahe. Gräsler setzte sich zu ihr aufs Bett, zog sie an sich, küßte sie auf den Halw, und das schwere Buch klappte zu. (Arthur Schnitzler: Doktor Gräsler, Badearzt)


Schnitzler, Arthur: Der talentlose Dichter

  Der Dichter, nach den ersten Begrüßungsworten, hatte wie gewöhnlich nur von sich geredet, und zwar in den Tönen tiefster Selbstverachtung. Er war endlich darauf gekommen, daß er eigentlich kein Talent besäße, sondern nur Verstand, den allerdings in enormem Maße. Was er aber an sich am heftigsten verdammte, das waren die Disharmonien seines Wesens, unter denen, wie er wohl wußte, nicht nur er zu leiden hatte, sondern alle, die in seine Nähe gerieten. Er war herzlos und sentimental, leichtfertig und schwerblütig, empfindlich und rücksichtslos, unverträglich und doch auf Menschen angewiesen... zuzeiten wenigstens. Ein Subjekt mit solchen Eigenschaften konnte nun seine Daseinsberechtigung nur durch eine ungeheure Leistung erweisen, und wenn das Meisterwerk, zu dem er verpflichtet war, nicht bald, sehr bald in die Erscheinung träte, so war er als anständiger Mensch verpflichtet sich totzuschießen. (Arthur Schnitzler: Der Weg ins Freie)


Scholz, Kurt: Leise rieselt das Buch

  "Schelten Sie mich altmodisch: Das Hörbuch ist gut fürs Auto; das Buch aber ist eine Liebesbeziehung." Kurt Scholz erzählt davon, wie er nach einem Abstecher in die Welt der Silberlinge, für das gute alte Buch zurückgewonnen werden konnte: "Ich ließ die silberne Affäre ausklingen, wendete mich vom anstrengenden Seitensprung, der DVD, ab und kehre reumütig zum Altbekannten, den Büchern, zurück. Wie verlockend erscheinen mir plötzlich ihre Rücken, so vertraut schmiegen sie sich in meiner Hand, und süß fühle ich beim Liegen ihr Gewicht auf meiner Brust. Welche Zeichen alter Liebe bergen sie: da eine vergessene Ansichtskarte, dort frühere Randbemerkungen, hier eine Widmung. Ihre Namen, Titel wecken Erinnerungen. Welch gute Bettgenossen sind Bücher. Kein Computer ist besser." (Quelle: "Leise rieselt das Buch" von Kurt Scholz)


Schopenhauer, Arthur: Die Kunst nicht zu lesen

  Daher ist, in Hinsicht auf unsere Lektüre, die Kunst, nicht zu lesen, höchst wichtig. Sie besteht darin, daß man das, was zu jeder Zeit soeben das größere Publikum beschäftigt, nicht deshalb auch in die Hand nehme, wie etwa politische oder kirchliche Pamphlete, Romane, Poesien u.dgl.m., die gerade eben Lärm machen, wohl gar zu mehreren Auflagen in ihrem ersten und letzten Lebensjahre gelangen: vielmehr denke man alsdann, daß, wer für Narren schreibt, allezeit ein großes Publikum findet, und wende die stets knapp bemessene, dem Lesen bestimmte Zeit ausschließlich den Werken der großen, die übrige Menschheit überragenden Geister aller Zeiten und Völker zu, welche die Stimme des Ruhmes als solche bezeichnet. Nur diese bilden und belehren wirklich. Vom Schlechten kann man nie zu wenig und das Gute nie zu oft lesen: schlechte Bücher sind intellektuelles Gift; sie verderben den Geist. Um das Gute zu lesen, ist eine Bedingung, das man das Schlechte nicht lese: denn das Leben ist kurz, Zeit und Kräfte beschränkt.


Schopenhauer, Arthur: A tempo lesen

  Ein vermitzter und schlimmer, aber erklecklicher Streich ist es, der den Literaten, Brotschreibern und Vielschreibern gegen den guten Geschmack und die wahre Bildung des Zeitalters gelungen ist, daß sie es dahin gebracht haben, die gesamte elegante Welt am Leitseile zu führen, in der Art, daß diese abgerichtet worden, a tempo zu lesen. nämlich alles stets dasselbe, nämlich das Neueste, um, in ihren Zirkeln, einen Stoff zur Konversation daran zu haben: zu diesem Zweck dienen denn schlechte Romane und ähnliche Produktionen aus einem renommierten Federn, wie früher die der Spindler, Bulwer, Eugen Sue und dergleichen. Was aber kann elender sein als das Schicksal eines solchen belletristischen Publikums, welches sich verpflichtet hält, allzeit das neueste Geschreibe höchst gewöhnlicher Köpfe, die bloß des Geldes wegen schreiben, daher eben auch stets zahlreich vorhanden sind, zu lesen, und dafür die Werke seltenen und überlegenen Geistes aller Zeiten und Länder bloß dem Namen nach zu kennen! - Besonders ist die belletristische Tagespresse ein schlau ersonnenes Mittel, dem ästhetischen Publiko die Zeit, die es den echten Produktionen der Art, zum Heil seiner Bildung, zuwenden sollte, zu rauben, damit sie den täglichen Stümpereien der Alltagsköpfe zufalle.


Schopenhauer, Arthur: Lesen und denken

  Wann wir lesen, denkt ein Anderer für uns: wir wiederholen bloß seinen mentalen Proceß. Es ist damit, wie wenn beim Schreibenlernen der Schüler die vom Lehrer mit Bleistift geschriebenen Züge mit der Feder nachzieht. Demnach ist beim Lesen die Arbeit des Denkens uns zum größten Theile abgenommen. Daher die fühlbare Erleichterung, wenn wir von der Beschäftigung mit unsren eigenen Gedanken zum Lesen übergehn. Eben daher kommt es auch, daß wer sehr viel und fast den ganzen Tag liest, dazwischen aber sich in gedankenlosem Zeitvertreibe erholt, die Fähigkeit, selbst zu denken, allmälig verliert, - wie Einer, der immer reitet, zuletzt das Gehn verlernt. Solches aber ist der Fall sehr vieler Gelehrten: sie haben sich dumm gelesen. Denn beständiges, in jedem freien Augenblicke sogleich wieder aufgenommenes Lesen ist nicht geisteslähmender, als beständige Handarbeit, da man bei dieser doch den eigenen Gedanken nachhängen kann. Aber wie eine Springfeder durch den anhaltenden Druck eines fremdem Körpers ihre Elasticität endlich einbüßt, so der Geist die seine, durch fortwährendes Aufdringen fremder Gedanken. Und wie man durch zu viele Nahrung den Magen verdirbt und dadurch dem ganzen Leibe schadet; so kann man auch durch zu viele Geistesnahrung den Geist überfüllen und ersticken. Denn selbst das Gelesene eignet man sich erst durch späteres Nachdenken darüber an, durch Rumination. Liest man hingegen immerfort, ohne später weiterhin daran zu denken; so faßt es nicht Wurzel und geht meistens verloren.


Schopenhauer, Arthur: Ungefähres Schreiben

  Wenige schreiben wie ein Architekt baut, der zuvor seinen Plan entworfen und bis ins Einzelne durchdacht hat; – vielmehr die Meisten nur so, wie man Domino spielt. Wie nämlich hier, halb durch Absicht, halb durch Zufall, Stein an Stein sich fügt, – so steht es eben auch mit der Folge und dem Zusammenhang ihrer Sätze. Kaum daß sie ungefähr wissen, welche Gestalt im Ganzen herauskommen wird und wo das Alles hinaus soll. Viele wissen selbst Dies nicht, sondern schreiben, wie die Korallenpolypen bauen: Periode fügt sich an Periode, und es geht wohin Gott will. (Arthur Schopenhauer: Ueber Schriftstellerei und Stil)


Schopenhauer, Arthur: Zwei Systeme

  Lesen heißt mit einem fremden Kopfe, statt des eigenen, denken. Nun ist aber dem eigenen Denken, aus welchem allemal ein zusammenhängendes Ganzes, ein, wenn auch nicht streng abgeschlossenes, System sich zu entwickeln trachtet, nichts nachtheiliger, als ein, vermöge beständigen Lesens, zu starker Zufluß fremder Gedanken; weil diese, jeder einem andern Geiste entsprossen, einem andern Systeme angehörend, eine andere Farbe tragend, nie von selbst zu einem Ganzen des Denkens, des Wissens, der Einsicht und Ueberzeugung zusammenfließen, vielmehr eine leise babylonische Sprachverwirrung im Kopfe anrichten und dem Geiste, der sich mit ihnen überfüllt hat, nunmehr alle klare Einsicht benehmen und so ihn beinahe desorganisiren." (Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena II, S. 540)


Schopenhauer, Arthur: Sternschnuppen, Planeten, Fixsterne

  Die Schriftsteller kann man einteilen in Sternschnuppen, Planeten und Fixsterne. Die ersteren liefern die momentanen Knalleffekte: man schauet auf, ruft: 'Siehe da!", und auf immer sind sie verschwunden. Die zweiten, also die Irr- und Wandelsterne, haben viel mehr Bestand. Sie glänzen, wiewohl bloß vermöge ihrer Nähe, oft heller als die Fixsterne und werden von Nichtkennern mit diesen verwechselt. Inzwischen müssen auch sie bald ihren Platz räumen, haben zudem nur geborgtes Licht und eine auf ihre Bahngenossen beschränkte Wirkungssphäre. Sie wandeln und wechseln. Ein Umlauf von einigen Jahren Dauer ist ihre Sache. Die dritten allein sind unwandelbar, stehen fest am Firmament, haben eigenes Licht, wirken zu einer Zeit wie zur anderen, indem sie ihr Ansehen nicht durch die Veränderung unseres Standpunktes ändern, da sie keine Parallare haben. Sie gehören nicht, wie jene anderen, einem Systeme an, sondern der Welt. Aber wegen der Höhe ihrer Stelle braucht ihr Licht meistens viele Jahre, ehe es dem Erdbewohner sichtbar wird.


Schröder, Martin Z.: Luxuriöse Existenz

  Eines Tages war nichts zu tun. Keine Arbeit, kein Ausflug. Der Blick schweifte in der Kammer umher und blieb an Robert Königs Deutscher Literaturgeschichte hängen. Verschlissen war der Rücken, der Golddruck stumpf, das Leder brüchig. Schnapp, nahm ich das Buch in die Hand. Anno 1900 gedruckt von Velhagen und Klasing in Bielefeld. Wisch ich mit dem Finger übers Vorsatzpapier, wird die Fingerkuppe golden. Innen viele kluge Köpfe: radiert, geätzt, gestochen. Und faksimilierte Briefe und Buchseiten alter Ausgaben sind eingeklebt. Mit Seidenpapier geschützt. Herrlich. Nur wie es aus dem Regal guckt! So trübe! Ich griff ein Fläschchen teuren englischen Lederöls. Mit einem Leinenläppchen strich ich hauchdünn den Rücken ein. Wie der Band wieder zu leben begann! Das Leder unterm Gold wurde glatt und hellbraun. Anschließend hab ich meine schönsten Bücher in Leder mit Öl massiert. Und wie kam ich mir dabei vor? Wie ein Milliardär, der seine silbernen Pistolen tätschelt. Wär' ich Milliardär, hätt' ich natürlich einen klimatisierten, möblierten Panzerschrank wie der berühmte Schweizer Antiquar Heribert Tenschert. Aus Langeweile meine Papierpistolen zu pflegen, gab mir aber für diese Stunde immerhin ein Gefühl von luxuriöser Existenz. So einfach geht das. Mit Büchern.


Schulz, Bruno: Bücher wie Meteore

  Gewöhnlich gleichen Bücher Meteoren. Jedes von ihnen hat einen Augenblick, einen Moment, da es schreiend auffliegt wie ein Phönix und mit allen Seiten brennt. Dieses einen Augenblicks, dieses einen Moments wegen lieben wie sie dann, obgleich sie dann schon Asche sind. Und mit bitterer Resignation wandern wir manchmal spät über den erkalteten Seiten und lassen mit hölzernem Klappern ihre toten Formeln wie einen Rosenkranz durch die Finger gleiten. Die Exegeten des Buches behaupten, daß alle Bücher nach diesem Original dürsten. Sie leben nur ein geborgtes Leben, das im Augenblick des Hochfliegens zu einer alten Quelle zurückkehrt. Das heißt, die Bücher werden weniger, die Originale nehmen zu. (Bruno Schulz: Die Zimtläden und andere Erzählungen, S. 142)


Schütt, Hans-Dieter: Einsamkeit des Lesenden

  Wie sehr nehmen wir eigentlich noch Anteil an dem, was der andere Mensch neben uns liest? Bemerken wir aneinander, wie sich Lesegewohnheiten, literarische Vorlieben ändern? Wie lange haben wir überhaupt Geduld für ein Buch? Ist ein Urlaub noch vorstellbar, den man einzig darauf abstellt, daheim zu bleiben und in einer zusammenhängenden Zeit Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" oder Thomas Manns "Zauberberg" zu lesen? Wie oft gibt man noch ein Buch erregt an Freunde weiter, weil man unbedingt möchte, dass auch sie das lesen und weil man auf die andere Ansicht neugierig ist? Man sieht gemeinsam fern - aber hört man auch noch gemeinsam Lesungen im Rundfunk oder ein Hörbuch? Vielleicht sind das merklich altmodische Vorstellungen, überkommene Kulturmelancholien. Aber wo die Einsamkeit des Lesenden auf die Einsamkeit eines anderen Lesenden trifft, ist die Welt für einen Moment eine veränderte. (Hans-Dieter Schütt, ND 18./19.10. 2003, Seite 18)


Schulte, Michael: Drugstore-Romane

  Nachdem Mrs Amanda Wilcock ihren vierzigsten Toaströster gewonnen hatte, beschloß sie, keine Preisrätsel mehr zu lösen. Von nun an widmete sie sich verstärkt ihrer bescheidenen Hühnerzucht und der Lektüre leichtfaßlicher Romane, wie sie der örtliche Drugstore bereithielt. Da sie in einem Alter war, in dem das Gedächtnis nachläßt, fing sie, als sie zweihundert Romane gelesen hatte, wieder mit dem ersten an, und tatsächlich konnte sie sich an keine einzige Zeile mehr erinnern. Sie brauchte nun keine Bücher mehr zu kaufen und verwahrte das auf diese Weise gesparte Geld in einer leeren Zigarrenkiste ihres vor Jahren dahingegangenen Mannes. Ein Drugstoreroman kostet durchschnittlich 8 Dollar, und als die Kiste ca. 1600 stark nach Brasilzigarren duftende Dollar enthielt, stopfte sie das Geld in ihre handtasche, packte einen Koffer und fuhr zum ersten Mal in ihrem Leben nach New York. (Schulte, Michael: Gemensch und Getier, Maro, S. 62)


Schulte, Michael: Des Lesers Recht

  Ein ordentlicher Autor beschreibt das Äußere seiner Personen, damit sich der Leser ein Bild machen kann. Faule Autoren drücken sich vor solchen Beschreibungen unter dem Vorwand, die Fanatsie des Lesers aktivieren zu wollen. Ich finde das unglaublich. Schließlich hat der Leser sauer verdientes Geld für das Buch bezahlt, dann hat er auch ein Recht, genaue Beschreibungen zu erhalten. Er hat ein Buch gekauft, um seine Fantasie nicht anstrengen zu müssen. Wenn er sich selbst was ausdenken will, braucht er kein Buch zu kaufen.


Schulte, Michael: Eine öffentliche Bibliothek

  Ein passionierter Raucher kann zur Not ohne Bücher oder mindestens ohne öffentliche Bibliothek über die Runden kommen, aber niemals ohne Zigaretten. Die öffentlichen Bibliotheken und Büchereien in aller Welt könnten eine sprunghaft ansteigende Benutzerquote registrieren, dürften die Leser während ihrer Staatlich verordneten subventionierten Lektüre rauchen. Lesestoff ist schließlich nicht selten unter heftigem Nikotinmißbrauch entstanden. Ich nenne nur drei Beispiele: Mark Twain, Thomas Mann, Kurt Vonnegut. Wenn man den Autoren das Rauchen nicht verbietet, warum sollten dann ihre Endverbraucher nicht schmauchend genießen dürfen, was unter viel Qualm und Dunst mühsam entstanden ist? (Michael Schulte: Eine öffentliche Bibliothek)


Schulte, Michael: Hawaiis Bibliothek

  Natürlich hatte man zuerst mal wieder den Multimillionär Andrew Carnegie um Geld angehauen. Dessen Hobby war ohnehin, nach ihm benannte Stiftungen ins Leben zu rufen, und wenn er New York schon einen Konzertsaal schenkte, war nicht einzusehen, warum er Hawaiis Hauptstadt Honolulu nicht auch mit einer öffentlichen Bibliothek segnen sollte. Hawaii war damals noch längst kein Staat der USA, was Carnegies anfängliches Zögern erklären könnte. Als ihm Governor Walter Drear aber mitteilte, man wolle schließlich nur lumpige $ 100.000, schlug Carnegie ein. Den großherzigen Sinneswandel hat vermutlich auch Carnegies Kenntnis der wenig rühmlichen Tatsache bewirkt, daß die USA erst vor kurzem in Hawaii die populäre Monarchie abgeschafft und das Inselreich zur Quasi-Kolonie erklärt hatten. Die Außenpolitik Washingtons ruhte schon immer auf den drei festen Säulen: Arroganz, Ignoranz und Aggressivität. Am 1. Februar 1013 wurde die Bibliothek - 30.000 Bände - feierlich eröffnet. Sie wurde vorerst auf den Namen "Library of Hawaii" getauft, und die erste Benutzerkarte bekam Governor Frear, der auch prompt zwei Bücher auslieh.- Ich hätte es nett gefunden, wenn man die erste Benutzkarte Andrew Carnegie ausgestellt hätte, wo man die Bibliothek schon nicht nach ihm benannt hatte. Aber offentbar schätze man auf Hawaii eher Menschen, die Millionären Geld aus der Nase ziehen, als die Millionäre selbst. (Michael Schulte: Hawaiis Bibliothek)


Schulte, Michael: Pferdearschbetrachtung

  Jahre später erschien "Die Pferdearschbetrachtung des Friedrich Schröder-Sonnenstern", eine nach Tonbandprotokollen aufgezeichnete Autobiografie, in der ich fast alle Geschichten wiederfand, die Sonnenstern mir an diesem Nachmittag erzählt hatte. Das Buch gab es einige Monate zu kaufen, dann war es verschwunden, deutscher Verlagspraxis gemäß - was nicht sofort Profit abwirft, wird verramscht oder dem Reißwolf überantwortet. Wenn ich jetzt ein paar Worte zu der "Pferdearschbetrachtung" sage, tue ich das in der vagen Hoffnung, daß sich des Buches vielleicht einer der wenigen Verleger erneut annimmt, die den Sinn ihres Berufes darin sehen, gute Literatur zu vertreiben. Das tun die anderen Verleger in gewissem Sinn auch: sie vertreiben die gute Literatur, vollständig. Das Buch, das übrigens auch einige aufschlußreiche Dokumente enthält, fängt so an: "Hier spricht der dreifache Weltmeister aller freien, angewandten moralischen und bildenden Künste. Wer mir nicht glaubt, braucht nicht weiterlesen." Außer ihm glaubt das wohl niemand, aber wer möchte deswegen die Lektüre abbrechen? (Michael Schulte: Der Papageienschmuggler, S. 101f.)


Schulte, Michael: Alljährliche Umzüge

  Das ganze Jahr wohne auch ich nicht in der Stadt, denn ich habe ein Haus im schönen Schwarzwald, wo ich die Sommermonate zu verbringen pflege. Leider besitze ich kein Auto, so daß ich den Umzug von der Stadtwohnung ins Schwarzwaldhaus und umgekehrt immer mit Hilfe der Bundesbahn bewerkstelligen muß. Es ist weiß Gott ein hartes Stück Arbeit, zweimal jährlich die viertausend Bände meiner Bibliothek einzupacken, zu verschicken, auszupacken, neu in die Regale einzuordnen. Aber ohne die Bücher (vor allem die Klassiker!) im Schwarzwald zu leben ist doch irgendwie, ich weiß nicht so recht. Ich sage immer: eine Silbertanne ist ohne Lyrik nur aus Holz. (Michael Schulte: Die Dame, die Schweinsohren nur im Liegen aß, S. 52f.)


Schulte, Michael: Tolstoi

  Tolstoi hat unentwegt mit seiner Frau gestritten. Oder sie mit ihm. Wegen der geringsten Kleinigkeiten sind sie sich in die Haare geraten. Mal waren Tolstois Hemden nicht richtig gebügelt und Tolstoi explodierte, oder er verschüttete mal wieder seine Suppe und Soja Andrejewna machte eine Szene. Nur wenn Tolstoi arbeitete, hat sie ihn in Ruhe gelassen, eine Erklärung für den wahnwitzigen Umfang seiner Romane. (Michael Schulte: Tolstoi, in: Zitroneneis, Anfang)


Schulte, Michael: Es entwickelt sich erst...

  Der erste Satz ist entscheidend. Der erste Satz ist die Keimzelle. Ich weiß selbst nicht, wie es weitergeht, geschweige denn, wie es endet. Was? Ich finde beim Schreiben heraus, wie die Geschichte verläuft. Das ist doch einfach das letzte; du machst dir nicht einmal die Mühe, dir eine ordentliche Geschichte auszudenken, ehe du anfängst? (Michael Schulte: Zitroneneis, S. 172)


Schulte, Michael: Tadelloses Exemplar

  Meine Mutter hatte in einem Antiquariatskatalog ein Buch entdeckt und für sündhaftes Geld erworben: Schulte, Michael: Bambus Coca-Cola. Von einer Reise nach Celebes. 199 S. Meyster, München 1982. Rücken leicht berieben, Ecken etwas abgestoßen. In den Gelenken locker. Stellenweise ziemelich stock- und fettfleckig. Photos zum Teil herausgerissen, die letzten 50 Seiten fehlen. Sonst tadelloses Exemplar. (Michael Schulte: Zitroneneis, S. 218)


Schulte, Michael: Voyeurismus

  Leser sind grausam wie die Zuschauer eines Kriegsfilms, sie wollen den Helden in der Patsche, bis zum Hals in der Scheiße sehen, sonst sind sie enttäuscht. Sie fläzen sich in Kinosesseln, fressen Popcorn und sehen sich den Film an, oder sie liegen im Bett und lesen das Buch, haben es gemütlich und stellen keine großen Ansprüche, erwarten nur, daß es dem Helden so dreckig wie möglich geht, und daß er kontinuierlich Kopf und Kragen riskiert. (Michael Schulte: Die endgültige Spülbürste, S. 124)


Schulte, Michael: Am besten Reisen

  Ein angehender Schriftsteller auf der Suche nach einem Romanstoff kann nichts Besseres tun als auf Reisen gehen. Das hat schon Goethe gesagt. Mein Reiseziel stand schnell fest, hatte ich doch in zahlreichen Broschüren, Zeitungsartikeln, Reportagen und Abenteuerbüchern gelesen, das Leben sei nirgends vielfältiger, aufregender und gefährlicher als in New York. Genau das richtige Pflaster für einen verzweifelten Romancier. (Michael Schulte: Sabine Hubers Glück und Elend, S. 50)


Schulte, Michael: Ein Tick

  Auf jede Reise hatte ich bislang stapelweise Bücher mitgenommen, um die meisten dann wieder ungelesen, doch mit zerfetzten Schutzumschlägen wieder zurück zu bringen. Und ist der Zustand eines Buches erst mal schlecht, ist es von ein paar Eselsohren oder Fettflecken gezeichnet, habe ich keine Lust mehr, es zu lesen. Bei Taschenbuchausgaben wären derlei Blessuren und Verunstaltungen nicht so schlimm, aber Taschenbücher kaufe ich nach Möglichkeit nicht. Angenommen, ich habe noch vierzig Mark und möchte plötzlich ein bestimmtes Buch besitzen, das als Hardcover achtundzwanzig Mark und als Taschenbuch keine fünf Mark kostet - ich kaufe die Hardcover- Ausgabe. Vielleicht sollte jetzt eine feinsinnige Betrachtung über bibliophile Fragen folgen, aber sie folgt nicht, man begnüge sich mit der schlichten Erklärung, daß ich einen Tick habe. (Michael Schulte: Bambus, Coca-Cola, Bambus, S. 16)


Schulte, Michael: Alte und neue Leseabenteuer

  Ich konnte nicht ahnen, daß die Tagebücher von Samuel Pepys mich derart faszinieren würden, daß ich nicht mehr zu dosieren verstand, sondern mich wie ein Alkoholiker mit seinem letzten Kasten Bier verhielt. - Der Vergleich hinkt, denn eine leere Bierflasche ist eine leere Bierflasche, man kann sie drehen und wenden wie man will, nichts ist ihr mehr zu entwinden, ein Umstand, der traurig und sogar wütend stimmen kann. Konsumiert man jedoch den Inhalt eines Buches, bleibt dieser freundlicherweise erhalten, hat man die Lektüre beendet, kann man sie unverzüglich aufs neue beginnen. Den Pepys sollte man wie ein erfahrener Gourmet genießen und nicht wie eine Schweinshaxe in einem bayrischen Biergarten verschlingen. Mit fünfzehn Jahren liebte ich über alles die Novellen von Theodor Storm und ich konnte mir nicht vorstellen, daß ich jemals einen anderen Lieblingsautor würde haben können, man weiß, man ahnt zu wenig von den Wandlungen, die die eigene Person noch durchmachen wird, man kann sich nicht vorstellen, daß die gegenwärtige Gefühlswelt über kurz oder lang verlöschen wird, um neue Gedanken, Emotionen und Irrungen Platz zu machen, daß bald neue und nicht minder gefährliche Abenteuer zu bestehen sind; auch neue Leseabenteuer gehören dazu, merkwürdigerweise glaubt man in jungen jahren, wenn man erst einen winzigen Ausschnitt der Literatur kennengelernt hat, dies sei so ziemlich die ganze Literatur. - Kürzlich habe ich Storms "Immensee" noch einmal zu lesen versucht, eine Seite lang hielt ich durch, dann habe ich es nicht mehr ausgehalten. (Michael Schulte: Bambus, Coca-Cola, Bambus, S. 16f.)


Schulte, Michael: Die ersten Sätze

  Wenn es schneit, denken die Leute, die ihn kannten: Jetzt läßt Erik Satie seine Schnupftücher vom Himmel fallen. Selbst wenn noch nie jemand so etwas gedacht hat, es ist ein schöner erster Satz für ein Buch, da besteht überhaupt kein Zweifel. Von einem Nachwuchsautor um professionellen Rat gebeten, antwortete William S. Burroughs einst: "Schreiben Sie den ersten Satz so, daß man den zweiten lesen möchte und den zweiten so, daß man den dritten lesen möchte und so weiter." Das muß man eine Weile durchhalten, bis der Leser so richtig im Lesefluß drin ist. Später, gegen die Mitte des Buches, darf es dann schon mal ein bißchen hängen, dann sagt sich der Leser, nun habe ich schon so viel gelesen, dann lese ich halt weiter, obwohl es mich im Moment nicht so wahnsinnig interessiert, wie die nächsten Sätze lauten werden, vielleicht wird es ja gleich wieder besser. (Michael Schulte: Die Flaschenpost des Herrn Debussy, S. 11)


Schulte, Michael: Der erste Satz

  Der erste Satz ist entscheidend, er ist wie die Eröffnung eines Schachspiels, die der ganzen Partie ihre Richtung weisen, über Sieg oder Niederlage entscheiden kann. Außerdem muß der erste Satz auf den zweiten neugierig machen. Wenn der Leser in der Mitte oder gegen Ende eines Romans mal kurz einschläft, ist das nicht weiter schlimm, aber der Anfang muß sitzen, muß den Leser geradezu nötigen, die Lektüre fortzusetzen. Man darf also keinesfalls mit einer Naturbeschreibung oder Moralpredigt beginnen, auch Erwägungen, die die Änderung der Gesellschaft oder Verbesserung der Menschheit bezwecken, sollte man sich möglichst lange verkneifen. (Michael Schulte: Der Frühstücksdirektor, S. 36)


Schulte, Michael: Marcel Proust

  Nur selten verließ Marcel Proust das Haus. Dann bestieg er ein Taxi und ließ sich durch Paris fahren und stellte jedesmal fest, daß die Metropole seinen Tagträumen, seinen Phantasiegemälden nicht annähernd entsprach. Was er sich ausdachte, war allemal aufregender als die Wirklichkeit, eine Wirklichkeit, die nur erträglich war, weil der menschliche Geist die Gnade und Fähigkeit besitzt, sie umzugestalten, sie auszuschmücken, sie ein wenig zu vervollkommnen. Gelehnt an Berge mehrmals täglich aufgeschüttelter Kissen, saß Proust in seinem Bett, die Knie angewinkelt, ein poliertes Mahagonibrett an die Oberschenkel gesützt, auf dem Brett die Seiten geklammert, in der Rechten den kostbaren Federhalter aus Elfenbein, Geschenk einer Gräfin, die mehr als einmal in dem Mammutwerk Erwähnung finden sollte, das Tintenfaß auf dem Nachttisch - wie er es fertigbrachte, in mehr als zwei Jahrzehnten die Bettwäsche nie vollzuklecksen, bleibt ein Rätsel - so gebettet und schlicht ausgerüstet, zuzeiten von Frauenhand mit bekömmlicher Speise versorgt, schuf er ein gewaltiges Romanwerk, das ihm seinen Platz in der Literaturgeschichte gesichert hat und sichern wird - bis zum Tod der Sonne, wenn in fünf Milliarden Jahren der Stern sich kurz und gewaltig aufblähen und eine Hitze austrahlen wird, daß innerhalb weniger Sekunden alle Bücher der Welt verbrennen, die Ozeane verdunsten. Und dann wird die Sonne wie ein Salzburger Nockerl zusammensacken und als erkalteter Knödel durch den Weltraum rasen, ihre Trabanten vergessen, der Erde Lebewohl sagen, der Erde, die schon längst wieder ohne Menschen, ohne Pflanzen und Getier ihre Bahn zog und nun, ein kahler Steinplanet, in den Weiten der Milchstraße verschwindet. (Michael Schulte: Der Frühstücksdirektor, S. 33)


Schulte, Michael: Warum ich schreibe

  Und im Gymnasium saß ich in der ersten Bank - wo man ungestörter als in der letzten ist - und überlegte, welche Berufe es gibt, die es einem gestatten auszuschlafen. So bin ich Schriftsteller geworden. ich habe keine Botschaft für die Menschheit, will die Welt nicht verändern, ich möchte nur ausschlafen. Das sage ich jedenfalls, wenn mir nach Lesungen die Frage gestellt wird, warum ich schreibe. (Michael Schulte: Ich freu mich schon auf die Hölle. Szenen aus meinem Leben)


Schulte, Michael: Märchen vorgelesen bekommen

  Der Vater hatte sein eigenes Zimmer, hielt sich jedoch oft und lange in unserer elenden Kammer auf, nahm mit uns Frühstück und Abendessen ein, ging mit mir im Wald spazieren, schenkte mir eine Armbanduhr, sagte jeden Abend gute Nacht, aber er las mir, im Gegensatz zu meiner Mutter, keine Märchen vor. Vielleicht war das der Grund, daß ich ihn nicht als zur Familie gehörig empfand, sondern als Gast, als Eindringling in eine Dreiergemeinschaft, auch wenn diese Gemeinschaft selten in Harmonie lebte - die ständig Aufmerksamkeit fordernde Schwester, die ständig schimpfende Mutter, der man nichts recht machen konnte. Nur die zwanzig Minuten vorm Einschlafen waren friedlich. Die nölende Metamorphose einer Ziehharmonika schlief endlich, und die Mutter las am Bettrand sitzend vor. Mein Lieblingsmärchen war Schneewittchen. War die Erzählung an der Stelle angelangt, da das zarte Mädchen den vergifteten Apfel schluckt, fing ich an, Rotz und Wasser zu heulen. Die Mutter sprach ein paar tröstende Worte und las weiter. Am nächsten Abend wollte ich dann wieder Schneewittchen hören. "Nein, ein anderes Märchen", sagte Mami, "du fängst doch nur wieder zu weinen an." - "Ich werde nicht weinen, ich weiß doch, wie es zu Ende geht." Also schön, zum hundertsten Mal Schneewittchen. Und kaum hatte dieses den Apfel im Mund, durchtränkte das Kopfkissen das Kopfkissen ein Strom bitterer Tränen. Ich habe nie aufgehört, Märchen zu lesen. Und ich könnte nicht mit einer Frau zusammenleben, die sich nichts aus Märchen macht - oder Laurel & Hardy, Chaplin, Mozart, Donald Duck; ein paar grundsätzliche Gemeinsamkeiten muß es geben, sonst klappt's nicht. (Michael Schulte: Ich freu mich schon auf die Hölle. Szenen aus meinem Leben)


Schulte, Michael: Eine glückliche Ehe

  Wenn wir zur Weihnachtszeit in Hannover waren, ging der Großfafa mit mir jeden Tag in den Zoo und las mir nachmittags ein Märchen von Wilhelm Hauff vor - aus den illustrierten Einzelausgaben von Rütten & Loening. Hatte er den Eindruck, daß mir das Märchen gefiel, schenkte er mir das Buch. Abends durfte man ihn nicht stören. Da lag er auf dem Sofa im Bibliothekszimmer, neben sich einen Stapeln Bücher aus seiner märchenhaften Bibliothek, und las. Neben ihm saß die Großmama in einem Sessel und redete ohne Punkt und Komma. Alle fünf Minuten sagte der Großvater weiterlesend "mhm". Vierzig Jahre lang hat er "mhm" gesagt, ohne auch nur einmal eine Sekunde zugehört zu haben. Es war eine glückliche Ehe. (Michael Schulte: Ich freu mich schon auf die Hölle. Szenen aus meinem Leben)


Schulte, Michael: In den USA verboten

  Während meines Aufenthaltes in Chicago kam ich mal an einer Buchhandlung vorbei, die ihr Schaufenster mit Büchern unter dem Motto 'In den USA verboten' dekoriert hatte. Gemeint waren Bücher, die in einigen Staaten, vor allem des Südens, aus öffentlichen Büchereien und Schulbibliotheken entfernt worden waren, darunter moderne Klassiker wie Kurt Vonnegut, Allen Ginsberg, Jack Kerouc, Philip Roth oder William S. Burroughs, kurz alle, die mal einen Joint geraucht oder einen Whiskey getrunken hatten oder der Satanslehre dieses Charles Darwin anhingen, der glattweg leugnet, daß der Mensch am letzten Schöpfungstag von Gott höchstpersönlich geknetet worden war. (Michael Schulte: Ich freu mich schon auf die Hölle. Szenen aus meinem Leben)


Schwarz, Stefan: Buchgerümpel

  Am Abend waren wir zum Geburtstag eingeladen. (...) "Hast du ein Geschenk für Thoralf besorgt?" Mist. Vergessen. Wollte ich eigentlich heute in der Stadt machen, aber durch das Chaos mit der Windel- Hotline war es mir irgendwie weggerutscht. Ich zog einen Verzeihungsflunsch. "Nee, aber ich guck mal in den Bücherschrank. Ich find schon was." Ich ging ins Wohnzimmer und stellte mich mit verschränkten Armen vor das Bücherregal. Was ich suchte: guterhaltene Fehlkäufe. Nur flüchtig Angeblättertes. Irgendein Buchgerümpel, das man aber noch verschenken kann. (Stefan Schwarz: Das wird ein bisschen wehtun)


Schwarz, Stefan: Vorgelesen bekommen

  Für Freitagabend hatten wir Freunde eingeladen. (...) Unsere Kinder wurden mit Wurst und Graubrotstulle abgespeist. Danach verschwand Konrad im Wohnzimmer, um sich den Freuden der Fernbedienungsherrschaft hinzugeben. Maschenka wurde ins Bettnest verbracht, um zwischen Unmengen von staubig müffelnden Kuscheltieren eine Sachgeschichte vorgelesen zu bekommen. Mascha mochte keine Märchen. Sie waren ihr zu ausgedacht. Lieber Baumbestimmungsbücher oder Anatomie für die Vorschule. Konrad dagegen kannte sich nur in Bewaffnungsgraden und Kampfstärken seiner Computerarmeen aus. Den Rest des abendländischen Wissens hielt er für Tand. (Stefan Schwarz: Hüftkreisen mit Nancy)


Schwarz, Stefan: Krimis

  Jetzt las Dorit Krimis, tauschte Krimis mit ihren Freundinnen, fing den einen an, sobald sie den anderen ausgelesen hatte, und fieberte den Neuerscheinungen ihrer Lieblingsautoren entgegen. Bei Lichte besehen, gab es dafür nur drei Erklärungen. Die erste Erklärung: Krimis reizten Dorits Klassenbestenehrgeiz, den Täter schon auf den ersten hundert Seiten herauszuknobeln, ihn sich selbst armzappelnd zu melden, sich selbst zu belobigen, Knickse nach links und nach rechts zu machen, wieder Platz zu nehmen und das Buch nur noch zur Bestätigung auszulesen. Die zweite Erklärung: Dorit liebte Krimis, weil ihre Auffassung vom männlichen Wesen sowieso in der Figur des Serienkillers gipfelte. Für Dorit war ein Mann, der nach fünfzehn Jahren immer noch nicht von selbst seine alten Schlüpper in die Wäschebox räumte, nichts anderes als ein Wiederholungstäter - und der Schritt zum Gewohnheitsverbrecher, ja zum zwanghaften Blondinenmörder, nur eine Frage der Zeit. Die dritte Erklärung: Dorit las Krimis, um sich wach und geistig fit zu halten, falls in ihrem eigenen Umfeld Indizien für eine Untat auftauchen sollten. (Stefan Schwarz: Hüftkreisen mit Nancy)


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