Bibliomanische FAB  / [S_2]


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Sebald, W.G.: Wie auf einer Insel

  Am Feierabend rette ich mich, sagte Salvatore, in die Prosa wie auf eine Insel. Den ganzen Tag über sitze ich inmitten der Lärmflut der Redaktion, am Abend aber setze ich über auf eine Insel, und wenn ich die ersten Sätze anfange zu lesen, so kommt es mir jedesmal vor, als rudere ich weit auf das Wasser hinaus. Einzig dank dieser allabendlichen Lektüre bin ich heute noch halbwegs zurechnungsfähig. (W. G. Sebald: Schwindel. Gefühle)


Sebald, W.G.: Erholung am Abend

  Am Feierabend rette ich mich, sagte Salvatore, in die Prosa wie auf eine Insel. Den ganzen Tag über sitze ich inmitten der Lärmflut der Redaktion, am Abend aber setze ich über auf eine Insel, und wenn ich die ersten Sätze anfange zu lesen, so kommt es mir jedesmal vor, als rudere ich weit auf das Wasser hinaus. Einzig dank dieser allabendlichen Lektüre bin ich heute noch halbwegs zurechnungsfähig. (W. G. Sebald: Schwindel. Gefühle)


Sedaris, David: Na fein!

  Ich war fasziniert von Philip, der irgendwo im Mittleren Westen eine Collegebibliothek leitete. "Er hat viel von dir", sagte meine Mutter. "Eine Leseratte. Hat seine Nase ständig in Büchern." Ich war ganz bestimmt keine Leseratte, hatte es aber geschafft, diesen Eindruck bei ihr zu erzeugen. Wenn ich gefragt wurde, was ich den ganzen Nachmittttag über getrieben hatte, sagte ich nie: "Ach, masturbiert", oder: "Mir vorgestellt, wie es aussähe, wenn ich mein Zimmer scharlachrot streichen würde." Stattdessen sagte ich, ich hätte gelesen, wie das Buch hieß oder woher ich es hatte, sondern sagte immer nur: "Na, fein." (David Sedaris: Nachtprogramm, S. 67)


Sedaris, David: Beim Lesen zugucken

  Als ich mich meinem Rätsel zuwandte, zog Becky ein Taschenbuch hevor, so eins mit eingestanzter Schrift auf dem Umschlag. Ich versuchte, den Titel zu erkennen, aber sie drehte das Buch gleich näher zum Fenster. Wie seltsam, daß man den Blick eines anderen auf sein Buch oder seine Zeitschrift so deutlich spürt wie eine Berührung. Und es funktioniert auch nur beim geschriebenen Wort. (David Sedaris: Schöner wird's nicht, S. 126)


Seidel, Willy: Umzug & Bücher

  In der ersten Nacht kann ich nicht einschlafen und stehe im Saal. Da liegt nun mein Hausrat, Füllsel eines großen Möbelwagens, auf dem spiegelblanken Parkett. Noch ist es eine einzige Wirrnis: aus einer Barrikade vertrauter Schränke, Truhen, Kommoden wächst ein Berg von Büchern, einem erstarrten Erdrutsch ähnelnd. Die fünf beleibten Sessel, provisorisch weggeräumt, stehen an die Wand gedrückt in gerader Reihe. Dort mokieren sie sich, das ist klar; bilden eine Abwehrphalanx gegen das eingedrungene Neue - aber ihr werdet euch schon vertragen und einen Kompromiß eingehen! (...) Die Damaststores sind vorgezogen, es ist tiefste Nacht, jener kälteste Moment des Lebens zwischen halb drei und halb vier; ich stehe unter meinen Büchern; tot blinken die Deckel, hieroglyphenhaft die wohlbekannten Titel. Intimstes steht oder liegt da, nackt und vereinsamt unter der Bestrahlung. Zuweilen webt ein Knistern durch den Raum: die aufeinander geschachtelten Bücherbretter zirpen einander die Frage zu: "Ist dies endlich die letzte Station?" (Willy Seidel: Alarm im Jenseits)


Seghers, Anna: Anti-Fiktional

  Was sollte ich tun? Lesen? Das hatte ich einmal getan an einem ähnlich leeren Abend. Nie wieder! Ich spürte den alten Unwillen meiner Knabenzeit gegen Bücher, die Scham vor bloß erfundenem, gar nicht gültigem Leben. Wenn etwas erfunden werden mußte, wenn dieses zusammengeschusterte Leben gar zu dürftig war, dann wollte ich selbst der Erfinder sein, doch nicht auf Papier. (Anna Seghers: Transit)


Seghers, Anna: Als kleines Kind

  Als kleines Kind, als ganz kleines Kind, bevor ich in die Schule kam und im ersten Jahr, in dem ich in die Schule ging, war ich oft krank, und dabei lernte ich verhältnismäßig früh lesen und dadurch auch schreiben. Und dann erfand ich, hauptsächlich, weil ich allein war und mir eine Umwelt machen wollte, alle möglichen kleinen Geschichten, die ich mir vorerzählte, und manchmal schrieb ich auch drei Sätze, sozusagen zu Abziehbildern. (Anna Seghers)


Seghers, Anna: Schreibbedingungen

  Anna Seghers: "Am allerliebsten schreibe ich auf einem Schiff oder in einem ganz vollen Cafe, und das sind zwei Möglichkeiten, die es bekanntlich in Berlin nun mal nicht gibt. Warum ich das nun so gern habe? Weil dann viele Menschen um mich herum sind, ich bin nicht allein, aber diese vielen Menschen lassen mich in Ruhe, sie kümmern sich nicht um mich. Wenn ich genug Ruhe hätte hier in Berlin - leider habe ich das nicht, weil jede Woche, jeder Tag mit neuen überflüssigen Sachen kommt -, dann würde ich unbedingt jeden Tag, wie es sich gehört, einige Stunden arbeiten. Meiner Meinung nach brauche ich das, braucht das jeder schreibende Mensch, weil man mit seinem Stoff und mit seinen Fähigkeiten vertraut bleiben muß in jedem Beruf. Ich frage mich manchmal, was würden denn die Ärzte sagen, wenn man sie mitten aus einer Operation herausrufen würde, Metallarbeiter oder ein Mensch am Hochofen! Gerade mitten in dieser Arbeit müßte er Gott weiß wo hingehen, ans Telefon, ich weiß nicht, weshalb." (Christa Wolf: Ein Gespräch mit Anna Seghers)


Seghers, Anna: Große Einzelleistungen

  Selten entstand in unserer Sprache ein dichterisches Gesamtbild der Gesellschaft. Große, oft erschreckende, oft für den Fremden unverständliche Einzelleistungen, immer war es, als zerschlüge sich die Sprache selbst an der gesellschaftlichen Mauer... Bedenkt die erstaunliche Reihe der jungen, nach wenigen übermäßigen Anstrengungen ausgeschiedenen deutschen Schriftsteller. Keine Außenseiter und keine schwächlichen Klügler gehören in diese Reihe, sondern die Besten: Hölderlin, gestorben im Wahnsinn, Georg Büchner, gestorben durch Gehirnkrankheit im Exil, Karoline Günderrode, gestorben durch Selbstmord, Kleist durch Selbstmord, Lenz und Bürger im Wahnsinn. Das war hier in Frankreich die Zeit Stendhals und später Balzacs. Diese deutschen Dichter schrieben Hymnen auf ihr Land, an dessen gesellschaftlicher Mauer sie ihre Stirnen wundrieben. Sie liebten gleichwohl ihr Land." (Anna Seghers; in: Christa Wolf: Glauben an Irdisches)


Seghers, Anna: Aktiv und schöpferisch

  "Auch wenn Shakespeare, Homer, Cervantes auferständen - sie könnten den neuen Schriftstellern die Unmittelbarkeit ihrer Grunderlebnisse nicht schenken." In einer Zeit, da der "Besitz" einer bestimmten literarischen Methode fast schon als Garantie für künstlerisches Gelingen gilt, betont Anna Seghers den unersetzlichen Wert der Unmittelbarkeit, verteidigt sie die Ursprünglichkeit der Kunst, ihre Originalität und Neuheit, das Wagnis des "Sehens", das jeder Künstler allein und auf seine einmalige Weise auf sich nehmen muß. Gegenüber einer Theorie, die den Schriftsteller in die Rolle eines passiven Spiegels der objektiven Realität zu drängen suchte, hebt Anna Seghers die aktive Arbeit des Autors hervor, der ein Produkt seiner Zeit, aber auch ein schöpferisches Subjekt ist, das den Mut und die Verwantwortung finden muß, rücksichtslos "auf die Realität loszusteuern", keine "Furcht vor Abweichung" vom unmittelbaren Erlebnis zu haben, da diese Furcht "entrealisierend" wirkt, aber auch nicht auszuruhen auf dem "Vollbesitz der Methode" (Christa Wolf: Glauben an Irdisches)


Seibt, Gustav: Szenen der Kritik I

  Da hat der Autor oft jahrelang mit seinem Werk gelebt, sich in eine immer speziellere Sensibilität hineingesteigert, sich zum Instrument seiner selbst gesetzten Aufgabe gemacht und dabei das entstehende Werk notwendig narzisstisch immer höher besetzen müssen – und dann kommt so ein Sausack daher, liest die Sache in ein paar Stunden ’runter und erledigt sie dann in wenigen scharf geführten Hieben unter der brausenden Schadenfreude der Umstehenden. Es kann Grässlicheres im Seelenleben eines Menschen kaum geben.


Seibt, Gustav: Szenen der Kritik II

  Besonders rational geht es ja weder im kritischen Gewerbe noch in den Reaktionen der betroffenen Künstler zu. Autoren mögen zuweilen um sich schlagen, aber Kritiker zielen nicht selten unter die Gürtellinie. Dass Thomas Mann im Bett ein Flop sein könnte, das deutete Alfred Kerr, der gern Thomas Manns Frau Katja geheiratet hätte, mit taktloser Insistenz immer wieder an. Wie zur Strafe auch dafür vollzog wiederum Karl Kraus an ebendiesem Kerr eine metaphorische Hinrichtung, nach der dieser ausdrücklich nur noch sollte "röcheln" können. "Nur wer vernichten kann, kann kritisieren", fasste Walter Benjamin die spezielle deutsche Literaturstreitmanie seiner Zeit in ein Gesetz.


Seibt, Gustav: Szenen der Kritik III

  Empfindlichkeit ist gar kein Ausdruck für das, was zwischen Künstlern und Kritikern meistens herrscht. Der Kampf ist unvermeidbar und auch deshalb existenziell. Er berührt die Gemüter in Tiefen, aus denen gefährliche Reaktionen erwachsen können. Seit Luther aus dem Namen seines Gegners Dr. Eck den Punkt entfernte und ihn so zu "Dreck" machte, ist die Reihe unflätiger Streitereien unter Autoren und ihren Kritikern nicht abgerissen. Die Heftigkeit der Auseinandersetzungen ist dabei nationenübergreifend, und sie zeigt sich in allen Genres der Kunst. in Kritiker-Kollege lief einmal mit einer Schramme im Gesicht herum, die jener George W. Bushs nach seinem "Pretzel"-Unfall glich. Peter Handke habe ihn als "Strafe für alle dummen und bösartigen Artikel in unserer Zeitung" geschlagen, versicherte mit Grabesstimme der Kollege, der die Wunde tagelang sorgfältig am Leben erhielt. Thomas Mann schlug nicht um sich, doch hielt er nächtliche Hasswellen sorgfältig im Tagebuch fest. Goethe nannte einen seiner literarischen Feinde ein "Arschgesicht". Als Herder ihm zu seinem Drama "Die natürliche Tochter" erklärte "Dein natürlicher Sohn ist mir lieber", brach der entrüstete Goethe den Kontakt ab.


Semprun, Jorge: Wirkungen auf Leser

  Zwar hat man das Recht, einen Leser aufzuschrecken, ihn zu überrumpeln, ihn zum Nachdenken oder in seinem tiefsten Innern zu einer Reaktion zu veranlassen; man kann ihn natürlich auch kaltlassen, an ihm vorbeigehen, ihn verfehlen oder ihm fehlen. Niemals aber darf man ihn in die Irre führen, dazu hat man kein Recht; niemals darf es geschehen, daß er nicht mehr weiß, woran er ist, auf welchem Weg, auch wenn er nicht weiß, wohin dieser Weg ihn führt. (Jorge Semprun: Der Tote mit meinem Namen, S. 78)


Semprun, Jorge: Bibliotheks-Besuch

  Als ich in den Regalen stöberte, habe ich plötzlich die kartonierten gelben Bände der bei Rowohlt erschienenen Werke von Faulkner entdeckt. Ich werfe immer einen Blick auf die Bibliothek der Menschen, bei denen ich eingeladen bin. Anscheinend bin ich manchmal zu freimütig, zu beharrlich oder inquisitorisch, man hat es mir vorgeworfen. Aber Bibliotheken sind erregend, weil aufschlußreich. Ebenso das Fehlen einer Bibliothek, das Fehlen von Büchern in einem Lebensraum, der dadurch tödlich wird. (Jorge Semprun: Der Tote mit meinem Namen, S. 79)


Shakespeare, William: Ein junges Auge

[Titus]
Kommt, räumt nun auf: Lavinia, geh mit mir
Ich folg dir in dein Zimmer, lese dir
Leidvolle Märchen vor aus alter Zeit.
Komm, Knabe, folge mir: dein Aug ist jung,
Und du sollst lesen, wenn sich meines trübt.
[William Shakespeare: Titus Andronicus]


Shalev, Zeruya: Duft der Bücher

 Ich bliebe vor einem dieser Fenster stehen und sah ein Regal voller Bücher, sogar ihr Geruch drang durch das Fenster, der Geruch nach jahrealtem Staub und vergilbtem Papier, vermutlich war es gerade die Jahreszeit. in der die Bücher blühten, zusammen mit den Zitrusbäumen, und vielleicht waren ihre Blüten weniger auffallend, dafür aber beruhigender, und ich atmete den bekannten Geruch ein, es war der gleiche Duft, der von dem Buch aufstieg, das mir der Dekan gegeben hatte, und plötzlich war ich sicher, daß dieses Haus voller Bücher das Haus des Dekans war, hier spielte sich sein ruhiges Leben ab, hier spazierte er von Buch zu Buch, und mich packte die Lust, durch das große Fenster einzusteigen und mich zwischen die Regale zu setzen, einem Stapel Bücher auf den Tisch zu legen und darauf meinen müden, kranken Kopf. (Zeruya Shalev: Liebesleben, S. 321f.)


Shattuck, Roger: Elementares Verlangen

  Es wurde keine einzige Kultur entdeckt, in der das Leben des Stammes nicht von Geschichtenerzählern nacherzählt wurde. Unser elementares Verlangen nach erzählerischer Klarheit zeigt sich übrigens auch darin, daß gewisse Formen der Lügengeschichte oder des Ammenmärchens erfunden wurden - unsinnige Darstellungen von Ereignissen, in denen die Episoden ohne Form und Plan wiedergeben werden. Solch schiere Willkür bringt uns zum Lachen. Manche modernen und "postmodernen" Autoren haben im Ringen um Originalität diese Form der Formlosigkeit aufgegriffen. (Roger Shattuck: Tabu. Eine Kulturgeschichte des verbotenen Wissens, S 120)


Shattuck, Roger: Die wahre Klangfarbe

  Die größte Schwierigkeit bietet dieses winzige Werk dann, wenn man sich anschickt, es laut zu lesen; dies ist die wahre Bewährungsprobe für Leser, Gedicht und Zuhörer. Welcher Stimmklang wird dem Gedicht gerecht? "Die Feder hat so viele Farben, aber eine Stimme hat nur eine." Diese ernüchternde Feststellung, die Dickinson 1876 in einem Brief an Higginson traf, sollte nicht als Aufforderung verstanden werden, das Gedicht stumm zu lesen, sondern die wahre Klangfarbe einer realen Stimme zu finden. (Roger Shattuck: Tabu. Eine Kulturgeschichte des verbotenen Wissens, S 165/66)


Shattuck, Roger: Milieu des Geheimnisvollen

  Stephane Mallarme beschrieb die Einstellung der Symbolisten gegenüber der Sprache auf höchst prägnante Weise: Etwas zu 'benennen' bedeutet, Dreiviertel des Genusses eines Gedichts zu zerstören, der darin besteht, sich einer Sache nach und nach zu nähern und sie allmählich zu erahnen. Das Ideal ist die 'Andeutung'" ("Sur l'evolution litteraire", 1869). Diese Äußerung verdient auch jenseits der symbolistischen Doktrin Beachtung, Mallarme meint, es gibt Gefühle und Geisteszustände, die so subtil sind, daß man sich ihnen am besten indirekt nähert, durch klangliche und sinnhafte Evokation. Wenn ich so klare, eindeutige Worte wie beispielsweise "Verlegenheit" oder "Wut" verwende, reduziere ich einen komplexen emotionalen Zustand auf ein Stereotyp, auf eine vermeintlich allgemeingültige Begrifflichkeit und somit auf eine Karikatur seiner selbst. Der Dichter Paul Valery zog daraus die volle Konsequenz: "Etwas wirklich zu sehen bedeutet, dessen Namen zu vergessen." Das aufregendste Unterfangen der Sprache besteht darin, die Sprache nicht mehr gemäß ihren gängigen Formen zu verwenden. Nichts sollte allzu klar sein. Die Imagination braucht ein Milieu des Geheimnishaften, in dem sie wirken kann. Dieselbe literarische Unverfälschtheit schwebte auch Flaubert vor, als er sich empört dagegen verwahrte, 'Madame Bovary' illustrieren zu lassen. Das wäre schlimmer, als Namen zu nennen! (Roger Shattuck: Tabu. Eine Kulturgeschichte des verbotenen Wissens, S 152f.)


Shattuck, Roger: Bedeutungsvolles Schweigen

  In ihrem innersten Wesen vermittelt die Literatur ein schmerzliches Bewußtsein von dem Schleier des Nichtwissens, der unsere persönlichsten Lebenserfahrungen begleitet. In unvorhergesehenen Momenten mag das Bewußtsein unsere Absichten durchkreuzen. Die Lebensnähe eines Werkes läßt sich unter anderem daran messen, ob es Intervalle von bedeutungsvollem Schweigen schaffen und aushalten kann. Anton Tschechow wußte, daß die eindringlichsten Augenblicken auf der Bühne wortlos sind. (Roger Shattuck: Tabu. Eine Kulturgeschichte des verbotenen Wissens, S. 393)


Simenon, Georges: Ein Ort zum Leben

  Für mich ist das Arbeitszimmer meines Vaters mit den bis zur Decke reichenden Bücheregalen, mit den Butzenscheiben, durch die man im Hintergrund eines mittelalterlichen Hofs das Atelier Delacroix' sah, das Urbild eines Ortes geblieben, wo es sich gut leben läßt. (Georges Simenon: Im Falle eines Unfalls, S. 64)


Charles Simic: Verliebt in Bücher

 Es regnet. Es ist Sonntag. Ein grauer Nachmittag im Spätherbst. Mein Radio ist leise gestellt. Ich liege auf dem Bett und lese. Die Zeit ist stehengeblieben. Ich empfinde ein tiefes Gefühl des Wohlseins. Ich mag den Regen, der mich davon abhält, zum Spielen nach draußen zu gehen. Ich erinnere mich nicht an die Titel der Bücher oder an das Jahr, doch solche mit Büchern verbrachten Augenblicke sind meine glücklichsten Erinnerungen. Ich fing früh an zu lesen, weil mein Vater eine große Bibliothek besaß. Sogar in meinem Zimmer standen ernste Bücher. Sie machten mich neugierig. Zuerst blätterte ich durch die Seiten auf der Suche nach Abbildungen, dann sah ich die Worte an, bis ich mit Hilfe meiner Eltern lesen lernte. Im Alter von zehn war ich verliebt in Bücher. Meine Freunde lasen auch. Und gefielen Western, Agentengeschichten, Abenteuerromane, Comics. Diemeisten dieser Bücher waren vor dem Krieg veröffentlicht worden, und der Nachschub war begrenzt. Es war möglich, und die passierte schließlich auch mir, alle in unserem Freundeskreis vorhandenen Bücher gelesen zu haben. Sie konnten nicht in Buchhandlungen erstanden oder aus Büchereien entliehen werden. Wir bekamen die Bücher von älteren Leuten. Dann reichten wir sie weiter. Es gab auch lange Zeitabschnitte, in denen es nichts Neues zu lesen gab. Ich mußte mich an die Bibliothek meines Vaters halten. Ich las Zola, Dickens und Dostoevskij zuerst aus reiner Langeweile. Dann hat es mich gepackt. "Oliver Twist" mochte ich sehr. "Große Erwartungen" war noch schöner. Thomas Manns "Zauberberg" war unmöglich zu lesen. Ich mochte die ersplitsen Volksballaden und - gedichte, andere Poesie ließ mich dagegen kalt. [...] Das Bedürfnis zu lesen hat mich nie verlassen. Ich lese immer noch jede Art von Bücher über jede Art von Thema. Folglich weiß ich von vielerlei Dingen ein wenig. In einer guten Bibliothek könnte ich leben und sterben, aber ich habe keine besonders Achtung vor großer Gelehrsamkeit. Mir ist die Silbenstecherei, zu der Gelehrsamkeit neigt, verdächtig. Und doch scheint es mir unmöglich, es könnte jemand nicht wissen wollen, was in Büchern steht.


Singer, Isaac B.: Alle stehlen alles

  "Jemand hat behauptet, die Engländer seien die zehn verschollenen Stämme. Und daß sie deshalb die Bibel so sehr lieben. Kürzlich habe ich in der Fourth Avenue für fünf Cents ein Buch gekauft, das beste, das ich je gelesen habe. Es heißt "Spirituelle Ehen" Den Namen des Autors weiß ich nicht mehr. Das Buch ist mir gestohlen worden." "Wer stiehlt den so alte Bücher?" fragte Max. "Die Leute stehlen alles. Freud hat sene gesamte Theorie aus zwei Seiten der Gemara Berachot, Kapitel ha-roch, gestohlen. Spinoza stahl aus dem Schir ha- ischud, das in der Nacht von Jom Kippur rezitiert wird. Ich habe eine Theorie, daß Geister existieren, deren Aufgabe es ist, zu stehlen. Nachts lege ich ein Buch auf meinen Tisch, und am Morgen ist es verschwunden. Ich bin schon so weit, daß ich, wenn ich ein wirklich gutes Buch entdeckt habe, es in einem U-Bahn- Schließfach aufbewahre. Aber auch von dort wird es gestohlen. (Isaac B. Singer: Meschugge, S. 32)


Singer, Isaac B.: Zum Leben erweckt

  "Wenn ich Ihnen erzählen würde, was ich alles durchgemacht habe, während des Krieges und auch hier in Amerika, dann würden Sie das verstehen. Eine ganze Welt ist vor meinen Augen zusammengebrochen. Aber Sie, mein Lieblingsautor, erwecken sie wieder zum Leben." "Hast du das gehört" rief May. "Das ist das größte Kompliment, das ein Leser einem Schriftsteller machen kann." (Isaac B. Singer: Meschugge, S. 41)


Singer, Isaac B.: Verglichen mit mir

  "Ist schon einmal ein Roman über jemanden wie mich geschrieben worden, über Liebschaften und Verstrickungen wie meine?" Verglichen mit meiner Situation kam mir die erzählende Literatur, die ich las, simplifizierend vor, ohne echte Komplikationen. Soweit ich es beurteilen konnte, war niemand in diesen Büchern so arm wie ich, ausgenommen vielleicht der Protagonist in Hamuns Hunger. Er ließ sich aber nicht auf Liebesaffären ein, er phantasierte nur. (Isaac B. Singer: Meschugge, S. 78)


Singer, Isaac B.: Womit die Welt erstaunen?

  Was für ein Schriftsteller war ich denn? Ich hatte kein einziges Buch veröffentlicht. Es war ein kalter, nasser Tag. Gegen Abend begann es zu schneien. Ich ging die Lesznostraße entlang, zitternd in meinem dünnen Mantel, und stellte mir vor, ich hätte ein Werk geschrieben, das die Welt auf das höchste erstaunen würde. Aber womit könnte man die Welt noch in Erstaunen versetzen? Mit keinem Verbrechen, keinem Elend, keiner sexuellen Perversion und keinem Wahnsinn. (Isaac Bashevis Singer: Schoscha, S. 24)


Singer, Isaac B.: Literatur soll unterhalten

  Ich spüre, wie gesagt, in Kafka eine große Begabung, aber um ehrlich zu sein, sind die literarischen Vorbilder dieser Generation nicht meine Vorbilder, weder Kafka noch Joyce. Ich muß mir Mühe geben, sie zu lesen, und ich finde Romane, die einem Mühe bereiten, nicht gut. Wenn man vom 'Prozeß' ungefähr fünfzig Seiten gelesen hat, weiß man, worauf das Ganze hinausläuft. Ich weiß dann schon, daß wir nie erfahren werden, worin das Verbrechen eigentlich besteht, und deshalb bin ich von Kafka und Joyce nicht so begeistert wie die meisten anderen Leute. Ich bin nicht einmal von Proust besonders begeistert. Er hat achtzehn Bände über seine Familie geschrieben, und das ist zuviel. Ich meine, es sollte ein Gesetz geben, daß Bücher nicht mehr als tausend Seiten haben dürfen. Ich halte nichts von erzwungener Lektüre, wenn Studenten von ihren Professoren zum Lesen gezwungen werden oder wenn sie sich selber dazu zwingen müssen. Meiner Meinung nach soll Literatur in erster unterhalten, und deshalb ist die Quantität genauso wichtig wie die Qualität. (Isaac Bashevis Singer: Ich bin ein Leser)


Singer, Isaac B.: Freude, keine Qual

  Kunst muß uns Vergnügen bereiten, und weder Kommentare noch Fußnoten sollten uns dieses Vergnügen erklären wollen. Sicherlich gibt es ungebildete Leser, die an Kitsch ihre Freude haben. Aber in meinen Augen ist die Freude am Kitsch immer noch besser als der Masochismus derjenigen Leser, die aus Pflichtbewußtsein lesen oder weil sie auf einer literarischen Modewelle mitschwimmen wollen. Gewiß, alle großen Autoren haben sich geplagt, aber keiner von ihnen wollte, daß sich auch seine Leser plagen müßten. Ganz im Gegenteil, sie wollten sie beim Lesen ihre Sorgen vergessen lassen. Aber heute gibt es eine ganze Menge Schriftsteller, denen es Spaß macht, ihre Leser zu quälen. Sie wollen die Leute verunsichern und langweilen. Sie weinen sich an der Brust des Lesers aus, und das wird dann auch noch als die Hauptaufgabe des sogenannten ernsthaften Schriftstellers ausgegeben. Die wirklich großen Künstler haben ihren Lesern aber nur Freude bereitet, sogar mit ihren Tragödien. (Isaac Bashevis Singer: Ich bin ein Leser; S. 35/36)


Singer, Isaac B.: Autor und/oder Geschichte

  Als ich noch jung war, habe ich Bücher gelesen, ohne mich darum zu kümmern, von wem sie waren. Es hat mich nicht interessiert. Als ich zwölf war, habe ich Tolstoi gelesen, aber ich hatte keine Ahnung, daß es Tolstoi war. Ich wußte nicht einmal, daß es sich um eine Übersetzung handelte. Mir war das auch einerlei. Mich interessierte nur die Geschichte, nicht der Verfasser. Den Namen Dostojewski konnte ich gar nicht aussprechen, aber das war mir egal, denn ein richtiger Leser, vor allem wenn er jung ist, kümmert sich andererseits wenig um die Geschichte; ihn interessiert vor allem der Autor. Wir leben heute in einer Zeit, in der sich die Leute so sehr für den Autor interessieren, daß die Geschichte schon fast zweitrangig ist, und das ist schlimm. Viele der heutigen Leser wären gern selber Autoren. Deshalb interessiert es sie, wie ein Buch gemacht ist und wer es gemacht hat. Aber der gute Leser, der richtige Leser kümmert sich, wenn er jung ist, nicht weiter darum, wer Tolstoi war und was er war. Er will einfach das Buch lesen und seinen Spaß daran haben. (Isaac Bashevis Singer: Ich bin ein Leser; S. 38)


Singer, Isaac B.: Kinder als Leser und Kritiker

  Kinder sind wunderbar, weil sie sich als Leser nicht beeinflussen lassen. Ein Kind würde nie ein Buch lesen, nur weil es von einem "berühmten Autor", also einem Mann mit großem Prestige stammt. Die Tatsache, daß etwas von Shakespeare geschrieben wurde, macht auf ein Kind keinen Eindruck, Es sieht sich die Geschichte an und beurteilt dann selbst, ob sie ihm gefällt oder nicht. Mit Kritiken kann man einem Kind nicht imponieren. Man kann nicht einfach sagen: "Das ist ein großartiges Buch, denn der Kritiker Soundso hat gesagt, daß es großartig ist." Kinder kümmern sich nicht um Kritiker, denn sie sind selber Kritiker. Kein Kind liest ein Buch deshalb, weil viel Reklame dafür gemacht worden ist. Im Grunde sind Kinder viel kritischere Leser als die Erwachsenen, die sich von Experten, Kritikern und Reklame in der 'New York Times' oder im Fernsehen beeindrucken lassen. Kindern kann man in bezug auf Literatur nicht so leicht etwas vormachen wie Erwachsenen. (Isaac Bashevis Singer: Ich bin ein Leser; S. 39)


Singer, Isaac B.: Kunst für wen?

  Wenn die Leute sich ein Bild kaufen, muß es unbedingt ein Picasso sein. Sie sind nur an dem Namen Picasso interessiert. Manchmal gefällt das Bild dem Käufer gar nicht, aber die Hauptsache ist ja, daß es von Picasso stammt. Dieser Fluch liegt auch auf der Literatur. Wenn Literatur und Kunst nur noch etwas für die ganz "Gebildeten" sind und ein Personenkult entsteht, dann ist das ein Zeichen dafür, daß die Kunst selbst kein Interesse mehr findet und der Künstler eine Art von Idol geworden ist. (Isaac Bashevis Singer: Ich bin ein Leser)


Singer, Isaac B.: Langeweile und Kunst

  Der Mensch leidet mehr als jedes andere Wesen unter Langeweile. Manchmal glaube ich, die Langeweile beginnt schon im Mutterleib. Es sterben mehr Menschen vor Langweile als wir ahnen. Die Aufgabe der Kunst ist es, die Langeweile zu vertreiben und nicht, sie noch schlimmer zu machen (was unfähige Autoren und Kritiker aber häufig tun). Die Politiker haben ein sehr einfaches Mittel gegen die Langeweile, nämlich den Krieg oder die Revolution. Die Kunst dagegen soll für eine weniger gefährliche Art von Spannung sorgen. Es gibt keine Entschuldigung für Literatur, die nicht unterhaltend ist oder dem Leser nicht hilft, der Eintönigkeit des Lebens zu entfliehen. (Isaac Bashevis Singer: Ich bin ein Leser)


Singer, Isaac B.: Vorbilder (2)

  Für eine Geschichte braucht man Figuren. Anstatt mir nun welche auszudenken, rufe ich mir Personen ins Gedächtnis, die mir im Lauf meines Lebens begegnet sind und die in diese Geschichte passen würden. Manchmal verbinde ich zwei Personen miteinander und mache eine einzige Figur daraus. Oder ich nehme jemanden, den ich in diesem Land kennengelernt habe, und versetze ihn nach Polen, oder umgekehrt. Auf jeden Fall muß ich aber ein Vorbild habe. Gute Maler benutzen ja auch Modelle. Sie wissen, daß es in der Natur mehr Überraschendes gibt, als unsere Phantasie je erfinden könnte. Wenn man ein Vorbild heranzieht, eine Person, die man kennt, dann nähert man sich bereits dadurch der Natur mit all ihren Überraschungen, Absonderlichkeiten und Eigenarten. (Isaac Bashevis Singer: Ich bin ein Leser)


Singer, Isaac B.: Vorbilder (2)

  Sie sehen hin, und dann malen sie. Manchmal fragt man sich: "Wozu sieht er sich diese Person zum tausendsten Mal an? Er hat dieses Gesicht doch schon gesehen." Aber das stimmt nicht. Jedesmal, wenn der Maler aufblickt, sieht er etwas anderes, eine neue Variante. Und das ist sehr wichtig. Ich finde, es ist ein großes Unglück, daß die Literatur aufgehört hat, Modelle zu betrachten. Manche Autoren sind dermaßen an irgendwelchen Ismen und Ideologen und Theorien interessiert, daß sie glauben, ein Modell könne dem kaum noch etwas hinzufügen. Dabei sind all diese Theorien und Ideen im Nu überholt, während das, was die Natur uns bietet, nie überholt ist. Was die Natur erschafft, hat eine Hauch von Ewigkeit an sich. (Isaac Bashevis Singer: Ich bin ein Leser; S. 20)


Singer, Isaac B.: Die eigenen Themen

  Es ist ungerecht, wenn Leute sich beschweren, daß ein Autor sich wiederhole, denn wenn er sich nicht wiederholte, würde er seinen elementaren Bedürfnissen zuwiderhandeln. Jeder Autor muß über seinen eigenen Themen schreiben, und diese hängen mit seinen zentralen Leidenschaften zusammen, mit dem, was ihn beschäftigt oder bedrückt. Daraus erklärt sich zum Teil der Reiz eines Autors und das, was an ihm unverwechselbar ist. (Isaac Bashevis Singer: Ich bin ein Leser)


Singer, Isaac B.: Das ganz große Ding

  Ich glaube, es ist nicht gut, wenn sich ein Autor hinsetzt und sagt: "Ich werde jetzt die Menschliche Komödie oder die Menschliche Tragödie oder das Paradox der Ehe oder was auch immer darstellen. Am besten setzt man sich hin und schreibt so, wie einem im Augenblick zumute ist, und später, wenn man ein Leben lang gearbeitet hat, mag ja irgendein Kritiker darangehen und alles einem übergeordneten Standpunkt oder einer Philosophie zuordnen. Ein Autor sollte sich aber nicht um so etwas kümmern. Er sollte über sein eigenes Milieu und seine eigenen Leidenschaften schreiben und nicht den Versuch machen, den "größten Roman aller Zeiten" zu schreiben, den Universalroman, der niemandem mehr etwas zu sagen übrigläßt. So etwas ist ein törichter Ehrgeiz, denn in späteren Generationen wird es viele, viele neue Talente geben, die andere Ansichten und Leidenschaften haben und aus anderen Milieus stammen. Was hat denn Proust getan? Er hat seine Familie beschrieben, weiter nichts. Zu behaupten, seine Familie verkörpere die ganze Welt, ist eine maßlose Übertreibung. Das menschliche Leben ist doch millionenfach reicher als alles, was uns ein Schriftsteller, und sei er noch so bedeutend, jemals geben kann. (Isaac Bashevis Singer: Ich bin ein Leser; S. 91)


Singer, Isaac B.: 3 Charakteristika

  Ich zeigte meinem Bruder das erste Kapitel meines Romans, und seine Reaktion war positiv. Abe Cahan, der Herausgeber des "Forward" hatte es auch gelesen und eine freundliche Bemerkung darüber gedruckt. Ich sollte fünzig Dollar die Woche bekommen, so lange die Fortsetzungen erschienen - für jemanden wie mich war das eine phantastische Summe. Die Schriftsteller, die bei Nescha Zimmer gemietet hatten, waren schon eifersüchtig auf mich, aber ich wußte im Innersten, daß etwas bei dieser Arbeit nicht stimmte. In mein Notizbuch hatte ich mir die drei Charakterisitika notiert, die ein Roman besitzen mußte, um erfolgreich zu sein. 1. Er muß eine genaue und spannende Handlung haben. 2. Der Verfasser muß den leidenschaftlichen Wunsch haben, dieses Werk zu schreiben. 3. Der Autor muß der Überzeugung sein, oder zumindest die Illusion haben, der einzige zu sein, der dieses besondere Thema behandeln kann. (Isaac Bashevis Singer: Verloren in Amerika, S. 303)


Singer, Isaac B.: Kinderbücher

  "Haben Sie nie für Erwachsene geschrieben", fragte ich, von der Dringlichkeit in meiner Stimme peinlich berührt. Der Regen war jetzt stetiger geworden. Es regnete nur noch gleichmäßig, ohne stärker zu werden. "Ich habe auch auf diesem Gebiet gesündigt", gab sie zu, "aber mir wurde bald klar, daß Literatur für Erwachsene nicht mein Fach war. Ich habe nicht die nötige Geduld dafür. Aber für Kinderbücher habe ich die Geduld. Es ist mir selbst ein Geheimnis, da ich mir nicht so viel aus Kindern mache. Ich habe nicht einmal welche. Ich bin geschieden." "Aha." "Wenigstens habe ich nicht das Leben eines unschuldigen Kindes ruiniert." (Isaac B. Singer: Old Love. Geschichten von der Liebe)


Skjonsberg, Simen: Zusätze zum Leben

  Ich gehe an den Regalen in der Bibliothek vorbei. Die Bücher kehren mir den Rücken zu. Nicht wie Menschen, um mich abzuweisen, sondern einladend, um sich vorzustellen. Buchmeter um Buchmeter, die ich niemals werde lesen können. Und ich weiß: Was sich hier anbietet, das ist Leben, das sind Zusätze zu meinem eigenen Leben, die darauf warten, in Gebrauch genommen zu werden. Aber so rasch, wie die Tage verfliegen, bleiben die Möglicheiten liegen - verlassen. Eines dieser Bücher könnte ausreichen, um mein Leben ganz und gar zu verändern. Wer bin ich jetzt? Wer wäre ich dann? (Simen Skjonsberg: Der grausame Genuß - Texte über die Geheimnisse des Lesens)


Sloterdijk, Peter: Einen Film inzensieren

  Was das deftige Lesepensum angeht, war es aber so, daß das Talent meiner Mutter, der verhinderten Musentochter, in mir viel stärker durchkam als der großväterliche Einfluß. Ich habe einfach das praktiziert, was sie der Umstände halber nicht hatte tun können. Ich glaube ja, daß Lesen, zumindest wie ich es von jung auf geübt hatte, der Versuch ist, den Text Zeile für Zeile und Wort für Wort innerlich zu vertonen und zu verfilmen. Wenn man richtig liest, löst man einen innerlichen kreativen Prozeß aus. Die meisten Leser inzensieren einen Film. Weswegen es überhaupt kein Wunder ist und mediengeschichtlich konsequent, daß der Roman des 18. und 10. Jahrhunderts in die Erzählkino-Kultur des 20. Jahrhunderts übergegangen ist. (Peter Sloterdijk)


Spark, Muriel: Kleiner Irrtum

  Diesen Fehler machte sie immer wieder in ihren Beziehungen zu Männern: sie unterstellte ihnen aus ihrer eigenen Vorliebe für Literatur und Literaten, daß auch sie literarisch interessierte Frauen bevorzugten. Und es kam ihr nie in den Sinn, daß Männer, auch Literaten, wenn sie überhaupt Frauen mögen, nicht Literatinnen, sondern eben Frauen haben wollen. (Muriel Spark: Mädchen mit begrenzten Möglichkeiten, S. 105)


Spark, Muriel: Laufbahnen

  Dichter lasen ihre Gedichte, jeder zwei, und fanden Beifall. Manche dieser Dichter sollten scheitern und in wenigen Jahren schon im Niemandsland der Kneipen von Soho verschwinden, wo sie dann zu den bekannten Versagern des literarischen Lebens zählten. Einige vielseitig Begabte strauchelten rechtzeitig, weil es ihnen an Ausdauer fehlte, sie gaben auf und nahmen eine Beschäftigung in der Werbung oder im Verlagswesen an und haßten von da ab Literaten mehr als alles andere. (Muriel Spark: Mädchen mit begrenzten Möglichkeiten)


Sparschuh, Jens: Warum schreiben Sie?

  "Warum schreiben Sie?" Doch noch ein dickes Ende! So oft hatte ich mir schon vorgenommen, endlich mal eine kurze, plausible Antwort auf diese stets wiederkehrende Frage aller Fragen zu finden - nie war mir das bisher gelungen. Ich verstand, offen gesagt, nicht einmal richtig den Sinn dieser Frage. So blieb es auch diesmal nur wieder bei einem Gestammel, das aber wohlwollend quittiert wurde. Ernsthaft schien wohl niemand eine richtige Antwort darauf zu erwarten. Das war mehr ein Spiel. Und mit meinem nach längerem Hin und Her ans Licht gebrachten Resultat, daß man das so genau wohl gar nicht sagen könne, war man allgemein einverstanden, das hatte man sich wohl noch so gedacht. (Jens Sparschuh: Lavaters Maske, S. 120)


Sparschuh, Jens: Bücher ordnen

  Am nächsten Abend, während ich so tat, als würde ich gemeinsam mit Monika aufmerksam das Fernsehprogramm verfolgen, ruhte mein Blick gedankenschwer auf dem Buchregal. In der Ratgeberliteratur wird empfohlen, Bücher, die einem nicht gefallen haben, auszusortieren, um Platz für neue zu schaffen. Nun stellte sich bei vielen der Bücher diese Frage überhaupt nicht, da wir sie ja gar nicht gelesen hatten. Aber auch was die Bücher betraf, die von uns gelesen worden waren und die uns gefallen hatten, galt es gründlich aufzuräumen - und zwar mit völlig falschen Vorstellungen! Im Gegensatz zu obigem Ratschlag stellte sich nämlich die Frage ganz anders: Wäre es nicht viel vernünftiger, gerade jene Bücher wegzugeben, die uns gefallen haben? Sie haben schließlich einmal ihren Zweck erfüllt, es kann also nur schlechter werden mit ihnen: Plötzlich gefallen sie uns nicht mehr. Und wer sagt denn, daß ein Buch, das mir gestern nicht gefiel, mir nicht gerade heute sehr gut gefallen könnte? Ließe ich ihm diese Chance nicht, es wäre ein Todesurteil. Das Aussortieren war äußerst schwierig. Deshalb versuchte ich es zunächst mit einer Neuordnung. Zusammenfassend muß ich sagen: Alle mir bekannten Ordnungssysteme versagten auf die eine oder andere Weise. Die chronologische Ordnung (etwa nach Erscheinungs- oder Anschaffungsjahr) kam von vornherein nicht in Frage. Dieses System ist lediglich bei amtlichen Schriftwechseln angebracht. Die in Bibliotheken üblichen Ordnung nach Sachgebieten erwies sich ebenso als schwierig. Monikas bevorzugte Bücher waren Romane, die sich hartnäckig einer sinnvollen Zuordnung zu Themen- oder Sachgebieten widersetzten (später dazu mehr). Blieb also nur das gute alte Alphabet. Aber auch dieses bewährte System versagte: Hier gerieten Autoren und Bücher nebeneinander, die überhaupt nichts miteinander zu tun hatten. Das Alphabet brachte mir nur alles noch mehr durcheinander. Außerdem zeigte sich ein technisches Problem: Wegen der unterschiedlichen Buchformate mußte es Ausnahmeregelungen geben (überformatige Bücher: liegend, unten), die unterschiedliche Höhe der Bücher erzeugte zudem auf ihnen ideale, weil schmale, für Putzlappen kaum erreichbare Staubablageflächen, die sich nicht vermeiden ließen. Fazit: Man kann Bücher in Privathaushalten überhaupt nicht sinnvoll ordnen! Die vernünftigste und platzsparendste Methode ist noch immer, sie der Größe nach einzuräumen. (Jens Sparschuh: Im Kasten, S. 23f.)


Sparschuh, Jens: Freud, Kant und Groddeck

  Beim Wegstellen der Freud-Bände, hoch oben auf der Leiter, schwankte ich plötzlich: Wohin, zum Beispiel, mit Groddeck? Auf dem Höhepunkt meiner Freud-Studien - genauso richtig wäre zu sagen: auf dem Tiefpunkt - hatte ich dieses Taschenbuch mit dem Titel "Briefe über das Es" in einer hellbraunen Bücherkiste (einem Ex-Bananenkarton der Firma Dole) vor einem Antiquariat entdeckt und leichtsinnig ein paar Euro dafür investiert. Jetzt schlug ich es auf, ich wollte wissen, wo ich das Fähnchen meines Lesezeichens eingepflanzt hatte. Auf S. 56 las ich, was Georg Groddeck seinerzeit an Freud geschrieben hatte: "Wir sind nun darin übereingekommen, daß auch Kant das 'Ding an sich', das nach ihm ja unerkennbar ist, aufgrund des Kastrationskomplexes erfunden hat, in den Onanieangst und hermaphroditische Komplexe hineinspielen. Das Ding an sich wäre danach das Ding an Kant..." Ganz klarer Fall: blaue Tonne! Von oben ließ ich es hinabfallen, unten staubte es auf. (...) Auf meinem Weg ins Bett schickte mir der aussortierte, schon am Boden liegende Groddeck noch einen letzten, heimtückischen Gutenachtgruß zu. Wahrscheinlich hatte er sich seiner Herkunft aus einem ausgedienten Premium-Bananas- Karton erinnert, jedenfalls verwandelte sich das im nachtdunklen Flur herumliegende Groddeck-Taschenbuch unter meinem blinden Fuß in eine Art Bananenschale - ich kam ins Schlittern und wäre hingestürzt, wenn ich mich nicht noch im letzten Moment irgendwo festgekrallt hätte. Schwer atmend hing ich im Wechselrahmen der Tür: das letzte schiefe Bild des Tages. (Jens Sparschuh: Ende der Sommerzeit)


Stadler, Arnold: Gedichte

  Ich lese sehr viel, am liebsten aber Gedichte. Sie sind eine andere Form von Musik. Singen und Sagen fallen ja ursprünglich zusammen. Bei Homer etwa oder den babylonischen Hymnen. Auch die Psalmen des Alten Testaments wurden gesungen. Sprache und Musik sind zwei, die eins sind, und vielleicht sind die Psalmen gerade deshalb so grandios vertont worden von Palestrina, Schütz und Bach. (...) Warum lesen wir Gedichte? Vielleicht, weil wir’s müssen. Weil Gedichte Lebensmittel sind. Der Zeitungsleser will „dabei sein“, der Leser von Gedichten sucht dagegen die Einsamkeit, die große Stille, das Atmen und Wahrnehmen dessen, was über die alltäglichen Dinge des Lebens hinausgeht. Er will keine Antworten, sondern Fragen wiederfinden, auf die er bisher noch nicht gestoßen ist und auf die es vielleicht gar keine Antworten gibt: Wer bin ich? Und: Was ist die Welt? (Arnold Stadler)


Stadler, Arnold: Fruchtbare Irritationen

  Allerdings braucht man fürs Lesen eine spezielle Begabung wie für Sport, Mathematik oder Musik. Ein Buch ist wie eine Partitur, und der Leser muss diese Partitur wie ein Dirigent zu lesen verstehen. (...) Ein Buch kommt erst zur Vollendung, wenn es den kundigen Leser gefunden hat, sonst ist es tot. (...) So muss man lesen und über Literatur schreiben. In diesem Sinne rate ich immer, langsam zu lesen, um hineingezogen zu werden in ein Buch, das eine Welt ist, statt den Zeitvertreib zu suchen oder die schnelle Nutzanwendung. Bücher stiften in diesem Sinne fruchtbare Irritationen. Sie bringen die Terminkalenderexistenz des Menschen durcheinander. Literatur, wie ich sie verstehe, bietet dem Leser eine der wenigen Möglichkeiten, über die Sprache zu sich selbst zu kommen. Sie ist das Gegenteil der täglichen Glückspropaganda. Schon deshalb, weil Schriftsteller Chronisten des Unglücks sind, das als Glück gedacht war. Das scheint mir eine der wenigen brauchbaren Definitionen von Literatur und Autorentum zu sein. Schriftsteller müssen den ganzen Menschen und die ganze Welt im Blick haben, die immer aus beidem besteht: aus Glück und Unglück. (Arnold Stadler)


Stamm, Peter: Agnes [1]

  "Ich bin immer traurig, wenn ich ein Buch zu Ende gelesen habe", sagte Agnes. "Es ist, als sei ich zu einer Person des Buches geworden. Und mit der Geschichte endet auch das Leben dieser Person. Aber manchmal bin ich auch froh. Dann ist das Ende wie die Befreiung aus einem bösen Traum, und ich fühle mich ganz leicht und frei, wie neugeboren. Ich frage mich manchmal, ob die Schriftsteller wissen, was sie tun, was sie mit uns anstellen." (Peter Stamm: Agnes, S. 120)


Stamm, Peter: Agnes [2]

  "Ich lese nicht mehr viel", sagte Agnes, "vielleicht deshalb. Weil ich nicht mehr wollte, daß Bücher Gewalt über mich haben. Es ist wie ein Gift. Ich habe mir eingebildet, ich sei jetzt immun. Aber man wird nicht immun. Im Gegenteil." (Peter Stamm: Agnes, S. 120)


St. Aubyn, Edward: Empfohlene Bücher

  Anne stellte den Kaffeebecher auf den Tisch mit der runden Marmorplatte und den schwarzen Metallbeinen, den Elaine triumphierend aus einem Trödelladen in Apt geschleppt hatte, um ihn dann raffiniert als Nachttisch einzusetzen. Dafür war er viel zu hoch, und Anne zog oft das falsche Buch aus dem uneinsehbaren Stapel über ihr. 'Leben der Cäsaren' von Sueton, das David ihr schon Anfang August geliehen hatte, tauchte wie ein Vorwurf immer wieder auf. Sie hatte ein oder zwei Kapitel überflogen, doch weil David das Buch empfohlen hatte, war sie nicht geneigt, intime Bekanntschaft damit zu schließen. Sie wußte, vor dem heutigen Abendessen sollte sie noch ein bißchen mehr lesen, damit sie beim Zurückgeben etwas Kluges darüber sagen konnte. Sie konnte sich nur noch erinnern, daß Caligula seine Frau foltern wollte, um herauszfinden, warum er ihr so ergeben war. Sie fragte sich, was David für einen Vorwand hatte. (Edward St. Aubyn: Schöne Verhältnisse, S. 48)


St. Aubyn, Edward: Theoretisches Bollwerk

  "Hast du je 'Sein, Wissen und Urteilen' gelesen?" "Nein", sagte Patrick. "Na, dann muß ich dir aber ein Exemplar schenken." Anne stand auf und ging zu einem der Bücherregale. Aus einem halben Dutzend identischer Bücher zog sie eines hervor. Es sah in Patricks Augen ermüdend dick aus. Er mochte schmale Bücher, die er in die Manteltasche stecken konnte, um sie monatelang ungelesen da drin zu lassen. Wozu war ein Buch gut, wenn man es nicht mit sich herumtragen konnte, als theoretisches Bollwerk gegen Langeweile? (Edward St. Aubyn: Schlechte Neuigkeiten, S. 48)


St. Aubyn, Edward: Typisches Gebrechen

  Sie mochte niemandem zu nahekommen, der möglicherweise imstande wäre, sie zu verstehen. Hinzu kam, dass Sam Romane schrieb. Es gab im Bett keinen Platz für zwei Leute, die im selben Geschäft tätig waren. Und doch - wenn sie sich wirklich auf jemanden einlassen wollte, war Sam der einzig Richtige. Wenn sie schon dabei war, ihre Paranoia herauszufordern, dann konnte sie ebenso gut ihren Egoismus gleich mit in Angriff nehmen. Sie verfügte über dieselbe Portion Selbstsucht wie jeder andere auch; darüber hinaus litt sie allerdings an dem für Romanciers typischen Gebrechen, die Autorschaft über ihr eigenes Schicksal übernehmen zu wollen und die Verantwortung für eine Geschichte an sich zu reißen, deren Anfangskapitel von anderen mit bestürzender Nachlässigkeit verfasst worden war. (Edward St Aubyn: Der beste Roman des Jahres)


St. Aubyn, Edward: Dichter bei der Paßkontrolle

  An der Passkontrolle zum Vereinigten Königreich wurde Sonny von einem skurrilen kleinen Mann nach dem Anlass seines Besuchs gefragt. Als Sonny erklärte, dass er bereits zwei Wochen vor der Longlist anreise, um sich dann ausgeruht den Wallungen des Publicity-Rummels stellen zu können, fragte ihn der kleine Mann, worum genau diese Publicity sich drehen werde. "Um meinen Roman natürlich", sagte Sonny. "Sie sind also ins Vereinigte Königreich gekommen, um einen Roman zu bewerben", sagte der Mann. "Ich bin gekommen, um Gratulationen für meinen Roman entgegenzunehmen", sagte Sonny genervt. "Mit dem Verkauf habe ich nichts zu tun." "Ist der Roman im Vereinigten Königreich erschienen?" "Nein!", sagte Sonny. "Er ist in Indien erschienen – als Privatdruck!" "Sie wollen also im Grunde Waren aus Indien im Vereinigten Königreich bewerben und verkaufen", zog der Peiniger seine Schlüsse, "aber auf Ihrem Einreiseformular haben Sie als Anlass Ihrer Reise "Vergnügen" angekreuzt." "Der Anlass meiner gesamten Existenz ist Vergnügen", sagte Sonny vergrätzt, "aber ich muss sagen, dass ich in diesem Moment das Gegenteil davon empfinde!" (...) Er war einem hysterischen Anfall nahe, als er sich vorstellte, dass seine Vorfahren sich bereits seit Jahrtausenden mit Rosensorbet und Pfauenfederfächern Kühlung verschafft hatten, als diese Knaben noch in gammelige Tierfelle gehüllt an eiszeitlichen Stränden herumhüpften und mit den Rudimenten einer Sprache radebrechten, die zu künstlerischen Höhen emporzuheben nun ihm überlassen war. (Edward St Aubyn: Der beste Roman des Jahres)


Stein, Hannes: Wo tun wir's

  Die Frage, wo und in welcher Lebenslage man Bücher lesen soll, hat Gelehrte seit alters her beschäftigt. Sicher ist nur: Man soll es nicht in labyrinthartig angelegten Bibliotheken in mittelalterlichen Klöstern tun. Vor allem dann nicht, wenn die Buchseiten vorher mit Gift getränkt wurden (Ecos "Name der Rose"). Weitere unpassende Orte, um Bücher zu lesen, sind - jedenfalls laut Tucholsky, und der musste es ja wissen -: zuvörderst das Bett. Im-Bett-Lesen sei "sehr ungesund, weil der schiefe Winkel, in dem die Augen auf das Buch fallen ... fragen Sie Ihren Augenarzt". Ferner die Badewanne. "Erstens, weil es nicht gut ist, und dann auch nicht hygienisch, und es ist auch wider die Würde des Dichters, der das Buch geschrieben hat, und überhaupt." Bezüglich der Frage, ob man Bücher auch am Strand lesen dürfe, verhält Tucholsky sich ambivalent. Er äußert: Von der Strandlektüre "kommen die Bücher in die Hoffnung. Nach etwa ein bis zwei Wochen schwellen sie ganz dick an - nun werden sie wohl ein Broschürchen gebären, denkt man - aber es ist nichts damit, es ist nur der Sand, mit dem sie sich vollgesogen haben. Das raschelt so schön, wenn man umblättert ..." Hier ist die neuere Forschung nun schon viel weiter. Durch empirische Reihen hat sie herausgefunden, dass man sich durch Unterlegen eines Frotteetuches gegen die Versandungsgefahr nachhaltig schützen kann, und dass die Durchflutung mit Sonnenlicht jeder Art von Lektüre ihre Erdenschwere nimmt. Sogar Kafkas "Prozess" liest sich am Strand wie eine heitere Justizposse, man ist am Schluss nur ein wenig erstaunt, dass dem Autor kein Happy End eingefallen ist. Und Thomas Bernhards gesammelte Schriften erscheinen, während im Hintergrund das Meer rauscht, wie ein hinreißender Aufruf zur allgemeinen Menschenliebe. Dumm ist nur die Sache mit dem ultravioletten Licht bzw. dem Schutz davor. Andererseits gilt, dass das Aufbringen von fetthaltigen Substanzen in allen Kulturen als heilige Handlung angesehen wurde. Halten wir am Ende fest, dass jede Lektüre profan bleiben muss, die nicht von wenigstens einem Tropfen Sonnenöl gesalbt wurde.


Steinberger, Karin: Vor dem Umzug

  Am hellichten Tag fangen wir dann mit den Büchern an; es wird lange dauern, bis in die Nacht hinein, vielleicht viel länger. Wir nehmen alle einzeln in die Hand, manche mit Ehrfurcht, die wir nicht gelesen oder nicht verstanden haben, andere mit großer Wonne; wir öffnen sie und suchen hastig nach der Stelle, an der die beiden endlich zur Sache kommen oder auch wo dieser Kernsatz steht, der damals unsere Gehirn zum Schwitzen gebracht hat. Dann stricheln wir den Staub weg, legen die Bücher behutsam in einen Karton und fiebern der nächsten Wohnung entgegen, in der wir bestimmt viel Zeit zum Lesen haben. Wir sind bereit. (Karin Steinberger (Hrsg.): Mein Kaktus steht auf Heavy-Metal. Von Spleens, Macken und Obsessionen, S. 76)


Steinberger, Karin: Wannenleser

  Doch schon kamen neue Probleme hinzu: Mit den ersten Tageszeitungen kam die Frage auf, wie das Lesen in der Wanne zu organisieren ist. Denn es ist fast unmöglich, eine Zeitung nicht in das Wasser fallen zu lassen. Ein badefreundliches Format weisen lediglich Taschenbücher oder Hamburger Nachrichtenmagazine auf. Bleibt noch die Gefahr, nasse Finger zu bekommen und nicht mehr umblättern zu können. Diese Schwierigkeit wird am einfachsten gelöst, indem man die Fingerspitzen von Zeit zu Zeit an einem Handtuch abtupft, das auf dem Rand der Wanne bereitliegt. Vor der gefährlichen Kombination von Müdigkeit, warmen Wasser und einem dicken Buch muß hier ausdrücklich gewarnt werden. Unkonzentrierten Badern passiert es oft, daß die Lektüre während eines harmlosen kurzen Nickerchens in die Fluten plumpst. Und kaum etwas trübt ein Bad mehr als häßliches Papier, das zwischen den Beinen herumdümpelt und sich schließlich in graue Soße auflöst. Wannenschläfer setzen sich zudem der Gefahr aus, unter Wasser aufzuwachen, was angeblich ziemlich ungesund sein soll. Eine Gruppe sozial engagierter Bürger aus Berkeley, Kalifornien, setzt sich seit fünf Jahren für die Minderheitenrechte der Wasserleseratten ein. Sie finden, daß es Zeit ist, aus der Badewanne zu steigen und gesellschaftliche Anerkennung zu fordern. Konsequenterweise gründeten sie das "Bathroom Reader Institute", das die Bibel aller Toiletten- und Badezimmerleser, den Bathroom Reader produziert. (Steinberger, Karin: Mein Kaktus steht auf Heavy-Metal. Von Spleens, Macken und Obsessionen, S. 158)


Steinfest, Heinrich: Literatur & Alkohol

  Reisiger wurde zum Trinker, zu einem wirklichen, was also bedeutete, daß sein Frühstück nach einem ersten Kaffee aus einem ersten Glas Gin bestand. Wobei die Sache mit dem Gin und überhaupt mit der ganzen Trinkerei ein wenig auch damit zusammenhing, daß Reisiger zu lesen begonnen hatte. Es gibt ja genug Leute, die Bücher für etwas Gefährliches halten und dringend davon abraten. Nicht wegen politischer Verführung, daran glaubt schon lange niemand mehr. Nein, wegen der Verführung hin zu irgendwelchen Unarten, Phobien, Verhaltensweisen, Eigentümlichkeiten. Verführung zum Snobismus. Und das Trinken, das echte, das hingebungsvolle und körperzerfressende, ist nun wahrlich eine Art von Snobismus. Ein Snob, das ist etwas anderes. Darüber muß man nicht reden. Aber ein Trinker lebt seinen Snobismus mit jedem Schluck. Ganz gleich, ob eine Verzweiflung dahintersteckt oder nicht. Und es ist ein großer Fehler zu glauben, und die meisten glaubten es, Leo Reisiger hätte wegen seiner Querschnittslähmung mit dem Saufen angefangen. Das Buch war es, das ihn animiert hatte: Malcolm Lowrys famos unlesbares "Unter dem Vulkan". Nur ein unlesbare Buch war für Reisiger auch ein gutes. (Heinrich Steinfest: Der Umfang der Hölle, S. 249)


Steinfest, Heinrich: Friedliche Koexistenz

  Schriftsteller Heinrich Steinfest schreibt über seine Lieblingsbuchhandlung, die Buchhandlung Galleria in der Bauernmarkthalle in Stuttgart: "Bücher sind Lebensmittel, das ist gar keine Frage. Nicht, dass man alleine von Büchern satt wird, so wenig wie von der Liebe. Aber man möchte ja nicht nur satt sein, sondern auch gut genährt, gesund, man möchte blühen und reifen. Darum Bücher. Und es ist somit alles andere als unpassend, wenn man selbige Bücher im Umfeld anderer Nahrungs- und Lebensmittel vorfindet. (...) ... hat hier jedes Buch seinen Platz, keines muss in dunklen Winkeln darben oder fristet in der dünnen Luft hoher Regale eine staubige Existenz. Nein, ein jedes darf sein schönes Kleid, seinen Buchdeckel, zum Besten geben und mit Namen und Titel für sich und seinen Inhalt werben. Hier sieht man Titel nebeneinanderliegen, wie man das anderswo nicht erlebt. Keine Unterteilung in Taschenbuch und Hardcover, in E und U findet hier statt, sondern es besteht eine friedliche Koexistenz der Gattungen. Na, wenigstens muss hier jedes Buch sich mit seinem Nachbarn anfreunden. (...) Manche Nachbarschaft mag ein richtiges Glück darstellen. So meint der stets gewitzte und mit charmanter Vornehmheit sein Geschäft führende Dr. Huber, präzise das Dilemma von Ökonomie und Ökologie auf den Punkt bringend: 'Martin Walser verkauft sich bei uns nicht so gut, aber sehr viel besser, seitdem er neben Charlotte Roche liegt.' Und das hat doch was für sich. Vielleicht wird ein bestimmtes Buch einfach besser, wenn es neben einem bestimmten anderen zu liegen kommt. Vielleicht beide."


Steinfest, Heinrich: Des Schriftstellers Kinder

  Claire Rubin erhob nun ihre Stimme, ohne wirklich laut zu werden, und erklärte, wieviel Mühe ihr die Arbeit an diesem Buch bereitet habe. Es sei eine Plage, wenn auch eine nicht ganz lustlose, sich zu steigern, ein besseres Buch zu schreiben, als es die vorhergehenden gewesen seien. Denn allein darin bestünde die sinnvolle Arbeit eines Schriftstellers, die Qualität zu erhöhen, die Genauigkeit zu forcieren, die Tiefgründigkeit und den Witz, ganz im Gegensatz zum Schriftsteller selbst, der im Einklang mit allen anderen erwachsenen Menschen älter und häßlicher und blöder werde, dessen schriftstellerische Produktion sich also im Idealfall konträr zum eigenen Niedergang entwickle. Auch sei es keineswegs so, wie immer wieder behauptet werde, daß Bücher für den Autor wie seine Kinder seien. Denn die leiblichen Kinder liebe man natürlich alle mit der gleichen Intensität, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Bei Büchern wäre das aber vollkommen anders. Es zähle immer nur dieses eine, an dem man gerade arbeite oder welches man soeben fertiggestellt habe. Wobei man ein solches Buch eben nur dann wirklich lieben könne, wenn es sich zu einem hübscheren und intelligenteren Kind entwickeln würde als seine Geschwister. (Heinrich Steinfest: Der Umfang der Hölle, S. 163)


Steinfest, Heinrich: Bibliotheksplätze

  Dieser Platz war sein Platz. Natürlich konnte man das so nicht sagen. Zumindest nicht laut. Immerhin befand sich Moritz Mortensen in einer öffentlichen Bücherei, also an einem ausgesprochen demokratischen Ort, an dem eine Sitzplatzreservierungen unmöglich war. Was nichts daran änderte, daß gewisse Stammgäste ganz bestimmte Plätze bevorzugten. Weshalb auch die meisten dieser Leser, war ihr durch Jahre und Jahrzehnte territorialisierter Platz einmal besetzt, sich mit einem bösen Blick und einer im Vorbeigehen hingemurmelten Bemerkung begnügten. Nur einige wenige drehten durch, wurden ausfällig oder gar gewalttätig. Bedauernswerte Figuren, für die mit dem Verlust ihres gewohnten Platzes praktisch ein Verlust an Identität und Sicherheit einherging, ja, die in einem solchen Moment meinten, die ganze Welt sei ihnen abhanden gekommen. Kein Wunder also, wenn sie zu toben begannen oder damit drohten, jemandem die Zähne auszuschlagen. Nach Mortensens Einschätzung war es der entlegenste Ort dieser Bibliothek: geographisch wie thematisch. Einerseits lag er im äußersten Winkel des obersten Stockwerks, andererseits handelte es sich bei den dort untergebrachten Büchern um Schriften zum Leben und Werk der Dichter dieser Welt. Mortensen war dankbar für eine solche Umgebung. Er schätzte das Spröde und Kühle, welches von der Sekundärliteratur ausging. (Heinrich Steinfest: Ein sturer Hund, S. 7)


Steinfest, Heinrich: Ein perfektes Bücherkabinett

  Die gesamte Zeit bis zum Abend hin verbrachte Mortensen in der Bibliothek, die im oberen Stockwerk untergebracht war. Bücherkabinett wäre wohl der passendere Begriff gewesen, da der Raum kaum mehr als vier Quadratmeter maß, jedoch so lückenlos und stimmig mit Büchern ausgekleidet war, daß der Eindruck einer geschlossenen Bewegung entstand. (...) In der Mitte des Raums stand allein eine Sessel, an dessen Stuhllehne eine Leselampe montiert war, die etwas von einer winkenden Hand besaß. Bei den Büchern selbst handelte es sich ausschließlich um Werke der Wissenschaft und Philosophie, darunter so wertvolle Exemplare wie eine Erstausgabe von Descartes' "Die Leidenschaften der Seele" oder eine an sich billige Newton-Biographie, die jedoch vom jungen Niels Bohr mit einer Unmenge von handschriftlichen Randbemerkungen vollgekritzelt worden war, darunter sich auch eine kleine schlampige Zeichnung befand, die man als einen ersten Entwurf von Bohrs berühmten Atommodell interpretieren konnte. Doch das eigentlich Faszinierende an diesem Bücherkabinett war der Umstand, daß absolut kein Band, wie flach auch immer, mehr hineingepaßt hätte und man zudem den Eindruck gewann, daß jedes Exemplar an seiner einzig richtigen Stelle stand. Wenn man nämlich die Wellenberwegung bedachte. Ein Verstellen der einzelnen Bände wäre keinesfalls in Frage gekommen. Dieser Ort war so perfekt wie die reinste Natur. Perfekt in dem Sinn, daß es anders weder denkbar war, noch funktioniert hätte. (Heinrich Steinfest: Ein sturer Hund, S. 91)


Steinfest, Heinrich: Dünne & dicke Bücher

  Lukastik erklärte sich nicht. Oder nur andeutungsweise. Auch war er nicht bereit, einen großen Unterschied zwischen dem frühen Wittgenstein, dem des 'Tractatus', und dem späten, dem der 'Philosophischen Untersuchungen', zu machen. Und wenn einen, dann nur den, daß er einem schmalen Büchlein, also dem "dünnen" Frühwerk, den Vorzug vor einem dicken Band gab, weil der Reiz eines Schriftwerks, das man bequem in einer Hosen- oder Jackettasche unterbringen, zwischen zwei Fingern transportieren, sich damit Luft zufächeln, leichthändig ein Insekt verscheuchen und es eben immer bei sich haben konnte, weil dieser Reiz unschlagbar war. Auch tendierte ein dünnes Buch dazu, einem Leser Dinge zu ersparen, auf die ein Leser gerne verzichten konnte. Der Nachteil manchen guten und auch sehr guten Buches lag einfach darin, daß es zu dick war. Und daß die Dicke allein dadurch begründet war, daß der Autor lieber ein dickes als ein dünnes Buch von sich in Händen hielt. Während ihm fremde Bücher gar nicht dünn genug sein konnten. (Heinrich Steinfest: Ein dickes Fell)


Steinfest, Heinrich: Skandinavische Schriftsteller

  "Ich will mich nicht mit Leute verbrüdern, deren ganzer Verdienst darin besteht, Skandinavier zu sein. "Wie meinst du das?" "Ich meine, daß ein Autor, bloß weil er den hohen Norden im Blut hat oder im Blut zu haben meint, noch kein Genie ist. Aber die Leser da unten in Deutschland, die lassen das die Skandinavier glauben. Das führt dazu, daß wenn ein Finne drei Wörter aneinanderreiht, jedermann, erst recht der Finne selbst, dahinter eine Sensation wittert." (Heinrich Steinfest: Ein dickes Fell)


Steinfest, Heinrich: Wozu einen Grammy?

  Als ich zwei Tage später mit dem Leiter eines großen amerikanischen Verlagshauses beim Mittagessen saß, spazierte Sam an unserem Tisch vorbei. Er trug ein Hemd, das aussah wie ein explodierter Früchtekorb. Rechts und links im Arm hatte er zwei Püppchen, von denen wenigstens eines schon mal einen Grammy gewonnen hatte. Aber was bedeutet das schon? Ich meine, wenn man bedenkt, daß Hillary Clinton einen Grammy dafür bekam, ihr eigenes Buch vorgelesen zu haben. Was an sich eine gute Sache ist. Jeder Autor sein eigener Leser. Das ist sozial und ausgewogen. Aber wozu gleich einen Grammy? (Heinrich Steinfest: Ein dickes Fell)


Stendhal: Furchtbar schlechte Bücher

  "Ich zittere wegen deiner Studien um dich: Du wirst enden wie der Faust von Goethe. Willst du mir nicht schwören, wie du es am Sonntag getan hast, daß du nicht ausschließlich furchtbar schlechte Bücher liest?" - Ich lese die Bücher, die du mir empfohlen hast, liebe Mama, und gleichzeitig auch die anderen, die man 'schlechte Bücher' nennt" - "Ach, in deinem Charakter ist etwas Geheimnisvolles und Finsteres, das mich erschauern läßt. Gott weiß, was für Folgerungen du aus dem vielen Lesen ziehst!" - "Meine liebe Mama, ich kann nicht anders, ich muß das für wahr halten, was mir wahr zu sein scheint. Könnte mich denn ein allmächtiges und gütiges Wesen dafür bestrafen, daß ich den Organen, die es mir gegeben hat, Glauben schenke?" - "Ach, ich habe immer Angst, dieses furchtbare Wesen zu erzürnen", sagte Frau von Malivert mit Tränen in den Augen: "Es kann dich meiner Liebe rauben. Es gibt Tage, an denen ich beim Lesen von Bourdaloue vor Entsetzen erstarre. Ich ersehe aus der Bibel, daß dieses Wesen in seiner Rache erbarmungslos ist, und du beleidigst es zweifellos, wenn du die Philosophen des siebzehnten Jahrhunderts liest. Ich gestehe dir, daß ich vorgestern in einem Zustand, der beinahe Verzweiflung war, aus der Kirche Saint-Thomas von Aquin herausgekommen bin. Selbst wenn der Zorn des Allmächtigen über die gottlosen Bücher nur ein Zehntel dessen ausmachen würde, was der Herr Abbe Fay verkündet, so müßte ich doch zittern, dich zu verlieren. Es gibt ein abscheuliches Tagebuch, das Herr Abbe Fay in seiner Predigt nicht einmal zu nennen wagte und das du, wovon ich überzeugt bin, jeden Tag liest." - "Ja, Mama, ich lese es, aber ich halte das Versprechen, das ich dir gegeben habe: ich lese es immer gleich nach der Zeitung, deren Lehre mit der seinen in größtem Widerspruch steht." "Mein lieber Octave, die Heftigkeit deiner Leidenschaften ist es, die mich beunruhigt - und vor allem der Fortschritt, den sie im geheimen in deinem Herzen machen. Wenn ich an dir Neigungen feststellen könnte, die zu deinem Lebensalter passen und einen Ausgleich zu deinen sonderbaren Ideen darstellen würden, so wäre ich weniger beängstigt. Aber du liest gottlose Bücher, und bald wirst du es so weit gebracht haben, an der Existenz Gottes zu zweifeln. Weshalb über dies furchtbaren Dinge nachdenken? (Stendhal: Armance, S. 18)


Stendhal: Amiele liest

  Es war Amielen gelungen, alle Bände in den Turm einzuschmuggeln, ohne von ihrem Onkel gesehen zu werden, den der Anblick so vieler Bücher unfehlbar in Zorn versetzt hätte. Denn, obgleich er Schulmeister war, wiederholte er unaufhörlich: "Durch die Bücher ist Frankreich zugrunde gegangen!" Diesen Ausspruch hatte er vom Pfarrer Dusaillard. Als Amiele ihre Bücher im Erdgeschoß des Turmes versteckte, blätterte sie im Gil Blas. Sie nahm dies Buch zuerst vor, weil sie bemerkt hatte, daß es Kupferstiche enthielt. Ein paar Stellen gefielen ihr dermaßen, daß sie um 11 Uhr, nachdem ihre Pflegeeltern fest eingeschlafen waren, das Wagnis beging, durch ein Hinterfenster das Haus zu verlassen. Sie hatte den Schlüssel zum Turm, ging hinein und las bis 4 Uhr morgens. Als sie sich dann wieder in ihr Bett legte, war sie vollkommen glücklich, mit sich selbst völlig im Einklang. Einmal war ihre Phantasie im Banne der im Gil Blas erzählten Abenteuer; sie hatte die Emfpindungen vergessen, die sie sich vorgeworfen hatte. Und dann hatte sie vor allem aus dem Buche etwas geschöpft, was alles anderes aufwog: Nachsicht gegen sich und die anderen. Sie fand die Begehrlichkeit ihrer Tante beim Anblick der schönen Kleider nicht mehr durchweg gemein In den nächsten acht Tagen gehörte Amiele nur den Büchern an. (Stendhal: Amiele, S. 124)


Stevenson, Robert Louis: Biografisches

  Ich selbst mag Biografisches viel lieber als Fiktion; Fiktion ist zu frei. Bei Biografischem hat man eine kleine Handvoll Fakten, kleine Teile eines Puzzles, und man sitzt da und denkt nach und versucht sie auf diese und jene Weise zusammenzufügen; dann steht man plötzlich auf und schmeißt alles hin, sagt verdammt noch mal und geht spazieren, um sich zu beruhigen; und wenn man damit fertig ist, hat man das befriedigende Gefühl, etwas wirklich zum Abschluss gebracht zu haben.


Stöbener, Matthias: Ohne Zeitgefühl

  Wie lange ist es her, dass Sie über einem richtig guten Buch die Zeit vergaßen? Manchmal schafft es ein Roman tatsächlich, das nervtötende Ticken der Uhr einfach auszuschalten: Vollkommen in die Lektüre lese ich und lese ich, bis ich nicht mehr umhin kann, die aufdringlichen Störfaktoren meiner Umwelt wieder in mein Bewusstsein zu lassen. Letztes Wochenende war ich so vertieft in meinen neuen Krimi "Tödliches Wissen" von Annamaria Fassio, dass ich das Rufen meiner Frau überhaupt nicht hörte. Schließlich stürmte sie wutentbrannt in mein Arbeitszimmer, in das ich mich zurückgezogen hatte. Wir erwarteten Besuch: Für den Nachmittag hatten sich Verwandte angekündigt, es war bereits später Vormittag, der Kuchen war noch nicht gebacken, der Rasen musste noch gemäht werden, das Wohnzimmer war aufzuräumen und die Blumen zu gießen, kurz: Es wartete noch reichlich Arbeit auf uns. Doch als mich meine Frau so sitzen sah, vollkommen vertieft in meinen Krimi, schnappte sie sich "Das Manuskript" von Marianne MacDonald und machte es sich neben mir auf der Couch bequem. "Wir haben ja noch ein wenig Zeit", meinte sie. Als es um 15 Uhr klingelte, schreckten wir beide hoch: Wo war die Zeit geblieben? Zerknirscht öffneten wir den Verwandten die Tür... (© Matthias Stöbener; mit freundlicher Genehmigung des Autors; Quelle)


Stöbener, Matthias: Bücher abstauben

  Letzten Samstag gab es keine Ausrede mehr: Ich musste mal wieder ran an die Bücher! Zum Staubwischen. Eine furchtbare Arbeit für mich, kein Wunder, dass ich mich immer wieder davor drücken will. Schon zigmal habe ich meiner Frau erklärt, dass man mit Abstauben den Staub eigentlich nur verteilt statt ihn zu beseitigen. Aber bisher konnte dieses Argument sie nicht erweichen, mich von der lästigen Aufgabe zu befreien, Bücher und Buchregale abzustauben. Am liebsten würde ich die Bücher alle halbe Jahre in die Waschmaschine stecken und sie ohne Weichspüler waschen. So würden sie sicher blütenrein. Ob sie dann allerdings noch zu benutzen wären, bezweifle selbst ich. Und so bleibe ich in regelmäßigen Abständen am Abstauben hängen. Ich habe es auch schon mit einem antistatischen Reinigungshandschuh probiert, doch komme ich damit nicht in alle Ecken und es dauert länger als mit dem Staubtuch. Manchmal, je nach Laune, benutze ich auch den Swiffer, so eine Art Staubmagnet. Nicht schlecht, aber nicht die Revolution, die er verspricht. Kennen Sie die Staubbiene? Ich schon. Steht bei uns in der Vorratskammer und hat einen etwa eineinhalb Meter langen Teleskopstiel für die höheren Regionen. Da ich 1,90 Meter messe, ist mir das Ding eher hinderlich. Worauf ich schwöre sind der Straußenfedern-Wedel und eine extra Bürste für die oberen Kanten der Bücher. Mit dem Wedel fühle ich mich fast schon beschwingt, wenn ich über die Rücken der Bücher und das Holz der Regale wedele. Hin und wieder schüttele ich ihn am Fenster aus und schaue mich um, was es auf der Straße zu sehen gibt. Und mit dem tollen Bücherbürstchen, das mir meine Frau besorgt hat, fahre ich ein paar mal die Bücheroberkanten ab. Da kann man dann richtig den Staub wirbeln sehen. Unglaublich! Trotz dieser beiden schönen Gerätschaften würde ich doch gerne auf die Bücher-Abstauberei verzichten. Dass man E-Books nicht abstauben muss, ist im Moment noch einer der wenigen Vorteile, die ich an ihnen sehe. (© Matthias Stöbener; Jokers-Blog)


Strauß, Botho: So wahr!

  Sie liest mehrere Seiten, ohne zu stutzen. Dann, plötzlich, ein tiefer Seufzer: "So wahr! So wahr!" ruft sie und klappt das Buch zu. Gleichsam als wollte sie sagen: Wenn es anfängt derartig wahr zu werden, brauche ich kein Buch mehr. (Botho Strauß: Rumor, S. 104)


Stuber, Manfred: Über den Sammler

  Wer mit Sammlern umgeht, sollte noch zwei Punkte beachten: Erstens verleihen Sammler nie Bücher. Weil die Leihnehmer gar nicht begreifen, dass an jedem Exponat das Herzblut des Sammlers hängt. Mancher vergisst das Zurückbringen und denkt sich nichts dabei. Zweitens ist die Behauptung, man habe keinen Platz für Bücher, zuhöchst ideologisch und wird vom Sammler nicht gern gehört. Platz für Bücher gibt es immer. Jene Leute, die behaupten, sie hätten keinen Platz, finden nichts dabei, wertvolle Regalflächen mit allerlei Kinkerlitzchen zu drapieren wie Batiktücher, geknüpfte Teppiche, unnötige Wäscheschränke, blinde Spiegel und schlechte Gemälde. Jeder Sammler von Büchern hatte irgendwann mal seine Initialzündung, seinen Sündenfall oder seine glückliche Weichenstellung, je nachdem. (...) Was ein Sammler überhaupt nicht hören kann, ist die saudumme Frage "Haben Sie das alles gelesen?" Nur Banausen fragen das. Natürlich hat man das nicht alles gelesen. Aber schon der Besitz des Gesamtwerkes von Martin Walser in Erstausgaben, womöglich noch signiert, ist ein verdammtes Lustgefühl. Außerdem stehen die Bücher jederzeit griffbereit. Man kann, anstatt fern zu sehen, vor das Regal treten, sich einem Gedichtband des Barocklyrikers Andreas Gryphius greifen und ein Stündlein mit Muße darin lesen. Kein Tommy Gottschalk kann da mithalten. (Manfred Stuber, Mittelbayerische Zeitung)


Stuckrad-Barre, Benjamin von: Tagebücher lesen

  Ich gehe in Buchhandlungen genau immer in diese Idiotenecke mit Briefbänden und Tagebüchern. Das ist das, was ich am liebsten lese. Ich habe sehr wenig Geduld mit Fiktion anderer Leute, das muss dann schon sehr gut geschrieben sein, aber Tagebuch kann auch ruhig schlecht geschrieben sein, das finde ich das Interessanteste, was es gibt, da stehen ja lauter verkürzte Romane eigentlich drin.


Szymborska, Wislawa: Manche mögen Poesie

Das heißt nicht alle,
nicht einmal die Mehrheit, sondern die Minderheit.
Abgesehen von Schulen, wo man mögen muss,
und von den Dichtern selbst,
gibt’s davon etwa zwei pro Tausend.

Aber man mag ja auch Nudelsuppe,
mag Komplimente und die Farbe Blau,
mag den alten Schal,
mag auf dem Seinen beharren,
mag Hunde streicheln.

Was aber ist Poesie.
Manch wacklige Antwort
ist dieser Frage bereits gefolgt.
Aber ich weiß nicht, ich weiß nicht,
ich halte mich daran fest,
wie an einem rettenden Geländer.


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