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Index & Inhalte

Allgemeine Fundstücke
Bibliomane Fundstücke


Allgemeine Fundstücke (FAB)

Absterbende Gemütlichkeit
Ballmanns Leiden [1]
Ballmanns Leiden [2]
Ballmanns Leiden [3]
Ball bei Thod [1]
Ball bei Thod [2]
Ball bei Thod [3]
Ball bei Thod [4]
Ball bei Thod [5]
Ball bei Thod [6]
Eichkatzelried [1]
Eichkatzelried [2]
Eichkatzelried [3]
Eichkatzelried [4]
Eichkatzelried [5]
Das Messingherz [1]
Das Messingherz [2]
Das Messingherz [3]
Das Messingherz [4]
Das Messingherz [5]
Das Messingherz [6]
Vier Jahreszeiten im Yrwental [1]
Vier Jahreszeiten im Yrwental [2]
Vier Jahreszeiten im Yrwental [3]
Vier Jahreszeiten im Yrwental [4]
Die Schönschreibübungen... [1]
Die Schönschreibübungen... [2]
Die Schönschreibübungen... [3]
Die Schönschreibübungen... [4]
Die Kellnerin Anni [1]
Die Kellnerin Anni [2]
Die Kellnerin Anni [3]
Die Kellnerin Anni [4]
Die Erfindung des SommerWinters [1]
Die Erfindung des SommerWinters [2]
Die Erfindung des SommerWinters [3]
Die Erfindung des SommerWinters [4]
Die Erfindung des SommerWinters [5]
Die Erfindung des SommerWinters [6]
Der China-Schmitt
Der Meister [1]
Die Donnerstage des Oberstaatsanwalts [1]
Die Donnerstage des Oberstaatsanwalts [2]


Bibliomane Fundstücke

Großes Solo für Anton
Absterbende Gemütlichkeit
Volksschriftsteller
Wortklauber
Lexika
Das leichte Schreiben
Der Spiegel
Neue Zürcher Zeitung
Leihbücherei
Vor- und Nachwörter
Kulturzentralismus
Keine affirmative Kunst
Juristen unter den Autoren
Dichterlesung
Lektüre von Werkverzeichnissen
Agatha Christie
Buchinvalide


Rosendorfer, Herbert: Absterbende Gemütlichkeit

  "Es ist schon merkwürdig", sinnierte der Alex, "schau her, Horsti, da ist meine Frau, nicht wahr, die Gundula. Gut. Im Grund genommen ist es ihr eher lästig, wenn ich sie ... et cetera. Also die ehelichen Pflichten, du verstehst. Das heißt: für mich keine Pflichten, ehrlich nicht, auch wenn wir schon zwölf Jahre verheiratet sind, immer noch ein Vergnügen, ehrlich, weil sie ist ja, wie soll ich sagen, also der Busen noch erstklassig et cetera. Sowie der Hintern. Also ich, will sagen: was mich anbetrifft, ich fahr' da noch voll auf sie ab. Voll. Ehrlich. Aber für sie sind es nur noch eheliche Pflichten. Je seltener, desto lieber ist es ihr. Und Migräne, du verstehst, und dann tut es ihr da unten weh, wenn ich zu weit, und im entscheidenden Moment, wenn di weißt, was ich meine, klemmt's die Füß' z'samm und druckt mich hinaus - also man möchte meinen, daß sie ... du verstehst, daß sie froh ist, wenn ich nicht - das heißt, sie ist froh, um jedes Mal, wo nicht - aber - ahaber - wenn ich mit einer anderen ... dann gibt es das große Geschrei. Verstehst du das? Ich nicht. Ich will mich ja gar nicht scheiden lassen. Überhaupt nicht. Erstens die Kinder, und dann das Finanzielle, und außerdem, wie gesagt, ich fahr' noch voll auf sie ab - als ob ihr was weggenommen würde, wenn ich mit einer anderen - das, was sie eh nicht machen will. Verstehtst du die Weiber? Ich nicht." (Herbert Rosendorfer: Absterbende Gemütlichkeit. Zwölf Geschichten aus der Mitte der Welt, S. 230)


Rosendorfer, Herbert: Ballmanns Leiden [1]

  Vor Jahren schon hatte Dr. Ballmann verschiedene Anläufe genommen, für sich und seine Frau getrennte Schlafzimmer einzurichten. Immer, wenn Ballmann so einen Vorschlag machte, war seine Frau gekränkt, in einer frommen Art gekränkt, niedergeschlagen, hatte die Handarbeit in den Schoß sinken lassen und Ballmann mit feuchten Augen angeschaut, daß Ballmann nicht weiter hart sein konnte, obwohl nicht einzusehen war, warum Ballmann und seine Frau in einem Zimmer schlafen sollten. Irgendwelchen körperlichen Vorstöße hatte Ballmann schon seit Jahren nicht mehr unternommen, was Babette offenbar in der Ordnung fand. Sicher: Ballmann wußte, daß er auch nicht so aussah wie einer, dem die Frauen magisch angezogen an den Hals fliegen. Auch er, Ballmann, hatte in den Jahren des dämonischen Justizdienstes Gewicht angesetzt und Haare verloren, in letzter Zeit plagte ihn außerdem ein Stechen links hinten über dem Gesäß (Ischias?), aber so dick geworden wie Babette war er nicht. Außerdem trug Babette nicht nur Flanellnachthemden, sondern immer auch noch eine Unterhose drunter, wenn sie ins Bett ging. Ballmann hatte einmal zu analysieren versucht, warum ihn gerade das, diese Unterhose unter dem Nachthemd, so stört. Er war mit der Analyse nicht weit gekommen. Einmal hatte er es Babette sogar gesagt. Babette hatte freundlich geantwortet: Wenn es ihn störe, ziehe sie keine mehr an in der Nacht. Nein, hatte Ballmann gesagt, ich möchte eigentlich nur wissen, warum du sie anziehst? Babette hatte ihn groß angeschaut und geantwortet: ich weiß nicht, ich fühle mich wohler so. Soll ich mich nicht wohl fühlen? Doch hatte Ballmann geantwortet, doch. An diesem Abend - im übrigen ohne weitere Konsequenzen - hatte Babette zwar automatisch nach einer Unterhose gegriffen, hatte sie aber dann nicht angezogen, sondern war ohne Unterhose, aber natürlich mit Flanellnachthemd, ins Bett gegangen. Am nächsten Tag erzählte sie freundlich, daß sie sehr schlecht geschlafen habe, warum, wisse sie auch nicht. (Herbert Rosendorfer: Ballmanns Leiden, S. 8f.)


Rosendorfer, Herbert: Ballmanns Leiden [2]

  Thomas Ballmann war achtzehn Jahr alt, ein Angehöriger der Schweißfußgeneration: Er weigerte sich, eine andere Fußbekleidung als Turnschuhe anzuziehen. Daß man Thomas' Zimmer ohne Gefahr, in Ohnmacht zu fallen, betreten konnte, verdankte die Familie dem Umstand, daß Thomas es ablehnte, mehr als jeweils ein Paar Turnschuhe zu benutzen, das heißt: Er hatte das eine in Benutzung befindliche Paar praktische immer an, wahrscheinlich auch nachts. Der Geruch schwelte also in den Turnschuhen und drang nicht nach außen. Wenn das Paar alte Turnschuhe restlos zerfallen war, wurde ein neues Paar angeschafft. Dieser Moment des Wechsels war natürlich der kritische Punkt. Hier hätte der Geruch freigesetzt werden und katastrophale Wirkungen zeitigen können. Aber bisher waren alle Paare außerhalb des Hauses - kein Zufall: Thomas hielt sich selten daheim auf, nur zum Essen, Schlafen und gelegentlich zum Fernsehen - zerfallen, die Bombe also woanders explodiert. (Herbert Rosendorfer: Ballmanns Leiden, S. 25)


Rosendorfer, Herbert: Ballmanns Leiden [3]

  Die Menschenkenntnis des Juristen ist zwangsläufig negativ, denn er sieht ja nur Leute, die in verzweifelten und ausweglosen Situationen sind, denen man etwas wegnehmen oder etwas, was ihrer Meinung nach ihnen gehört, nicht geben will, die man einsperrt oder denen man sonst etwas antut. Da entlarven die Seelen schamlos ihr Abgründe. Was ein Hautarzt dagegen an Unappetitlichkeiten sieht, ist nicht der Rede wert. Im Laufe seines Lebens kommt der Jurist, namentlich, wenn er Richter oder Anwalt ist, zu der Auffassung: Die Leute sind alle und immer so, sie zeigen es sonst nur nicht. (Herbert Rosendorfer: Ballmanns Leiden, S. 30.f)


Rosendorfer, Herbert: Ball bei Thod

  Ein Angeklagter hat wohl meist das Gefühl, daß der Richter "gegen ihn" ist, obwohl der Richter unparteiisch sein soll. Tatsächlich sind unsere Richter, meine Kollegen, weit unparteiischer als die Masse der Menschen, aus denen sich ja die bedauersnwerte Sonderklasse der Angeklagten rekrutiert, und vor allem als die Kreise gewisser Journalisten es wahrhaben wollen. Aber dennoch verkörpert der Richter mehr oder weniger die Obrigkeit, die Staatsgewalt und so fort, und derlei anonyme und sogar mysteriöse Instanzen empfindet wohl jeder als "gegen sich" gerichtet oder eingenommen. Gipfel dieser voreingenommenen Instanzen ist selbstverständlich das Finanzamt; aber das ist eine Abschweifung. (Herbert Rosendorfer: Ball bei Thod, S. 202)


Rosendorfer, Herbert: Ball bei Thod [2]

  "Wissen S', Herr Rat", sagte Tibo bei einem unserer Gespräche, "wo ich hinlang, bei mir bleibt der Dreck an die Finger picken. Lernt ein anderer ein Mädchen kennen, gut, kriegt sie ein Kind. Bei mir - Zwillinge. Die Zwillinge, zwei Mädchen, waren damals fünf oder sechs Jahre alt. Tibo hätte die Mutter schon geheiratet, wenn die Beschaffung von Papieren nicht auf unüberwindliche Schwierigkeiten gestoßen wäre. Die junge Mutter war eine eher dralle Dame, die ihre sehr stark ausgeprägten Oberschenkel nicht daran hinderten, dem ehemaligen Modediktat "Hot pants" zu folgen. Das waren ganz, ganz kurze, gesäßintensive Hosen für Damen. "Zie nicht imer Deine Hotpent an wenn du auf Besuchstag kommst", schrieb Tibo einmal, "daß regd mich so auf."


Rosendorfer, Herbert: Ball bei Thod [3]

  Es gibt unter den gar nicht so wenigen ungeklärten Entführungen den Fall des Bankiers Baron von Speckh. Der Fall ist unter anderem deswegen ungeklärt, weil der entführte und gegen ein Lösegeld ein unbekannter Höhe wieder freigelassener Bankier jede, auch nur die geringste Mitwirkung bei der Fahndung ablehnte. Baron von Speckh war (und ist) ein nicht stadt-, sondern überregional bekannter Geizhals. Er ist derjenige, der sich vierzig Kilometer weit mit dem Auto fahren läßt, um sich bei einem Dorffriseur die Haare schneiden zu lassen, weil der Dorffriseur um dreißig Pfennig billiger ist als Friseure in der Stadt. Baron von Speckh ist derjenige, der bei der Beerdigung seiner Frau eine in der weichen Friedhofserde steckengebliebene linke Galosche fand und nach der Beerdigung mit seinem Chauffeur über zwei Stunden lang den ganzen Friedhof absuchte, in der Hoffnung, die passende rechte zu finden, obwohl die linke Galosche viel zu groß war. Man könne sie aber, sagte er zum Chauffeur, mit Zeitungspapier vorn ausstopfen, dann passen sie. Bankier von Speckh verlangte von der Polizei für seine Mitwirkung bei der Aufklärung seines Entführungsfalles zunächst den Ersatz der Geldsumme, die er den Entführern bezahlt hatte. Das konnte die Polizei natürlich nicht zahlen. Daraufhin verbuchte der Bankier das Geld als verlorene Investition, setzte es irgendwie von der Steuer ab und verbat sich jede weitere Belästigung in der Sache. (Herbert Rosendorfer: Ball bei Thod, S. 208)


Rosendorfer, Herbert: Ball bei Thod [4]

  Sehr gerne hätte es meine Großmutter gesehen, wenn ich Geistlicher geworden wäre, da sich schon keiner ihrer fünf Söhne zu dieser Laufbahn entschließen hatte können. Um mich auf den geistlichen Beruf vorzubereiten, hatte sie mir - ich war vier oder fünf Jahre alt - eine klerikale Ausrüstung geschenkt, so wie man anderen Kindern eine Ritterüstung schenkt oder eine rote Fahrdienstleitermütze mit Signalkelle und Pfeife. Ich bekam eine kleine Montranz, einen kleinen Kelch und sogar, eigens angefertigt, ein kleines Meßgewand. Ich hätte, erzählte sie später, mit vier, fünf Jahren ganz reizend in kindlicher Weise das Lesen der Messe nachgeahmt, sie wäre sicher gewesen, daß ich dereints Geistlicher würde. (Herbert Rosendorfer; Ball bei Thod, S. 253)


Rosendorfer, Herbert: Ball bei Thod [5]

  2. Herr van B., ein ehemaliger Fabrikant mit einer Knieverletzung aus dem Burenkrieg. Die Knieverletzung wirkte sich so aus, daß sein rechtes Bein bei jeder Bewegung scharf nach außen ausschlug. Er wurde deshalb stets links neben 3. Herrn de C., gesetzt, der infolge eines Sturzes aus einer Hollywood-Schaukel ein krankhaft erhöhtes Schlafbedürfnis hatte. Außer in stehender Haltung schlief Herr de C., er konnte machen, was er wollte, stets sofort ein. Er mußte deshalb im Stehen essen und hatte vom Papst die Dispens, die Kommunion im Stehen zu empfangen, im Knien wäre er ja unverzüglich eingeschlafen. Bei Sitzungen schlief er natürlich auch. Dadurch, daß Herr van B. links neben ihm saß, konnte er dennoch an Abstimmungen teilnehmen, denn jedesmal, wenn Herr van B. die Hand hob, schlug sein Bein nach rechts aus und weckte für kurze Zeit Herrn de C., der auch die Hand hob und dann gleich wieder einschlief. (Herbert Rosendorfer; Ball bei Thod, S. 258)


Rosendorfer, Herbert: Ball bei Thod [6]

  Späth glaubte sich nicht zu täuschen, als er das nächste Mal, das er in den Laden kam, Irmgard und die andere Verkäuferin hinter seinem Rücken kichern hörte. Ein Mann von einundfünzig Jahren, auch wenn er nur Buchhalter, klein, glatzköpfig und kurzsichtig ist, kann verliebt sein wie ein Zwanzigjähriger. Aber wehe, wenn er es zeigt. Die Zwanzigjährigen balzen auf der Straße herum, und alles lächelt. "San halt so, die jungen Leut." Bei einem Einundfünzigjährigen heißt es nur: "Der verliebte alte Trottel." Jahrhunderte der Commedia dell'arte haben davon gelebt, sich über einen alten Mann lustig zu machen, dessen einziges Verbrechen darin bestand, auch verliebt zu sein. Warum? Es scheint, als sei Jungsein ein Verdienst. "Die Menschheit ist ein primitives Volk", dachte sich Raimund Späth. Es war einer seiner Lieblingssprüche: "'Die Menschheit ist ein primitives Volk'. Vielleicht werde ich mir das auf den Grabstein meißeln lassen". (Herbert Rosendorfer; Ball bei Thod, S. 369)


Rosendorfer, Herbert: Eichkatzelried [1]

  Ebenfalls nach dem Essen erschien der letzte Gast des Abends: Herr Tscherer. Er war nicht geladen - kam aber - ohne eigentlich ein Freund des Hauses zu sein - ungebeten zwei- bis dreimal in der Woche, ohne daß er je seinerseits meine Großeltern eingeladen hätte. Er war - wie wir auch - aus Südtirol nach Eichkatzelried gekommen. Er war Friseur, ein Mann mit einem großen, fleischigen Gesicht, war kahl und hatte stets düstere Prognosen für die Weltlage. Er vermochte - während er Malzkaffee trank, auf dem, so liebte er es, viel Milchhaut schwamm - seine politischen Kassandra-Ansichten so überzeugend dazustellen, daß meine Großmutter nach jedem Besuch des Herrn Tscherer bis zu Tränen deprimiert war. Mein Großvater jedoch erklärte meiner Großmutter regelmäßig, daß Tscherer ein Schwachkopf sei wie alle Friseure, weil die ständige Beschäftigung mit Haaren erfahrungsgemäß den Geist verwirre. (Herbert Rosendorfer: Eichkatzelried, S. 11)


Rosendorfer, Herbert: Eichkatzelried [2]

  In der "Pension Erika" waren junge Lümmel einquartiert: ein Teil einer Oberschule aus Essen, die en bloc, mit Lehrer und allem beweglichen Unterrichtsmaterial, nach Eichkatzelried evakuiert worden war. Mit diesen preußischen Knaben lagen wir, angeführt von Donnabauer Helmut, sofort in Fehde. Zwar patriotisch, wie es nur ein Kind, dem es so eingeimpft worden war, sein kann, hatte ich anfangs Zweifel, ob in Anbetracht des Krieges draußen, den wir als hoch und heilig dargestellt erhielten, solche Zwistigkeiten hier im Inneren nicht die Kampfkraft des ganzen Volkes lähmen könnten, und in Anbetracht der HJ-Uniform, die sie, die Lümmel, stets, wir auch gelegentlich, trugen... aber auch beim Patriotismus ist einem das Hemd näher als der Rock, und ich stritt endlich wacker als patriotischer Eichkatzelrieder gegen die preußischen Eindringlinge. (Herbert Rosendorfer: Eichkatzelried, S. 46)


Rosendorfer, Herbert: Eichkatzelried [3]

  Tip war ein sehr braves, wenngleich lautes Tier, das jeden mit einer meilenweit aufwirbelnden Glocke von Gebell empfing, aber niemandem etwas zuleide tat... außer Hühnern. Auf Hühner war Tip furchtbar scharf. Wenn er ein Huhn sah, war er nicht mehr zu halten, er jagte es mit ungeheurem Aufwand von Gebell und erlegte jedes, das ihm einmal vor die Augen kam. Wenn Herr Schachner mit Tip spazierenging, mußte er immer vierzig Schilling abgezählt mitnehmen. Das war der damalige Preis für ein Huhn. Abgezählt mitnehmen mußte er es deswegen, weil die wütend mit Knüppel auf Tip und dem Huhn im Maul und auf Herrn Schachner einstürmenden Bauern selten gewillt waren, auf größeres Geld herauszugeben. (Herbert Rosendorfer: Eichkatzelried, S. 73)


Rosendorfer, Herbert: Eichkatzelried [4]

  Eine damals ungeheuerliche Extravaganz Fräulein Dolls muß noch nachgetragen werden: sie rauchte. Sie rauchte Zigaretten. Die später Hitler zugeschriebene Äußerung, daß die deutsche Frau nicht rauche, war in Tirol ein längst und uneingeschränkt gültiger Grundsatz von eherner Strenge. Nicht einmal die Stenografielehrerin Bromberger, die sich die Fußnägel lackierte, nicht einmal die Inhaberin des sündigen Pedikürsalons Ehrenbreit hat geraucht. Aber Fräulein Doll, und das in aller Offenheit und noch dazu - sofern sie Zigaretten hatte - ununterbrochen. Sie rauchte wie ein Mann. Vielleicht ist die Erklärung dafür, daß sie dennoch nicht nur nicht aus der Gesellschaft ausgeschlossen, sondern sogar allseits geachtet wurde, darin zu sehen, daß ihr auf Grund ihres Aussehens ein schon nicht mehr weiblicher, sondern schon nahezu männlicher, zumindest ungeschlechtlicher Status konzediert wurde. (Herbert Rosendorfer: Eichkatzelried, S. 121f.)


Rosendorfer, Herbert: Eichkatzelried [5]

  Ich erwähnte nämlich den aus Kitzbühel stammenden Dichter Raimund Berger (der damals schon einige Jahre tot war) und fügte die ketzerische Floskel hinzu: "- der gilt in Kitzbühel nichts, weil er kein Skilehrer war." Der Bürgermeister sagte darauf in tiefer Sattheit: "Ja! der Raimund Berger. Freilich kennen wir den. Das war der Sohn vom Notar Berger. Das war ein großer Dichter, der Berger Raimund, und eins kann ich Ihnen sagen", wandte er sich an mich: "wenn der nicht Kinderlähmung gehabt hätte, wäre er auch Skilehrer geworden."In Kitzbühel gilt also die literarische Begabung als verwerflich und ist nur entschuldbar, wenn einen ein körperliches Gebrechen daran hindert, Skilehrer zu werden. (Herbert Rosendorfer: Eichkatzelried, S. 139)


Rosendorfer, Herbert: Das Messingherz [1]

  Es sollte also ein Picknick geben. "Ein Picknick", hatte Wermut Graef einmal gesagt, der ja oft über verblüffend prägnante Lebenswahrheiten verfügte, wenn er sich die Mühe machte, konzentriert nachzudenken, "ein Picknick ist in Gegenden, wo die Gasthäuser nicht weiter als zehn Kilometer auseinander liegen, nicht zu rechtfertigen; es sei denn, man ist Ameise." Graef vertrat die Meinung - dies zur Erklärung des zweiten Teils der Sentenz -, daß die Ameisen ihre Existenz ausschließlich den in den Wäldern zurückgelassenen Picknickresten, aber auch Picknickern selber verdankten, dies insofern, als ja bekanntlich häufig unvorsichtige Picknicker einschlafen und von Ameisen bis aufs Skelett abgenagt werden. (Herbert Rosendorfer: Messingherz oder die kurzen Beine der Wahrheit, S. 140)


Rosendorfer, Herbert: Das Messingherz [2]

  Jakob Schwalbe war einer der dürrsten Menschen, die Albin Kessel je gekannt hatte. Er war einer der häßlichsten. Albin Kessel hatte einmal ein Lexikon aus den Jahren um die Jahrhundertwende besessen, einen alten "Meyer". Kessels Lieblingsbild war eine Darstellung bei dem Artikel "Pferde: Fehler und Gebrechen des Pferdes". Das Bild zeigte einen Gaul, in dem der Zeichner die gängigsten Pferdekrankheiten vereinigt hatte, 41, erinnerte sich Kessel, waren es insgesamt: Thränenfluß, Genickbeule, Kniegallen, Streichnarbe, Mauke, Stelzfuß, Dampfrinne, Mastdarmvorfall, Hasenhacke, Blutspat, Piephacke, Hornkluft und Hungerlinie, um nur die eindrücklichsten zu nennen. Das dargestellte Pferd - unrealistisch, weil schon bei der Hälfte aller Gebrechen ein Gaul nicht auf den Beinen hätte stehen können - war ein hundshäutener Haufen von so entsetzlicher Häßlichkeit, daß man beim Anblick des Bildes nicht wußte, ob man weinen oder lachen sollte. Hätte der sadistische Zeichner des alten Meyer die 41 Häßlichkeiten, die für einen Mann in Frage kämen, an einem einzigen Exemplar als Beispiele dargestellt, hätte die Zeichnung ungefähr ein Porträt Jakob Schwalbes ergeben. (Herbert Rosendorfer: Das Messingherz, S. 34)


Rosendorfer, Herbert: Das Messingherz [3]

  Das Festspiel-Bayreuth und die Stadt Bayreuth stehen sich sozusagen ohne Berührungspunkte gegenüber. Außer der gemeinsamen geographischen Länge und Breite haben sie nichts miteinander zu tun. Der Wagnerianer empfindet die Stadt Bayreuth, wenn er sie überhaupt bewußt wahrnimmt, als Fremdkörper. Dennoch muß der Wahrheit die Ehre gegeben werden: ohne die Festspiele wäre Bayreuth zwar nicht nichts, höchstens aber eine von drei Dutzend deutschen Residenzen oder Reichsstädten, die heute bedeutungslos am Rande der Verkehrsverbindungen liegen und aus ihrer Glanzzeit einige hochinteressante Baudenkmäler aufzuweisen haben - mehr nicht. Die Bayreuther sind deswegen natürlich stolz darauf, daß sie, wie es etwas übertrieben heißt, für fünf oder sechs Wochen im Jahr Weltstadt sind. Wagnerianer sind die wenigsten Bayreuther, vermutlich so wie im Vatikan echte Katholiken rar sins. Der Ruf 'Die Festspielgäste kommen!', hat einmal ein scharfer Beobachter festgestellt, ertönt in Bayreut etwa mit dem Unterton wie bei den Lachsfischern der Ruf: 'Die Lachse kommen!' (Herbert Rosendorfer: Das Messingherz, S. 180f.)


Rosendorfer, Herbert: Das Messingherz [4]

  Albin Kessel habe viele schlechte Eigenschaften, aber unter den guten eine einzigartige: er sei in der Lage, sich von Anstrengungen auszuruhen, die er gar nicht durchgemacht habe. Nichts lag Kessel ferner, als so eine Behauptung zu bestreiten, und zwar nicht nur an 'aufrichtigen Dienstagen'. Bergsteigern oder anderen Sportlern gegenüber, die die Köstlichkeit der Rast nach ehrlich vergossenem Schweiß preisen, pflegte Kessel zu argumentieren, daß er infolge seiner einzigartigen Konstitution in der Lage sei, in einem Berggasthof sein kühles Bier mit eben der Freude zu genießen, als wäre er nicht mit der Bergbahn hinaufgefahren, sondern hinaufgestiegen: ja, der Anblick der mühsam heraufkeuchenden Alpinisten vermöge es sogar, ihm den Durst noch zu verfeinern. Oder wenn Skifahrer sagen: wie schön die arme Stube sei, wenn man draußen in der Kälte sich gerackert habe - da erwiderte Kessel: er könne durch bloßen Ausblick auf den Schnee oder durch zugefrorende Fenster ideal derart frieren, daß das vollauf genüge, um ihn die Qualität eines geheizten Zimmers fühlen zu lassen. (Herbert Rosendorfer: Das Messingherz, S. 194)


Rosendorfer, Herbert: Das Messingherz [5]

  Krank ist, wer krank sein will. Ich spreche natürlich nicht von Simulanten oder von Hypochondern, ich spreche von wirklich physisch Kranken. Sie haben alle irgendeinen Grund, krank zu sein. Auch die Heilung ist Einbildung, selbstverständlich. So viele eingebildete Kranke es gibt, so viele eingebildete Doktoren gibt es, in dem Sinn: daß sie sich die Heilung einbilden. Nicht sie haben den Patienten geheilt, der Patient wollte nur wieder gesund werden. Sehen Sie doch: es schwirrt doch überall vor Viren und Bakterien und wie das Zeug alles heißt, und wie unsauber sind die Menschen. Wie oft geben Sie einem die Hand, der vorher auf dem Klo war und hat sich nicht gewaschen. Und was essen Sie alles, ist doch alles vergiftet, die Kleidung, die wir tragen, und das Klima... wir müßten dauernd krank sein, wir schwimmen doch in einem Meer von Krankheitserregern, von Krankheitsmöglichkeiten, tragen doch die ganzen Keime dazu ständig in uns, wir müßten dauernd krank sein, wenn die Krankheiten physische Ursachen hätten. Nein: wenn einer wirklich nicht krank sein will, ist er nicht krank. (Herbert Rosendorfer: Das Messingherz, S. 336f.)


Rosendorfer, Herbert: Das Messingherz [6]

  Kessel gehörte zu den Leuten, die es nicht leiden können, wenn sie schmutzige Hände haben. Nicht nur das: es war ihm völlig unerträglich, er wurde nervös, unfreundlich und streitsüchtig, bis er sich nicht in so einem Fall die Hände gewaschen hatte. Dabei waren Finger - Fingerkuppen - nicht so schlimm. Schlimmer war es, wenn die Handflächen innen schmutzig waren. Ich könnte, hatte Albin Kessel zu seinem Bruder Leonhard immer gesagt, der eine Zeitlang ein begeisterter Bergsteiger war und auch Albin dazu animieren wollte, einmal mitzuklettern, ich könnte keine Freunde am Bergsteigen haben. Man muß doch da zwangsläufig ständig den Berg anfassen. Nichts gegen Berge, aber sauber sind sie nicht. Und auf Berggipfeln gibt es keine Wasserhähne. Es wäre mir unerträglich, sagte Kessel, ich hätte kein Vergnügen daran. Es könnte die schönste Aussicht sein, man könnte über neblig verhangene Fichtenwälder schauen, in grünkristallne Seen, man könnte mir Ausblicke über Felsberge und Täler bieten, flammende Sonnenauf- oder - untergänge in Farbspielen, die ein Sterblicher, der nie auf Gipfeln war, nicht ahnt - es ist mir verwehrt, sagte Albin. Ich würde nur an meine Hände denken und dem nächsten Wasserhahn entgegenfiebern, der nach dem Abstieg drunten zu erreichen ist. Ich wäre zu keiner Empfindung fähig, weil mein Hirn ausschließlich auf den Staub und Schmutz an den Händen und namentlich an den Innenflächen der Hand gerichtet wäre, starr, unbeweglich darauf gerichtet wäre. (Herbert Rosendorfer: Das Messingherz, S. 406)


Rosendorfer, Herbert: Vier Jahreszeiten im Yrwental

  Außer am 27. November - dem Tag des heiligen Virgil - kam nur selten ein Mensch in dieses hintere Ende des Tales. (...) Diese jährliche Wallfahrt nach St. Virgil im Walde gehörte zum Brauchtum des Tales. Die Jöchlsteiner hatten sie zur Pestzeit des Dreißigjähriges Krieges gelobt. Inzwischen ist sie, höre ich, eingegangen. Offenbar hat man in Jöchlstein und in Sandgrub und in Yrwent heute keine Angst mehr vor der Pest. St. Virgil, der adelige Ire, (...) steht nun einsam in seiner Wallfahrtskapelle im Wald. Ob es einem Heiligen etwas ausmacht, wenn er nicht mehr um Fürbitte angerufen wird? Erträgt er es in Demut, wie er auf Erden die Leiden, die ihm den Heiligenschein eingebracht haben, in Demut ertragen hat, wenn er sieht, wie neben ihm ein anderer Heiliger kaum nachkommt, die ganzen Gebete, die unten an ihn gerichtet werden, nach oben weiterzugeben? Oder wird er zornig? Er steht da, dreht Daumen, hat vom Yrwental seinerzeit die Pest abgehalten - oder genauer gesagt: sein heißes Gebet beim Herrn hat bewirkt, daß der Schwarze Tod um das Tal, das sich unter seinen, St. Virgils Schutz gestellt, einen Bogen gemacht hat - und jetzt vergessen ihn die da unten, wo es ihnen so gut geht wie nie in den zwei- oder dreitausend Jahren, in denen sie dort siedeln... (Herbert Rosendorfer: Vier Jahreszeiten im Yrwental, S 273 f.)


Rosendorfer, Herbert: Vier Jahreszeiten im Yrwental [2]

  Angeblich ist Holland das Land der Windmühlen. Wenn man sie auf das Fehlen von Windmühlen anspricht, reden sich die Holländer auf die Zerstörungen im Krieg heraus. ich halte das für eine Lüge. Wahrscheinlich hat es in Holland nie Windmühlen gegeben sowenig wie in Griechenland Tempel. Die Griechen reden sich dabei darauf hinaus, daß entweder die Türken die Tempel in die Luft gesprengt oder irgendwelche englischen Lords sie ins British Museum verschleppt hätten. Alles Lügen. Wenn man in Athen, zum Beispiel, ein echt griechisches Gebäude sieht, mit Säulen, Karyatiden usw. so kann man Gift darauf nehmen, daß es 1840 von Klenze gebaut wurde. Griechenland besteht heute außer solchen Klenzebauten praktisch nur aus Autoreparaturenwerkstätten und Buden, in denen gebratenes, fettes Hammelhackfleisch mit toten Fliegen verkauft wird (letzteres nennen sie Gyros). (Herbert Rosendorfer: Vier Jahreszeiten im Yrwental, S. 10f.)


Rosendorfer, Herbert: Vier Jahreszeiten im Yrwental [3]

  Aber die Natur, so grausam sie ist, gleicht auch aus. Klumpfuß gegen Intelligenz. Zwar gilt Intelligenz bei den Leuten in Tauerngau als fast noch schlimmer als ein Klumpfuß, aber der einzige Vorteil des Gebrechens Intelligenz ist, daß es nicht so offensichtlich ist wie ein Klumpfuß. Dem Toni gab die Intelligenz, die er an den Tag legte (oder vielmehr: sozusagen verborgen hielt) die Möglichkeit zu überlegen. Er las. Heimlich lieh er sich beim Pfarrer Bücher aus. Er hörte Radio. Wenn niemand in der Nähe war, hörte er zu, wenn im Radio Gedichte vorgetragen wurden oder ein Symphonieorchester spielte. (Herbert Rosendorfer: Vier Jahreszeiten im Yrwental, S. 151)


Rosendorfer, Herbert: Vier Jahreszeiten im Yrwental [4]

  Die Niederbrunnhoferin saß während des Gewitters laut betend in der Küche. Sie hatte ihre Brille abgelegt, denn man soll während des Gewitters kein Metall anfassen oder am Leib haben. Einen Fuß - den linken, versteht sich - hatte sie in einem Schaff mit Weihwasser, mit der rechten Hand hielt sie sich den Flügel einer Krähe an die Stirn. So übersteht ein bäuerliches Anwesen jedes Unwetter. Die Niederbrunnhoferin konnte sehr schnell beten. Während eines durchschnittlichen Gewitters brachte sie es ohne weiteres auf zwei, drei 'Schmerzhafte Rosenkränze', und das unter der erschwerten Bedingung, daß sie dabei ständig den Krähenflügel ans Hirn hielt. Sie galt überhaupt als eine der flottesten Beterinnen im Tal, und bei der alljährlichen Wallfahrt nach St. Virgil im Walde betete sie spielend alle anderen Talbewohner in Grund und Boden. (Herbert Rosendorfer: Vier Jahreszeiten im Yrwental, S. 190)


Rosendorfer, Herbert: Die Schönschreibübungen... [1]

  Die Natur, die wie der Mensch in erster Linie zur Faulheit neigt, profitiert davon, daß das Einfache meist auch schön ist. (...) Auch noch in einem völlig verwilderten Park sind die Spuren eines ordnenden Geistes zu spüren, vielleicht gerade in ihm. Ein Park ist die gezähmte Natur, so wie ein Bild gezähmte Farbe, ein Gedicht gezähmte Sprache ist. Dabei kommt es auf unmerkliches Unterschiede an: gezähmt ist nicht dressiert. Ein Gedicht darf die Sprache nicht soweit zähmen, daß sie ihre Substanz verliert, sie darf nur soweit gezähmt werden, daß sie den Willen des Geistes, der sie gezähmt hat, weiterträgt. Sie darf nur soweit gezähmt werden, daß sie immer noch das Vorteilhafte ihres gezähmten Zustandes einzusehen vermag. Ein Schritt weiter: und der Sprache ist der Wille gebrochen, sie ist tot. Das Wesen der Kunst ist nicht das Extreme, sondern die Mitte. Über die Grenzen hinauszubrechen, ist einfach. Die Mitte zu treffen ist schwer. (Herbert Rosendorfer: Die Schönschreibübungen des Gilbert Hasdrubal Koch, S. 99f)


Rosendorfer, Herbert: Die Schönschreibübungen... [2]

  Noch in der Romantik, selbst in der späteren, die mit Floskeln wie Naturalismus oder Realismus geschmückt wird, ist Österreich - wie alle deutschsprachigen katholischen Länder - mit wenig literarischer Prominenz gesegnet. Warum das so ist, ob das irgendwie mit der Fruchtbarkeit protestantischer Pfarrhäuser zusammenhängt oder doch damit, daß die katholische Kirche den Analphabetismus neben Keuschheit und Fasten zu den Perlenkränzen des Glaubens zählt, soll hier nicht untersucht werden. Festgestellt sei nur die Tatsache. Während die Protestanten mit den lutherischen Goethe, Schiller, Lessing und E.T.A. Hoffmann herumwerfen, muß sich Österreich mit Anastasius Grün und Lenau begnügen. Abgesehen vom Sonderfall Nestroy, dem wahren östrreichischen Shakespeare, dessen Genie trotz allem immer noch nicht ernst genug genommen wird, und der sozusagen das Gußnegativ des Österreich ist, reißt einzig der romantische Hofrat Dr. Grillparzer die Ehre Österreichs aus der distelbestandenen Steppe kleingedruckter Anhänge in den Literaturgeschichten heraus. Romantikern traut man keine irdische Verflechtung zu. Novalis, meint man, lebte vom Nippen am Frühtau, Schubert ernährte sich vom Anblick des Abendrotes, und Caspar David Friedrich beschäftigte sich, außer wenn er malte, mit Seufzen. Außerdem war man als Romantiker entweder syphilitisch oder wahnsinnig, am besten beides. Daß zumindest zwei literarische Romantiker - beide Österreicher - knochenharte bürgerliche Berufe ausübten und ihre Schreiberei quasi hinter ihrem eigenen Rücken betrieben, ist wenig bekannt: Grillparzer und der Baron von Eichendorff. (Herbert Rosendorfer: Die Schönschreibübungen des Gilbert Hasdrubal Koch, S. 128f.)


Rosendorfer, Herbert: Die Schönschreibübungen... [3]

  Des k.k. Archivdirektors Dr. Grillparzers dienstlichem und außerdienstlichem Verhalten wird im schönen alten 'Brockhaus' von 1902 das für jeden Beamten ehrende Zeugnis ausgestellt: 'G.s im granzen geräuschloeses (!) Leben wurde nur durch einige größere Reisen... unterbrochen." Ein Familienleben fand nicht statt. Auch hier findet der 'Brockhaus' ergreifende Zeilen: 'Den Unverheirateten verband mit seiner Jugendgeliebten Katahrina Fröhlich (gest. 1879) eine treue Neigung, die ihn bis zum Tode beglückte. (Herbert Rosendorfer: Die Schönschreibübungen des Gilbert Hasdrubal Koch, S. 132)


Rosendorfer, Herbert: Die Schönschreibübungen... [4]

  Vorauszuschicken wäre anfangs vielleicht gewesen, daß sich bei Gotthilf Griebele schon in seiner Jugend in Backnang der Hang zur Esoterik abgezeichnet hatte. Er hatte sich noch im Alter von zwanzig Jahren vor Gewittern gefürchtet, hatte viele Jahre lang nur bordeaux-rote Kleidung getragen, Rauchtee getrunken, mit Räuberstäbchen die elterliche Wohnung verpestet und war noch während seines beruflichen Werdegangs zum Postfacharbeiter Vegetarier geworden. Wer, so heißt ein altes Sprichwort, Vegetarier wird, sinkt auch bald zum Antialkoholiker herab. (Herbert Rosendorfer: Die Schönschreibübungen des Gilbert Hasdrubal Koch, S. 167)


Rosendorfer, Herbert: Die Kellnerin Anni

  Aber sonst ist so ein Campingurlaub naturgemäß von vornherein als Katastrophe programmiert. Sie geben's nur nicht zu, die Camper, wenn's heimkommen, oder sie haben's vergessen. Der Spirituskocher, sag' ich Ihnen, ist der schärfste Feind des Campers. Und der Camper ist von Haus aus knickrig, sonst würd' er ja ins Hotel gehen in Urlaub. Also kauft er das billigste Öl. Somit ein Gestank. Und das fette Fleisch - wenn Sie noch nie auf einem Campingplatz waren, können Sie sich nicht vorstellen, was für Rauchschwaden sich da über die ohnedies ständig schweißelnden Camper wälzen - und du kannst ja keine Tür zumachen und kein Fenster in einem Zelt. Und die nachfolgenden Feuerbrünste. Wie gesagt: der Spirituskocher. Sengt an. Plötzlich steht das Zelt in Flammen. Eine Familie, die war aus Bottrop, kann ich mich erinnern, hat alles verloren bis auf ihre bläulichen Badeschuh' und seinen Sombrero - den hat er gerettet, weil Andenken an einen Campingaufenthalt in Mexiko. Danach ist er, dick wie ein Faß, auf dem Felsen gesessen, nackert mit dem riesigen Sombrero auf und hat tragisch ins Wasser g'stiert. Ein Bild! sag' ich Ihnen, ein Bild! Und seine Alte, in die bläulichen Badeschuh', hat an ihn hingekeift: "Warum hast du nicht statt deinem blöden Sombrero die Pässe gerettet?!" (Herbert Rosendorfer: Die Kellnerin Anni, S. 73)


Rosendorfer, Herbert: Die Kellnerin Anni [2]

  ... daß die Nonnen um halb elfe zugesperrt haben, und die Restknacker, die Pilger da, die haben sich eh um neune spätestens verkrochen. Zu viert haben wir in einem Zimmer geschlafen. Wie ich das erfahren habe, habe ich gedacht, mich vögelt ein Zebra, wenn Sie kurz den Ausdruck erlauben, aber es war dann an sich nicht so schlimm, denn das Zimmer was eher ein Saal - aber! h'aaber! die eine, wie die sich ausgezogen hat, beziehungsweise entkleidet - die hat ein Korsett angehabt wie ein Baugerüst, und wie sie's abgelegt hat, ist die auseinandergegangen - sagen Sie, müssen die alten Leute alle so dick sein? (Herbert Rosendorfer: Die Kellnerin Anni, S. 84)


Rosendorfer, Herbert: Die Kellnerin Anni [3]

  Der Durchblicker, der Oberidiot. Muß der mit dem Pfarrer zu streiten anfangen über den Papst. Als ob einen Menschen mit Verstand dieser Papst heute noch interessieren möchte. Über die Überbevölkerung und die Geburtenkontrolle und Verhütung und die Pille - überhaupt, hat der Durchblicker gemeint, hält er es für vorbildlich, was ein gewisser Stamm in Afrika macht. Den Namen des Stammes hab' ich vergessen. Irgendwelche Tutzi-Wutzi halt. Also - ich weiß es nicht, ob das wahr ist, was der Durchblicker da von sich gegeben hat. Jedenfalls hat er irgendwo gelesen, vielleicht im 'Spiegel', weil er ja seit zweiundvierzig Jahr' 'Spiegel'-Abonnent ist, daß jener gewisse Negerstamm seine Bevölkerungsstruktur... wie soll ich sagen... also bekämpft, das heißt nicht die Struktur, sondern... also auf deutsch gesagt, wie sie das anstellen, daß es nicht zu viele Alte gibt, die nur dumm herumsitzen und den Jungen das Essen wegfressen. Da werden also bei dem gewissen Stamm, erzählt unglücklicherweise dieser trachtenanzügliche 'Spiegel'-Abonnent und Durchblicker, alle, die über sechzig Jahre alt sind, an einem bestimmten Tag im Jahr auf die Bäume hinaufgetrieben oder gehoben et cetera, und dann schütteln die anderen die Bäume, und die, welche herunterfallen, werden etrschlagen, sofern nicht schon vom Fall erledigt, und die, welche noch kräftig genug sind, daß sie sich festhalten und also folglich sozusagen noch volkswirtschaftliche wertvoll, dürfen noch ein Jahr weiterleben bis zum nächsten Schütteln. (Herbert Rosendorfer: Die Kellnerin Anni, S. 93)


Rosendorfer, Herbert: Die Kellnerin Anni [4]

  Ich glaub' nicht, daß irgend jemand eine Freud' an diesem komischen Sport hat... ich glaube, daß das alles, dieser ganze komische Wintersport nur auf die Reklame von die Sportgeschäfte zurückgeht und! Und, natürlich, weil es die anderen auch machen. Das scheint mit der springende Punkt zu sein. An sich - denk' ich mir - wenn man den Menschen zwingen würde, also gesetzlich oder so, daß er bei Schnee und Eis, wo dem empfindlichen Menschen naturgemäß ohnedies widerstrebt, auf so merkwürdige Bretter hoffnungslos festgeschnallt, bei Kälte unter diesen Skianzügen schwitzend, unter Lebensgefahr mit schneeverpickten Augen steile Wiesen herunterzufahren, ständig gewärtig mit einem Baum oder einem anderen solchen Skitropf zusammenzustoßen - und dafür noch Geld auszugeben! Ich glaube, das würde eine Revolution geben. Sie verstehen: wenn das Skifahren respektive Wintersport sozusagen der vorher nichtsahnenden Bevölkerung gesetzlich verordnet würde, mit einem Schlag: eine Revolution. (Herbert Rosendorfer: Die Kellnerin Anni, S. 109)


Rosendorfer, Herbert: Die Erfindung des SommerWinters [1]

  Der sogenannte Schnee ist eine speziell nordeuropäische Schlechtwetterabsonderung, die bei gesund empfindenden Menschen Unlust hervorruft, kalt ist und die Schuhe ruiniert. Schnee ist, kurz gesagt, weißer Dreck. Der sogenannte Schnee wird von den durch die sie ständig umgebenden sogenannten Gebirge in ihrer Geisteshaltung erheblich behinderten, nicht anders als mit dem Schimpfwort Alpenbewohner zu umreißenden Gnomen und Mißgeburten zu kommerziellen Zwecken mißbraucht. Nirgendwo in der Welt gibt es so viele Sechszeher, Dreibeiner, Kropträger, Wasserköpfe, Stotterer, Teerschnüffler, Einhoder, Sulzknier und Bettnässer wie in Oberbayern, dem Allgäu, Tirol und der Ostschweiz. Der Typhus des sogenannten Gebirglers läßt sich so charakterisieren: er riecht nach Salpeter, hat blutunterlaufene Augen, einen Blähals, sechs Finger an jeder Hand, ist Analphabet, katholisch und spricht eine unverständliche Privatsprache; erheißt Luis oder Sepp, meist auch Trenker und bedient einen Sessellift. (Herbert Rosendorfer: Die Erfindung des SommerWinters, S. 14)


Rosendorfer, Herbert: Die Erfindung des SommerWinters [2]

  Bekanntlich ist Tyrol das katholischste Land der Welt. Genauer gesagt: Tyrol ist das einzige katholische Land der Welt. Es ist zwar oft die Rede von Polen, wo die Leute so katholisch sind oder dem Vernehmen nach sein sollen, daß Polnisch seit 1978 für Päpste Vorschrift ist, oder aber es ist die Rede von Spanien, wo im letzten Monat schon wieder eine Fabrik zur Eloxierung von Heiligenscheinen eröffnet wurde, aber das ist alles nichts gegen die tief verwurzelte Katholizität der Tyroler. Meine Urgroßmutter stammte aus jenem Teil Tyrols, nämlich aus dem Oberen Vinschau, wo die Katholizität sich stellenweise so verdichtet, daß Schneepflüge eingesetzt werden müssen, um die wenigen asphaltierten Straßen auch für die lutherischen Touristen freizuhalten. Von den katholischen allein könnte der Fremdenverkehr nicht leben. (Herbert Rosendorfer: Die Erfindung des SommerWinters, S. 84)


Rosendorfer, Herbert: Die Erfindung des SommerWinters [3]

  Der hl. Trenker, der aus dem Pustertal stammte, war ein berühmter um nicht zu sagen berüchtigter Missionar im lutherischen Land. Furchtlos begab sich der hl. Trenker, nur mit einem von ihm erfundenen Spezialhut ausgerüstet, ins Heidnische und bekehrte die Ungläubigen, wo er ging und stand. Seine Methode war nicht anders als kernig, ja markig zu nennen. Er packte die Lutherischen und Heidnischen an der Gurgel und schrie: "Wirsch katholisch oder net?" Zeigte sich weitere Harnäckigkeit, teilte er solche gottesfürchtige Ohrfeigen aus, daß selbst lutherische Pfarrer nur noch winselnd flehten, auf ungekochten Erbsen zum Papst wallfahrten zu dürfen. Einem sog. Freigeist gab der hl. Trenker einen vom Heiligen Geist inspirierten Fußtritt von einer Gewalt, daß der Freigeist noch bevor er wieder die Erde berührte, nicht nur alle Sünden bereute, alle Irrlehren widerrief, sondern auch die Erste Kommunion und sogar die Firmung seitens eines zufällig vorbeifliegenden Bischofs empfing. Oft genügte es, daß der hl. Trenker seinen furchteinflößenden Hut vorzeigte, und ganze Scharen von Protestanten traten nicht nur der katholischen Kirche, sondern auch gleich noch dem Opus Dei bei. (Herbert Rosendorfer: Die Erfindung des SommerWinters, S. 87)


Rosendorfer, Herbert: Die Erfindung des SommerWinters [4]

  Diese sogenannten Gebirge sind jene unschönen, störenden Bodenerhebungen, die den Süden Bayerns verunstalten. Seit etwa hundert Jahren treiben entmenschte Individuen mit topographischen Niveauunterschieden gefährlichen Mißbrauch. Es vergeht kaum ein Jahr, in dem nicht eine Zusammenballung der Alpinistenausdünstungen zu gräßlichen Unwettern, Alpenglühen, Jodelabenden, Trachtenumzügen und Erdbeben führen. (Herbert Rosendorfer: Die Erfindung des SommerWinters, S. 13)


Rosendorfer, Herbert: Die Erfindung des SommerWinters [5]

  Die Freie Republik Neuhausen, die (seit nunmehr 25 Jahren) unter der straffen wie liebevollen Leitung meines alten Freundes Fritz Betzwieser steht, ist nicht nur atomwaffenfreie, sondern auch und vor allem tierversuchsfreie Zone. Die Entfernung aller zweibeinigen Pfarrkinder und deren Ersatz durch vierbeinige (nämlich Katzen), unbeinige (nämlich Goldfische) und gefiederte Geschöpfe Gottes scheiterte vorerst an technischen Gegebenheiten. Es ist im Ernst auch nicht mehr daran gedacht, denn inzwischen haben sich die Pfarrkinder durch den rastlosen Einsatz Pfarrer Betzwiesers zu so engagierten Tierfreunden entwickelt, daß hier weiter niemand mehr wagt, einen Kanarienvogel auch nur schief anzuschauen. Wie aber nicht anders zu erwarten, ist die Tierfreundschaft Betzwiesers nicht sektiererisch eng, was sich darin zeigt, daß er Liebe auch zu Tieren zeigt wie Kühe, Schweine, Hammel oder Forellen, sofern sie ordentlich gebraten und mit Petersil garniert sind. (Herbert Rosendorfer: Die Erfindung des SommerWinters, S. 101)


Rosendorfer, Herbert: Die Erfindung des SommerWinters [6]

  Das Haus Goethe am Großen Hirschgraben muß außerdem ein Museum von Vater Goethes italienischen Andenken und Erinnerungen gewesen sein, zum Teil finden sich die Kupferstiche und Gipsabdrücke noch heute dort. Wenn auf Italien die Rede kam, wurde das Auge des sonst pedantisch und eher trocken geschilderten Mannes feurig. Johann Wolfgangs Jugend muß unter dem - von Goethes Psyche offenbar positiv verarbeiteten - Eindruck gestanden haben, daß nur derjenige, der Italien und speziell Rom kennt, wenigstens einmal kennengelernt hat, ein Leben geführt hat, das wert ist, menschlich genannt zu werden. (Herbert Rosendorfer: Die Erfindung des SommerWinters, S. 118)


Rosendorfer, Herbert: Der China-Schmitt

  Die Leidenschaft Fräulein Derks aber galt dem Spiritismus. Daß Fräulein Derk unter den Einwohnern, namentlich den alteingesessenen solchen, als Hexe galt, hatte eigentlich keinen wirklich faßbaren Grund. (...) In Tirol, sollte man meinen, schreckt ein Aussehen wie das von Fräulein Derk wenig. In Tirol, sollte man meinen, ist man anderes gewohnt. In Tirol und nur in Tirol gibt es jene knorrehigen Bäuerinnen, jene kürbiskröpfigen Sennerinnen, jene kaminwurzteufelischen Austrägerinnen, jene selbst in ihrer Jugend ruchranzigen Stutzdämoninnen, jene weiblichen Grantechsen, schmeißfliegenfarbigen Furzheuschrecken, die jeden, der nicht Tiroler ist, sofort in die Flucht schlagen, deren Anblick sofortigen Knieschwamm und lebenslange Traumata verursacht, von denen selbst inbrünstige Lourdes-Wallfahrten nicht befreien. Nichts davon eignete Fräulein Derk. Gut, sie war häßlich, alterslos faltig - aber gegen die drachischen Tiroler Ursaueierinnen... (Herbert Rosendorfer: Der China-Schmitt. Neue Geschichten, S. 44)


Der Meister [1]

  Er sei dabei, rückte er dann heraus, ein Buch über Jean Sibelius zu schreiben. Der Meister zuckte zusammen. Adorno lebte damals noch. Das sagt wohl alles. Sibelius wurde in der Musikwissenschaft so wenig erwähnt wie der Teufel im Credo. (...) Sibelius und Adorno. Damals war Adorno so etwas wie die alleinseligmachende Weltsicht. "Papst der Geisteswissenschaften" wäre keine ausreichende Bezeichnung gewesen. Demiurg der Ewigen Wahrheit. Das war Adorno. Wer nicht in seinen Arbeiten Adorno zitierte, war weg vom Fenster. Wer etwas gegen Adorno zu sagen wagte, galt als wissenschaftlicher Underdog. Nicht nur wissenschaftlich, auch gesellschaftlich. "Darf ich Sie zu einem Drink einladen?" "Bitte lassen Sie mich in Frieden. Ich habe gehört, Sie mäkeln an der Frankfurter Schule herum." Oder: "Wenn du noch ein Wort gegen Adorno sagst, fliegst du aus meinem Bett." So war das damals. (Herbert Rosendorfer: Der Meister)


Die Donnerstage des Oberstaatsanwalts [1]

  Schon T.S. Eliot hat in dem Buch, ich schwanke, ob ich es bewundern oder als Verrat betrachten soll, 'Old Possum Book Of Practical Cats' dargelegt - verraten? -, daß wir Katzen immer drei Namen haben: einen für den wie erwähnt menschlich-öffentlichen Bereich, in meinem Fall Mimmi, dann einen Namen, den wir im Verkehr zwischen Katze und Katze gebrauchen, dieser mein Name ist Wetterleuchte, und dann habe ich noch einen ganz geheimen Namen, den nur ich selbst kenne und an den ich denke - so Mr. Eliot -, wenn ich schnurre. Selbstverständlich nenne ich diesen Namen nicht. Es ist damit außerdem so wie mit dem Geheimnamen, den jeder Jude hat, und nur bei diesem Geheimnamen könnte man ihn wirksam verfluchen. (Herbert Rosendorfer: Die Donnerstage des Oberstaatsanwalts)


Die Donnerstage des Oberstaatsanwalts [2]

  Er hatte an dem Nachmittag ein Zerwürfnis ernsterer Art mit seiner, wie er es nannte, derzeitigen 'Favoritin', hatte sich geärgert und beschlossen, den Lebensgroll in Lebensfreude zu verwandeln. Er öffnete - er vertrat damals einen persischen Halbmafioso in Rechtssachen und hatte so Zugang zu persischem Kaviar imperialer Qualität zu Minimalpreisen - eine Zweihundert-Gramm-Dose Kaviar, löffelte sie aus und trank dazu zwei Flaschen 'Joannes-Liote'; der Lebensgroll war weitgehend niedergeknüppelt. (Herbert Rosendorfer: Die Donnerstage des Oberstaatsanwalts)


Rosendorfer, Herbert: Großes Solo für Anton

  Es ist schwer genug, mit der Lektüre eines Buches anzufangen. Ein ungelesenes Buch sträubt sich mitunter gegen das Gelesenwerden. Der ungelesene Inhalt stemmt sich über die erste Seite hinaus dem Leser entgegen. Man muß den Widerstand brechen (es gibt auch andere, sozusagen feile und geile Bücher, die den Leser ansaugen; ob das die besseren sind, ist noch die Frage), man muß eine Bresche schlagen, das Vertrauen der ersten Seiten gewinnen, die dann, wenn sie einmal beruhigt und mit ihrem Schicksal, gelesen zu werden, zufrieden hinter einem liegen und einem den Rücken stärken, den Leser den weiter hinten liegenden Seiten als harmlos und ungefählich weiterempfehlen. Und wenn man einmal die Mitte eines Buches überschritten hat, fühlt man sogar einen leisen Druck in den Rücken. Die letzten Kapitel, die letzten Seiten weichen zurück, zur Seite, das Buch will den Leser nach hinten loswerden, verdaut haben oder absondern, so daß es sich wieder schließen und seine Wunde vernarben kann. In einem anderen Exemplar des gleichen Buches, das man angefangen hat, weiterzulesen, ist fast unmöglich. Da sträuben sich die schon gelesenen, aber eben in diesem Exemplar nicht gelesenen Seiten von vorn und zwingen den Leser mit dieser nahezu allmächtigen Zange förmlich aus dem Buch hinaus.


Rosendorfer: Absterbende Gemütlichkeit

  Kühne hatte das Buch gelesen und war angetan gewesen. Sergio Kreisler, der erfolglose Dramatiker, sah es bei ihm liegen und blätterte darin. "Es könnte", sagte Kühne, "eine wirkliche Lebenshilfe sein. Gar nicht so schlecht." "Das Buch ist ein Blödsinnn", sagte Kreisler. "Aber in Amerika ein Bestseller!" sagte Kühne. "Was ist nicht in Amerika alles ein beststeller", sagte Kreisler. "Deine Werke jedenfalls nicht", sagte Kühne. Kreisler überging das, griff wieder nach dem Buch. "Wenn einer darauf angewiesen wäre, mit dem Buch auf dem Land zu überleben und gar einen Bauernhof zu bewirtschaften, dann ginge er baden." Kreisler schlug das Stichwort "fence" auf: Wie man einen Zaun zieht, las er laut vor und lachte. "Der das geschrieben hat, hat noch nie weinen Zaun gezogen. Ich möchte mir das nicht antun, das Stichwort Melken zu lesen." "Und wie kommt es, daß es doch ein Bestseller ist?" "Das kommt daher, daß es Leute kaufen, die vorhaben,. aufs Land zu ziehen, und es doch nicht tun. Die meisten Leute tun nie das, was sie vorhaben. Höchstens: sie kaufen ein Buch darüber. Wenn sie das Buch gelesen haben, haben sie das Gefühl, sie hätten getan, was sie vorgehabt haben. Gilt bvor allem für Gesundheits-Ratgeber." Kühne erwähnte diese Gedanken Rommerskirchen gegenüber, ohne die Quelle anzugeben, aber, dachte Kühne, wahrscheinlich kennt der Lektor Sergio Kreisler ohnedies nicht. "Das macht gar nichts", sagte Rommerskirchen, "die sollen auch gar nicht aufs Land ziehen. Wäre kaum wünschenswert. Wir rechnen mit einer Auflage von 100.000. Wenn die alle aufs Land zögen, gäbe es 100.000, die keine Bücher mehr kaufen. (Herbert Rosendorfer: Absterbende Gemütlichkeit. Zwölf Geschichten aus der Mitte der Welt, S. 202f.)


Rosendorfer, Herbert: Volksschriftsteller

  Graf ist deshalb kein Volksschriftsteller, weil es überhaupt keine Volksschriftsteller gibt. Das Volk liest nicht, und wenn, dann allenfalls Groschenromane. Selbst die Bücher Karl Mays und die der Courth-Mahler sind Vergnügungen nostalgischer Intellektueller geworden. (...) Volksschriftsteller? Man kann nicht pessimistisch genug sein. Es sei denn, man bezeichnet einen Schriftsteller als Volksschriftsteller, wenn man wünscht, daß das Volk ihn läse. Dann wäre Graf ein Volkschriftsteller geworden. (Nachwort zu "Die Ehe des Herrn Bolwieser von Oskar Maria Graf)


Rosendorfer: Wortklauber

  Der Jurist ist darauf angewiesen, bis auf das Komma genau das Wort zu betrachten. Ein falsch gesetztes Komma oder ein falsch verwendetes Wort - ich habe das oft genug erlebt - kann ein Gesetz, einen Vertrag oder ein Urteil mißverständlich machen. Beim Schriftsteller versteht es sich von selbst, daß er ein Wortklauber sein und auf das Wort sehen muß. Ein einziges falsches Wort kann ein ganzes Gedicht zunichte machen, und dreißig falsche Wörter können einen Roman verfaulen lassen. Das ist der äußere Grund: Man ist im besten Sinne Wortklauber. (in einem Fernsehinterview)


Rosendorfer, Herbert: Lexika

  Als der Pertelin Eugen einmal zu Weihnachten oder zum Geburtstag ein vierbändiges Lexikon geschenkt bekam (ich selber besaß ein ganz schmales einbändiges, dennoch ein Evangelium für mich), besuchte ich ihn, um dieses Wunderlexikon zu besichtigen. Ich glaube, wenn man mir damals den großen, alten, einundzwanzigbändigen Meyer geschenkt hätte - ich hätte vor Freude nicht mehr geglaubt, ich selber zu sein. Aber das habe ich nie bekommen. So ist das Leben. Man bekommt nie das, was man wirklich will, oder jedenfalls nicht zur rechten Zeit. Jetzt, heute, habe ich nicht nur den alten Meyer, den alten Brockhaus, den neuen Brockhaus, einen mittleren Brockhaus, den neuen Meyer, die Paulysche Realenzyklopädie klassischer Alterumswissenschaften, das Lexikion des Mittelalters, den Riemann, die MGG, das Philosophisch-historische Reallexikon... das ist alles schön und gut, nur: damals, damals wäre ich glücklich darüber gewesen. Man soll Kindern alles schenken, was sie glücklich macht. Nur Kindern können wirklich glücklich sein. (Herbert Rosendorfer: Eichkatzelried, S. 78f.)


Rosendorfer, Herbert: Das leichte Schreiben

  Schriftsteller werden wollte ich nie. Ich habe das Schreiben, das jeder in der Schule lernt, nie als etwas Besonderes betrachtet und glaube auch heute noch, daß man - und besonders die Schriftsteller - zu viel Aufhebens davon macht. Die Gesetze der deutschen Sprache kann man lernen, sich einen Stil anzueignen ist nicht Sache eines Talents, und Einfälle zu haben, das weiß ich nun wirklich aus eigener Erfahrung, kann man sich anerziehen. Ich glaube nicht an das poetische Talent. Aber - pflege ich dem hinzuzufügen, wenn ich derlei Äußerungen von mir gebe, die in der Regel als Koketterie gewertet werden, und bei denen mir meist niemand glaubt, daß es mir ernst ist - aber: ich bin natürlich froh darüber, daß so wenige wissen, wie leicht das Schreiben ist. (Herbert Rosendorfer: Eichkatzelried, S. 136)


Rosendorfer, Herbert: Der Spiegel

  Die Deutschen meinen zwar, der Spiegel sei das unfehlbare Blatt, aber das stimmt nicht. Das redet der Spiegel seinen Lesern nur ein. Das wäre nicht schlimm. Schlimm ist: die Leute vom Spiegel haben das mit ihrer Unfehlbarkeit ihren Lesern so lang eingeredet, daß sie - die Redakteure es inzwischen selber glauben. Kann sein: in der Bild-Zeitung wird der meiste Blödsinn geschrieben, mag sein, aber gleich danach kommt der Spiegel. Die Gartenlaube des ambitionierten Kleinbürgers." (Herbert Rosendorfer: Das Messingherz, S. 34)


Rosendorfer, Herbert: Neue Zürcher Zeitung

  Dr. Jacobi bot Kessel einen Platz auf dem Sofa an, auf dem er selber damals gelegen hatte, und räumte den Stapel Zeitungen beiseite. "Lesen Sie sie von A bis Z?" fragte Kessel. "Nein", sagte Dr. Jacobi, "das nicht. Von der Wirtschaft und von den Börsennachrichten verstehe ich zuwendig, die Todesanzeigen und den Zürcher Lokalteil lese ich nur ab und zu, dann aber laut in Schwyzerdütsch, zu meiner Erheiterung." "Können Sie Schwyzerdütsch?" "Ich war während des Krieges in Einsiedeln", sagte Dr. Jacobi, aber so knapp und in einem so anderen Ton, daß Kessel merkte, der alte Mann wollte nicht über die näheren Umstände gefragt werden. "Ja - aber das Übrige lese ich. Das Feuilleton, um mich in höhere geistige Welten zu erheben oder auch, um zu staunen, wie wenig ich weiß und wieviel die anderen. Nein: das ist eigentlich nicht richtig. Das Feuilleton ist nie herablassend, vielleicht ist das das Geheimnis dieser Zeitung. Wenn Sie die Feuilletons der Süddeutschen oder der Frankfurter oder der Zeit lesen, haben Sie immer das Gefühl, ein Experte streut Ihnen aus schwindelnder Höhe ein paar Brosamen auf den Kopf. Dabei dürfen Sie nicht hinter die Kulissen sehen. Das sind nämlich gar keine Experten. Das Gegenteil von Experten. Wissen Sie, was das Gegenteil von einem Experten ist? Der Journalist. Beim Feuilleton der Neuen Zürcher hat man zwar auch das Gefühl, man weiß gar nichts, aber gleichzeitig hat man das Gefühl, man sitzt mit Leuten, die wirklich etwas von dem verstehen, was sie schreiben, an einem Tisch. Gepflegte Allgemeinverständlichkeit. Die deutschen Feuilletonisten glauben offenbar immer, sie vergeben sich etwas, wenn man sie versteht." (Herbert Rosendorfer: Das Messingherz, S. 376)


Rosendorfer, Herbert: Leihbücherei

  Er las Bücher aus der 'Leihbücherei' des Herrn Kießguth in Yrwent. Zweimal in der Woche humpelte er dorthin. Für die Stunde Fußmarsch brauchte er das doppelte. Manchmal nahm ihn ein Fuhrwerk mit. Er las zunächst, was ihm der Inhaber der Leihbücherei empfahl, ein ausgemergeltes Männchen, das einen Staubmantel in exakt der sandgelben Farbe trug, wie die Bücher eingebunden waren: 'Die Borgia-Trilogie, Irene von Trapezunt, Das herrliche Leben', aber dann auch 'Vom Winde verweht' und 'Menschen im Hotel'. Als das alles gelesen war, schnaubte Herr Kießguth, rümpfte die Nase, schaute über seine Brille die Regale entlang und sagte: - hm, hm, was lesen wir jetzt, was lesen wir jetzt...? Toni bekam Band für Band die Werke Peter Roseggers. Toni mußte sich an den veränderten Ton erst gewöhnen, aber dann gefiel er ihm. Als er Rosegger ausgelesen hatte, schnaubte Herr Kießguth wieder und holte nun ganz oben einen Band herunter, fast wie neu, selten ausgeliehen. - Ganz schwere Kost, sagte Herr Kießguth, 'Schuld und Sühne'. Toni las es zweimal (mußte extra nach Yrwent, um verlängern zu lassen), verlangte mehr von diesem Autor, las alles. Einmal, ein einziges Mal meinte er, erklären zu müssen, warum er das so gern las und sagte zu Herrn Kießguth: "- es kommt mir vor, der schreibt über mich." "Ha?" sagte Herr Kießguth, der nicht nur schmalbrüstig, sondern auch schwerhörig war. "Nix, nix", sagte der Toni. (Herbert Rosendorfer: Vier Jahreszeiten im Yrwental, S. 153)


Rosendorfer, Herbert: Vor- und Nachwörter

  Vor- und Nachwörter sind etwas ganz anderes: sie sind eine Art Rahmen, eine Höflichkeit gegenüber dem Leser. Man will nicht mit der Tür ins Haus fallen, man will aber auch nicht dem Autor das letzte Wort lassen. Wenn schon kein Nachwort folgt, dann kommen wenigstens noch Verlagsanzeigen über andere Bücher Bücher des Autors im selben Verlag, oder Bücher anderer Autoren - da sich Leser ja immer nur zögernd der Lektüre eines Buches nähern und jede Gelegenheit ergreifen, zunächst auf andere Unterhaltungen auszuweichen, lesen Leser zuallererst diese meist ansprechender als der Text gehaltenen Verlagshinweise, in denen in süffiger Art auf die Vorzüge eines weiteren Buches hingewiesen wird, und nicht selten schlägt sich der Leser (der ja noch gar nicht Leser war, jedenfalls nicht dieses Buches) an den Kopf und den Buchdeckel zu und kauft das andere Buch und liest dort die Verlagsanzeigen - dem Verlag ist es ohnehin wichtiger, daß Bücher gekauft, als daß sie gelesen werden. (Herbert Rosendorfer: Die Schönschreibübungen des Gilbert Hasdrubal Koch, S. 232)


Rosendorfer, Herbert: Kulturzentralismus

  Die Kulturzentren der Renaissance in Italien waren oft lächerliche Kleinstädte: Ferrara, Modena, Urbino - selbst Mailand war damals ein Nest für heutige Begriffe, Rom hatte 100.000 Einwohner. Die deutsche Literatur in ihrer großen Zeit, auch die Philosophie, entstand in Provinzstädten: Goethe lebte in Weimar, Schiller in Jena, beide kleiner als heute Kitzbühel, Kant lebte in Königsberg, die Brüder Grimm in Göttingen, Lessing in Wolfenbüttel, Stifter in Linz. Erst mit dem explosionsartigen Anwachsen der Hauptstädte im Industriezeitalter bildete sich der Kulturzentralismus aus. (Herbert Rosendorfer: Die Erfindung des SommerWinters, S. 91f.)


Rosendorfer, Herbert: Keine affirmative Kunst

  Das sogenannte Positive in der Literatur gibt es nämlich nicht, oder: es gibt das Positive schon, aber das Positive der Literatur ist das Negative, insofern, als man unter 'Kritik' etwas kategorisch Negatives sieht. Sogenannte Positive Literatur gibt es nicht, weil Literatur wie alle Kunst moralisch und daher kritisch ist: kritisch dem von Natur aus unmoralischen Menschen gegenüber, vor allem aber den auch von Natur aus (ihrem ungebremsten Willen nach) amoralischen Gesellschaftssystemen gegenüber. Daher gibt es keine wirklich affirmative Kunst oder deutlicher gesagt: keine wirkliche Kunst, die affirmativ ist. Das bedauern alle Kirchen und staatstragenden Systeme und so fort, aber dem wird nie abzuhelfen sein. Alles, was an affirmativer Kunst je entstanden ist: die panegyrische Hofkunst der Barocke, die religiöse Andachtskunst, die bürgerschmeichelnde Beruhigungskunst des XIX. Jahrhunderts, die faschistische Staatskunst, der Sozialistische Realismus, alles erweist sich entweder bei gehörigem Zeitabstand oder bei genauerem Besehen als Schrott. (Herbert Rosendorfer: Die Erfindung des SommerWinters, S. 201)


Rosendorfer, Herbert: Juristen unter den Autoren

  Ich habe immer nur Prosa geschrieben, seit dem 'Ruinenbaumeister' von 1969 insgesamt 23 Bände mit Erzählungen und Romanen, auch eine beinharte historische Biographie ist darunter. Die Zahl weiß ich, nicht weil ich eine Strichliste führe, sondern weil ich sie unlängst im Zug einer juristischen Auseinandersetzung mit meinem Ex-Verleger gezählt habe. Ich vermute, daß die große Zahl der Juristen unter den Schriftstellern (allein unter den deutschsprachigen habe ich einmal nahezu 100 eruiert) darauf zurückzuführen ist, daß für die Auseinandersetzung mit Verlegern die juristische Ausbildung dienlicher ist als literarische Qualität. "Man kann gegen Napoleon sagen, was man will", hat Roda Rioda gesagt, "immerhin hat er einen deutschen Verleger erschießen lassen." (Herbert Rosendorfer: Die Erfindung des SommerWinters, S. 207)


Rosendorfer, Herbert: Dichterlesung

  Der Dichter - ich habe seinen Namen bisher nicht etwa verschwiegen, er ist mir vielmehr, wenn ich ihn überhaupt je gekannt habe, entfallen - zog danach aus der Aktentasche eine dicke Papiermappe (ich weiß es wie heute) mit vielen verknitterten, gelblichen Blättern, die - häufig mit Tintenkorrekturen versehen - eng bis an alle Ränder mit Schreibmaschine vollgetippt waren. Er blätterte hin und her und las dann aus dieser und jener Seite etwas vor: eine Stunde lang. Dann wurde mein kleiner Vetter, der als einziger hellwach geblieben war, ins Bett gebracht. Danach las der Dichter weitere zwei Stunden. Ich will die sehr summarische Kritik meines Großvaters vorwegnehmen. Sie lautete: "Das war kein Humorist." Mein Großvater war der strengen, vielleicht nicht unhaltbaren Auffassung, daß Literatur nur dann kein Firlefanz sei, wenn sie ihn - freiwillig oder unfreiwillig - zum Lachen reizen konnte. (Herbert Rosendorfer: Eichkatzelried, S. 12)


Rosendorfer, Herbert: Lektüre von Werkverzeichnissen

  Auf die Frage nach der lateinischen Messe von Brahms antwortete der Meister ohne eine Sekunde des Nachdenkens, daß - erstens - Herr Professor Goblitz das hätte wissen müssen (wußte es aber nicht) und daß man bloß im Brahms-Werke-Verzeichnis von McCorkle nachzuschauen brauche. Er erinnere sich sogar, habe der Meister damals gesagt, auf so etwas gestoßen zu sein - bei seiner Lektüre des Werkverzeichnisses... Gibt es so etwas, daß einer das Brahms- Werkverzeichnis liest? Als Lektüre? Wie einen Roman? Schmieder - BWV (Bach-Werke-Verzeichnis)? Köchelverzeichnis (Mozart)? Deutsch-Verzeichnis (Schubert)? Kinsky-Halm (Beethoven)? Ja, gibt es, zumindest einen: den Meister. Er gestand mir einmal, daß er gern vor dem Einschlafen noch im Bett ein Werkverzeichnis zur Hand nehme, sich an ein paar Seiten vergnüge - zum Beispiel Jähns Verzeichnis der Werke Carl Maria von Webers. Selbstverständlich konnte es sich der Meister nicht leisten, die teuren Werke zu kaufen. Er lieh sie sich aus der chaotischen Institutsbibliothek aus, die selteneren aus der Staatsbibliothek. (Herbert Rosendorfer: Der Meister)


Rosendorfer, Herbert: Agatha Christie

  Ich bin, im Gegensatz zu meiner Frau, kein Leser von Kriminalromanen. Meine Frau schon, wie Sie vielleicht ohnedies wissen. Vielleicht hängt das damit zusammen, daß sie Anglistin ist. Sie liest die Kriminalromane in der Sprache, in der sie gelesen gehören: auf Englisch. Dort und in dieser Sprache liegen Kriminalromane literarisch gesprochen, sagt meine Frau, auf der Leiste ganz oben, gleich unterhalb von Shakespeare. Wohlgemerkt englische Kriminalromane, nicht amerikanische. Die sind nur mit der Faust geschrieben, während die englischen sozusagen ins karierte Plaid gewickelt am Kaminfeuer beim Tee verfaßt werden. Die Dantessa Alighieressa des Kriminalromans ist, so jedenfalls die, wie ich mir durchaus vorstellen kann, begründete Meinung meiner Frau, ist Agatha Christie. (Herbert Rosendorfer: Die Donnerstage des Oberstaatsanwalts)


Rosendorfer, Herbert: Buchinvalide

  "... hatte ich genug Zeit, um die Kiste vor der Buchhandlung gründlich zu durchwühlen. Den ersten Band von Du Moulin-Eckarts Cosima-Wagner-Biographie fand ich nicht, wohl aber ein Buch, das mich nicht interesierte, das mir vielmehr leid tat. Bücher sind für mich Wesen. Ich versteige mich nicht dazu zu sagen: lebendige Wesen, wohl aber: Wesen. Sie sind mehr als daß sie bloß seien. Sie wesen eben. Ich hoffe, Sie verstehen. Das Buch, das ich dort im Wühlkasten fand, war ein schwer verletztes, verwundetes Buch. Es war sicherlich broschiert gewesen. Der Deckel fehlte, ebenso der hintere Deckel, es fehlten alle Seiten, wie viele, war selbstverständlich nicht festzustellen, es hörte, wenn ich mich recht erinnere, bei Seite 122 oder 124 auf, und auch von dieser letzten Seite war ein schräges Stück herausgerissen, so als ob irgend jemand ganz rasch ein Papier gebraucht hätte, um eine Notiz festzuhalten." (...) "Das beschädigte, verwundete Buch kostete zwanzig Pfennig. Der Buchhändler, offenbar von grünem Geiz geplagt, hatte sich die Mühe gemacht, diesen Preis sogar auf dem Buch, auf dessen erster Seite, die, wie gesagt, die dreizehnte war, mit Bleistift oben rechts zu vermerken. Ein weniger oder überhaupt nicht geiziger Buchhändler hätte diesen Buchinvaliden womöglich weggeworfen - herzlos, aber vernünftig. Ich segne also den Geiz jenes Buchhändlers, denn ohne diesen Geiz könnte ich Ihnen diese Geschichte nicht erzählen. "Ein großer Verlag verramschte damals Tonnen von soziologisch- philosophischem Schwachsinn linker Langeweile. In dem Wühlkasten verstaubten nur Werke jenes Herrn Schlotterbein oder wie er heißt, dessen Namen und gar wiederum dessen genaue Schreibweise mir zu merken ich mich weigere. Ihn als Philosophen zu bezeichnen beleidigt alle von Permenides bis Schopenhauer. Ich kaufte also den Invaliden, ging zum Zug, fuhr ab und las. An sich hatte ich, wie immer, ausreichend Lektüre dabei. Ich wüßte nicht mehr zu sagen, was ich damals gerade las, doch das stellte ich zurück, denn das bejammernswerte Buch... Sie kennen das ja, ich wollte es nicht beleidigen, indem ich zugab, es nur aus Mitleid gekauft zu haben. Ich heuchelte dem Buch gegenüber Interesse und schlug es auf, das heißt: Ich brauchte es ja nicht aufzuschlagen, denn die erste zu lesende Seite lag wie eine offene Wunde obenauf... (Herbert Rosendorfer: Die Donnerstage des Oberstaatsanwalts)


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