Lebensstufen (1) [>>]

Von der Wiege bis an die Bahre [^^] [^]


Themenstreusel: Lebensstufen
Themen-FAB: Das Alter
Um die 40
Nun als Erwachsener
Immer mehr auf dem Buckel
Entzauberung der Jugend
Verlust der Kindheit
Pubertät (2)
Pubertät (1)
Waldorf
Die zweite Hälfte anders leben
Hierarchie
Das Leben in seiner Gesamtheit
Von noch nichts wissen
Die Unschuld der Kinder
Das Wannenende berühren
Das mittlere Alter
Mit 7 Jahren
Die Brotdose
Vertrieben aus dem Paradies
Ein erstaunliches Unvermögen
Ein paar Flügelschläge
Tochter in der Pubertät
Ein Zustand der Unbestimmtheit
Un es jeht ooch allens noch
Nachlassende Energien
Lebenszeit, Lebensgefühl
Beginnendes Alter
Doppelte Sichtweise
Hauptwasserscheide
Der unendliche Spielplatz
Die Sache mit dem Kindermachen
Erkenntnis des Sich-Wandelns
Stolpersteine des Alters
Der Geruch des Alters
Endstation Pflegeheim
Mit 14 Jahren
Lebensträume
Über 70
Walter Vogt: Altern (2)
Walter Vogt: Altern (1)
Der Ernst des Alters
Die Zeit aufhalten
Grenzalter und Pufferzone
Adrenalin in alten Adern
Erwachsen sein
Forever Young
Das Knacken des seelischen Rückgrates
Fünzig Jahre alt!
Hausgeburt
Verlust von Eigenschaften
Unliebsame Zeugenschaft
Erkenntnis der Reife
Werden und Verschwinden
Belohnung?
Sportlicher Rückzug
Andere Schüler
Zauber einfacher Anschauung
Gruftgeneration
Dumme Angewöhnung
Verengter Horizont
Zu müde, um weiterzukraxeln
Altersfrei
Jugend und Alter
Zeitlos
In der Kindheit
Mechanische Dressur
Schule, die Hölle
Mühe bis in den Tod
Alt werden
Jugendstürme
Ein Kriterium
Vorpubertät
Bei der Geburt
Die ersten Prägungen
Weder Fisch noch Fleisch
Was noch blieb...
Im Alter
Geister der Kindheit
Ein Rückzug
Höheres Geschehen
Über die Generationen hinweg
Verstecken und zeigen
Altersdemenz
Seine Hohheit, das Kind
Babyexistenz
Erste Einsichten
Schutzringe
Pläne
In Knospen ausbrechen
Nichts als Alter
In den Wechseljahren
Zwischen 20 und 40
Zusammenschrumpeln
Ende der Kindheit
Unsere Jugend
Nichts Gutes daran
Liebesentzug kann tödlich sein


Um die 40

Bellas Gesicht begann zu altern; die Muskeln verloren an Spannkraft; unter dem Puder und der Creme sah Helene Falten zum Vorschein kommen, die vom klebrigen Überzug der Schminke nicht mehr verdeckt werden konnten und in den Augenwinkeln, über den Lippen und an den Schläfen als feine und tiefe Linien hervortraten. Die bemalte Oberfläche ihres Gesichts bekam Risse, verlor ihr glattes, cemiges Aussehen, wurde körnig, gröber, rauher. Unter dem Kinn zeigte sich die dreifache Furche der Frauen um die Vierzig. (Irène Némirovsky: Die süße Einsamkeit) ^


Nun als Erwachsener

Du bist eigentlich immer noch ein Kind, doch alle sehen nur einen Erwachsenen in dir, den man leichter treten kann als einen, der älter und erfahrener ist. Niemand will dich mehr beschützen. Du bekommst ständig neue Aufgaben aufgehalst. Niemand fragt dich, ob du irgendetwas verstanden hast von dem, was du neuerdings zu tun hast. Richtig schlimm wird es nach der Heirat. Plötzlich bist du nicht nur für dich, sondern auch für andere verantwortlich, und es werden immer mehr, die auf deinem Buckel mitfahren wollen. In deinem Herzen bist du aber noch das Kind, das du schon immer warst, und du bleibst es noch lange. Wenn du Glück hast, wirst du halbwegs erwachsen, wenn du alt bist. Dann erst bist du in der Lage, Mitleid für diejenigen zu empfinden, die jung sind. Vorher beneidest du sie, warum auch immer. (Alina Bronsky: Baba Dunjas letzte Liebe) ^


Immer mehr auf dem Buckel

Du bist eigentlich immer noch ein Kind, doch alle sehen nur einen Erwachsenen in dir, den man leichter treten kann als einen, der älter und erfahrener ist. Niemand will dich mehr beschützen. Du bekommst ständig neue Aufgaben aufgehalst. Niemand fragt dich, ob du irgendetwas verstanden hast von dem, was du neuerdings zu tun hast. Richtig schlimm wird es nach der heirat. Plötzlich bist du nicht nur für dich, sondern auch für andere verantwortlich, und es werden immer mehr, die auf deinem Buckel mitfahren wollen. In deinem Herzen bist du aber noch das Kind, das du schon immer warst, und du bleibst es noch lange. Wenn du Glück hast, wirst du halbwegs erwachsen, wenn du alt bist. Dann erst bist du in der Lage, Mitleid für diejenigen zu empfinden, die jung sind. Vorher beneidest du sie, warum auch immer. (Alina Bronsky: Baba Dunjas letzte Liebe) ^


Entzauberung der Jugend

Er wusste nicht, welch weites Land, karg und gefährlich, der Mensch auf seiner Lebensreise durchqueren muss, ehe er dazu gelangt, diese Wirklichkeit zu akzeptieren. Dass die Jugend glücklich ist, ist eine Illusion, und zwar derer, die nicht mehr jung sind; aber die Jungen wissen, dass sie unglücklich sind, denn sie sind voller vorgegaukelter Ideale, und jedes Mal, wenn sie auf die Realität treffen, gehen sie daraus mit Schrammen und Wunden hervor. Es ist, als wären sie die Opfer einer Verschwörung; denn die Bücher, die sie lesen, und die Gespräche der Älteren, die durch den rosigen Nebel der Vergesslichkeit auf die Vergangenheit zurückblicken, bereiten sie auf ein unwirkliches Leben vor. Sie müssen selbst herausfinden, dass alles, was sie gelesen haben, und alles, was ihnen erzählt wurde, nichts weiter ist als Lügen; jede dieser Entdeckungen ist ein weiterer Nagel, der in den Körper am Kreuz des Lebens geschlagen wird. (W. Somerset Maugham: Der Menschen Hörigkeit)


Verlust der Kindheit

Sie schüttelte seine Hand ab. "Ich will nicht", schluchzte sie, "ich will keine Frau sein." (...) Sie weinte, weil sie eingesperrt war in diesen entfremdeten Körper, preisgegeben seinen Funktionen, und weil sie sich ihrer Brüste schämte, der Haare in ihren Achselhöhlen, dieses ganzen unheimlichen Gewebes Haut, das Blicke und Berührungen ahnte. Sie bweinte einen Verlust ohne Namen. Später wird sie auf der Straße stehenbleiben, von einem aschenen Windstoß, einem süßlichen Akazienduft getroffen, wird die feuchte Spur einer Schnecke auf einem Hutlattichblatt, den Torkelflug eines zitronengelben Schmetterlings verfolgen, dem Ächzen einer Holzstufe, einem gebrochenen Knabenschrei, dem Westminster-Geläut einer alten Uhr lauschen, die laue Wärme einer Schulter empfangen, ein blaues Band wiedererkennen, und sie wird, für Augenblicke, dem Verlorenen ganz nahe sein und zurücksuchen, wie man sich am Morgen eines Traums zu erinnern sucht, vergessen, vergessen, und wird ihm den Namen Kindheit geben. (Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand)


Pubertät (2)

Er schlug die Tür hinter sich zu und stieß dabei eine Art Knurren aus. Er war fünfzehn. Das hieß, er gehörte zu einer Untergruppe der Menschen, die "Teenager" genannt wurden. Zu ihren Haupteigenschaften gehörten eine geschwächte Widerstandsfähigkeit gegen die Schwerkraft, eine Sprache, die vornehmlich aus Grunzen bestand, ein Mangel an räumlichem Bewusstsein, eine Vorliebe für Masturbation und ein unstillbarer Appetit auf Frühstücksflocken. (Matt Haig: Ich und die Menschen)


Pubertät (1)

"Ich nehme an, er brennt darauf loszulegen?" sagte Landen, als ich die Treppe herunterkam. "Klar, sagte ich. "Ich mußte ihn in seinem Zimmer einschließen, um seinen Enthusiasmus zu bremsen. Er wirkte wie eine erschöpfte Schnecke, die Beruhigungsmittel geschluckt hat." "Komisch", sagte Landen und reichte mir meinen Tee. "Woher hat er das bloß? Ich war nicht so schlapp, als ich in seinem Alter war." "Ach, das ist das moderne Leben. Aber mach dir keine Sorgen. Er ist ja erst sechzehn. Das änderte sich noch gewaltig." "Das will ich hoffen." (Jasper Fforde: Irgendwo ganz anders, S. 18)


Waldorf

Meine Mutter hätte mich gerne auf die Waldorfschule geschickt, wohl weil sie selbst eine besucht hatte. Doch mein Vater ließ das nicht zu, vielleicht sein größter Beitrag zu meiner Erziehung. Eingeklemmt zwischen mütterlicher Neigung und väterlichem Verbot, verharrte ich jedenfalls in genau der unverbindlichen Nähe zum anthroposophischen Milieu, in der abschätzige Vorurteile besonders gut gedeihen. Und Nahrung boten die Freaks wahrlich genug: Bauklötze, mit denen sich nichts bauen ließ; Wachsmalbilder, die aussahen, als hätte man gläserweise Milch und Honig über ihnen ausgeschüttet; Buchstabentänze, die immer wieder nur die Zeichenfolge H-A-U-A-B-Ausrufezeichen zu wiederholen schienen; Gebäude, die Lust auf den Atomkrieg machten; eine butterweiche Flüstersprache ohne Syntax und Grammatik; aus rosa Watte und lila Filz gewalkte Schutzengelpuppen; bei Vollmond gemolkene Vollmilch mit einer Fettschicht wie Kuhschnupfen; restlos zuckerfreie Ernährung für gesunde Kinder, reine Zuckerkügelchen und rückstandsfreien Alkohol für kranke. (Per Leo: Flut und Boden)


Die zweite Hälfte anders leben

Gleichzeitig setzt bei vielen von ihnen ein Ermüdungseffekt ein. Sie haben mehr als zwanzig Arbeitsjahre hinter sich, und fast dieselbe Zeit steht ihnen noch bevor. Da fragt sich mancher, ob er das noch schafft oder schaffen will. Deshalb ist die Lebensmitte für viele Menschen ein guter Zeitpunkt, um zu überlegen, ob sie weiterleben wollen wie bisher oder die Chance ergreifen wollen, etwas Neues zu beginnen. Der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung hat einmal gesagt, man könne die zweite Lebenshälfe nicht nach dem Muster der ersten leben. (Die ZEIT: Ändere dich, um dir treu zu bleiben)


Hierarchie

In der Hierarchie der Altersstufen steht der Säugling an oberster Stelle, dann kommen das Kind und der Heranwachsende und erst danach der Erwachsene. Die Alten stehen ganz unten, am Fuß dieser Wertpyramide, nah bei der Erde. Und die Toten? Die Toten sind unter der Erde. Also noch tiefer unten als die Alten. Den Alten werden vorerst noch alle Menschenrechte zuerkannt. Die Toten verlieren sie von der ersten Sekunde ihres Ablebens an. (Milan Kundera: Die Unsterblichkeit)


Das Leben in seiner Gesamtheit

Als Zwanzigjähriger hat man bei aller Verwirrung und Unsicherheit über die eigenen Ziele und Absichten ein starkes Empfinden dafür, was das Leben an sich ist und was man selbst im Leben ist und womöglich werden könnte. Später ... später gibt es noch mehr Unsicherheit, mehr Überschneidungen, mehr Kehrtwendungen, mehr falsche Erinnerungen. In jungen Jahren kann man sich an sein kurzes Leben in seiner Gesamtheit erinnern. Später wird die Erinnerung etwas aus Fetzen und Flicken Zusammengestoppeltes. (Julian Barnes: Vom Ende einer Geschichte)


Von noch nichts wissen

In seiner Nähe stand eine Gruppe Jungen und Mädchen mit Rucksäcken und einer Wasserflasche, die sie herumreichten. Sie waren Touristen, ohne jeden Skrupel, lachten viel und unterhielten sich lautstark in einem englischen Dialekt, den Richard nicht verstand. Sie waren jung und unverdorben, stellte er sich vor, mit etwas Sehnsucht nach seiner eigenen Jugend, als alles noch beginnen sollte. Unverdorben war nicht das richtige Wort, unwissend oder arglos wäre pasender. Und auf einmal war man alt, und man wußte die verkehrten Dinge, und es war unmöglich geworden, in jenes Nicht- Erwachsensein zurückzukehren, als man noch von nichts wußte. (Remco Campert: Eine Liebe in Paris)


Die Unschuld der Kinder

In der Schulmeinung der Erwachsenen über die Kinder rangiert als verheerendes Vorurteil der Glaube an ihre "Primitivität". Man kann sich nicht vorstellen, daß Kinder rein spekulativ zu denken und zu kombinieren vermögen, daß sie systematisch vorgehen können, nach einem Plan auf ein Ziel hin, daß sie berechnen, abwägen, eine innere Logik besitzen, beobachten, Schlüsse ziehen, bar nicht mehr "unschuldig" sind, sondern in ihrer Methode schon erwachsen raffiniert. Die "Unschuld" des Kindes besteht nur darin, daß es im Gegensatz zu den Erwachsenen seine Handlung und Gefühle nicht moralisch drapiert und verdeckt, sondern seine Gemeinheit und Grausamkeit ohne Kaschierung durchführt. Es ist schutzloser, weil es sich noch nicht jener Hilfsmittel bedienen kann, die es den Erwachsenen gestatten, selbst ihren schlimmsten Taten einen guten Namen zu geben. (Ernst Glaeser: Jahrgang 1902)


Das Wannenende berühren

Da dachte ich, ich habe Henry nur noch ein paar Jahre als kleinen Jungen. Schon jetzt stoßen seine Füße, wenn er die Beine ausstreckt, an das Hahnende der Wanne. Ich weiß noch, wie stolz Phoebe war, als sie beide Enden der Wanne berühren konnte - "Ganz schön gewachsen!", sagte ich da zu ihr. Und ich weiß sogar noch, wie stolz ich selbst war, als ich beide Enden der Wanne berühren konnte. Ganze Generationen wachsen, bis sie beide Ende der Wanne berühren können. (Nicholson Baker: Eine Schachtel Streichhölzer, S. 67)


Das mittlere Alter

Ihr jungen Leute! Freut euch eurer Jugend nicht zu früh, denn vor euch liegt ein langer Weg voller Tücken, bis ihr die Herrlichkeit des Lebens zuletzt erreicht. Die ersten Jahrzehnte des Lebens sind ein einziger langer, zermürbender, erniedrigender Kampf, wenigstens für einen Augenblick mal den Schalthebel in die Hand zu bekommen. Jeden Tag aufs neue fallen die eigenen Wünsche über einen her. Wenn man sich endlich beruhigt und mit seinem Los abgefunden hat, ist man im mittleren Alter und dem Glück schon ein gutes Stück näher, aber noch hat man ein paar anstrengende Jahre des Sehnens und Bereuens vor sich. Und der Geschlechterkampf tritt im mittleren Alter in seine wahrhaft heiße Phase. Männer und Frauen mittleren Alters haben Angst voreinander. Die Frauen entdecken an ihren Männern und die Männer an ihren Frauen den Verfall, den sie an sich selbst nicht wahrhaben wollen. Die Folgen davon sind allgemeine Wut und Autounfälle. Wenn mittelalte Männer eine mittelalte Frau sehen, dann geben sie Gas, versuchen, sie zu schneiden, überholen sie - alles bloß, um ihrer Wut Ausdruck zu geben. In Läden stoßen sie die mittelalte Frau beiseite. Bei Partys wollen sie nicht neben ihr sitzen. Sie tun so, als sei sie nicht da. Aber wie das Fegefeuer ist auch das mittlere Alter von begrenzter Dauer. (Irene Dische: Großmama packt aus, S. 326)


Mit 7 Jahren

Mit sieben war ich der Überzeugung, alles erlebt zu haben. (...) Liebe, diesen so trefflich ins Leere geschossenen Pfeil. (...) Meine Mutter erzählte von einer Dame, die irrtümlich einen giftigen Pilz gegessen habe und daran gestorben sei. Ich fragte sie nach dem Alter dieser Dame. "Neunundvierzig", sagte sie. Siebenmal so alt wie ich - das sollte wohl ein Witz sein! Wo ist denn da das Problem, wenn einen nach einem so unsinnig langen Leben der Tod ereilt? Ein Schwindel ergriff mich bei dem Gedanken, der fatale Pilz könnte auch mich erst in einem so weit entfernten Alter finden. Mußte ich womöglich mein Leben noch siebenmal über mich ergehen lassen, bevor ich am Ende angelangt war? Um mich zu beruhigen, terminierte ich mein Ableben auf mein zwölftes Lebensjahr. Eine tiefe Erleichterung überkam mich. Zwölf war das ideale Alter, um zu sterben. Man sollte gehen, bevor der Verfallsprozess beginnt. (Amelie Nothomb: Biographie des Hungers, S. 82)


Die Brotdose

Ich erinnere mich an die Brotdose meines Onkels, ich habe sie noch vor Augen und was meine Großmutter ihm jeden Abend dort hineinlegte, denn nachts um drei stand sie nicht auf, wenn er Frühschicht hatte, da mußte J. schon allein aufstehen, sich allein anziehen und allein zum Bahnhof gehen. Wurstbrote wurden hineingelegt, in eine Ecke der Brotdose, nach einem ganz bestimmten Raumaufteilungsprinzip, und in den freigebliebenen Raum kam ein Ei, Gurke oder eine Zwiebel, und garniert wurde es mit einer Serviette. Auch mir wurden am Anfang noch Brote in die Schule mitgegeben, es war damals wie eine Reise, wenn man in die Schule oder zur Arbeit ging, man mußte gut vorbereitet sein, man sollte mittendrin körperlich nicht abfallen, man mußte etwas zur Stärkung dabeihaben, und da man unterwegs noch nichts kaufte, nahm man stets alles mit. Kaffee in Bechern gab es nirgends, dagegen wurden überall Thermoskannen benutzt, sie fanden sich in jeder Tasche, auch mein Onkel J. hatte eine solche Thermoskanne, mit Milchkaffee darin. Ein Land der Thermoskannen. Stets ein Stück Zuhause dabei. (Andreas Maier: Das Zimmer, S. 44)


Vertrieben aus dem Paradies

Wir alle waren einmal unsterblich und wußten nichts von der verrinnenden Zeit. Wir waren nämlich Kinder, und alle Kinder leben, eine kleine Weile lang, im Paradies. Wir alle haben es getan, und wir tragen alle, bis heute, eine Erinnerung an unsere Zeitlosigkeit und Unsterblichkeit in uns. Als eine Art Hintergrundecho all unseres Denkens und Fühlens. Natürlich sind wir aus dem Paradies vertrieben worden, sehr bald einmal, nämlich als wir begriffen, daß es ein Morgen gibt und ein Übermorgen, und daß der Tod nicht nur Maikäfer, Katzen und Großmütter holt, sondern auch solche wie uns. Das ist ein Schrecken, von dem wir uns für den Rest des Lebens nicht mehr erholen. An den Tod kann man sich nicht gewöhnen. Er bleibt 'der' Skandal. (Urs Widmer: Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück, S. 41)


Ein erstaunliches Unvermögen

"Wie geht's dem Baby?" "Ich glaube, es ist sehr müde", sagte seine Mutter. "Das wunderte mich nicht, bei dieser Hitze", sagte Margaret. "Ich glaube, ich habe auf dem Schiff einen Sonnenstich gekriegt. Jedenfalls bin ich völlig fertig. Lassen Sie ihn viel Wasser trinken, meine Liebe. Das ist die einzige Möglichkeit, sie abzukühlen. In dem Alter können sie noch nicht schwitzen." "Ein weiteres erstaunliches Unvermögen", sagte sein Vater. "Können nicht schwitzen, nicht laufen, nicht sprechen, nicht lesen, nicht fahren und keinen Scheck unterschreiben. Fohlen stehen schon ein paar Stunden nach der Geburt auf eigenen Beinen. Wenn Pferde sich für Bankgeschäfte interessieren würden, hätten sie innerhalb der ersten Lebenswoche einen Kreditrahmen." (Edward St. Aubyn: Muttermilch, S. 23)


Ein paar Flügelschläge

Die Fähigkeit, durch seine eigene Phantasie die Welt gestalten zu können, bedeutet eine Macht, die sich erst später als eine Illusion herausgestellt. Kleine Kinder sind ja nicht nur unsterblich, sie sind auch allmächtig. Sie sind Götter, an den Kriterien der Erwachsenen gemessen. Sie schaffen eine Welt nach ihrem Bild, erst später merken sie, daß die Welt sich nicht darum kümmert. Die Enttäuschung und die Wut darüber sind groß. Erst in diesem Augenblick wird die Allmacht eine bloße Phantasie. Eben noch ist sie, für das Kind, eine Realität gewesen. Es ist kränkend, lernen zu müssen, daß man nicht fliegen kann. Keine Einsicht hindert einen daran, manchmal, wenn man sich unbeobachtet glaubt, ein paar Flügelschläge zu probieren. (Urs Widmer: Das Normale und die Sehnsucht)


Tochter in der Pubertät

Eine Diskussion mit Tinka über die Frage, warum eigentlich Eltern ihre Kinder lieben, inwieweit selbstlos, inwieweit eigensüchtig, dabei kamen meine diversen Erziehungsfehler exakt, aber nachsichtig zur Sprache, unter anderem meine üble Angewohnheit, hin und wieder Dienstleistungen von unschuldigen Kindern zu erwarten. Mit der Ausrede, ich wertete solche Handlungen als Gradmesser der Kindesliebe, kam ich natürlich nicht durch. Tinka erklärte: Wenn ich so viel abwaschen würde, wie ich dich liebhabe, könntet ihr den ganzen Tag fressen und Geschirr dreckig machen. - Diese Beweisführung ist nicht wiederlegbar. In diesen Ferienwochen entfaltet Tinka zwischen sich und ungefähr zehn Fläzen aus ihrer Klasse einen dichten Telefonverkehr, der meistens dazu führt, daß sie nachmittags mit eben diesen zehn Jünglingen als Räuberbraut durch die Lande zieht, abends nach Rauch riecht ("die rauchen nun mal so stark" - 8. Klasse!), eine Tafel Schokolade aufißt (oder mehrere Beutel Gummibärchen) und sich mit Herrn Clementi oder Herrn Händel anlegt. Mit mir verkehrt sie meist in nachsichtigem Ton, wie er der älteren Generation angemessen ist. Taktisch klug hatte sie uns seit zwei, drei Monaten auf ihr "Absacken" in der Schule aufmerksam gemacht, und warf uns dann jetzt lässig ein Zeugnis hin, auf dem es überhaupt nur Einsen und Zweien gibt und das sie zur Zweitbesten in der Klasse qualifizierte. Kommentar dazu: Frau Schmidt sagt, ick hab noch Reserven, wenn ich was tun würde. (Frau Schmidt ist ihre Klassenlehrerin.) Berufswunsch: ich kann mich mir überhaupt nur freischaffend vorstellen! - Nun weißt du ungefähr, daß wir mindestens vier bewegten jahren entgegengehen. Mit 18 bricht meistens die erste Andeutung von Vernunft in die menschliche Psyche ein. (Christa Wolf, in: Reimann/Wolf: Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen. 1964-1973)


Ein Zustand der Unbestimmtheit

Kinder brauchen den Tod, um sich eine neue, köstlich gruselige Art von Empfindung zu verschaffen. Nein, das ist nicht ganz richtig. Sie brauchen ihn, wie sie alles andre brauchen, um den Empfindungen, die sie bereits kennen, eine besondere Form zu geben. Kannst du dich erinnern, wie heftig deine Empfindungen waren, wie intensiv du alles fühltest, als du ein Kind warst? Die Wonne von Himbeeren mit Sahne, den Ekel vor Fisch, die Höllenqual von Rizinusöl! Und die Folter, aufstehn und vor der ganzen Klasse ein Gedicht aufsagen zu müssen! Die unaussprechliche Freude, neben dem Kutscher zu sitzen, den Geruch von Pferdeschweiß und Leder in der Nase, die weiße Landstraße ins Unendliche vor sich, und zu sehen, wie die Felder von Korn und Kohlköpfen sich langsam drehten, während der Buggy vorbeirollte, und sich langsam öffneten und schlossen wie riesige Fächer! Wenn man ein Kind ist, ist der Geist eine Art gesättigter Lösung von Gefühl, eine schwebende Emulsion aller Empfindungen - aber in einem latenten Zustand, in einem Zustand der Unbestimmtheit. Manchmal sind es äußere Umstände, die als Kristallisator wirken, manchmal ist's die eigene Vorstellungskraft. (Aldous Huxley: Genie und Göttin)


Un es jeht ooch allens noch

"Man merkt doch den Unverheirateten, den Junggesellen. Und doch ist es unrecht, Kagelmann, daß Sie so geblieben sind. Ich meine, so ledig. Ein Mann wie Sie, so frisch und so gesund, und ein so gutes Geschäft. Und reich dazu. Die Leute sagen ja, Sie hätten ein Rittergut. Aber ich will es nicht wissen, Kagelmann. Ich respektiere Geheimnisse. Nur das ist wahr, Ihr Efeuhaus ist zu klein, immer vorausgesetzt, daß Sie sich noch mal anders besinnen." "Ja, kleen is es man. Aber für mir is es jroß genug, das heißt für mir alleine. Sonst... Aber ich bin ja nun all sechzig." "Sechzig. Mein Gott, sechzig. Sechzig ist ja gar kein Alter." "Nee", sagte Kagelmann. "En Alter is es eijentlich noch nich. Un es jeht ooch allens noch. Un janz jut. Un es schmeckt ooch noch. Aber viel mehr is es ooch nich. Un wen soll man denn am Ende nehmen? Sehen Se, Frau Rätin, die so for mir passen, die gefallen mir nich, un die mir gefallen, die passen wieder nich." (Theodor Fontane: L' Adultera)


Nachlassende Energien

... kommt mit dem Älterwerden und den damit oft verbundenen Desillusionierungen zu einer generellen Abschwächung des Sinnerlebens: Alles ist am Ende doch eitel und vergeblich. Dann mögen die meisten Terme unserer Energieformel zwar einigermaßen im Lot sein, und es gibt vielleicht auch Hobbys, die noch Freude machen, auch der Stress hält sich in Grenzen, es gibt keine schlimmen Fehlschläge, und dennoch trägt das Leben nun immer schwerer allein an sich selbst. (Dietmar Hansch: Erfolgreich gegen Depression und Angst)


Lebenszeit, Lebensgefühl

Ein Besucher, 77jährig, wie im Zustand der Dekomposition. Er lobt die Wissenschaft, sie habe "die Lebenszeit verlängert". Das trifft zu, aber das Lebensgefühl hält nicht mit der verlängerten Lebenszeit Schritt. Wenn jemand über die Achtzig noch hier ist, dann ist dies eher vegetatives Existieren als Leben; so einer lebt nicht mehr auf etwas hin, er lebt einfach nur. (Sandor Marai: Tagebücher 1984-1989, S. 29)


Beginnendes Alter

Vielleicht war es das beginnende Alter, was mir über die Haut kroch. Ich saß nicht mehr fest wie der Nußkern in der Schale, innerhalb der umgebenden Welt, innerhalb meiner eigenen Zielrichtungen und Interessen. Eine Randkluft hatte sich gebildet. Es klapperte. Gleichgültigkeit ergriff mich: aber dieser Griff war nicht sanft, nicht beruhigend; er war eisig; er ließ die größte Angst ahnen. Ich erkannte sofort, daß aus der Gleichgültigkeit nicht, wie man objektiver Blick auf die Dinge der Welt möglich sei; sondern gar keiner ist möglich; die Gleichgültigkeit macht blind; und es hat bei ihr auch nicht sein Bewenden; sie muß in den Lebens-Ekel abstürzen. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Doppelte Sichtweise

Wenn man jung ist, kann man sich Veränderungen nicht vorstellen, die die eigenen geistigen Verarbeitungsmöglichkeiten übersteigen, buchstäblich nicht vorstellen; man kann eine Zukunft, die anders geartet ist als die Gegenwart, nicht sehen, man vermag nur ein verlängertes Jetzt zu sehen. Erst später, wenn man anders geworden ist - ach, wie sehr -, ist man vielleicht fähig, das Damals und das Jetzt zu erfassen (wenn man Sorge getragen hat, nicht zuviel zu vergessen); und vielleicht ist diese doppelte Sichtweise die einzige Bereicherung, die das Alter mit sich bringt. (Sybille Bedford: Ein trügerischer Sommer)


Hauptwasserscheide

Und auf eines kam sie immer wieder zurück, und zwar auf das, was sie als die Hauptwasserscheide im Leben jedes einzelnen bezeichnete. Zwischen der Jugend, wenn der Tod noch nichts Reales ist (Angst vor dem Tode können allerdings auch Kinder haben) und wir noch völlig zweckfrei um des Jetzt und der puren Neuheit willen handeln und uns freuen, und dem mittleren Alter, wenn die Wirklichkeit des Todes - die Endlichkeit und das Erlahmen unserer Energie - die Dominante ist, das Vorzeichen, das die Tonart ändert. Was wir tun, tun wir zum x-ten Mal. Worauf läuft es hinaus? Wir sind nun mit der Summe befaßt, nicht mehr mit den Teilen. (Sybille Bedford: Ein trügerischer Sommer)


Der unendliche Spielplatz

Als Kind hatte der alte K. ihn vergöttert, denn in seinem Verhalten hielt Lolek das Versprechen einer Welt als unendlichem Spielplatz länger als jeder andere Erwachsene. Wenn wir Kinder sind, geben uns alle Erwachsenen mit ihren infantilen, lispelnden, tändelnden Vergötterungen zu verstehen, daß die ganze Welt aus Kindern bestehe und wir der "mein D-ottchen, was sind die d-süß"-Welt Nabel seien. Kaum gelingt es uns, diesen Schwindel für bare Münze zu nehmen, werden sie plötzlich ernst, hören mit den Albereien auf und verübeln uns, daß wir selbst nicht aufhören wollen. (Wojciech Kuczok: Dreckskerl, S. 24)


Die Sache mit dem Kindermachen

Kurz bevor Willy van 't Woudt zu Ostern wegen unzureichender Leistungen auf die Geldroper Mittelschule geschickt wurde, informierte er Albert über seine neueste Entdeckung in puncto "Kindermachen". "Also, so 'ne Tussi, die hatte'n Häutchen über ihrm Schlitz ... ja? Also, das reißt du ihr mit deim Steifen ab... und dann, äh, dann stopfste das in ihrn Nabel und... und sorgst dafür, daß du's ordentlich feststampfst. So macht man das." Das schien Albert nicht schwer. Er stellte es sich tausendmal vor, als äußerst zärtliches Spiel, mit einem Häutchen, nicht dicker als jenes, das auf sich abkühlender Milch entsteht... Erst als ihm durch Mitteilungen wieder anderer klar wurde, daß man "mit seim Steifen" versuchen mußte, tief in das Mädchen einzudringen, und Kraft anzuwenden war, um sie ganz zu öffnen, da, ja da erfaßte ihn ein gewaltiger Schreck. Sie dort, wo sie so gut wie geschlossen war, mit Gewalt aufzubrechen... so daß es krachte... und das mit etwas so Empfindlichem wie der Spitze seines steifen Glieds, von der er, aus Angst sich zu verletzen, sogar beim höchsten Genuß die Haut nie ganz wegzuziehen wagte... 'ihm' würde das nie gelingen... 'ihm' war so etwas nicht beschieden... So intensiv er sie im Geist auch untersuchte, Frauen blieben geschlossene Wesen für ihn. Im Schwimmbad tastete er sie mit Blicken ab, suchte verzwifelt nach einem Relief, Zeichen eines Eingangs... doch alles war straff eingeschnürt in ihren Trikotbadenazügen. Seine Blicke glitten an ihren Körpern ab, ohne Halt zu finden, und zerschellten auf den Steinplatten, (A.F.Th. van der Heijden: Das Gefahrendreieck, S. 246)


Erkenntnis des Sich-Wandelns

Dies Standhalten, glaube ich, diese Möglichkeit, einige wenige enteilende Sekunden zu fixieren, das war es, was mich mit fünf Jahren schon zur Malerei gezogen hatte. Denn in diesem Alter ungefähr, nicht wahr, gräbt sich doch in uns ein, daß die Dinge zwar nicht sterben, aber ganz sicher sich wandeln, verrücken, verrutschen, zurückweichen und wie die Sonnensprenkel auf dem Ziegelboden einer Weinlaube an einem windigen Junitag ständig ihre Identität wechseln. (John Updike: Der Zentaur, S. 70)


Stolpersteine des Alters

Florentino Ariza hatte ein feines Gespür für solche Stolpersteine des Alters. Schon in seiner Jugend hatte er in den Parks von seinen Gedichtbänden aufgeschaut, um greise Ehepaare zu beobachten, wenn sie einander beim Überqueren der Straße halfen, und das waren Lehren fürs Leben gewesen, die ihm erlaubten, die Gesetze seines eigenen Alterns zu erahnen. In der Lebensphase, in der sich Doktor Juvenal Urbino an jenem Abend im Kino befand, pflegten die Männer in einer Art herbstlicher Jugend aufzublühen, die ersten grauen Haare gaben ihnen eine neue Würde, sie wirkten geistreich und verführerisch, besonders auf junge Frauen, während ihre angetrauten Frauen sich verwelkt auf ihren Arm stützen mußten, um nicht noch über den eigenen Schatten zu stolpern. Ein paar Jahre später aber stürzten dann die Ehemänner plötzlich in den Abgrund eines infamen körperlichen und geistigen Verfalls, und dann waren es ihre wieder zu Kräften gekommenen Frauen, die sie wie arme Blinde am Arm führen mußten. (Gabriel Garcia Marquez: Liebe in den Zeiten der Cholera, S. 359)


Der Geruch des Alters

Aus reiner Erfahrung, wenngleich ohne wissenschaftliche Grundlage, wußte Doktor Juvenal Urbino, daß die Mehrzahl der tödlichen Krankheiten einen eigenen Geruch hat, keiner aber so spezifisch ist wie der des Alters. Er nahm ihn bei den aufgeschnittenen Leichen auf dem Seziertisch wahr, erkannte ihn selbst bei den Patienten wieder, die am geschicktesten ihr Alter verbargen, auch an einer eigenen verschwitzten Kleidung und im wehrlosen Atem seiner schlafenden Frau. Wäre er nicht dem Wesen nach ein Christ von altem Schlag gewesen, hätte er vielleicht mit Jeremiah de Saint-Amour darin übereingestimmt, daß das Alter ein indezenter Zustand sei, dem bezeiten vorgebeugt werden müsse. Der einzige Trost, selbst für jemanden wie ihn, der ein guter Liebhaber gewesen war, war das langsame und barmherzige Verlöschen des Geschlechtstriebs: der sexuelle Frieden. (Gabriel Garcia Marquez: Liebe in den Zeiten der Cholera, S. 61)


Endstation Pflegeheim

Das Pflegeheim ist im Leben eines Menschen die Endstation. Kaum einer, der da wieder lebend herauskommt, es ist der Ort, von dem es kein Zurück gibt. Schon deshalb umgibt das Pflegeheim eine Aura des Schreckens. Aber es ist nicht nur die Nähe des Todes, die durch den Umzug ins Heim sehr konkret und direkt erfahrbar wird. Hinzu kommt, daß mit diesem Umzug von alten Menschen eine ungeheure Anpassungsleistung an völlig ungewohnte Lebensverhältnisse verlangt wird. Eine Unterordnung unter neue Regeln, eine Gewöhnung an neue Räume, ein Arrangement mit neuen Personen. Genau die Flexibilität, die man üblicherweise hochbetagten Menschen abspricht, wird nun von ihnen in einem Maß gefordert wie kaum je zuvor in ihrem Leben. Und geht einher mit dem Verlust des bisher gewohnten Lebenskosmos. (Anonymus: Wohin mit Vater? Ein Sohn verzweifelt am Pflegesystem, S. 73)


Mit 14 Jahren

Der größte Schwindel der Welt, auf den alle Vierzehnjährigen hereinfallen, der Eindruck, es gebe nichts Dringenderes und Wesentlicheres auf der Welt als dieses Schmachten, als den gefühllosen Bauch, die Appetitlosigkeit, die quälende Not zu vertuschen (niemand darf wissen!), seraphische Berufung zum Körperlosen ... Davon rede ich. Von nichts als davon: diesem Selbstverlust. Dieses Abhandenkommen der Welt, das manchmal den entzückendsten und introvertiertesten Halbwüchsigen zum Mord aus Leidenschaft treibt, nur weil ihm niemand beigebracht hat, die ungerechte, schreckliche Ablehnung seitens einer Gleichaltrigen zu akzeptieren. Nein, ich spreche nicht von Liebe. Nicht von der wahren. Ich spreche von der Atmossphäre, die ihr günstig ist: vom Fruchtwasser, aus dem sie früher oder später aufsteigen wird. (Alessandro Piperno: Mit bösen Absichten, S. 141)


Lebensträume

Mit zwanzig Jahren wünscht man sich alles, und nichts spricht dagegen, auf alles zu hoffen. Mit dreißig glaubt man noch, daß man es erreichen wird. Mit vierzig ist es zu spät. Nicht daß man selber älter geworden wäre, nein, die Hoffnung in einem ist alt geworden. Nun werde ich nie mehr Ärztin werden und meinen Jungmädchentraum verwirklichen. Auch nicht Archäologin in Ägypten, meine Idealvorstellung als kleines Mädchen. Und nicht Biologin oder Forscherin in einem Labor oder Ethnologin. All diese Träume hatten mich vor dem Erkalten geschützt und meine innere Landschaft bereichert. Älter werden bedeutet, allmählich zu verkarsten. Letzten Endes ist das schönste Alter dasjenige, in dem man weiß, an welchen Träumen man am stärksten hängt, und in dem man noch einige davon verwirklichen kann. (Benoite Groult: Salz auf unserer Haut, S. 228)


Über 70

Bereits in der Abflughalle hatte sie die mitleidigen Blicke der anderen Passagiere gespürt, klapprige Frührentnerpärchen mit Timesharing-Apartments und Siedler der ersten Stunde, von denen sie offensichtlich für eine Witwe gehalten wurde. Esther war als einzige Frau in ihrem Alter allein unterwegs. Sie trug ein helles, gemustertes Kleid und hatte einen beigefarbenen Seidenschal umgelegt für den Fall, daß die Klimaanlage im Flugzeug zu kühl eingestellt sein sollte. Aber sie hätte ebensogut ganz in Schwarz reisen können. Wer über siebzig war und keinen Mann an seiner Seite vorzuweisen hatte, der war entweder vom Tod geschieden oder vom Leben verschmäht worden. (John von Düffel: Houwelandt, S. 72)


Walter Vogt: Altern (2)

Die erste derartige Krise, die eindeutig mit Altern, nicht mit Wachsen, Blühen, etwas Werden zu schaffen hat, ist die Krise der Jahre um dreißig: die Einsicht, erreicht zu haben, was überhaupt zu erreichen war; den Plafond des bestenfalls zu Erreichenden haargenau zu kennen; die Einsicht, daß man das Erreichte und bestenfalls zu Erreichende gar nie wollte; was man allenfalls gewollt haben könnte, jedenfalls nie erreichte. Bindungen, die sich als endgültig darstellen, erweisen sich als verhängnisvoll. Bei gewissen Sportarten, musischen Sparten, extremen Formen von Mathematik und Physik gehört einer mit dreißig endgültig nicht mehr dazu. Daß sich andrerseits als Raumfahrer Familienväter um vierzig besonders eignen, ist dagegen ein schwacher Trost. Und wozu eignet denn ein Fünfzigjähriger sich besonders gut? Um die vierzigjährigen Raumfahrer zu betreuen, ihnen den Puls, den Blutdruck zu messen, sie zu füttern, ihnen den Arsch zu lecken usw. usf. Bestimmt, um fünfzig zu sein. Es heben sich auf Trost der späten Jahre Greisenaktivitäten wie Dichtung, Philosophie, Tizian, Einsichten, Lebensweisheit, Papst, Tyrannei. Habemus papam übrigens - mit Nachrichten eilt es hier am See nicht sonderlich. Die guten sind nach drei, vier Tagen noch immer gut; die schlechten sind dann wenigstens bereits einigermaßen passe. Die Fünfundsechzigjährigen eignen sich, scheint es, besonders gut zur Pensionierung. Mit achtzig ist ein Mann, eine Frau dann wieder wer. Falls noch geh- sprech-, denk-, handlungsfähig, zumindest eine Rarität. Es verhält sich, nebenbei, keinesweg so, daß das alte Gedächtnis einfach ein Trümmerhaufen des jungen ist. Es ist anders. Einzelheiten verblassen, vieles ist gleichgültig geworden - große Züge, frühe Erinnerungen treten hervor, mit fast halluzinatorischer Deutlichkeit. Die Fähigkeit zur exakten Unterscheidung sinkt; dafür wächst die Fähigkeit zu seniler, dementer, verblödeter, auch: grandioser Zusammenschau. Die Widerstände gegen die Aneignung von Neuem nehmen ab, gleichzeitig schwindet die Fähigkeit dazu. Die weitaus meisten Aktivitäten sind in unserer Gesellschaft auf das perfekt funktionierende junge Gedächtnis eingestellt. Der Mensch an der Lebensmitte rettet sich in die Routine, überlebt durch Aufsteigen in höhere Regionen, wo niemand mehr zu kontrollieren vermag, was er tut und nicht tut - wo er Scheinentscheidungen trifft, und selbst diese nicht, ohne daß sie ihm zu einfachen, überdies beliebigen Ja-Nein-Entscheidungen präpariert worden wären, durch ein junges Team, einen ganzen Apparat. Das Leben ist ein System von Gewohnheiten in der Zeit. Im Alter erstarrt das System, es schwindet die Zeit. (Walter Vogt: Altern, S. 62f.)


Walter Vogt: Altern (1)

Die Krankheiten der Jugend sind nicht dieselben wie die des Alters, Reaktionen und Widerstandskräfte gegen dieselbe Krankheit unterscheiden sich - bei psychischen Leiden ist der Jahrgang an sich ein Befund; derselbe Konflikt mit fünfzig ist nicht derselbe wie mit dreißig; ab sechzig, siebzig ist vielerlei, was mit zwanzig, dreißig entsetzlich wäre, egal. Und umgekehrt. Später erwies es sich als Spiel und als Zwang, das Alter von Personen zu erraten, so wie man gern Berufe, Positionen, Zivilstand, Sexualgewohnheiten von Bekannten und Unbekannten zu erraten versucht. Das Alter der Alten erkennt man am untrüglichsten an der Haut des Handrückens. Am Handrücken werden auch nur selten kosmetische Operationen ausgeführt. Dann, plötzlich, die Konfrontationen mit der eignen alternden Haut. Der gute Rat, in der Zukunft zu leben, wird von einem bestimmten Alter an zynisch. Denn die Zukunft ist das Grab, vor dem Grab die Enthirnung, vor der Enthirnung die einfache Senilität - Vergeßlichkeit, Impotenz, Kälte der Hände, der Füße, der menschlichen Beziehungen, Kälte allgemein; vor der Senilität die Krise an der Lebensmitte, wobei die arithmetische Mitte des Lebens seit Jahren überschritten ist - die Einsicht, daß es nicht weiter aufwärtsgeht, falls es je aufwärtsgegangen ist; das Nachlassen stumpfsinniger Hoffnung zugunsten ebenso stumpfsinniger Hoffnungslosigkeit; die Einsicht in die Stumpfsinnigkeit der Hoffnung wie der Hoffnungslosigkeit; die blitzartige Einsicht in die Stumpfsinnigkeit der ganzen, eigenen, bürgerlichen Existenz; die Einsicht in die endgültig vertanen Möglichkeiten, in die absolute Stumpfsinnigkeit dessen, was, wenn überhaupt etwas, bislang erreicht. (Walter Vogt: Altern, S. 63)


Der Ernst des Alters

An der Tür begann Georg etwas zögernd: "Ich wollte mich auch... bei Ihnen erkundigen, Herr Doktor, wie es denn eigentlich mit Herrn Rosner steht... Ich muß sagen, ich fand ihn besser aussehend, als ich nach Annas Briefen erwartet hatte." "Ich hoffe, daß er sich erholen wird", erwiderte Stauber. "Aber immerhin muß man bedenken... er ist ein alter Mann. Sogar älter, als er seinen Jahren nach sein müßte." "Aber um etwas Ernstes handelt es sich nicht?" "Das Alter ist an sich eine ernste Angelegenheit", entgegnete Doktor Stauber, "besonders wenn alles, was vorherging, Jugend und Mannheit, auch nicht sonderlich heiter waren". (Arthur Schnitzler: Der Weg ins Freie)


Die Zeit aufhalten

Die Luft ist mit dem Gestank einander bekriegender Parfüms gesättigt. Da sind Videoschirme, auf denen Gesichter mit makellosem Teint sich hin- und herwenden, sich pflegen, durch leicht geöffnete Lippen seufzen, von Händen liebkost werden. Andere Bildschirme zeigen Großaufnahmen von Hauptporen, vorher und nachher, detaillierte Anweisung für die Behandlung von beinahe allem, den Händen, dem Nacken, den Hüften. Den Ellbogen, vor allem den Ellbogen: Das Altern beginnt an den Ellbogen und metastasiert von dort aus. Dies ist Religion. Vodoo und Zaubersprüche. Ich möchte daran glauben, an die Salben, die Verjüngungswasser, die durchsichtigen Cremes in Glasfläschchen, die einen auf Hochglanz bringen wie Möbelpolitur. "Weißt du denn nicht, woraus dieser ganze Mist gemacht ist?" fragte Ben mich einmal. "Aus zermahlenen Hahnenkämmen." Aber das kann mich nicht abschrecken, ich würde alles nehmen, wenn es mir hülfe - Schneckensaft, Krötenspucke, Wassermolchaugen, alles, was es gibt, um mich einzubalsamieren, um das fortwährende Tröpfeln der Zeit aufzuhalten, um mehr oder weniger so zu bleiben, wie ich bin. (Margret Atwood: Katzenauge, S. 139)


Grenzalter und Pufferzone

Ich habe keine Ahnung, wie sie jetzt wohl aussehen mag. Ist sie dick, hat sie Hängebrüste, hat sie kleine graue Haare in den Mundwinkeln? Wohl kaum: die würde sie sich auszupfen. Trägt sie eine Brille mit modischen Gestell, hat sie sich die Augenlider liften lassen, hat sie Strähnen oder getöntes Haar? Alles ist möglich: Wir haben beide das Grenzalter erreicht, diese Pufferzone, die es einem noch erlaubt, sich vorzumachen, daß solche Tricks funktionieren, solange man grelles Sonnenlicht meidet. (Margret Atwood: Katzenauge, S. 16)


Adrenalin in alten Adern

Zu sehr nach seniler Bettflucht schienen mir die hektischen Unternehmungen älterer Paare, die kurz vor der Pensionierung das hektische Mountainbiken entdecken, zu Salsa-Kursen gehen und Abenteuerurlaube auf dem Amazonas verbringen. Verzweifelte Versuche, das Adrenalin der Jugend durch die alten Adern zu jagen. Keine Träne des Bedauerns, wenn Personen unseres Alters, die nicht begriffen haben, daß Geschwindigkeit das Leben nicht verlängert, auf unbekannten Flüssen kentern und von Piranhas verzehrt werden. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 216)


Erwachsen sein

"Es ist auch nicht sehr viel angenehmer, erwachsen zu sein", sage ich. "Geht es denn schnell?" fragt Kim. Und leider kann ich ihr auch in dieser Hinsicht wenig Erfreuliches mitteilen. Erwachsen zu werden verbraucht die längste Zeit eines Lebens. Kind sein will man nicht, wegen der Sehnsucht nach etwas, das man doch nicht benennen kann, und wegen der fast drogensuchtgleichen Abhängigkeit von einem Erwachsenen, der einem liebevoll zugetan ist. Es gibt durchaus Kinder, deren Drogensucht befriedigt wird. Durch Nähe und ständige Berührungen. Aber wehe, wenn nicht! Dann wächst man mit dem Gefühl, ein unvollständiger, kranker Mensch zu sein. Und was man sich nicht alles vom Erwachsensein verspricht in jener Zeit. Daß dann alle Bedürfnisse keine mehr wären, weil man sie sich selber zu erfüllen in der Lage wäre. Ist man nicht. Man ist nur groß und weiß auch nicht weiter. Man sieht die Veränderung der Zellen, ein Krebsgeschwür vor dem Ausbruch, und man sehnt sich immer noch, und Erfüllung wird immer unwahrscheinlicher. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 124)


Forever Young

Natürlich stimme ich Dir zu, daß es mitunter zugeht wie im Märchen von Hase und Igel. Wo das Leben hin will, ist die Literatur schon da. Zu allen Zeiten holten sich alte Männer gerne junge Frauen in ihr Bett. (...) Gewiß, die 'Musen sind ewig jung, aber die Kombination von jungem Wein und alten Schläuchen dient seit alters der Belustigung der Zuschauer. Es ist also vor allem die Lächerlichkeit, die dieser Konstellation innewohnt. Zu ihr gesellt sich die Peinlichkeit, die sich im zeitgeistigen 'Forever Young' manifestiert. Alte Männer mampfen Kleie, stapfen mitten im Sommer mit Skistöcken durch die Fußgängerzonen und leisten sich teuren japanischen Fisch, weil sie in der Apothekerzeitung gelesen haben, roh verzehrt fördere dieser die Potenz. Oder sie nehmen an einem Kurs für Lach-Yoga teil, bis der Botenstoff Gamma Interferon aus dem Körper geschmunzelt ist. Männer in unserem Alter setzen sich eine Baseball-Kappe verkehrt herum auf den Kopf, ziehen sich knappe Höschen an, um als 'Inline Skater' junge Frauen zu beeindrucken: gepanzert an sämtlichen Gelenken, in der Tasche die Handynummer des Orthopäden. Ich beobachte Greise auf Rennrädern: behelmt wie Hindenburg vor der Schlacht von Tannenberg, mit enganliegendem Gummizeug angestrapst, um dem drohenden Hodenkrebs vorzubeugen. Meistens schimmelt es bereits darunter. (Gerhard Köpf: Ein alter Herr, S. 86)


Das Knacken des seelischen Rückgrates

Viele seiner überwiegend ausländischen Brieffreundschaften, anfangs noch mit enthusiastischer Sorgfalt gepflegt, waren im Sande verlaufen, etliche Freunde waren mittlerweile ebenfalls alt und gebrechlich, oder sie waren bereits verstorben. Und sobald wieder eine Todesnachricht kam, pflegte der alte Herr zu sagen: Die Reihen lichten sich, aber es wird dunkler dabei. Nun hatte er kaum noch Zeugen außer seiner eigenen Erinnerung. Als mein alter Herr eines Tages begriff, daß die Zeit auch mit ihm keine Nachsicht üben würde, fühlte er sich gebrochen. Er glaubte sogar, das Knacken seines seelischen Rückgrates gehört zu haben. Anstatt sich der unstillbaren Leidenschaft der Greise hinzugeben, die Zeitungsredaktionen mit besserwisserischen Leserbriefen zu belästigen, beschäftigte er sich mit dem, was er für die 'einfachen Fragen des Lebens' hielt, zum Beispiel: Wann ist ein Mensch tot? Seine These: Wenn ihm seine Erinnerungen genommen werden und damit die Möglichkeit, das Idol seiner selbst zu sein. (Remco Campert: Das Herz aus Seide, S. 12)


Fünzig Jahre alt!

Gestern war ein fremder Herr bei mir, der machte mich darauf aufmerksam, daß im nächsten Jahr mein fünfzigster Geburtstag sei; darum sei er gekommen, um sich von mir allerlei aus meinem Leben erzählen zu lassen, für einen Gratulationsartikel, den er dann schreiben werde. Diesem Herrn sagte ich, es sei rührend von ihm, daß er sich so viele Mühe um mich gebe, ich hätte aber nichts zu erzählen, und daß er mich auf dies Jubiläum aufmerksam mache, sei gerade so nett, wie wenn zu einem Sterbenden ein fremder Herr käme, ihn auf die Nähe seines Ablebens aufmerksam machte und ihm den Katalog einer bestempfohlenen Sargfabrik in die Hand drückte. Den fremden Herrn bin ich losgeworden, den üblen Geschmack auf der Zunge nicht. Es ist Herbst, es riecht nach Welke, nach grauem Haar, nach Jubiläen, nach Friedhof. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 13: Betrachtungen und Berichte. 1899-1926, S. 478)


Älter werdend

Zieht man die Mystifikationen ab, in die wir unsere kleinen Lebensepisoden gerne tauchen, so bleibt eine schlichte Erfahrung, die Lichtenberg schon formulierte: "Wenn man selbst anfängt alt zu werden, so hält man andere von gleichem Alter für jüngere, als man in früheren Jahren Leute von eben dem Alter hielt... Mit anderen Worten: Wir halten uns selbst und andere noch in denen Jahren für jung, in welchen wir, als wir noch jünger waren, andere schon für alt hielten." (Silvia Bovenschen: Älter werden, S. 52)


Hausgeburt

Klara (...) horchte in sich hinein, wo das Ziehen in ein Zerren überging, ließ Zweige fallen und sprach zusammen mit dem Herausfließen aller Atemluft: "Hertha, du, das war ämd ne Wehe, oh, Godd, oh, Goddchen!" Und die Nachbarin: "Runder mid de Hälfde vun dem Reissch, de sedzd'ch wie ins weeche Bedde, un ich zerr dich heeme." (...) Vor der Haustür wurde sie von acht Händen herausgehoben, da war gleich jemand, der zur Hebamme lief, jemand, der heizte und Wassertöpfe ausborgte. Jemand hatte Fleischbrühe auf dem Herd, auch in einfachsten sächsischen Kreisen Büjong genannt, und löffelte der Gebärenden ein Tässchen davon ein. Ein Haus richtete sich darauf ein, daß geboren wurde, voller Neugier gescha das, voller Mitgefühl und etwas lüstern auch. Die Hebamme machte sich an ihr Geschäft, lobte Frau Linden für ihre Mithilfe, tröstete nach einem Schmerzensschrei, verwischte Schweiß, drückte, massierte, ließ Kaffee einflößen, formulieren wir der Deutlichkeit halber: Bohnenkaffee, und dann, kurz nach Mittag, schlüpfte ihr etwas in die geschulten Hände, glitschig, schrumplig der Po, greisig das Gesicht, quäkend sofort; die Hebamme hob es hoch und verkündete, was jetzt festzustellen das wichtigste war: "Ä Schunge!" Eine butterweiche, kinderleichte Geburt also, nichts, was mein Seelchen belastet, modisch ausgedrückt, frustriert hätte. Keine Existenzangst oder Ehescheidungsqual etwa hatte meine Mutter der Frucht mitgeteilt, unbeschadet auch von Kriegsfurcht war ich vom Kiemenstadium ins Lungenstadium geglitten, keine Zangengeburt hatte mir eine Ahnung von Folter eingegeben, ich war einundfünfzig Zentimeter lang und wog ein paar Gramm mehr als sechs Pfund, das galt als gutes Startgewicht. Als Vater Felix nach Hause kam, lächelte ihn Klara an und sagte wiederum: "Schunge." (Erich Loest: Völkerschlachtdenkmal, S. 7)


Verlust von Eigenschaften

Meine Freundin L., eine Kassandra des Alters, von der ich auch das Wort "Mundbodenschwäche" kenne, sagt, für schöne Frauen sei das Altern am schwersten, was stimmt, aber eigentlich unverständlich ist. Aus einer schönen jungen Frau könnte ja eine schöne ältere und dann eine schöne alte Frau werden. (...) Fünfzigjährige Männer, die aussehen wie fünfunddreißig, sind uns eher verdächtig. Ein Mann erscheint uns schön, wenn er so oder so männlich aussieht, also intelligent, kräftig, entschlossen, bedacht, mutig, sinnenfreudig, ernst; alle diese Eigenschaften können die Attraktivität eines Mannes bis an die Grenze der Greisenhaftigkeit ausformen, die Attraktivität der Frau würden sie vermutlich nur verderben, weil die Attraktivität der Frau - jedenfalls der immer noch landläufige Begriff davon - in ihrer Zartheit, Mädchenhaftigkeit und Lieblichkeit liegt. Eigenschaften, die jenseits der Jugend nicht erworben, sondern nur verloren werden können. (Monika Maron: quer über die gleise. Essays, Artikel, Zwischenrufe, S. 158)


Unliebsame Zeugenschaft

Ohne die Zeugenschaft der anderen ließe sich das Altwerden leichter ertragen. Man könnte sich ihm ehrgeizlos hingeben, neugierig verfolgen, was es anrichtet, ohne Verzweiflung oder gar Schande zu empfinden. Vielleicht würde man sogar den sich unaufhaltsam nähernden Tod als weniger grauenvoll empfinden, dürfte man sich der Altersschwäche wehrlos überlassen, ohne die triumphierenden Lebensgier der anderen fürchten zu müssen. (Monika Maron: quer über die gleise. Essays, Artikel, Zwischenrufe, S. 155)


Erkenntnis der Reife

Jeder, der ins geistige Reifealter eintritt, wird von der Ahnung erfaßt, daß das Leben keine Farce ist, nicht einmal eine Salonkomödie; daß es im Gegenteil aus den tiefsten tragischen Abgründen des Leids hervorblüht und gedeiht, in das seine Subjekte mitsamt ihren Wurzeln verstrickt sind. Das natürliche Erbteil eines jeden, der einer geistigen Existenz fähig ist, ist ein unbezwungener Urwald, in dem die Wölfe heulen und die Nachtvögel lüstern kreischen. (Henry James, Briefe an seine Söhne)


Werden und Verschwinden

Ordinow: Man lebt, um zu leben, aber wer sagt einem schon, daß gerade dies die Voraussetzung für das Sterben ist. Der Mensch stirbt lebenslänglich. Wenn er geboren ist, ist er am weitesten von seinem Tod entfernt, aber dann ist er auch am wenigsten Mensch. Die Kindheit, die Jugend bringen ihn zur Reife, das Alter macht die Reife vollkommen, jetzt ist der Mensch erst richtig Mensch, aber jetzt ist er seinem Tod am nächsten. Dies einzusehen, ist vernünftig. Ihre Vernunft ist also, wie ich sehe, die Kunst zu leben, deren Werden in der Art ihres eigenen Verschwindens besteht? - Gastgeber: Vollkommen korrekt. - Ordinow: Nun denn: Jeder, der diese Erde betritt, verschwinde von dieser Erde, so gut er kann. - Gastgeber: Dies war ein Satz, der Sie, falls Sie ihn beherzigen, zum glücklichsten aller Menschen machen kann. (Hartmut Lange: Tagebuch eines Melancholikers, S. 158)


Belohnung?

Die Zeit zwischen dreißig und vierzig, wenn man nicht mehr an Wunder glaubt, aber doch noch ein wenig darauf hofft. Dass einem etwas zustünde, vom Leben, einfach weil man den Mist auf sich nahm, weil man sich ankleidete, Formulare ausfüllte, enttäuscht wurde, fror, das musste doch belohnt werden, konnte doch nicht sein, dass die tausend anderen Embryonen das große Los gezogen hatten. (Sibylle Berg)


Sportlicher Rückzug

Andererseits trafen ihn die Schmerzen des Lebens schärfer als in der Vergangenheit. Er stöhnte auf der Trommelfellfolter, wenn ein Saxophon jaulte oder wenn ein subhumaner Jungtrottel den Donner eines höllischen Motorrads losrollen ließ. Das hinderliche Benehmen dummer, feindseliger Gegenstände - die falsche Tasche, das gerissene Schuhband, der beschäftigungslose Kleiderbügel, der mit einem Achselzucken und einem Holterdiepolter in der Dunkelheit des Kleiderschanks herunterstürzt - ließen ihn den Ödipus-Fluch seiner russischen Vorfahren ausstoßen. Er hatte um die fünfundsechzig herum aufgehört zu altern, aber mit fündundsechzig hatten sich Muskeln und Knochen bei ihm stärker verändert als bei Leuten, die nie so vielseitige athletische Betätigungen ausgeübt hatten, wie er sie in seiner Jugend genossen hatte. Squash und Tennis machten Platz für Ping-Pong; dann vergaß er eines Tages einen Lieblingsschläger, noch warm von seinem Griff, im Spielraum eines Clubs, und der Club wurde nie wieder besucht. In seinem sechsten Jahrzehnt ersetzte eine Übung am Punchingball das Ringen und Boxen seiner früheren Jahre. Überraschungen der Erdanziehung machten jetzt das Skilaufen grotesk. Mit sechzig konnte er noch lorettfechten, aber schon wenige Übungsminuten machten ihn blind vor Schweiß; so teilte das Fechten bald das Schicksal vom Tischtennis. Er konnte sein snobistisches Vorurteil gegen Golf überwinden. (Vladimir Nabokov: Ada oder Das Verlangen, S. 435)


Andere Schüler

Es klingelte. Es klingelte wahrhaftig noch so, wie es zu meiner Schulzeit geklingelt hatte. Babs und ich traten auf den Gang, und ich sah die Schüler in die Klassenzimmer strömen. Es waren nicht nur andere Kleider und andere Haare, sondern auch andere Gesichter als damals. Sie kamen mir zerrissener vor, wissender und ihres Wissens nicht froh. (Bernhard Schlink: Selbs Justiz, S. 87)


Zauber einfacher Anschauung

Später, in jenen Jahren, in denen wir unfähig geworden sind, uns dem Zauber der einfachen Anschauung hinzugeben, erinnern wir uns wehmütig an jene Naivität, die unser Eingbettetsein in die Natur noch als selbstverständliches Abenteuer hinnahm. Es war das Gefühl der Geborgenheit im Unheimlichen, wenn wir nachts eine Grille zirpen hörten, deren Versteck sich nicht ausmachen ließ, oder wenn wir am Teich den Verdacht nicht loswurden, der Kahn, der doch am Steg festgebunden war, hätte sich um einige Zentimeter entfernt. (Hartmut Lange: Tagebuch eines Melancholikers, S. 89)


Gruftgeneration

Zur Gruftgeneration zu gehören in einer Zeit, die die Jugend verehrt, tut weh. Die Angst vor dem Untergang ist das, sie befällt die Menschen am Ende eines Jahrtausends, macht ihnen ihre Vergänglichkeit bewußt, macht sie krallen an frischem Fleisch. Was jung ist, macht sie leben, können doch nicht sterben, wenn es so junge Menschen hat. Alle meiden die Normalität wie etwas Nässendes. Menschen ohne Feinde werden wunderlich. Feinde braucht der Mensch, braucht sie für seine negativen Energien, hat den Feind des Jahrzehnts erkannt: Das Alter, das jeden bedroht, um es zu bekämpfen, ist jedes Mittel recht. Das ist, was die Menschen verdient haben. Sich selber verachten für mehr als die Hälfte ihres Daseins. (Sibylle Berg: Amerika, S. 70)


Dumme Angewöhnung

Das Altwerden ist eine dumme Angewöhnung! Nichts Anderes! Wir kommen der lahmen und hinfälligwerdenden Natur ja immer auf halbem Wege entgegen! Nehmen Sie schon in der Jugend! Der Knabe quält sich förmlich ab, ein Jüngling zu werden! Er raucht Cigarren, daß ihm grün und gelb vor den Augen wird! Er bindet sich Cravatten um den Hals und kräht Alt wie ein Hahn, während er noch den reinsten Kanarienvogelsopran in der Kehle hat! Ist er dann mit Ach und Krach ein Jüngling geworden, so quält er sich schon wieder ein Mann zu sein! Er will heirathen, solid werden, spricht vom Glück der Ehe und sieht Kinder an der Mutterbrust neben sich und schaukelt schon welche auf den Knieen. Gut! Dann wird er ein Mann! Nun will er gravitätisch erscheinen und spricht von seiner Würde. Bequemlichkeit wird die Belohnung seiner Anstrengungen, Brot zu verdienen. Auf den Bällen tanzt er nicht mehr. Mit den gesundesten Schenkeln gebehrdet er sich wie ein Casinogast und spielt Whist. Setzt er sich ans Klavier, so konnt’ er sonst ganz leidlich singen. Er kann es auch noch; aber aus Bequemlichkeit hebt er nicht mehr die volle Brust, sondern stöhnt und ächzt und läßt die Flügel hängen. So geht Das fort, bis dann natürlich das Alter wirklich da ist und die Natur frohlockt, ihren Sieg über den Geist davongetragen zu haben. Nein, nein, Doktor, sagen Sie’s allen Ihren Patienten! Das Alter ist nichts als eine dumme Angewöhnung. (Karl Ferdinand Gutzkow: Die Ritter vom Geiste, S. 911f.)


Verengter Horizont

Wie sich der Horizont eines greisen Menschen verengt, wie er alle Dinge, die ihm früher wichtig waren, die ihm Freude gemacht haben, nach und nach "abgibt", wie er ihrer überdrüssig wird, erinnerte mich beim Lesen von Marais Rückzug aus dem Leben an meine Oma, wie auch ihr Daseinsradius stetig enger wurde, für uns Angehörigen ZU eng. Ihr Desinteresse an den Aufgeregtheiten der Welt, dann den ihres Umfelds, so daß wir ihr ihre alles und jeden und auch uns betreffende Indolenz schließlich beinahe übel nahmen. Sandor Marai erzählt, wie selbst die Literatur, das Lesen von ihm abrückt und ihm gleichgültig wird. Als Krankenpfleger kenne ich diese Prozeß und erlebe diese greisen Menschen Tag für Tag. Ihre Gleichgültigkeit, ihr bloßes Interesse an Essen und ihr Verlangen nach Ruhe und Ungestörtsein. Wir sollten das respektieren und genau hinsehen und hinhören, was der reale Wille unserer uns Anvertrauten ist. Das Gutgemeinte ist ihnen oft das Lästige.


Zu müde, um weiterzukraxeln

"Sie sind doch nicht alt", sagte Valja. "Was für ein Alter haben Sie schon?" "Ich bin alt, doch, doch", sagte ich. "Ich weiß es." "Ach, gehen Sie! In Sie werden sich noch die Mädchen verlieben." "Alt bin ich, weil... Verstehen Sie, Valja, Ihr Vater ist Gärtner, Ihr Stiefvater Tierarzt. Sie sind Krankenschwester, ich aber bin mein Leben lang wo raufgekraxelt, immerzu. Alt ist man, wenn man zu müde ist weiterzukraxeln. Alles Stuß, verstehen Sie?" Das war nicht zu verstehen, aber sie verstand. Ich spürte, wie ihre Finger meine Hand fanden und sie leicht drückten. Es war ein schüchterner Timurscher Händedruck: So muntern junge Pioniere einsame Greise auf, wenn sie sie nachmittags nach der Schule besuchen. (Juri Trifonow: Zwischenbilanz, S. 91)


Altersfrei

Verlockend am Alter war eigentlich nur, daß alte Menschen, sofern gesund und bei Verstand, unabhängig sind. Sie müssen sich nicht ständig um ihre Zukunft sorgen, weil sie nicht mehr so viel davon haben. Vor allem aber, sagte Elli, könnten alte Menschen, besonders natürlich alte Frauen, im Schutze ihrer gebrechlichen Erscheinung hundsgemeine und verbotene Dinge tun, die ihnen, meistens zu Recht, niemand mehr zutraut. (Monika Maron: Endmoränen, S. 28)


Jugend und Alter

Ich glaube, man kann im Leben eine ganz genaue Grenze ziehen zwischen Jugend und Alter. Die Jugend hört auf mit dem Egoismus, das Alter beginnt mit dem Leben für andere. Ich meine es so: junge Leute haben viel Genuß und viel Leiden von ihrem Leben, weil sie es nur für sich allein leben. Da ist jeder Wunsch und Einfall wichtig, da wird jede Freude ausgekostet, aber auch jedes Leid, und mancher, der seine Wünsche nicht erfüllbar sieht, wirft gleich das ganze Leben weg. Das ist jugendlich. Für die meisten Menschen aber kommt eine Zeit, wo das anders wird, wo sie mehr für andere leben, keineswegs aus Tugend, sondern ganz natürlich. Bei den meisten bringt es die Familie. Man denkt weniger an sich selber und seine Wünsche, wenn man Kinder hat. Andere verlieren den Egoismus an ein Amt, an die Politik, an die Kunst oder Wissenschaft. Die Jugend will spielen, das Alter arbeiten. Es heiratete keiner, damit er Kinder kriege, aber wenn er Kinder kriegt, so ändern sie ihn, und schließlich sieht er, daß alles doch nie an ihn denkt. Bei den Alten ist es umgekehrt. Die Jungen glauben ewig zu leben und können darum alle Wünsche und Gedanken auf sich selber stellen. Die Alten haben schon gemerkt, daß irgendwo ein Ende ist und daß alles, was einer für sich allein hat und tut, am Ende in ein Loch fällt und für nichts war. Darum braucht er eine andere Ewigkeit und den Glauben, er arbeite nicht bloß für die Würmer. Dafür sind Frau und Kind, Geschäft und Amt und Vaterland, damit man wisse, für wen denn das tägliche Schinden und Plagen geschehe. (Hermann Hesse: Gertrud, S. 109)


Zeitlos

"Sprechen Sie zu einem Zehnjährigen im Hochsommer von Weihnachten. Ebensogut könnten Sie mit einem Halbwüchsigen über seine Pläne fürs Alter, seine Pensionierung reden. Kindheit ist für Kinder zeitlos. Sie ist immer die Gegenwart. Alles findet in der Gegenwart statt. Natürlich haben sie Erinnerungen. Natürlich vergeht auch für sie ein wenig die Zeit, und dann ist es Weihnachten. Aber sie 'fühlen' es nicht. Das Heute ist es, was sie fühlen, und wenn sie sagen. 'Wenn ich mal groß bin...!, schwingt da immer ein wenig Ungläubigkeit mit - wie könnten sie je etwas anderes sein, als das was sie jetzt sind?" (Ian McEwan: Ein Kind zur Zeit, S. 46)


In der Kindheit

Es gibt Schlimmeres, dachte Ruth. "In der Kindheit", hatte Greene (in seinem Roman 'Zentrum des Schreckens') geschrieben, "leben wir im hellen Licht der Unsterblichkeit - der Himmel ist nah und wirklich wie der Meeresstrand. Neben den komplizierten Einzelheiten der Welt stehen die einfachen Wahrheiten: Gott ist gut, die Erwachsenen, Männer wie Frauen, wissen die Antworten auf alle Fragen, es gibt so etwas wie Wahrheit, und die Gerechtigkeit ist so fein austariert und funktioniert so perfekt wie eine Uhr." (John Irving: Witwe für ein Jahr, detebe 398)


Mechanische Dressur

Ihre Kleinkinderschule legt sicherlich viel Gewicht auf den Neigungswinkel der Erde, leider aber trampeln Menschen auf der Erde herum, ohne an diese Winkel zu denken. Ihre Kinder lernen von Sprachen und Kunst, lernen von Schiffen und Sternen, von Geld und Kriegen, von Elektrizität, Kalorien, Mathematik, Bäumen und Sprachen. Und Sprachen. Aber alles das hat ja an und für sich keinen reellen Inhalt, man kann nur einen Zustand, eine Lebeform darin etablieren, es ist mechanische Dressur ohne ethischen Wert. Aber nun das, was im Menschen wohnt, wie steht es damit, mit der Seele, der Natur selbst? Unsere Seele ist nicht reich im Verhältnis zu dem, was wir aus Büchern gelernt haben, aber gerade im Verhältnis zu ihr können wir Büchergelehrsamkeit entbehren. Unsere Seele ist ja der Mensch selbst und ist ein Selbst. (Knut Hamsun: Das letzte Kapitel, S. 675)


Schule, die Hölle

Ein Schuldirektor ist in gutem Glauben, sagt der Selbstmörder, seine Schule lehre die Kinder alle Kenntnisse der Welt in allen Richtungen der Welt. Die Kinder kommen auch wieder einmal heraus, nach einer langen, langen Zeit kommen sie wieder heraus, jawohl, aber sie gingen als Füllen und Kälber hinein. Es ist unmöglich, daß sie alles behalten, was sie gelernt haben, und wenn sie es behalten, so ist es nicht von Bedeutung. Sie vergessen, woran der Binnensee Öyern im Westen grenzt, sie vergessen, daß die Mohrrübenpflanze keine Kelche zu haben braucht. 'Schule war ursprünglich Freizeit, ein Zeitvertreib für Erwachsene, sie ist eine Hölle für Kinder geworden. Wenn sie dieser Hölle entkommen, sind sie alt, manche sind kahlköpfig, manche halb blind, aber manche bleiben auf dem Platze. Kinder sollten keine Schule haben. (Knut Hamsun: Das letzte Kapitel, S. 673)


Mühe bis in den Tod

Behüt doch Gott, Welt! dann dieweil man dir nachgehet, verzehret man die Zeit in Vergessenheit, die Jugend mit Rennen, Laufen und Springen über Zaun und Stiege, über Weg und Steg, über Berg und Tal, durch Wald und Wildnus, über See und Wasser, In Regen und Schnee, in Hitz und Kält, in Wind und Ungewitter. Die Mannheit wird verzehrt mit Erzschneiden und -schmelzen, mit Steinhauen und - schneiden, Hacken und Zimmern, Pflanzen und Bauen, In-Gedanken-Dichten und -Trechten, In-Ratschlägen- Ordnen, Sorgen und Klagen, in Kaufen und Verkaufen, Zanken, Hadern, Kriegen, Lügen und Betrügen. Das Alter verzehrt man in Jammer und Elend: der Geist wird schwach, der Atem schmeckend, das Angesicht runzlicht, die Länge krumm, und die Augen werden dunkel, die Glieder zittern, die Nase trieft, der Kopf wird kahl, das Gehör verfällt, der Geruch verliert sich, der Geschmack geht hinweg, er seufzet und achzet, ist faul und schwach und hat in Summa nichts als Mühe und Arbeit bis in den Tod. (Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch, S. 490)


Alt werden

Alt werden

Man hat es nicht leicht mit den Alten, oder? Ich lag ja auch erst im Krankenhaus, wissen Sie. Phillipus-Stift. Da hatte ich Thrombose. Mein Gott, fünf verkalkte Schachteln waren wir in dem Zimmer. Wenns der einen zog, wars der anderen zu stickig. Und die Röder, die hatte Tumor und jammerte immer, wie hart das ist mit dem Altwerden, den Gebrechen und so; die maulte und knötterte den ganzen Tag. Unglaublich. Und da sagte die Schnabel - also was die alles hatte, dagegen war die Röder ein Springinsfeld: Aber älter werden ist doch auch schön, Luise. (Ralf Rothmann: Stier, S. 357)


Jugendstürme

Der Frühling, besonders der eines jungen Mannes, das ist eine Hölle in Blüten, ein unablässiger Sturm, der ihn täglich zichmal in die Wolken reißt, zichmal auf die Erde schmeißt und ihn mit seiner Sehnsucht quält, seiner Lust, die er wieder und wieder unterdrücken muß und mehr: Auch die Zeichen und das Leid dieser Unterdrückung muß er unterdrücken, und wenn er dann die Jugend überstanden hat, ohne sich aufzuhängen, ist er genau das gepreßte, quadrierte Häufchen Elend, das Staat und Kultur für ihre Fundamente brauchen, so ein stilvoller Maler halt.... (Ralf Rothmann: Stier, S. 270)


Ein Kriterium

Sentimentalitäten gegenüber jenen, die die Zukunft auf ihrer Seite haben, sind, so scheint es, kaum auszurotten. In den Dramen Tschechows leiden Jung und Alt unter dem Einerlei ihrer täglichen Verrichtungen. Erst Gorki hat den Jugendlichen jenes verlogene Evangelium aufgenötigt, das sie zu besseren Menschen macht, nur weil sie länger zu leben haben. Man kann ein altes Mütterchen auf der Straße unter dem Aspekt der gesellschaftlichen Ökonomie oder nach den Gesetzen des biologischen Stoffwechsels als minderwertig betrachten. Aber wo bleibt die Spanne an Zivilisation, die jedes gelebte Leben in sich aufgesammelt hat und die nun in der traurigen Hinfälligkeit jedes alten Menschen unwiederbringlich verloren geht? Nicht die Zukunft, die Vergangenheit ist ein Kriterium. (Hartmut Lange: Tagebuch eines Melancholikers, S. 8)


Vorpubertät

Der seltsame, etwas muffige Schweißgeruch der Turnhalle ganz oben unter dem Dach, die Sprossenwände, das Gefühl, Dinge tun zu wollen, für die man nicht genug Kraft hatte, gleichzeitig Mann und Knabe zu sein. Und dieser gleichsam vegetative Halbschlaf während der Unterrichtsstunden damals in der Vorpupertät, wie man dasaß und eigentümliche Spiele mit seinen eigenen Fingern spielte, sie auv verschiedene Arten ineinanderzuflechten versuchte, als sitze man in seinem eigenen Gehirn und flechte darin herum: um seine Labyrinthe zu verstehen. (Lars Gustafsson: Der Tod eines Bienenzüchters, S. 115)


Bei der Geburt

Warum schreit ein Kind, wenn es das Licht der Welt erblickt? Um seine Lungen zu testen, sagt die Hebamme. Um sich zu beschweren, sage ich! Denn wir alle sind auf unseren großen Auftritt noch gar nicht vorbereitet. Das sieht man doch auch: Wir hatten keine Zeit mehr, uns etwas anzuziehen, wir sind nicht gekämmt und wir haben noch keinen Anwalt. Und den bräuchten wir dringend wie wir nach dem ersten Blick feststellen. Zuerst ist da dieses Flutlicht. Scheinwerfer mit mindestens 1000 Watt, die wie beim Verhör eines südamerikanischen Terrorregimes auf uns gerichtet sind. Um das ganze zu untermauern, erblicken wir nach dem ersten Schreckensschrei mehrere vermummte Gestalten mit bluttriefenden Händen und Metzgerschürzen inmitten von blitzenden Klingen, obskuren Zangen und einer Schere. Und dazu ein kreidebleicher, wimmernder Vollidot (offentsichtlich ein ehemaliger Folteropfer, das ein paar Elektroschocks zuviel abbekommen hat), der alles mit einer Videokamera filmt und dauernd ohnmächtig wird. (Jens Oliver Haas: 101 Gründe ohne Frauen zu leben, S. 23)


Die ersten Prägungen

In den ersten Lebensmonaten eines Knaben gibt es mehrere traumatische Erlebnisse, die sein Weltbild und seine Entwicklung prägen. Das erste ist die Geburt, deren Problematik wir schon besprochen haben. Als nächster einschneidender Moment folgt die Umstellung von der Brust auf die Flasche. Ein Schritt, bei dem Frauen gar nicht wissen, wie sehr sie ihr Kind damit prägen. Dieser brutale Umstieg von Brust auf Flasche führt nämlich im späteren Geschlechtsleben zu einer unbewußten Assoziation, die uns Männern zu Unrecht vorgeworfen wird: Das Bedürfnis, nach dem Sex sofort ein Bier zu trinken. Diesen Drang haben Frauen in uns gepflanzt! (Jens Oliver Haas: 101 Gründe ohne Frauen zu leben, S. 36)


Weder Fisch noch Fleisch

In dem zarten Alter, da der akademische Grad als Brücke zwischen dem Knabenalter und der Mannbarkeit dient, sind wenige junge Leute, insbesondere wenn sie von ihren Lehrern verhätschelt wurden, frei von einer lästigen Pedanterie, die sie zwar bei ihren Mamas mit einem strahlenden Nimbus umgibt, die aber unter reifen, seriösen Männern lächerlich wirkt. (Benito Perez Galdos: Dona Perfecta, S. 71)


Was noch blieb...

Als er und seine erste Frau hüfttief in Kindern staken, gingen rings um sie her Ehen in die Luft. Eheberater, Kinderpsychologen, Rechtsanwälte, Immobilienmakler ließen sich's wohl sein in den Ruinen. Jetzt, im Alter, hatte man nur noch ein kleines Geschäft für den Leichenbestatter zu vergeben und eine Stunde angenehme Arbeit für den Geistlichen am Ort. (John Updike: Der Mann, der ins Sopranfach wechselte, S. 311)


Im Alter

"Was kann an diesem Leib schon weh tun? Ich hör nicht mehr gut, ich seh nicht mehr gut, Schmerzen empfinde ich kaum, und ich kann mich auch nicht mehr gut erinnern. Anscheinend sind Schmerzen und Gedächtnis Sinne wie Hören und Sehen, was? Heute morgen hab ich mir gedacht, wer sich nicht mehr gut erinnern kann, vergißt auch einfach zu sterben. Und so schleppen wir uns ewig hin, bis zum Schluß schon kein Mensch mehr weiß, wie wir heißen und was wir in unserem Leben getan haben. Denn was hat ein Greis denn außer seinem Alter? Kraft hat er nicht, Verstand hat er nicht, eine Frau hat er nicht. Nur ein bißchen Erinnerung hat er, die ihm schier den Leib zerrüttet." Ein paar Sekunden später ergänzte er: "Und wenn Gott dir noch weitere Jahre gibt, gibt er dir bloß Gelegenheit, noch mehr Torheiten zu begehen." (Meir Shalev: Judiths Liebe, S. 194)


Geister der Kindheit

"Die Grube ist noch da, aber ich glaube, sie ist eingezäunt. Zu gefährlich. Vor zwanzig Jahren oder so ist da ein Junge ertrunken." Und als Rentzschler Kind war, hatte es auch geheißen, vor zwanzig Jahren oder so sei dort ein Junge ertrunken. Tote Kinder geistern über die Erde, um den lebenden angst zu machen, damit sie gehorchen. (John Updike: Der Mann, der ins Sopranfach wechselte, S. 176)


Ein Rückzug

Altern ist Rückzug. Ein Rückzug, den du nicht selbst vornimmst. Der in dir vorgenommen wird. Etwas, was dein Teil ist, zieht sich in dir von dir zurück. Du bist zuerst irritiert. Fühlst dich durch dich um dich betrogen. Daß du an dir das Interesse verlieren könntest, hast du nicht erwartet, aber es entweicht unaufhaltsam; wie aus einem Ballon, der ein winziges Leck hat, das Gas entweicht. (Christa Wolf: Sommerstück, S. 207)


Höheres Geschehen

Es war wie eine jener Szenen gewesen, die wir in der Kindheit, unterm Tisch kauernd oder übers Gelände des Gitterbetts lugend, mitbekommen: nichts verstehend, außer daß weitreichende Kräfte um uns am Werk sind - daß ein massiver, achtloser Dynamismus herrscht, vor dem wir als Kinder vorübergehend geschützt sind. (John Updike: Der Mann, der ins Sopranfach wechselte, S. 149)


Über die Generationen hinweg

Wir hören auf zu leben in dem Maße, wie wir das Leben kennen und erfahren haben. Wenn wir alles wissen und uns nichts mehr zu überraschen vermag, sind wir tot, gleichgültig wie viele Jahre wir noch zu leben haben. Und nur deswegen versuchen wir, der nächsten Generation, die wir um ihre Jugend beneiden, unsere Erfahrung weiterzugeben. Und eben deswegen weigern sich die jungen Leute so hartnäckig, uns anzuhören. Sie wollen von unseren Erfahrungen nichts wissen, sie haben, völlig zu Recht, Todesangst vor unseren Erfahrungen. (Wenn Gott wirklich allwissend ist, so muß er längst gestorben sein und versäumt haben, es uns mitzuteilen.) (Christoph Hein: Das Napoleon-Spiel, S. 120)


Verstecken und zeigen

Sich schämen ist auch ein Merkmal der Jugend. Weißt du eigentlich, woran ich gemerkt habe, daß ich älter werde? Ich sage Dir's. Ich gebe mir jetzt Mühe, vor mir selbst meine heiteren Empfindungen zu fördern und die traurigen zu unterdrücken: in den Tagen der Jugend hielt ich es dagegen genau anders. In der Jugend trägt man wohl seine Wehmut wie einen Schatz mit sich herum, und eine Aufwallung von Heiterkeit schien beinahe sündhaft. (Iwan Turgenjew: Drei Begegnungen, Erzählungen, S. 404)


Altersdemenz

"Ich habe niemanden. Eine Tochter ist besser als ein Sohn. Wenn ein Sohn erwachsen wird und anfängt, sich mit Mädchen einzulassen, dann vergißt er seine Mutter. Eine Tochter bleibt einem nahe. Ich habe noch meine Mutter, sie ist in einem Heim - senil. Ich besuche sie jede Woche. Ich sage zu ihr: 'Ich bin deine Tochter, Tirza, Terry', und sie fragt mich: 'Sind Sie die Krankenschwester oder die Frau des Doktors? Man gibt mir nichts zu essen hier. Man stiehlt mir alles.' Plötzlich spricht sie russisch zu mir. Ich sage: 'Mutter, ich verstehe dich nicht', aber sie spricht weiter russisch. Sie bekommt reichlich zu essen. Sie hat dort zwanzig Pfund zugenommen. Niemand stiehlt ihre Wäsche oder die paar Kleider . Ich sehe sie an und denke, ist das das Alter, das alle zu erreichen hoffen?" (Isaac Bashevis Singer: Ein Tag des Glücks. Geschichten von der Liebe, S. 308)


Seine Hohheit, das Kind

Ich bemerkte bald, daß mein Alter mir einen besonderen Status verlieh. Für die Zeit, die mit der Geburt beginnt und mit dem Eintritt in den Kindergarten endet, ist man im Land der aufgehenden Sonne ein Gott, und Nishio-san behandelte mich entsprechend. Mein Bruder, meine Schwester und die futago waren über dieses heilige Alter schon hinaus; mit ihnen sprach man daher wie mit gewöhnlichen Menschen. Ich dagegen war eine okosama, eine ehrenwerte kindliche Exzellenz, seine Hoheit, das Kind. Wenn ich morgens in die Küche kam, kniete Nishio-san nieder, um mit mir auf gleicher Höhe zu sein. Sie schlug mir nichts ab. Wenn ich den Wunsch zeigte, von ihrem Teller zu essen, was oft vorkam, weil mir ihre Kost mehr zusagte als meine eigene, rührte sie ihre Portion nicht mehr an, bis ich fertig war, und aß dann erst weiter, sofern ich die Seelengröße gehabt hatte, ihr etwas übrigzulassen. (Amelie Nothomb: Metaphysik der Röhren)


Babyexistenz

Außerhalb des Mutterleibs fängt sie erst richtig an, die Platzzuweisung. Du bist auf allen Seiten von Grenzen umgeben, du stößt dich in allem... Wie eine Pflanze in einem Felsen Wurzeln schlägt, so mußt du, um weiterzuleben, durch alles hindurchwachsen. Da ist kein Platz. Die Welt ist wie ein Korsett mit Stahlnadeln um dich festgesteckt. Was du ausscheidest, wirst du nicht los: Es haftet weiter an dir... verschmiert sich über dich... es fehlt an Raum. Du mußt das Leben durch ein kleines Loch einsaugen. Die Welt ist alles, was begrenzt, alles, was leugnet. Es gibt absolut keinen Platz für dich. Du wirst von deinem Vater und deinem Großvater verwünscht. Du schmarotzt von ihrer Nachtruhe. (A.Th.F. van der Heijden: Fallende Eltern, S. 474)


Erste Einsichten

"Was hast du jetzt eigentlich von der Welt zu erwarten, in die du dich in diesem Moment hinauswagst? Gut, es gibt ein paar Sicherheiten, auf die du bauen kannst... zwei, bestimmt nicht mehr... Laß mal sehen.. Die Frau um dich herum, derer du dich gerade entledigst... ebenso fremd wie vertraut... ist unumstößlich deine Mutter. Das ist schon mal Numero eins." "Zweitens: Du bist ein Junge", sagte Thjum. "Das heißt, männlichen Geschlechts." "Okay. Aber jetzt Numero drei... Sokrates ist sterblich. Mit anderen Worten: Auch du mußt daran glauben...." "Noch volkstümlicher ausgedrückt: Du kratzt ab... Aber mach weiter." (A.Th.F. van der Heijden: Fallende Eltern, S. 454)


Schutzringe

Was den Tod anbelangt, so gibt es zahllose Möglichkeiten, sich selbst zum Narren zu halten, eine noch vortrefflicher als die andere. Eine der hübschesten ist die von den Schutzringen. Je mehr Generationen der eigenen Familie noch am Leben sind, desto gepanzerter gegen den Tod kann man sich fühlen. Urgroßeltern, Großeltern, Eltern... es müssen so viele Saturnringe durchbrochen werden, ehe man selbst an der Reihe ist. Du wähnst dich sicher im Zentrum all dieser sich gegenseitig umschließenden Generationsschichten. Die beiden Elternteile, die dich umschließen, werden von vier Großeltern umschlossen, die eine Rinde von nicht weniger als acht Urgroßeltern um sich haben. In der nach beiden Großvätern auch noch dein Vater von dir abgeschält worden, so daß du deinerseits der äußerste Schutzring für deine Kinder und Kindeskinder geworden bist, so wird dir ein ganz hübsch kalter Wind um die Ohren blasen. Dann wird an dir gezerrt und gerissen. Das ist die rauhe Kehrseite allen Vaterhasses. (A.Th.F. van der Heijden: Fallende Eltern, S. 443)


Pläne

O ja, ich wollte leidenschaftlich in die Welt eingehen, an ihr teilhaben, anstatt nur ein Teil ihrer zu sein. Gleichzeitig jedoch wollte ich das Engelchen bleiben, der untadelige kleine Junge, Mutters Liebling, in dessen Frätzchen sich kein Charakterzug einkerben durfte... Ich wollte in die Welt eingehen, durfte von ihr jedoch weder angetastet noch angefressen werden. Am liebsten sollte die Zeit zahnlos an mir vorbeiziehen. Und wenn es denn wirklich nicht zu umgehen war, sollte eben an mir gelutscht werden wie an einem sauren Bonbon, damit ich schmerzlich und unmerklich dahinschwand... um schließlich, mit achtzig oder neunzig Jahren, ahnungslos zu zerfallen... (A.Th.F. van der Heijden: Fallende Eltern, S. 28)


In Knospen ausbrechen

Mrs. Fisher dachte gerade daran, wie verdutzt die anderen sein würden, wenn sie ihnen von ihrem so seltsamen und erregenden Gefühl erzählen würde, sie müsse bald in Knospen ausbrechen. Sie würden sie für eine lächerliche alte Frau halten, und genau das hätte sie selbst noch vor zwei Tagen gedacht; aber die Vorstellung vom Knospen wurde ihr langsam vertraut, sie war jetzt schon ganz apprivoisee, wie der gute Matthew Arnold zu sagen pflegte. Zweifellos wäre es am schönsten, wenn das Äußere den Gefühlen entsprach, aber angenommen, das ginge nicht - und man konnte nicht alles haben -, wäre es dann nicht besser, sich wenigstens teilweise jung zu fühlen, als ganz alt? Es bliebe ihr noch genügend Zeit, sich wieder ganz alt zu fühlen, innerlich wie äußerlich, wenn sie zu ihrem Sarkophag in der Price- of-Wales-Terrace heimkehrte. (Elizabeth von Arnim: Verzauberter April, S. 225f.)


Nichts als Alter

Ich bin nun ziemlich weit umhergewandert in meinem Leben und bin jetzt dumm und verblüht. Aber ich habe nicht den perversen Glauben der Greise, daß ich weiser geworden bin, als ich war. Und ich hoffe auch, daß ich niemals weise werde. Das ist das Zeichen des Verfalls. Wenn ich Gott für das Leben danke, so geschieht das nicht kraft einer höheren Reife, die mit dem Alter gekommen ist, sondern weil ich immer Freude am Leben gehabt habe. Das Alter schenkt keine Reife, das Alter schenkt nichts als Alter. (Knut Hamsun: Gedämpftes Saitenspiel, S.284f.)


In den Wechseljahren

Ich werde Pemal bitten, bei mir vorbeizukommen. Er wird mir neue Medikamente verschreiben, wird mir wieder einmal raten, der Maschine nicht zuviel zuzumuten, und wird mir wiederholen, daß Männer, genau wie Frauen, ihre Wechseljahre haben. Nach seiner Meinung bin ich mitten in den Wechseljahren. "Warten Sie ab, bis Sie fünfzig sind. Sie werden überrascht sein, wieviel jünger und kräftiger Sie sich dann fühlen." Trotz seiner sechzig Jahre beginnt er seine Visiten morgens um acht, wenn nicht noch früher, und ist abends um zehn damit fertig. Und dann läßt er sich auch noch nachts herausklingeln. Ich habe ihn immer in der gleichen Stimmung gesehen - ein maliziöses Lächeln auf den Lippen, als fände er es amüsant, wie sich die Leute um ihre Gesundheit ängstigen. (Georges Simenon: Im Falle eines Unfalls, S. 81)


Zwischen 20 und 40

Was bedeuten die Jahre zwischen zwanzig und vierzig? Man ist beschäftigt mit seinen Gefühlen, mit sich selbst. Das muß so sein. Das ist das Leben. Aber später verschieben sich die Akzente. Man denkt klarer, lernt beobachten, andere Menschen verstehen und erhält Einsichten in viele Zusammenhänge. Das Leben wird wirklich - bedeutungsvoll. Man sieht es als ein Ganzes. Nicht nur eine einzelne Szene, in der man gerade als Schauspieler agiert. Kein Mensch ist wirklich er selbst vor fünfundvierzig. Dann erst hat seine Individualität eine Chance. (Agatha Christie: Paradies Pollensa)


Zusammenschrumpeln

Dunkle, schwere Tage sind angebrochen. Die eigenen Krankheiten, die Gebrechen der Menschen, die einem nahestehen, die Kälte und die Düsterkeit des Alters... Alles, was man geliebt und dem man sich unwiderruflich verschrieben hat, welkt dahin, löst sich auf. Es geht bergab. Was tun? Trauern? Sich grämen? Damit hilft man weder sich selbst noch den anderen. An einem vertrockenenden, verschrumpelten Baum sind die Blätter kleiner und spärlicher - aber das Grün bleibt dasselbe. So schrumpel auch du zusammen und zieh dich in dich selbst, in deine Erinnerungen zurück - und dort, tief unten, auf dem Grunde deiner gesammelten Seele, wird dein früheres, von dir allein überschaubares Leben vor dir aufleuchten, mit seinem würzig duftendem, immer noch frischem Grün und mit der Zärtlichkeit und Kraft des Frühlings. Aber sei vorsichtig, armer Alter - schau nicht nach vorn! (Iwan Turgenjew: Altern)


Ende der Kindheit

Es wurde nun alles anders. Die Kindheit fiel um mich her in Trümmer. Die Eltern sahen mich mit einer gewissen Verlegenheit an. Die Schwestern waren mir ganz fremd geworden. Eine Ernüchterung verfälschte und verblaßte mir die gewohnten Gefühle und Freuden, der Garten war ohne Duft, der Wald lockte nicht, die Welt stand um mich her wie ein Ausverkauf alter Sachen, fad und reizlos, die Bücher waren Papier, die Musik war ein Geräusch. So fällt um einen herbstlichen Baum her das Laub, er fühlt es nicht, Regen rinnt an ihm herab, oder Sonne, oder Frost, und in ihm zieht das Leben sich langsam ins Engste und Innerste zurück. Er stirbt nicht. Er wartet. (Hermann Hesse: Demian, S. 68)


Unsere Jugend

Unsre Jugend ist die Zeit unsrer Freude, sie ist der Frühling im Jahr. Unser junges feuriges Blut wiegt die Seele in süße Träume zukünftigen Glücks, die blühende Wange verjagt das ganze Gefolge von blassen Schrecken, Schwermut und Qualen, die Gesundheit des Körpers stählt die Gesundheit der Seele, unsre Unerfahrenheit der Leiden, die so oft im menschlichen Leben aufstoßen, der Mut, der noch nicht durch mißglückte Versuche entnervt ist, die Einbildung, daß lauter Engel die Welt bewohnen, und der Schluß von der gegenwärtigen Freude auf die zukünftige, alles dieses macht die glückliche Zeit unsers Leben, die so bald verfließt, so oft beklagt, und nie zurückgerufen wird. (Jean Paul: Tagebuch meiner Arbeiten, September 1781) ^


Nichts Gutes daran

Wir tranken Wein und sprachen über das Alter, als wüßten wir etwas darüber. Jetzt, vierzig oder fünzig Jahre später, weiß ich, was Alter ist, und ich kann nichts, gar nichts Gutes daran finden. Alles, was Gutes über das Alter gesagt ist, ist dumm oder gelogen; über die Weisheit des Alters zum Beispiel, als könnte man nicht weise werden, ohne bei lebendigem Leibe zu verfaulen. Das langsame Ertauben, Erblinden, Erstarren, Verblöden. (Monika Maron: Animal triste) ^


Liebesentzug kann tödlich sein

Ihren Ärger läßt Schwester Benedikte an den jungen Leuten aus. Ihnen, die sie für ein Ehepaar hält, lastet sie alles an, was die neue Zeit, die nur auf Nutzen bedacht ist, an den Alten verübt. Arbeiten können sie nicht mehr, und Ratschläge können sie auch nicht mehr geben, da ihr Erfahrungsschatz schneller alt wurde als sie. Dem Fortschritt sind sie im Wege, also schiebt man sie ab. Wäre das Brot knapp, entzöge man es ihnen; da aber die Zeit für Liebe und Güte knapp ist, spart man damit an ihnen. "Aber auch Liebesentzug", sagt Schwester Benedikt, "kann tödlich sein." (Günter de Bruyn: Neue Herrlichkeit)  ^


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