Die Kunst des Alterns (1)

Golden Age oder Endstation? [^^] [^]


Themenstreusel: Alter(n)
Linkdump: Alter(n)
Literaturhinweise & Bibliografie

Ist der Tod ansteckend?
In der Demenzabteilung
Sich mit dem Mangel arrangieren
Im Pflegeheim (2)
Im Pflegeheim (1)
Fortschreitende Versteinerungen
Altersarmut
Fehlende Rückenstärkung
Agressives Altern
Trockendock für Alkoholiker
3 Phasen des Alterns
Haustiere in der Pflege
Kamerakauf
Das Wunder des Alters
Der Mann als Rentner
Mit 98 Jahren
Vater & Sohn
Dem Ziel entgegen
Tempo beim Altern
Im Gesicht
Die Würde der Gebrechlichkeit
Vegetatives
Gewesensein und Sein
Libido und Alter
Älterwerden & Gewohnheit
Sex unter älteren Menschen
Wohltätige Schatten
Nachlassende Energien
In Geselligkeit
2 Arten von Einsamkeit
Lebenszeit, Lebensgefühl
Beginnendes Alter
Doppelte Sichtweise
Hauptwasserscheide
Stolpersteine des Alters
Der Geruch des Alters
Endstation Pflegeheim
Über 70
Walter Vogt: Altern (2)
Walter Vogt: Altern (1)
Der Ernst des Alters
Die Zeit aufhalten
Grenzalter und Pufferzone
Adrenalin in alten Adern
Forever Young
Das Knacken des seelischen Rückgrates
Fünzig Jahre alt!
Verlust von Eigenschaften
Unliebsame Zeugenschaft
Sportlicher Rückzug
Gruftgeneration
Dumme Angewöhnung
Verengter Horizont
Zu müde, um weiterzukraxeln
Altersfrei
Jugend und Alter
Mühe bis in den Tod
Alt werden
Ein Kriterium
Was noch blieb...
Im Alter
Ein Rückzug
Über die Generationen hinweg
Altersdemenz
Schutzringe
In Knospen ausbrechen
In den Wechseljahren
Zusammenschrumpeln
Nichts Gutes daran


Ist der Tod ansteckend?

Wenn man alt wird, besonders, wenn man wie ich zu alt wird, gewöhnt man sich an den Tod. Als ich alt wurde, kam er mir vor wie eine Krankheit, die sich ausbreitete, die immer mehr meiner Bekannten infizierte. Der Tod wurde von Jahr zu Jahr ansteckender, und wenn ich an Beerdigungen war, fragte ich mich jedes Mal, wer sich wohl an der aufgebahrten Leiche angesteckt haben mochte. Wer als Nächstes dran war. Lange hoffte ich, dass es mich noch lange nicht treffen würde. Dann fing ich an zu hoffen, dass es mich möglichst bald treffen möge. (Frederic Zwicker: Hier können Sie im Kreis gehen)  ^


In der Demenzabteilung

Besonders auf der Demenzabteilung muss es wahnsinnig schwierig sein. Eine Dementenpflegerin hat keine Zeit für eigene Gedanken, außer vielleicht auf der Toilette. Es gibt kaum eine ruhige Minute. Das würde mir am meisten zu schaffen machen. Ein Bauarbeiter kann sein Straßenstück walzen und dabei ein bisschen abschalten. Ein Schreiner kann in sich versunken ein Brett sägen. Der Bauer beim Heuen, der Journalist beim Schreiben, der Bäcker beim Teigkneten, sie haben alle Zeit für ihre Gedanken. Die Pflegerin nicht. Sie muss ständig aufmerksam sein, jedes Stolpern registrieren, bevor ein Fuß seinen sturzbringenden Schritt vollenden kann, den Stuhl unterschieben, bevor der spröde Hintern den Boden berührt, wo die Hüfte bricht. Sie muss ständig bereit sein, mit sinnlosen Fragen gelöchert zu werden, mit Hirngespinsten, die sie tausendmal gehört und zerstreut hat. Sie muss ständig nett antworten, besänftigen, beruhigen. Sie muss permanent beruhigend wirken. Und dafür muss sie ruhig sein. Doch auch sie ist ein Mensch mit einem Leben. Auch sie hat einen Ehemann, der mit einer anderen schläft, einen Sohn, der keine Lehrstelle findet, eine Tochter, die sich ein Kind wegmachen lassen muss, einen Vater, der dement wird. Ich habe gehört, dass der Vater einer Pflegerin auf der Demenzabteilung an Alzheimer erkrankt ist. Sie hat ihn zu sich nach Hause geholt, den Vater. Stell dir das vor, Sophie. Stell dir vor, du müsstest den ganzen Tag lang Schwachsinn ertragen. Und dann, endlich Feierabend, gehst du heim zum Schwachsinndessert. (Frederic Zwicker: Hier können Sie im Kreis gehen)  ^


Sich mit dem Mangel arrangieren

Es muss frustrierend sein, wenn man als Physiotherapeutin im Pflegeheim arbeitet. Der größte erreichbare Erfolg besteht darin, den Zerfall ein wenig zu verlangsamen. Wenn sich ein Defekt in einen alten Körper eingeschlichen hat, dann ist er gekommen, um zu bleiben. Man kann sich nur besser oder schlechter mit ihm arrangieren. Gehhilfen, Rollstühle und Morphium sind die Mittelchen, das Zaumzeug, mit dessen Hilfe man ihn zu bezähmen sucht. (Frederic Zwicker: Hier können Sie im Kreis gehen) ^


Im Pflegeheim (2)

Ein Pflegeheim ist ein Reagenzglas, in dem Chemikalien vermischt werden. Nur gibt es keinen Chemiker, der diesen Prozess überwacht und lenkt. Nur Pflegerinnen mit Feuerlöschern, die versuchen, den Schaden zu begrenzen, wenn die Stoffe miteinander reagieren und es zu einem Brand oder gar zur Explosion kommt. Doch auch der geschickteste Chemiker wäre machtlos im Umgang mit diesen Stoffen, die im Minuten- oder Sekundentakt ihre Eigenschaften ändern. (...) Die Bewohner eines Pflegeheims sind nur flüchtige Bekannte. Sie sprechen über das Wetter und über das Essen. Ihre Lebensgeschichten erzählen sie sich nicht. Die Geschichten sollen weiterleben, und die anderen Insassen sind ebenso zerbrechliche Gefäße wie sie selber. Wir essen Tag für Tag im gleichen Raum, sitzen am selben Tisch, schlafen Tür an Tür oder teilen sogar ein Zimmer. Es ist eine große Wohngemeinschaft, wo man sich seine Mitbewohner nicht aussucht und mit Menschen zusammengepfercht ist, denen man aus dem Weg gehen würde, wenn man es könnte. Liebschaften gibt es, Freundschaften weniger. Trotz aller räumlichen Nähe wahrt man den Abstand, den man früher vielleicht zu den Nachbarn gepflegt hat. (Frederic Zwicker: Hier können Sie im Kreis gehen) ^


Im Pflegeheim (1)

Wer im Pflegeheim lebt, der weiß, dass dies seine letzte Station ist. Selbstverständlich gibt es manche, die glauben, das Heim bald wieder verlassen zu können. Und hin und wieder gelingt es dem einen oder der anderen sogar. Aber es kommt so selten vor, dass das Gesetz gilt: Wer ins Pflegeheim zieht, kommt nicht mehr lebend hinaus. Die allermeisten hier warten auf den Tod. Ihre Körper zerfallen. Vor einem Monat konnten sie noch zu Fuß vom Zimmer zum Esstisch laufen. Jetzt schaffen sie nicht mehr den halben Weg. Und egal, wie enthusiastisch die Motivationsmonologe der Physiotherapeutinnen ausfallen, Herr Tadicek sieht keinen Grund mehr, sich aus seinem Rollstuhl zu stemmen, ein paar zittrige Schrittchen zu wagen, gestützt von der Therapeutin, in ständiger Angst vor dem Sturz. Die Rückschritte werden sorgfältig registriert. Wer strengt sich denn noch an, wenn ihm die Physiotherapie sowieso im Wochenzyklus vor Augen führt, dass sich alle Glieder und Gelenke zum Grab hin sehnen? Was bleibt, sind Erinnerungen an die Zeit vor dem Pflegeheim. Und jeder Einzelne will diese Erinnerungen teilen. (Frederic Zwicker: Hier können Sie im Kreis gehen) ^


Fortschreitende Versteinerungen

In diesem jungen Menschen pulsierte das frische, kraftvolle und obendrein noch ziemlich unbedarfte Leben. Außerdem stellte der kolossale Altersunterschied zwischen ihnen automatisch die Distanz her, die er für angenehm erachtete, ja, die ihm den näheren Kontakt mit den allermeisten Mitmenschen im Grunde genommen erst erträglich machte. Franz war blutjung, des Professors Welt hingegen drohte immer mehr zu vergreisen. Selbst seine Tochter, der er, wie ihm plötzlich vorkam, erst vorgestern noch auf dem Badewannenrand sitzend die Milchzähne geputzt hatte, war nun schon über vierzig Jahre alt. Ganz zu schweigen von den Patienten sowie vom Rest der Verwandtschaft und den wenigen Freunden, die noch geblieben waren. Langsam, mit seniorenhaften Schrittchen trippelte man der fortschreitenden Versteinerungen entgegen, bis man sich schließlich, ohne großartig aufzufallen, in die eigene Antiquitätensammlung würde einordnen können. (Robert Seethaler: Der Trafikant)  ^


Altersarmut

Ich gucke eine ZDF-Reportage über Altersarmut. Gerne würde ich noch Näheres wissen. Die geschilderten Fälle haben abzüglich aller Fixkosten zirka EUR 150.- monatlich übrig, die für das Leben reichen müssen, was vor allem bedeutet: zu essen. Bei einer Rente von EUR 1100.-, wie in zwei Fällen, wären das EUR 950.- Fixkosten. So sehr einen der beschriebene Alltagskampf in der Dokumentation auch nahegeht und wütend macht über die Schere zwischen arm und reich, so genau muß man dann hingucken. Bei der bezifferten Höhe der Fixkosten läge in ihnen die Schraube, an der zu drehen wäre. Ich nehme an, daß der größte Posten durch die Miete bestimmt wird. Es nützt kein Drumherumreden. Wenn ich so wenig Rente bekäme, müßte ich mir eine Wohngegend und eine Wohnung in Deutschland suchen, die dem entgegen käme. Heimat und Familie hin und her, man müßte gegebenenfalls umziehen. Ich selbst habe Fixkosten von 517.- Euro. Mit einer Rente von 1100.- Euro wie bei den Rentnern käme ich also locker hin. Und ich könnte einsparen und nehme auch an, daß sich bei den Fixkosten der Rentner einiges tun ließe, damit der Rest für Nahrung etc. etwas größer ausfiele. Als Rentner bräuchte ich keine Monatskarte der LVB (Leipziger Verkehrbetriebe) = EUR 48,90 mehr; denn der Arbeitsweg fiele weg, für den das Abo hauptsächlich gedacht ist. Ich würde meine Handyflat kündigen = EUR 15.- An der Energiepauschale von EUR 39.- kann ich wenig ändern; allenfalls endlich den Schritt zu Energiesparlampen tun. Die Versicherungen von EUR 8,70 (Hausrat + Haftpflicht) sind so minimal kalkuliert, daß hier kein Potenzial zu sehen ist. Die EUR 25.- für den Internetzugang bei 1&1 sind ebenso diskussionswürdig. Aufs Netz würde ich nur im Fall drohenden Hungers verzichten, würde wohl aber einen kostengünstigeren Tarif finden, der für die wichtigen Aktivitäten im Netz reichen müßte. Die EUR 18.- für die GEZ, tja, was genau passiert, wenn man sie nicht zahlte? Und meine Miete von EUR 361,60 ist selbst für Leipziger Verhältnisse günstig. Bilanzierend gesagt, würde ich die Fixkosten um möglicherweise EUR 70.- auf EUR 450.- drücken können. So detailiert würde ich die Fixkosten der in der Reportage beschriebenen Rentner durchgehen, bei denen die Fixkosten fast doppelt so hoch aus=auffallen wie bei mir. Also, bei aller grundsätzlichen Tendenz in Deutschland, im Alter rechnen und sparen und seine Bedürfnisse einschränken zu müssen, man müßte genau hinschauen und käme um einschneidende Veränderungen nicht herum. Beispielsweis gestattet die Berliner Rentnerin einen Blick auf ihre Kosten. Zu sehen sind EUR 51.- BVG und EUR 24.- für die Bildzeitung. Müssen EUR 31.- für eine Sterbegeldversicherung sein, die doch den Hinterbliebenen nützten, die doch jetzt das Schicksal der Rentnerin beeinflussen könnten? Und EUR 29.- für Telefon ist quatsch. Mein Vater hat für EUR 10.- eine Flat bei Vodafone. Leider kann man eine Kreditabzahlung (hier: EUR 165.- ) nur vermeiden, wenn man vorher keinen aufnimmt. Klug sein demnach schon in jüngeren Jahren. Ich wollte keineswegs zynisch sein, sondern nur verdeutlichen, daß ich schon in einem der gezeigten Fälle deutliches Einsparpotenzial (zirka EUR 110.-) sehe, ohne daß hier sofort an Umzug in eine billigere Wohngegend in Deutschland gedacht werden muß. ^


Fehlende Rückenstärkung

Manchmal denke ich mir: Beim nächsten Ausbruch organisierten Hasses werden nicht die Juden in die Gaskammern wandern, sondern die Greise. Nichts wird die Ärmsten retten können. Die früher übliche Ehrfurcht vor dem Alter hat im gleichen Maße abgenommen, wie die menschliche Lebenserwartung gestiegen ist und die Zahl der alten Menschen zunimmt. Als "unnütze Esser" wird man sie vernichten. Selbst die erbittertsten Antisemiten konnten hie und da noch zugestehen, dass es Juden gab oder gegeben hatte, die der Menschheit große Dienste erwiesen haben. Die Juden hatten und haben außerdem ein von Gott selbst geschriebenes Buch als Rückenstärkung. Worauf aber können die Alten sich berufen in einer Welt, in der alles, was als wichtig gilt - Fußballspielen, Radrennen fahren, Popmusik machen, kämpfen, zum Mond fliegen, Flugzeuge steuern und potent sein-, allein der Jugend vorbehalten ist? (Willem Frederik Hermans: Unter Professoren) ^


Agressives Altern

'Media vita in morte sumus' - wir wissen, daß "wir mitten im Leben vom Tod umgeben" sind. Schließlich beginnt unser Sterben mit dem Tag unserer Geburt. Doch aufgrund des medizinischen Fortschritts wird die Mehrheit der Amerikaner ihren Lebensabend als verlängerten Sterbeprozess erleben. Die über Fünfundachtzigjährigen stellen den am schnellsten wachsenden Anteil der US-Bevölkerung; in diesem Zusammenhang spreche ich immer von "aggressivem Altern". Im Alter von fünfundachtzig besteht nicht nur das erhöhte Risiko, dement zu werden oder tödlich zu erkranken; aus den Statistiken geht überdies hervor, daß man mit fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit zum Pflegefall wird, was die Frage aufwirft, ob sich ein erfülltes Leben nach Jahren bemessen läßt. Dieses langsame Dahinsiechen gab es so früher nicht; die Leute starben oft von einem Tag auf den anderen. Im frühen 19. Jahrhundert war es üblich, Daguerrotypien von Verstorbenen anzufertigen. Die Toten, die darauf zu sehen sind, häufig Opfer von Scharlach und Diphterie, wirken zuweilen wie das blühende Leben. Im Jahr 1899 waren lediglich vier Prozent der amerikanischen Bevölkerung über fünfundsechzig Jahre alt; fünfundachtzig wurde so gut wie niemand. Heutzutage werden viele Menschen erst nach monate- oder gar jahrelangem Siechtum vom Tod ereilt. In gewisser Weise gibt uns die Medizin "Gelegenheit", an unseren eigenen Sterbetten Totenwache zu halten. (Caitlin Doughty: Fragen Sie Ihren Bestatter. Lektionen aus dem Krematorium)  ^


Trockendock für Alkoholiker

Allerdings ist der Sophienhof kein Altersheim, wie ich jahrelang angenommen hatte. Über der Klingel zum Büro steht: "Nachsorgeeinrichtung für suchtkranke Senioren", also eine Art Trockendock für Rentnerjunkies, tablettensüchtige Großmütter und vor allem betagte Alkoholiker. (...) Im Sophienhof geht es weniger um ein Happy End für betagte und gebrechliche Menschen, als vielmehr um einen Neustart. Wobei - und das ist nicht uninteressant - das Wort "Neunanfang" selbst gemieden wird. Wer will denn neu anfangen? Wieder von vorn beginnen? Wer kann das schon? Du kannst anders weitermachen, aber nicht neu anfangen. Im Schehrsdorfer Trockendock wird das alte Schiff noch mal aufgemotzt, seetauglich gemacht. Für die weite See wird es nicht mehr reichen; Oma oder Opa bleiben besser in Hafennähe, aber immerhin. (Karsten Krampitz: Wasserstand und Tauchtiefe)


3 Phasen des Alterns

Forscher an Amerika wollen übrigens herausgefunden haben, daß es beim Altwerden drei Phasen gibt:
Phase 1: Wenn man es selber merkt.
Phase 2: Wenn es auch die anderen merken. Und zum Schluss:
Phase 3: Wenn es nur noch die anderen merken.
(Karsten Krampitz: Wasserstand und Tauchtiefe)


Haustiere in der Pflege

Wie ich gehört habe, beschäftigen inzwischen immer mehr Einrichtungen mit Erfolg Haustiere als Therapeuten. Der Preis einer Dose Hundefutter ist nichts im Vergleich zum - wenn auch erbärmlichen - Lohn einer Kraft in der Pflege. Und dann ist erst noch die Frage, was einem Menschen kurz vorm Erlöschen mehr Freude bereitet: ein stiller, zufriedener Genießer auf dem Schoß oder ein plärrender Arschabwischer mit vor Unterbezahlung vergrätzter Stimmung am Bett. (Dimitri Verhulst: Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau)


Kamerakauf

... dass es ihrer Ansicht nach typisch für Männer sei, sich im gewissen fortgeschrittenen Lebensalter eine teure Kamera zu kaufen, mit der sie dann weder künstlerisch wertvolle noch auch nur halbwegs professionelle Fotos machten, wie sollten sie auch, sondern ausgestattet wie Kriegsberichterstatter oder Großwildjäger in den Zoo gingen und Tiere fotografierten. Sie beendete ihre Ausführungen über diese älteren fotografierenden Männer mit der bemerkenswerten Diagnose: "Je größer das Objektiv, desto näher der Prostatakrebs." (Hans-Ulrich Treichel: Frühe Störung)


Das Wunder des Alters

Und dann fing ich ein Gespräch mit einer uralten Frau an, die neben mir auf der Bank saß. Sie erzählte unversehens ihr Leben, und weil das eine Geschichte für Dich ist, habe ich zugehört. Die Frau war siebenundachtzig, ein Häufchen Knochen und gerade noch funktionsfähiger Organe, das Auge matt, das Haar spärlich, ein paar weiße Strähnen um einen kahlen Kopf mit wunder Schläfe. Der Kopf wirkte so deformiert wie die ganze Gestalt. Warum spricht man beim Anblick nur junger Menschen Tiere Blumen vom Wunder des Lebens? Ist nicht auch diese Frau eins? Da pumpt ein müder Muskel noch ein bißchen wäßriges Blut durch mürbe Adern und belebt ein Gehirn, das achtzig Jahre Geschichte und Schicksal aufgenommen hat; ein Bewußtsein, das demnächst zerfallen wird, aber bereit ist, uns noch einen letzten Blick darauf zu gewähren, bevor die Tür zufällt. (Petra Morsbach: Dichterliebe)


Der Mann als Rentner

Wie viele Männer seines Alters existierte er im Ruhestand wie ein Findling nach der Eiszeit. Er war einfach da. Nichts gab es, und sei es noch so klein, was ihn angezogen, worauf er sich zubewegt hätte. Sein gesamtes geistiges Kapital war von einem schwarzen Loch geschluckt worden, in das er vor vielen Jahren investiert hatte. Freunde hatte er nicht. Und der ehelichen Arbeitsteilung gemäß oblagen ihm nur die Arbeiten außerhalb des Hauses. Die allerdings erledigte er mit fast zeremoniellem Bedacht. Der Durchbruch an der Somme konnte kaum mehr Aufwand verlangt haben als der Weg zum Reformhaus oder zur Apotheke. Nachdem er den Einkaufszettel auf das rechte Format - aus dem beschrifteten Stück Papierrolle war ein Notizblatt geworden - gebracht, sein schwarzes Portemonnaie mit einer schweren Scherenbewegung in die hintere Hosentasche gesteckt und seine Wetterjacke angelegt hatte, nahm Großmutter sein Gesicht in beide Hände, zog es zu sich hinunter und gab ihm einen ziemlich dicken Kuss. Er mochte 1940 noch etwas inniger gewesen sein, aber auch die Eroberung von Werlandbrot erforderte einen Abschied. (Per Leo: Flut und Boden)


Mit 98 Jahren

Katty war aufgestanden und räumte das Geschirr ab. Paula versuchte gar nicht erst, ihr zu helfen. Ob die Tassen und Teller bei ihren schlechten Augen heil in der Küche angekommen wären, war mehr als fraglich. Sie hatte grauen Star und grünen Star und im Prinzip war sie einfach alt, dachte sie oft. Sie konnte zwar noch sehen, aber ihr Blickfeld war mittlerweile so zusammengeschrumpft, dass sie das Gefühl hatte, permanent durch ein Schlüsselloch zu gucken. Das Blut hatte wohl keine Kraft mehr, um in jeden Winkel ihres Körpers zu gelangen. Aber sie war heilfroh, dass es noch ins Gehirn kam. Blind ging noch, blöd hätte sie nicht ertragen. (Anne Gesthuysen: Wir sind doch Schwestern)


Vater & Sohn

Als ich mit achtzehn mein Elternhaus verlassen hatte, war ich davon ausgegangen, dass die große Vater-Sohn- Zeit für immer vorbei war. Ich war nicht davon ausgegangen, dass wir noch einmal so viel miteinander zu tun bekommen würden. Ein paar altersgerechte, würdige Spaziergänge vielleicht, ein paar Geburtstage mit kleinem Prosit, die Kaffeekränzchen. Nie hätte ich gedacht, dass das Alter meines Vaters so eine Verunstaltung mit sich bringen würde, mit lauter Heulen, Ächzen und Schreien. Ich hatte einen überheblichen Moment lang geglaubt, meinem Vater ein paar Tage den Arm zur Stütze anzubieten würde alles wieder ins Lot bringen. Aber so war es nicht. Es würde dahin kommen, dass ich vor Dreck und Einerlei und Erschöpfung um sein Ende bitten würde. Ich hatte vielleicht die Kraft, aber nicht die Selbstverleugnung, ihn über Jahre ins Bett zu bringen. Und mich derart selbst erkennen zu müssen widerte mich an. Vater und Sohn - das ging doch anders. (Stefan Schwarz: Das wird ein bisschen wehtun)


Dem Ziel entgegen

Marschiert nur weiter, eurem Ziel entgegen! Dem magischen Alter ab Siebzig. Da wird das Leben selbst zur Kostbarkeit. Glaubt nicht dem Gejammer über schmerzende Knochen. Es stimmt zwar, daß die Anzahl der Schmerzen pro Stunde und Quadratzentimeter der eigenen Körperoberfläche mit zunehmenden Alter ebenfalls ständig zunimmt, aber umgekehrt nimmt die Schmerzempfindlichkeit im gleichen Maße ab. Man gewöhnt sich an den Schmerz, oder er wird einem im großen und ganzen gleichgültig. Gewiß, würde man eine Zwanzigjährige in den Körper einer Siebzigjährigen stecken, dann hörte sie mit Schreien gar nicht mehr auf. Viele Alte spüren überhaupt keinen Schmerz mehr, aber sie tun noch so - es ist eine Form von höflicher Konversation mit anderen Alten. Mit Seufzern und Klagen bekräftigen sie ihre fröhliche Verbundenheit. Nach Siebzig bricht der Kampf zwischen den Geschlechtern plötzlich ab. Friedenszeit. Männer und Frauen werden einander immer ähnlicher, alle verlieren nun ihre Haare, und selbst die Brüste des Mannes baumeln nun schlaff herunter, während der Hintern der Frau so flach wird wie ein Pfannkuchen. Näher kommt man auf Erden dem Paradies nicht. Männer und Frauen hören auf, voneinander das Unmögliche zu verlangen. Die Beziehungen werden liebenswürdiger. (Irene Dische: Großmama packt aus, S. 327)


Tempo beim Altern

Der Mensch altert im Lauf der Jahre nicht allmählich und in gleichbleibendem Tempo. Seht auch nur um in der Welt, ob ich nicht recht habe - einmal abgesehen von jenen seltenen Fällen, wo ein Mensch lebt und stirbt ohne Freud und Leid, wie eine Pflanze. Ein Mann strotzt normalerweise bis zu einem bestimmten Alter vor blühender, jugendlicher Gesundheit. Irgendwann, mit dreißig, vierzig oder fünfzig, kommt ein beißender Frost, eine qualvolle Zeit, die allen Saft aus den Körperfasern zieht, und mit einem Mal zählt der vordem gesunde, munderte Mann zu den Alten. (Anthony Trollope: Die Türme von Barchester, S. 515)


Im Gesicht

"Ihr Gesicht bleibt von den unangenehmen Augenblicken verschont, in denen eine ungünstige Beleuchtung einen Makel unterstreicht oder eine Falte vorwegnimmt. Anscheinend sind Licht und Dunkel in sie verliebt. Das muß ich ihr sagen. Nein, dann behandelt sie mich noch schlechter." Gewisse Spuren einstiger Schönheit zeigten sich noch in Madame Vasseurs Gesicht, aber eigentlich nur, um ihre traurige Zerstörung zu beklagen. Ihr weißes Gesicht unterlag einer Art Versteinerung, welche die Natur beim Herannahen des Alters beginnt und auf dem Totenbett vollendet. Während sich das Leben aus den Augen und dann aus den Lippen zurückzieht, verhärtet sich der Blick, und die Muskeln erstarren wie unter einem eisigen Hauch. Madame Vassuer war sich dieses banalen Unglücks durchaus bewußt und schminkte sich, so gut es ging, um ihrer Tochter nicht zu schaden, denn zwischen ihnen bestand ein Altersunterschied von zweiunddreißig Jahren. "Du hättest mich mit zwanzig bekommen sollen", sagte Ulrike. "Dann wärst du jetzt aber zwölf Jahre älter, das darfst du nicht vergessen." "Es ist ungerecht", dachte Ulrike. "Mit dreißig bin ich die Tochter einer alten Dame." Und laut fügte sie hinzu: "Ich will nicht, daß du dieses Puder auflegst, Mama. Kein Maurer würde damit seinen Mörtel anrühren." (Julien Green: Der Übeltäter, S. 34)


Die Würde der Gebrechlichkeit

So ungerecht die Natur auch ist in ihrer Bosheit, die Männer blind zu machen, wenn sie lieben: Sie gleicht dieser Ungerechtigkeit aus, indem sie den Glanz der Frauen, der die Männer einst geblendet hat, ziemlich früh erlöschen läßt und indem sie die alten Damen zwingt, mit den Jahren die zweifelhafte Hilfe der Friseure, Masseure und Chirurgen in Anspruch zu nehmen, damit die verfallenen Brüste, Bäuche, Wangen und Schenkel wieder eine halbwegs annehmbare Form bekommen. Als eine Art von aufgebesserten Gipsfiguren sinken die einstmals schönen Frauen ins Grab. Die Männer aber, die weise genug waren, nicht an ihnen zu sterben, werden von der Natur belohnt: Bekleidet mit der Würde des Silbers und der nicht minderen Würde der Gebrechlichkeit gehen sie in den Schoß Gottes ein. (Joseph Roth: Triumph der Schönheit)


Vegetatives

Müde lehnte der Graf sich zurück und schloß die Augen, seine Schwester schaute ihn erschrocken an. "Wie ist dir, Hamilkar?" fragte sie, "du bist so bleich?" Der Graf winkte ungeduldig mit der Hand. "Es geht," meinte er, "Blutumlauf und Herzschlag lassen sich von uns nun mal nichts dreinreden, das Schlimme ist nur, daß sie sich beständig um unsere Angelegenheiten kümmern. Da liegt ein Fehler im Kontrakt, den wir unser Leben nennen. Es ist übrigens das Alter, Betty, nur das, und das ist ja schließlich verständlich." (Eduard Graf von Keyserling: Bunte Herzen)


Gewesensein und Sein

Das Sterben ist kein ununterbrochener Prozeß. Wenn man gesund ist und sich wohl fühlt, ist das Sterben nicht wahrnehmbar. Das Ende ist gewiß, kündigt sich aber nicht unbedingt auffällig an. Nein, man kann es nicht verstehen. Solange man selbst nicht alt ist, versteht man nur, daß die Zeit den Alten ihren Stempel aufgedrückt hat. Doch wenn das alles ist, was man versteht, fixiert man sie in der Zeit, und das bedeutet, daß man eigentlich überhaupt nichts versteht. Alt zu sein bedeutet für alle, die noch nicht alt sind, daß man 'gewesen ist'. Aber wenn Sie alt sind, bedeutet es, daß Sie trotz Ihrere Gewesenheit, zusätzlich zu Ihrer Gewesenheit, über Ihre Gewesenheit hinaus noch immer 'sind'. (Philip Roth: Das sterbende Tier, S. 44)


Libido und Alter

Ein Mann hätte nicht mal zwei Drittel der Probleme, die er hat, wenn er nicht danach trachten würde zu vögeln. Sex ist das, was unser normalerweise geordnetes Leben in Unordnung bringt. Das weiß ich so gut wie jeder andere. Jede kleine Eitelkeit kehrt zurück, um einen zu verspotten. Lesen Sie Byrons 'Don Juan'. Aber was soll man machen, wenn man zweiundsechzig ist und glaubt, daß man nie wieder etwas so Perfektes in Händen halten wird? Was soll man machen, wenn man zweiundsechzig ist und der Drang, das zu egreifen, was noch greifbar ist, nicht stärker sein könnte? Was soll man machen, wenn man zweiundsechzig ist und all die Körperteile, die bisher unauffällig waren (Nieren, Lunge, Venen, Arterien, Gehirn, Därme, Prostata, Herz) im Begriff sind, sich besorgniserregend bemerkbar zu machen, während das Organ, das sich ein Leben lang mehr als alle anderen bemerkbar gemacht hat, dazu verurteilt ist, zur Bedeutungslosigkeit zu verkümmern? (Philip Roth: Das sterbende Tier, S. 41f.)


Älterwerden & Gewohnheit

Weißt du, Älterwerden ist merkwürdig und will anscheinend auch gelernt sein: Wie man sich dazu zu stellen hat, daß man nicht mehr so häufig überrascht wird wie früher, daß weder Enttäuschungen noch Freuden Dich vollkommen mitnehmen und Du in jeder Empfindung eine frühere wiedererkennst. Das ist ja wohl, was man "Erfahrungen" nennt, und man muß höllisch aufpassen, daß es nicht in die Nähe von Gewohnheit und Routine kommt. Das Herz dreht sich einem nicht mehr ohne weiteres um, aber man will es nicht wahrhaben und wartet immer, daß es noch mal passiert... (Christa Wolf, in: Reimann/Wolf: Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen. 1964-1973)


Sex unter älteren Menschen

Sex unter älteren Menschen kann seine peinlichen Momente und komischen Längen haben, ist aber auch von einer Zärtlichkeit geprägt, die den Jungen oft abgeht. Die Brüste mögen hängen, der Schwanz mag welken, aber Haut ist immer noch Haut, und wenn jemand, den du gern hast, die Hand nach dir ausstreckt, dich streichelt, in die Arme nimmt oder auf den Mund küßt, schmilzt du noch immer so dahin wie damals, als du dir eingebildet hast, du würdest ewig leben. (Paul Auster: Die Brooklyn- Revue, S. 317)


Wohltätige Schatten

Sie begann auch, wie es oft bei schwerhörig werdenden älteren Menschen vorzukommen pflegt, das Gedächtnis zu verlieren. Und es war gut so! Wie wohltätig ist die Natur! Die Gebrechen, die sie dem Alter schenkt, sind eine Gnade. Vergessen schenkt sie uns, Taubheit und schwache Augen, wenn wir alt werden; ein bißchen Verwirrung auch, kurz vor dem Tode. Die Schatten, die er vorausschickt, sind kühl und wohltätig. (Joseph Roth: Die Kapuzinergruft, S. 160)


Nachlassende Energien

... kommt mit dem Älterwerden und den damit oft verbundenen Desillusionierungen zu einer generellen Abschwächung des Sinnerlebens: Alles ist am Ende doch eitel und vergeblich. Dann mögen die meisten Terme unserer Energieformel zwar einigermaßen im Lot sein, und es gibt vielleicht auch Hobbys, die noch Freude machen, auch der Stress hält sich in Grenzen, es gibt keine schlimmen Fehlschläge, und dennoch trägt das Leben nun immer schwerer allein an sich selbst. (Dietmar Hansch: Erfolgreich gegen Depression und Angst)


In Geselligkeit

Geselligkeit. Da kommen sie neugierig und begaffen mich wie im Variete den sprechenden Hund. Das Altsein ist eine Attraktion; seht ihr, sagen sie, noch schmiert er sich nicht den Spinat auf die Ohren, noch redet er und kann bis drei zählen, und das in diesem Alter. Erstaunlich. Sie schauen in die Grube des hohen Alters. Wissen noch nicht, daß man Alte am besten allein läßt, weil sie sich dann wenigstens nicht langweilen. (Sandor Marai: Tagebücher 1984-1989, S. 145)


2 Arten von Einsamkeit

Das Alter. Der Greis muß entscheiden, was er mit der Einsamkeit anfängt. Was ist richtiger: allein einsam sein oder in Gesellschaft einsam leben? Ich lebe jetzt seit mehr als einem Jahr in der Einsamkeit des Alleinseins. Es ist nicht leicht, und es ist auch kein 'Leben', aber es ist erträglicher als die Einsamkeit in Gesellschaft. (Sandor Marai: Tagebücher 1984-1989, S. 13)


Lebenszeit, Lebensgefühl

Ein Besucher, 77jährig, wie im Zustand der Dekomposition. Er lobt die Wissenschaft, sie habe "die Lebenszeit verlängert". Das trifft zu, aber das Lebensgefühl hält nicht mit der verlängerten Lebenszeit Schritt. Wenn jemand über die Achtzig noch hier ist, dann ist dies eher vegetatives Existieren als Leben; so einer lebt nicht mehr auf etwas hin, er lebt einfach nur. (Sandor Marai: Tagebücher 1984-1989, S. 29)


Beginnendes Alter

Vielleicht war es das beginnende Alter, was mir über die Haut kroch. Ich saß nicht mehr fest wie der Nußkern in der Schale, innerhalb der umgebenden Welt, innerhalb meiner eigenen Zielrichtungen und Interessen. Eine Randkluft hatte sich gebildet. Es klapperte. Gleichgültigkeit ergriff mich: aber dieser Griff war nicht sanft, nicht beruhigend; er war eisig; er ließ die größte Angst ahnen. Ich erkannte sofort, daß aus der Gleichgültigkeit nicht, wie man objektiver Blick auf die Dinge der Welt möglich sei; sondern gar keiner ist möglich; die Gleichgültigkeit macht blind; und es hat bei ihr auch nicht sein Bewenden; sie muß in den Lebens-Ekel abstürzen. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Doppelte Sichtweise

Wenn man jung ist, kann man sich Veränderungen nicht vorstellen, die die eigenen geistigen Verarbeitungsmöglichkeiten übersteigen, buchstäblich nicht vorstellen; man kann eine Zukunft, die anders geartet ist als die Gegenwart, nicht sehen, man vermag nur ein verlängertes Jetzt zu sehen. Erst später, wenn man anders geworden ist - ach, wie sehr -, ist man vielleicht fähig, das Damals und das Jetzt zu erfassen (wenn man Sorge getragen hat, nicht zuviel zu vergessen); und vielleicht ist diese doppelte Sichtweise die einzige Bereicherung, die das Alter mit sich bringt. (Sybille Bedford: Ein trügerischer Sommer)


Hauptwasserscheide

Und auf eines kam sie immer wieder zurück, und zwar auf das, was sie als die Hauptwasserscheide im Leben jedes einzelnen bezeichnete. Zwischen der Jugend, wenn der Tod noch nichts Reales ist (Angst vor dem Tode können allerdings auch Kinder haben) und wir noch völlig zweckfrei um des Jetzt und der puren Neuheit willen handeln und uns freuen, und dem mittleren Alter, wenn die Wirklichkeit des Todes - die Endlichkeit und das Erlahmen unserer Energie - die Dominante ist, das Vorzeichen, das die Tonart ändert. Was wir tun, tun wir zum x-ten Mal. Worauf läuft es hinaus? Wir sind nun mit der Summe befaßt, nicht mehr mit den Teilen. (Sybille Bedford: Ein trügerischer Sommer)


Stolpersteine des Alters

Florentino Ariza hatte ein feines Gespür für solche Stolpersteine des Alters. Schon in seiner Jugend hatte er in den Parks von seinen Gedichtbänden aufgeschaut, um greise Ehepaare zu beobachten, wenn sie einander beim Überqueren der Straße halfen, und das waren Lehren fürs Leben gewesen, die ihm erlaubten, die Gesetze seines eigenen Alterns zu erahnen. In der Lebensphase, in der sich Doktor Juvenal Urbino an jenem Abend im Kino befand, pflegten die Männer in einer Art herbstlicher Jugend aufzublühen, die ersten grauen Haare gaben ihnen eine neue Würde, sie wirkten geistreich und verführerisch, besonders auf junge Frauen, während ihre angetrauten Frauen sich verwelkt auf ihren Arm stützen mußten, um nicht noch über den eigenen Schatten zu stolpern. Ein paar Jahre später aber stürzten dann die Ehemänner plötzlich in den Abgrund eines infamen körperlichen und geistigen Verfalls, und dann waren es ihre wieder zu Kräften gekommenen Frauen, die sie wie arme Blinde am Arm führen mußten. (Gabriel Garcia Marquez: Liebe in den Zeiten der Cholera, S. 359)


Der Geruch des Alters

Aus reiner Erfahrung, wenngleich ohne wissenschaftliche Grundlage, wußte Doktor Juvenal Urbino, daß die Mehrzahl der tödlichen Krankheiten einen eigenen Geruch hat, keiner aber so spezifisch ist wie der des Alters. Er nahm ihn bei den aufgeschnittenen Leichen auf dem Seziertisch wahr, erkannte ihn selbst bei den Patienten wieder, die am geschicktesten ihr Alter verbargen, auch an einer eigenen verschwitzten Kleidung und im wehrlosen Atem seiner schlafenden Frau. Wäre er nicht dem Wesen nach ein Christ von altem Schlag gewesen, hätte er vielleicht mit Jeremiah de Saint-Amour darin übereingestimmt, daß das Alter ein indezenter Zustand sei, dem bezeiten vorgebeugt werden müsse. Der einzige Trost, selbst für jemanden wie ihn, der ein guter Liebhaber gewesen war, war das langsame und barmherzige Verlöschen des Geschlechtstriebs: der sexuelle Frieden. (Gabriel Garcia Marquez: Liebe in den Zeiten der Cholera, S. 61)


Endstation Pflegeheim

Das Pflegeheim ist im Leben eines Menschen die Endstation. Kaum einer, der da wieder lebend herauskommt, es ist der Ort, von dem es kein Zurück gibt. Schon deshalb umgibt das Pflegeheim eine Aura des Schreckens. Aber es ist nicht nur die Nähe des Todes, die durch den Umzug ins Heim sehr konkret und direkt erfahrbar wird. Hinzu kommt, daß mit diesem Umzug von alten Menschen eine ungeheure Anpassungsleistung an völlig ungewohnte Lebensverhältnisse verlangt wird. Eine Unterordnung unter neue Regeln, eine Gewöhnung an neue Räume, ein Arrangement mit neuen Personen. Genau die Flexibilität, die man üblicherweise hochbetagten Menschen abspricht, wird nun von ihnen in einem Maß gefordert wie kaum je zuvor in ihrem Leben. Und geht einher mit dem Verlust des bisher gewohnten Lebenskosmos. (Anonymus: Wohin mit Vater? Ein Sohn verzweifelt am Pflegesystem, S. 73)


Über 70

Bereits in der Abflughalle hatte sie die mitleidigen Blicke der anderen Passagiere gespürt, klapprige Frührentnerpärchen mit Timesharing-Apartments und Siedler der ersten Stunde, von denen sie offensichtlich für eine Witwe gehalten wurde. Esther war als einzige Frau in ihrem Alter allein unterwegs. Sie trug ein helles, gemustertes Kleid und hatte einen beigefarbenen Seidenschal umgelegt für den Fall, daß die Klimaanlage im Flugzeug zu kühl eingestellt sein sollte. Aber sie hätte ebensogut ganz in Schwarz reisen können. Wer über siebzig war und keinen Mann an seiner Seite vorzuweisen hatte, der war entweder vom Tod geschieden oder vom Leben verschmäht worden. (John von Düffel: Houwelandt, S. 72)


Walter Vogt: Altern (2)

Die erste derartige Krise, die eindeutig mit Altern, nicht mit Wachsen, Blühen, etwas Werden zu schaffen hat, ist die Krise der Jahre um dreißig: die Einsicht, erreicht zu haben, was überhaupt zu erreichen war; den Plafond des bestenfalls zu Erreichenden haargenau zu kennen; die Einsicht, daß man das Erreichte und bestenfalls zu Erreichende gar nie wollte; was man allenfalls gewollt haben könnte, jedenfalls nie erreichte. Bindungen, die sich als endgültig darstellen, erweisen sich als verhängnisvoll. Bei gewissen Sportarten, musischen Sparten, extremen Formen von Mathematik und Physik gehört einer mit dreißig endgültig nicht mehr dazu. Daß sich andrerseits als Raumfahrer Familienväter um vierzig besonders eignen, ist dagegen ein schwacher Trost. Und wozu eignet denn ein Fünfzigjähriger sich besonders gut? Um die vierzigjährigen Raumfahrer zu betreuen, ihnen den Puls, den Blutdruck zu messen, sie zu füttern, ihnen den Arsch zu lecken usw. usf. Bestimmt, um fünfzig zu sein. Es heben sich auf Trost der späten Jahre Greisenaktivitäten wie Dichtung, Philosophie, Tizian, Einsichten, Lebensweisheit, Papst, Tyrannei. Habemus papam übrigens - mit Nachrichten eilt es hier am See nicht sonderlich. Die guten sind nach drei, vier Tagen noch immer gut; die schlechten sind dann wenigstens bereits einigermaßen passe. Die Fünfundsechzigjährigen eignen sich, scheint es, besonders gut zur Pensionierung. Mit achtzig ist ein Mann, eine Frau dann wieder wer. Falls noch geh- sprech-, denk-, handlungsfähig, zumindest eine Rarität. Es verhält sich, nebenbei, keinesweg so, daß das alte Gedächtnis einfach ein Trümmerhaufen des jungen ist. Es ist anders. Einzelheiten verblassen, vieles ist gleichgültig geworden - große Züge, frühe Erinnerungen treten hervor, mit fast halluzinatorischer Deutlichkeit. Die Fähigkeit zur exakten Unterscheidung sinkt; dafür wächst die Fähigkeit zu seniler, dementer, verblödeter, auch: grandioser Zusammenschau. Die Widerstände gegen die Aneignung von Neuem nehmen ab, gleichzeitig schwindet die Fähigkeit dazu. Die weitaus meisten Aktivitäten sind in unserer Gesellschaft auf das perfekt funktionierende junge Gedächtnis eingestellt. Der Mensch an der Lebensmitte rettet sich in die Routine, überlebt durch Aufsteigen in höhere Regionen, wo niemand mehr zu kontrollieren vermag, was er tut und nicht tut - wo er Scheinentscheidungen trifft, und selbst diese nicht, ohne daß sie ihm zu einfachen, überdies beliebigen Ja-Nein-Entscheidungen präpariert worden wären, durch ein junges Team, einen ganzen Apparat. Das Leben ist ein System von Gewohnheiten in der Zeit. Im Alter erstarrt das System, es schwindet die Zeit. (Walter Vogt: Altern, S. 62f.)


Walter Vogt: Altern (1)

Die Krankheiten der Jugend sind nicht dieselben wie die des Alters, Reaktionen und Widerstandskräfte gegen dieselbe Krankheit unterscheiden sich - bei psychischen Leiden ist der Jahrgang an sich ein Befund; derselbe Konflikt mit fünfzig ist nicht derselbe wie mit dreißig; ab sechzig, siebzig ist vielerlei, was mit zwanzig, dreißig entsetzlich wäre, egal. Und umgekehrt. Später erwies es sich als Spiel und als Zwang, das Alter von Personen zu erraten, so wie man gern Berufe, Positionen, Zivilstand, Sexualgewohnheiten von Bekannten und Unbekannten zu erraten versucht. Das Alter der Alten erkennt man am untrüglichsten an der Haut des Handrückens. Am Handrücken werden auch nur selten kosmetische Operationen ausgeführt. Dann, plötzlich, die Konfrontationen mit der eignen alternden Haut. Der gute Rat, in der Zukunft zu leben, wird von einem bestimmten Alter an zynisch. Denn die Zukunft ist das Grab, vor dem Grab die Enthirnung, vor der Enthirnung die einfache Senilität - Vergeßlichkeit, Impotenz, Kälte der Hände, der Füße, der menschlichen Beziehungen, Kälte allgemein; vor der Senilität die Krise an der Lebensmitte, wobei die arithmetische Mitte des Lebens seit Jahren überschritten ist - die Einsicht, daß es nicht weiter aufwärtsgeht, falls es je aufwärtsgegangen ist; das Nachlassen stumpfsinniger Hoffnung zugunsten ebenso stumpfsinniger Hoffnungslosigkeit; die Einsicht in die Stumpfsinnigkeit der Hoffnung wie der Hoffnungslosigkeit; die blitzartige Einsicht in die Stumpfsinnigkeit der ganzen, eigenen, bürgerlichen Existenz; die Einsicht in die endgültig vertanen Möglichkeiten, in die absolute Stumpfsinnigkeit dessen, was, wenn überhaupt etwas, bislang erreicht. (Walter Vogt: Altern, S. 63)


Der Ernst des Alters

An der Tür begann Georg etwas zögernd: "Ich wollte mich auch... bei Ihnen erkundigen, Herr Doktor, wie es denn eigentlich mit Herrn Rosner steht... Ich muß sagen, ich fand ihn besser aussehend, als ich nach Annas Briefen erwartet hatte." "Ich hoffe, daß er sich erholen wird", erwiderte Stauber. "Aber immerhin muß man bedenken... er ist ein alter Mann. Sogar älter, als er seinen Jahren nach sein müßte." "Aber um etwas Ernstes handelt es sich nicht?" "Das Alter ist an sich eine ernste Angelegenheit", entgegnete Doktor Stauber, "besonders wenn alles, was vorherging, Jugend und Mannheit, auch nicht sonderlich heiter waren". (Arthur Schnitzler: Der Weg ins Freie)


Die Zeit aufhalten

Die Luft ist mit dem Gestank einander bekriegender Parfüms gesättigt. Da sind Videoschirme, auf denen Gesichter mit makellosem Teint sich hin- und herwenden, sich pflegen, durch leicht geöffnete Lippen seufzen, von Händen liebkost werden. Andere Bildschirme zeigen Großaufnahmen von Hauptporen, vorher und nachher, detaillierte Anweisung für die Behandlung von beinahe allem, den Händen, dem Nacken, den Hüften. Den Ellbogen, vor allem den Ellbogen: Das Altern beginnt an den Ellbogen und metastasiert von dort aus. Dies ist Religion. Vodoo und Zaubersprüche. Ich möchte daran glauben, an die Salben, die Verjüngungswasser, die durchsichtigen Cremes in Glasfläschchen, die einen auf Hochglanz bringen wie Möbelpolitur. "Weißt du denn nicht, woraus dieser ganze Mist gemacht ist?" fragte Ben mich einmal. "Aus zermahlenen Hahnenkämmen." Aber das kann mich nicht abschrecken, ich würde alles nehmen, wenn es mir hülfe - Schneckensaft, Krötenspucke, Wassermolchaugen, alles, was es gibt, um mich einzubalsamieren, um das fortwährende Tröpfeln der Zeit aufzuhalten, um mehr oder weniger so zu bleiben, wie ich bin. (Margret Atwood: Katzenauge, S. 139)


Grenzalter und Pufferzone

Ich habe keine Ahnung, wie sie jetzt wohl aussehen mag. Ist sie dick, hat sie Hängebrüste, hat sie kleine graue Haare in den Mundwinkeln? Wohl kaum: die würde sie sich auszupfen. Trägt sie eine Brille mit modischen Gestell, hat sie sich die Augenlider liften lassen, hat sie Strähnen oder getöntes Haar? Alles ist möglich: Wir haben beide das Grenzalter erreicht, diese Pufferzone, die es einem noch erlaubt, sich vorzumachen, daß solche Tricks funktionieren, solange man grelles Sonnenlicht meidet. (Margret Atwood: Katzenauge, S. 16)


Adrenalin in alten Adern

Zu sehr nach seniler Bettflucht schienen mir die hektischen Unternehmungen älterer Paare, die kurz vor der Pensionierung das hektische Mountainbiken entdecken, zu Salsa-Kursen gehen und Abenteuerurlaube auf dem Amazonas verbringen. Verzweifelte Versuche, das Adrenalin der Jugend durch die alten Adern zu jagen. Keine Träne des Bedauerns, wenn Personen unseres Alters, die nicht begriffen haben, daß Geschwindigkeit das Leben nicht verlängert, auf unbekannten Flüssen kentern und von Piranhas verzehrt werden. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 216)


Forever Young

Natürlich stimme ich Dir zu, daß es mitunter zugeht wie im Märchen von Hase und Igel. Wo das Leben hin will, ist die Literatur schon da. Zu allen Zeiten holten sich alte Männer gerne junge Frauen in ihr Bett. (...) Gewiß, die 'Musen sind ewig jung, aber die Kombination von jungem Wein und alten Schläuchen dient seit alters der Belustigung der Zuschauer. Es ist also vor allem die Lächerlichkeit, die dieser Konstellation innewohnt. Zu ihr gesellt sich die Peinlichkeit, die sich im zeitgeistigen 'Forever Young' manifestiert. Alte Männer mampfen Kleie, stapfen mitten im Sommer mit Skistöcken durch die Fußgängerzonen und leisten sich teuren japanischen Fisch, weil sie in der Apothekerzeitung gelesen haben, roh verzehrt fördere dieser die Potenz. Oder sie nehmen an einem Kurs für Lach-Yoga teil, bis der Botenstoff Gamma Interferon aus dem Körper geschmunzelt ist. Männer in unserem Alter setzen sich eine Baseball-Kappe verkehrt herum auf den Kopf, ziehen sich knappe Höschen an, um als 'Inline Skater' junge Frauen zu beeindrucken: gepanzert an sämtlichen Gelenken, in der Tasche die Handynummer des Orthopäden. Ich beobachte Greise auf Rennrädern: behelmt wie Hindenburg vor der Schlacht von Tannenberg, mit enganliegendem Gummizeug angestrapst, um dem drohenden Hodenkrebs vorzubeugen. Meistens schimmelt es bereits darunter. (Gerhard Köpf: Ein alter Herr, S. 86)


Das Knacken des seelischen Rückgrates

Viele seiner überwiegend ausländischen Brieffreundschaften, anfangs noch mit enthusiastischer Sorgfalt gepflegt, waren im Sande verlaufen, etliche Freunde waren mittlerweile ebenfalls alt und gebrechlich, oder sie waren bereits verstorben. Und sobald wieder eine Todesnachricht kam, pflegte der alte Herr zu sagen: Die Reihen lichten sich, aber es wird dunkler dabei. Nun hatte er kaum noch Zeugen außer seiner eigenen Erinnerung. Als mein alter Herr eines Tages begriff, daß die Zeit auch mit ihm keine Nachsicht üben würde, fühlte er sich gebrochen. Er glaubte sogar, das Knacken seines seelischen Rückgrates gehört zu haben. Anstatt sich der unstillbaren Leidenschaft der Greise hinzugeben, die Zeitungsredaktionen mit besserwisserischen Leserbriefen zu belästigen, beschäftigte er sich mit dem, was er für die 'einfachen Fragen des Lebens' hielt, zum Beispiel: Wann ist ein Mensch tot? Seine These: Wenn ihm seine Erinnerungen genommen werden und damit die Möglichkeit, das Idol seiner selbst zu sein. (Remco Campert: Das Herz aus Seide, S. 12)


Fünzig Jahre alt!

Gestern war ein fremder Herr bei mir, der machte mich darauf aufmerksam, daß im nächsten Jahr mein fünfzigster Geburtstag sei; darum sei er gekommen, um sich von mir allerlei aus meinem Leben erzählen zu lassen, für einen Gratulationsartikel, den er dann schreiben werde. Diesem Herrn sagte ich, es sei rührend von ihm, daß er sich so viele Mühe um mich gebe, ich hätte aber nichts zu erzählen, und daß er mich auf dies Jubiläum aufmerksam mache, sei gerade so nett, wie wenn zu einem Sterbenden ein fremder Herr käme, ihn auf die Nähe seines Ablebens aufmerksam machte und ihm den Katalog einer bestempfohlenen Sargfabrik in die Hand drückte. Den fremden Herrn bin ich losgeworden, den üblen Geschmack auf der Zunge nicht. Es ist Herbst, es riecht nach Welke, nach grauem Haar, nach Jubiläen, nach Friedhof. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 13: Betrachtungen und Berichte. 1899-1926, S. 478)


Älter werdend

Zieht man die Mystifikationen ab, in die wir unsere kleinen Lebensepisoden gerne tauchen, so bleibt eine schlichte Erfahrung, die Lichtenberg schon formulierte: "Wenn man selbst anfängt alt zu werden, so hält man andere von gleichem Alter für jüngere, als man in früheren Jahren Leute von eben dem Alter hielt... Mit anderen Worten: Wir halten uns selbst und andere noch in denen Jahren für jung, in welchen wir, als wir noch jünger waren, andere schon für alt hielten." (Silvia Bovenschen: Älter werden, S. 52)


Verlust von Eigenschaften

Meine Freundin L., eine Kassandra des Alters, von der ich auch das Wort "Mundbodenschwäche" kenne, sagt, für schöne Frauen sei das Altern am schwersten, was stimmt, aber eigentlich unverständlich ist. Aus einer schönen jungen Frau könnte ja eine schöne ältere und dann eine schöne alte Frau werden. (...) Fünfzigjährige Männer, die aussehen wie fünfunddreißig, sind uns eher verdächtig. Ein Mann erscheint uns schön, wenn er so oder so männlich aussieht, also intelligent, kräftig, entschlossen, bedacht, mutig, sinnenfreudig, ernst; alle diese Eigenschaften können die Attraktivität eines Mannes bis an die Grenze der Greisenhaftigkeit ausformen, die Attraktivität der Frau würden sie vermutlich nur verderben, weil die Attraktivität der Frau - jedenfalls der immer noch landläufige Begriff davon - in ihrer Zartheit, Mädchenhaftigkeit und Lieblichkeit liegt. Eigenschaften, die jenseits der Jugend nicht erworben, sondern nur verloren werden können. (Monika Maron: quer über die gleise. Essays, Artikel, Zwischenrufe, S. 158)


Unliebsame Zeugenschaft

Ohne die Zeugenschaft der anderen ließe sich das Altwerden leichter ertragen. Man könnte sich ihm ehrgeizlos hingeben, neugierig verfolgen, was es anrichtet, ohne Verzweiflung oder gar Schande zu empfinden. Vielleicht würde man sogar den sich unaufhaltsam nähernden Tod als weniger grauenvoll empfinden, dürfte man sich der Altersschwäche wehrlos überlassen, ohne die triumphierenden Lebensgier der anderen fürchten zu müssen. (Monika Maron: quer über die gleise. Essays, Artikel, Zwischenrufe, S. 155)


Sportlicher Rückzug

Andererseits trafen ihn die Schmerzen des Lebens schärfer als in der Vergangenheit. Er stöhnte auf der Trommelfellfolter, wenn ein Saxophon jaulte oder wenn ein subhumaner Jungtrottel den Donner eines höllischen Motorrads losrollen ließ. Das hinderliche Benehmen dummer, feindseliger Gegenstände - die falsche Tasche, das gerissene Schuhband, der beschäftigungslose Kleiderbügel, der mit einem Achselzucken und einem Holterdiepolter in der Dunkelheit des Kleiderschanks herunterstürzt - ließen ihn den Ödipus-Fluch seiner russischen Vorfahren ausstoßen. Er hatte um die fünfundsechzig herum aufgehört zu altern, aber mit fündundsechzig hatten sich Muskeln und Knochen bei ihm stärker verändert als bei Leuten, die nie so vielseitige athletische Betätigungen ausgeübt hatten, wie er sie in seiner Jugend genossen hatte. Squash und Tennis machten Platz für Ping-Pong; dann vergaß er eines Tages einen Lieblingsschläger, noch warm von seinem Griff, im Spielraum eines Clubs, und der Club wurde nie wieder besucht. In seinem sechsten Jahrzehnt ersetzte eine Übung am Punchingball das Ringen und Boxen seiner früheren Jahre. Überraschungen der Erdanziehung machten jetzt das Skilaufen grotesk. Mit sechzig konnte er noch florettfechten, aber schon wenige Übungsminuten machten ihn blind vor Schweiß; so teilte das Fechten bald das Schicksal vom Tischtennis. Er konnte sein snobistisches Vorurteil gegen Golf überwinden. (Vladimir Nabokov: Ada oder Das Verlangen, S. 435)


Gruftgeneration

Zur Gruftgeneration zu gehören in einer Zeit, die die Jugend verehrt, tut weh. Die Angst vor dem Untergang ist das, sie befällt die Menschen am Ende eines Jahrtausends, macht ihnen ihre Vergänglichkeit bewußt, macht sie krallen an frischem Fleisch. Was jung ist, macht sie leben, können doch nicht sterben, wenn es so junge Menschen hat. Alle meiden die Normalität wie etwas Nässendes. Menschen ohne Feinde werden wunderlich. Feinde braucht der Mensch, braucht sie für seine negativen Energien, hat den Feind des Jahrzehnts erkannt: Das Alter, das jeden bedroht, um es zu bekämpfen, ist jedes Mittel recht. Das ist, was die Menschen verdient haben. Sich selber verachten für mehr als die Hälfte ihres Daseins. (Sibylle Berg: Amerika, S. 70)


Dumme Angewöhnung

Das Altwerden ist eine dumme Angewöhnung! Nichts Anderes! Wir kommen der lahmen und hinfälligwerdenden Natur ja immer auf halbem Wege entgegen! Nehmen Sie schon in der Jugend! Der Knabe quält sich förmlich ab, ein Jüngling zu werden! Er raucht Cigarren, daß ihm grün und gelb vor den Augen wird! Er bindet sich Cravatten um den Hals und kräht Alt wie ein Hahn, während er noch den reinsten Kanarienvogelsopran in der Kehle hat! Ist er dann mit Ach und Krach ein Jüngling geworden, so quält er sich schon wieder ein Mann zu sein! Er will heirathen, solid werden, spricht vom Glück der Ehe und sieht Kinder an der Mutterbrust neben sich und schaukelt schon welche auf den Knieen. Gut! Dann wird er ein Mann! Nun will er gravitätisch erscheinen und spricht von seiner Würde. Bequemlichkeit wird die Belohnung seiner Anstrengungen, Brot zu verdienen. Auf den Bällen tanzt er nicht mehr. Mit den gesundesten Schenkeln gebehrdet er sich wie ein Casinogast und spielt Whist. Setzt er sich ans Klavier, so konnt’ er sonst ganz leidlich singen. Er kann es auch noch; aber aus Bequemlichkeit hebt er nicht mehr die volle Brust, sondern stöhnt und ächzt und läßt die Flügel hängen. So geht Das fort, bis dann natürlich das Alter wirklich da ist und die Natur frohlockt, ihren Sieg über den Geist davongetragen zu haben. Nein, nein, Doktor, sagen Sie’s allen Ihren Patienten! Das Alter ist nichts als eine dumme Angewöhnung. (Karl Ferdinand Gutzkow: Die Ritter vom Geiste, S. 911f.)


Verengter Horizont

Wie sich der Horizont eines greisen Menschen verengt, wie er alle Dinge, die ihm früher wichtig waren, die ihm Freude gemacht haben, nach und nach "abgibt", wie er ihrer überdrüssig wird, erinnerte mich beim Lesen von Marais Rückzug aus dem Leben an meine Oma, wie auch ihr Daseinsradius stetig enger wurde, für uns Angehörigen ZU eng. Ihr Desinteresse an den Aufgeregtheiten der Welt, dann den ihres Umfelds, so daß wir ihr ihre alles und jeden und auch uns betreffende Indolenz schließlich beinahe übel nahmen. Sandor Marai erzählt, wie selbst die Literatur, das Lesen von ihm abrückt und ihm gleichgültig wird. Als Krankenpfleger kenne ich diese Prozeß und erlebe diese greisen Menschen Tag für Tag. Ihre Gleichgültigkeit, ihr bloßes Interesse an Essen und ihr Verlangen nach Ruhe und Ungestörtsein. Wir sollten das respektieren und genau hinsehen und hinhören, was der reale Wille unserer uns Anvertrauten ist. Das Gutgemeinte ist ihnen oft das Lästige.


Zu müde, um weiterzukraxeln

"Sie sind doch nicht alt", sagte Valja. "Was für ein Alter haben Sie schon?" "Ich bin alt, doch, doch", sagte ich. "Ich weiß es." "Ach, gehen Sie! In Sie werden sich noch die Mädchen verlieben." "Alt bin ich, weil... Verstehen Sie, Valja, Ihr Vater ist Gärtner, Ihr Stiefvater Tierarzt. Sie sind Krankenschwester, ich aber bin mein Leben lang wo raufgekraxelt, immerzu. Alt ist man, wenn man zu müde ist weiterzukraxeln. Alles Stuß, verstehen Sie?" Das war nicht zu verstehen, aber sie verstand. Ich spürte, wie ihre Finger meine Hand fanden und sie leicht drückten. Es war ein schüchterner Timurscher Händedruck: So muntern junge Pioniere einsame Greise auf, wenn sie sie nachmittags nach der Schule besuchen. (Juri Trifonow: Zwischenbilanz, S. 91)


Altersfrei

Verlockend am Alter war eigentlich nur, daß alte Menschen, sofern gesund und bei Verstand, unabhängig sind. Sie müssen sich nicht ständig um ihre Zukunft sorgen, weil sie nicht mehr so viel davon haben. Vor allem aber, sagte Elli, könnten alte Menschen, besonders natürlich alte Frauen, im Schutze ihrer gebrechlichen Erscheinung hundsgemeine und verbotene Dinge tun, die ihnen, meistens zu Recht, niemand mehr zutraut. (Monika Maron: Endmoränen, S. 28)


Jugend und Alter

Ich glaube, man kann im Leben eine ganz genaue Grenze ziehen zwischen Jugend und Alter. Die Jugend hört auf mit dem Egoismus, das Alter beginnt mit dem Leben für andere. Ich meine es so: junge Leute haben viel Genuß und viel Leiden von ihrem Leben, weil sie es nur für sich allein leben. Da ist jeder Wunsch und Einfall wichtig, da wird jede Freude ausgekostet, aber auch jedes Leid, und mancher, der seine Wünsche nicht erfüllbar sieht, wirft gleich das ganze Leben weg. Das ist jugendlich. Für die meisten Menschen aber kommt eine Zeit, wo das anders wird, wo sie mehr für andere leben, keineswegs aus Tugend, sondern ganz natürlich. Bei den meisten bringt es die Familie. Man denkt weniger an sich selber und seine Wünsche, wenn man Kinder hat. Andere verlieren den Egoismus an ein Amt, an die Politik, an die Kunst oder Wissenschaft. Die Jugend will spielen, das Alter arbeiten. Es heiratete keiner, damit er Kinder kriege, aber wenn er Kinder kriegt, so ändern sie ihn, und schließlich sieht er, daß alles doch nie an ihn denkt. Bei den Alten ist es umgekehrt. Die Jungen glauben ewig zu leben und können darum alle Wünsche und Gedanken auf sich selber stellen. Die Alten haben schon gemerkt, daß irgendwo ein Ende ist und daß alles, was einer für sich allein hat und tut, am Ende in ein Loch fällt und für nichts war. Darum braucht er eine andere Ewigkeit und den Glauben, er arbeite nicht bloß für die Würmer. Dafür sind Frau und Kind, Geschäft und Amt und Vaterland, damit man wisse, für wen denn das tägliche Schinden und Plagen geschehe. (Hermann Hesse: Gertrud, S. 109)


Mühe bis in den Tod

Behüt doch Gott, Welt! dann dieweil man dir nachgehet, verzehret man die Zeit in Vergessenheit, die Jugend mit Rennen, Laufen und Springen über Zaun und Stiege, über Weg und Steg, über Berg und Tal, durch Wald und Wildnus, über See und Wasser, In Regen und Schnee, in Hitz und Kält, in Wind und Ungewitter. Die Mannheit wird verzehrt mit Erzschneiden und -schmelzen, mit Steinhauen und - schneiden, Hacken und Zimmern, Pflanzen und Bauen, In-Gedanken-Dichten und -Trechten, In-Ratschlägen- Ordnen, Sorgen und Klagen, in Kaufen und Verkaufen, Zanken, Hadern, Kriegen, Lügen und Betrügen. Das Alter verzehrt man in Jammer und Elend: der Geist wird schwach, der Atem schmeckend, das Angesicht runzlicht, die Länge krumm, und die Augen werden dunkel, die Glieder zittern, die Nase trieft, der Kopf wird kahl, das Gehör verfällt, der Geruch verliert sich, der Geschmack geht hinweg, er seufzet und achzet, ist faul und schwach und hat in Summa nichts als Mühe und Arbeit bis in den Tod. (Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch, S. 490)


Alt werden

Man hat es nicht leicht mit den Alten, oder? Ich lag ja auch erst im Krankenhaus, wissen Sie. Phillipus-Stift. Da hatte ich Thrombose. Mein Gott, fünf verkalkte Schachteln waren wir in dem Zimmer. Wenns der einen zog, wars der anderen zu stickig. Und die Röder, die hatte Tumor und jammerte immer, wie hart das ist mit dem Altwerden, den Gebrechen und so; die maulte und knötterte den ganzen Tag. Unglaublich. Und da sagte die Schnabel - also was die alles hatte, dagegen war die Röder ein Springinsfeld: Aber älter werden ist doch auch schön, Luise. (Ralf Rothmann: Stier, S. 357)


Ein Kriterium

Sentimentalitäten gegenüber jenen, die die Zukunft auf ihrer Seite haben, sind, so scheint es, kaum auszurotten. In den Dramen Tschechows leiden Jung und Alt unter dem Einerlei ihrer täglichen Verrichtungen. Erst Gorki hat den Jugendlichen jenes verlogene Evangelium aufgenötigt, das sie zu besseren Menschen macht, nur weil sie länger zu leben haben. Man kann ein altes Mütterchen auf der Straße unter dem Aspekt der gesellschaftlichen Ökonomie oder nach den Gesetzen des biologischen Stoffwechsels als minderwertig betrachten. Aber wo bleibt die Spanne an Zivilisation, die jedes gelebte Leben in sich aufgesammelt hat und die nun in der traurigen Hinfälligkeit jedes alten Menschen unwiederbringlich verloren geht? Nicht die Zukunft, die Vergangenheit ist ein Kriterium. (Hartmut Lange: Tagebuch eines Melancholikers, S. 8)


Was noch blieb...

Als er und seine erste Frau hüfttief in Kindern staken, gingen rings um sie her Ehen in die Luft. Eheberater, Kinderpsychologen, Rechtsanwälte, Immobilienmakler ließen sich's wohl sein in den Ruinen. Jetzt, im Alter, hatte man nur noch ein kleines Geschäft für den Leichenbestatter zu vergeben und eine Stunde angenehme Arbeit für den Geistlichen am Ort. (John Updike: Der Mann, der ins Sopranfach wechselte, S. 311)


Im Alter

"Was kann an diesem Leib schon weh tun? Ich hör nicht mehr gut, ich seh nicht mehr gut, Schmerzen empfinde ich kaum, und ich kann mich auch nicht mehr gut erinnern. Anscheinend sind Schmerzen und Gedächtnis Sinne wie Hören und Sehen, was? Heute morgen hab ich mir gedacht, wer sich nicht mehr gut erinnern kann, vergißt auch einfach zu sterben. Und so schleppen wir uns ewig hin, bis zum Schluß schon kein Mensch mehr weiß, wie wir heißen und was wir in unserem Leben getan haben. Denn was hat ein Greis denn außer seinem Alter? Kraft hat er nicht, Verstand hat er nicht, eine Frau hat er nicht. Nur ein bißchen Erinnerung hat er, die ihm schier den Leib zerrüttet." Ein paar Sekunden später ergänzte er: "Und wenn Gott dir noch weitere Jahre gibt, gibt er dir bloß Gelegenheit, noch mehr Torheiten zu begehen." (Meir Shalev: Judiths Liebe, S. 194)


Ein Rückzug

Altern ist Rückzug. Ein Rückzug, den du nicht selbst vornimmst. Der in dir vorgenommen wird. Etwas, was dein Teil ist, zieht sich in dir von dir zurück. Du bist zuerst irritiert. Fühlst dich durch dich um dich betrogen. Daß du an dir das Interesse verlieren könntest, hast du nicht erwartet, aber es entweicht unaufhaltsam; wie aus einem Ballon, der ein winziges Leck hat, das Gas entweicht. (Christa Wolf: Sommerstück, S. 207)


Über die Generationen hinweg

Wir hören auf zu leben in dem Maße, wie wir das Leben kennen und erfahren haben. Wenn wir alles wissen und uns nichts mehr zu überraschen vermag, sind wir tot, gleichgültig wie viele Jahre wir noch zu leben haben. Und nur deswegen versuchen wir, der nächsten Generation, die wir um ihre Jugend beneiden, unsere Erfahrung weiterzugeben. Und eben deswegen weigern sich die jungen Leute so hartnäckig, uns anzuhören. Sie wollen von unseren Erfahrungen nichts wissen, sie haben, völlig zu Recht, Todesangst vor unseren Erfahrungen. (Wenn Gott wirklich allwissend ist, so muß er längst gestorben sein und versäumt haben, es uns mitzuteilen.) (Christoph Hein: Das Napoleon-Spiel, S. 120)


Altersdemenz

"Ich habe niemanden. Eine Tochter ist besser als ein Sohn. Wenn ein Sohn erwachsen wird und anfängt, sich mit Mädchen einzulassen, dann vergißt er seine Mutter. Eine Tochter bleibt einem nahe. Ich habe noch meine Mutter, sie ist in einem Heim - senil. Ich besuche sie jede Woche. Ich sage zu ihr: 'Ich bin deine Tochter, Tirza, Terry', und sie fragt mich: 'Sind Sie die Krankenschwester oder die Frau des Doktors? Man gibt mir nichts zu essen hier. Man stiehlt mir alles.' Plötzlich spricht sie russisch zu mir. Ich sage: 'Mutter, ich verstehe dich nicht', aber sie spricht weiter russisch. Sie bekommt reichlich zu essen. Sie hat dort zwanzig Pfund zugenommen. Niemand stiehlt ihre Wäsche oder die paar Kleider . Ich sehe sie an und denke, ist das das Alter, das alle zu erreichen hoffen?" (Isaac Bashevis Singer: Ein Tag des Glücks. Geschichten von der Liebe, S. 308)


Schutzringe

Was den Tod anbelangt, so gibt es zahllose Möglichkeiten, sich selbst zum Narren zu halten, eine noch vortrefflicher als die andere. Eine der hübschesten ist die von den Schutzringen. Je mehr Generationen der eigenen Familie noch am Leben sind, desto gepanzerter gegen den Tod kann man sich fühlen. Urgroßeltern, Großeltern, Eltern... es müssen so viele Saturnringe durchbrochen werden, ehe man selbst an der Reihe ist. Du wähnst dich sicher im Zentrum all dieser sich gegenseitig umschließenden Generationsschichten. Die beiden Elternteile, die dich umschließen, werden von vier Großeltern umschlossen, die eine Rinde von nicht weniger als acht Urgroßeltern um sich haben. In der nach beiden Großvätern auch noch dein Vater von dir abgeschält worden, so daß du deinerseits der äußerste Schutzring für deine Kinder und Kindeskinder geworden bist, so wird dir ein ganz hübsch kalter Wind um die Ohren blasen. Dann wird an dir gezerrt und gerissen. Das ist die rauhe Kehrseite allen Vaterhasses. (A.Th.F. van der Heijden: Fallende Eltern, S. 443)


In Knospen ausbrechen

Mrs. Fisher dachte gerade daran, wie verdutzt die anderen sein würden, wenn sie ihnen von ihrem so seltsamen und erregenden Gefühl erzählen würde, sie müsse bald in Knospen ausbrechen. Sie würden sie für eine lächerliche alte Frau halten, und genau das hätte sie selbst noch vor zwei Tagen gedacht; aber die Vorstellung vom Knospen wurde ihr langsam vertraut, sie war jetzt schon ganz apprivoisee, wie der gute Matthew Arnold zu sagen pflegte. Zweifellos wäre es am schönsten, wenn das Äußere den Gefühlen entsprach, aber angenommen, das ginge nicht - und man konnte nicht alles haben -, wäre es dann nicht besser, sich wenigstens teilweise jung zu fühlen, als ganz alt? Es bliebe ihr noch genügend Zeit, sich wieder ganz alt zu fühlen, innerlich wie äußerlich, wenn sie zu ihrem Sarkophag in der Price- of-Wales-Terrace heimkehrte. (Elizabeth von Arnim: Verzauberter April, S. 225f.)


Nichts als Alter

Ich bin nun ziemlich weit umhergewandert in meinem Leben und bin jetzt dumm und verblüht. Aber ich habe nicht den perversen Glauben der Greise, daß ich weiser geworden bin, als ich war. Und ich hoffe auch, daß ich niemals weise werde. Das ist das Zeichen des Verfalls. Wenn ich Gott für das Leben danke, so geschieht das nicht kraft einer höheren Reife, die mit dem Alter gekommen ist, sondern weil ich immer Freude am Leben gehabt habe. Das Alter schenkt keine Reife, das Alter schenkt nichts als Alter. (Knut Hamsun: Gedämpftes Saitenspiel, S.284f.)


In den Wechseljahren

Ich werde Pemal bitten, bei mir vorbeizukommen. Er wird mir neue Medikamente verschreiben, wird mir wieder einmal raten, der Maschine nicht zuviel zuzumuten, und wird mir wiederholen, daß Männer, genau wie Frauen, ihre Wechseljahre haben. Nach seiner Meinung bin ich mitten in den Wechseljahren. "Warten Sie ab, bis Sie fünfzig sind. Sie werden überrascht sein, wieviel jünger und kräftiger Sie sich dann fühlen." Trotz seiner sechzig Jahre beginnt er seine Visiten morgens um acht, wenn nicht noch früher, und ist abends um zehn damit fertig. Und dann läßt er sich auch noch nachts herausklingeln. Ich habe ihn immer in der gleichen Stimmung gesehen - ein maliziöses Lächeln auf den Lippen, als fände er es amüsant, wie sich die Leute um ihre Gesundheit ängstigen. (Georges Simenon: Im Falle eines Unfalls, S. 81)


Zusammenschrumpeln

Dunkle, schwere Tage sind angebrochen. Die eigenen Krankheiten, die Gebrechen der Menschen, die einem nahestehen, die Kälte und die Düsterkeit des Alters... Alles, was man geliebt und dem man sich unwiderruflich verschrieben hat, welkt dahin, löst sich auf. Es geht bergab. Was tun? Trauern? Sich grämen? Damit hilft man weder sich selbst noch den anderen. An einem vertrockenenden, verschrumpelten Baum sind die Blätter kleiner und spärlicher - aber das Grün bleibt dasselbe. So schrumpel auch du zusammen und zieh dich in dich selbst, in deine Erinnerungen zurück - und dort, tief unten, auf dem Grunde deiner gesammelten Seele, wird dein früheres, von dir allein überschaubares Leben vor dir aufleuchten, mit seinem würzig duftendem, immer noch frischem Grün und mit der Zärtlichkeit und Kraft des Frühlings. Aber sei vorsichtig, armer Alter - schau nicht nach vorn! (Iwan Turgenjew: Altern)


Nichts Gutes daran

Wir tranken Wein und sprachen über das Alter, als wüßten wir etwas darüber. Jetzt, vierzig oder fünzig Jahre später, weiß ich, was Alter ist, und ich kann nichts, gar nichts Gutes daran finden. Alles, was Gutes über das Alter gesagt ist, ist dumm oder gelogen; über die Weisheit des Alters zum Beispiel, als könnte man nicht weise werden, ohne bei lebendigem Leibe zu verfaulen. Das langsame Ertauben, Erblinden, Erstarren, Verblöden. (Monika Maron: Animal triste, S. 144)


Lindump: Alter(n)


Literaturhinweise & Bibliografie

  • Beauvoir, Simone de: Das Alter. Essay. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch, 2000. 776 S. ISBN: 3-499-22749-5
  • Bovenschen, Silvia: Älter werden. Notizen. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2006. 154 S. ISBN: 978-3-10-003512-7
  • Roth, Philip: Jedermann. München; Wien: Hanser, 2006. 171 S. ISBN: 978-3-446-20803-2
  • Vogt, Walter: Altern, Frankfurt/M.: Fischer-Taschenbuch, 1984. 232 S. ISBN: 3-596-25802-2

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