Über Tod & Sterben(1) [>>]

Die letzten Dinge und danach... [^^] [^]


Themenstreusel: Tod & Sterben
Letzte Ausfahrt
Zu Tode gelacht
Memento mori
Angst vor dem Scheintod (1)
Angst vor dem Scheintod (2)
Angst vor dem Scheintod (3)
Lehre vom langen Leben
Schon öfter gestorben
Sehnsucht nach Frieden
Krieg und Tod
Agonien
Beim Begräbnis
Kein Trost
Auf Friedhöfen
Galeotti ist gestorben
Beerdigungen
Als Großvater starb
Verschiedene Beerdigungen
Diesselbe Angst
Unsterblich
Notwendige Furcht
Horla
Kein Widerspruch
Sie gehören dazu
Tod im TV
Die richtige Methode
Der Tod watet im Leben
In voller Fahrt abspringen
Signatur
Lüge und Betrug
Wuchtige Effekte
Alte Bräuche
Reife
Am Ende
Todesanzeige
Benachteiligt
Die Unbeweglichkeit des Todes
Memento mori
Mit jemandem reden können
Keine Angst
Bereits dem Tod gleichen
Wechselhaft
Erlebnis-Bestattungen
Todesanzeigen
Grabinschrift
Das wäre ein Sieg
Wiedergeburtseuphorie
Morden im Dritten Reich
Todesangst
Fast eine Beleidigung
Verlust der Abwehr
Die Wiener und der Tod
Todesstrafe
Ein Abgang
Landbegräbnisse
Es lebe der Tod!
Kandidat für einen Prostatatumor
Nahe dem Schüdderump
Kinder und der Tod
Delegation & Wertschätzung
Ich kann das auch
Hölle, Himmel, Fegefeuer
Der Skandal allen Lebens
Todesangst
Erde zu Erde
Die Dogon in Mali
Freiheit & Tod
Sterben ist eine Kunst
Schon
Auf der Totenmesse
Trauerkultur heute
Verachtung
Kommerzielle Anpreisung
Ein gewisses Bedauern
Der Tod der Mutter
Totenfriede und -verdrängung
Wegzehrung
Den Tod vor Augen
Warum wir den Tod fürchten
Die Wirkung des Toten
Digitale Nachlassverwaltung
Gründe gegen das Alleinleben
Die Faszination des Todes
Der Tod meiner Mutter
Ein schwarzer Fleck in unseren Eingeweiden
Ein letzter Wurf
Einer Leichen drohen
Keine endgültige Diagnose
Ein erfülltes Leben
Ein finsteres Jahrhundert
Hinauszögern des Zusammenbruchs
Drohungen
Der Tod ist kein Scherz
Totenwache


Letzte Ausfahrt

Die Totenruhe eines Amsterdamers währte nicht sehr lange. Auf dem Weg zum Friedhof fiel der Sarg mit dem Verstorbenen vom Leichenwagen. Im Stadtteil Osdorp rutschte die Totenkiste auf einer kurvigen Straße aus dem Auto und landete mitten auf einer Verkehrskreuzung. Der Fahrer habe von der spektakulären Störung der Toten nichts bemerkt und sei seelenruhig weiter gefahren, berichtet der "Telegraaf". Ein Busfahrer wollte nach Angaben der Zeitung den Sarg schon mitnehmen, als ein Mitarbeiter des betroffenen Beerdigungsunternehmens zufällig vorbei kam. Der Mann alarmierte seinen Kollegen, der sofort zurück kam, um den Sarg abzuholen. Der Leichenwagenfahrer bestritt, zu schnell gefahren zu sein und wurde entlassen. Die Leiche blieb unversehrt.  ^


Zu Tode gelacht

"Ich lach' mich tot" - diesen Spruch hat ein Thailänder wörtlich genommen. Während seines Schlafes lachte er so lange, bis er nicht mehr atmete. Der 52-Jährige habe zunächst ruhig in seinem Bett gelegen, als er plötzlich in lautes Lachen ausgebrochen sei, meldete die thailändische Zeitung "Khom Chat Luek". Das Blatt beruft sich auf die Ehefrau des 52-Jährigen. Die Frau gab an, sie habe ihren fortwährend lachenden Mann nicht aufwecken können. Wenig später habe der Lastwagenfahrer nicht mehr geatmet. Die ungewöhnlichen Todesumstände sind selbst Medizinern ein Rätsel. Ein Herzversagen sei zwar wahrscheinlich. Doch Damnoen sei bei guter Gesundheit gewesen. Auch habe er nie über Herzprobleme geklagt. "So einen Fall habe ich noch nie gesehen", wird ein anderer thailändischer Mediziner zitiert. ^


Memento mori

Natürlich ist jeder Tod eine ernste Sache, jeder sollte ihn in seine Pläne fest mit einbeziehen. Nie sollte jemand denken: Ich bin unsterblich. Man sollte nicht einmal denken: Nächste Woche fahre ich aufs Land. Man sollte denken: Nächste Woche, falls ich nicht tot bin, fahre ich aufs Land. Auch nicht; Morgen früh lasse ich mir drei Eier braten!, sondern: Morgen früh, falls ich noch am Leben bin, lasse ich mir und so weiter. (Gert Hofmann: Vor der Regenzeit) ^


Angst vor dem Scheintod (1)

"Oft denk ich an den Tod, den herben, Und wie am End’ ich’s ausmach’?! Ganz sanft im Schlafe möcht ich sterben. Und tot sein, wenn ich aufwach!" Carl Spitzwegs paradoxe Verse beschreiben den schönen, also den sanften und leichten Tod, wie man ihn sich zu allen Zeiten gewünscht hat. Vor zweihundert Jahren hatten die Menschen Angst vor dem Scheintod; sie hatten Angst davor, lebendig begraben zu werden und im Sarg zu ersticken. Um sicherzugehen, wurde die Leiche gekitzelt, mit dem Blasebalg oder mit Riechsalzen traktiert und dann drei Tage in beheizten und bewachten Leichenhäusern aufbewahrt. (Karl Shaw: Die schrägsten Vögel der Welt. Lexikon der Exzentriker)  ^


Angst vor dem Scheintod (2)

Die Phantasien zur Bekämpfung des Scheintodes kannten offensichtlich keine Grenzen; so berichtete der Schriftsteller Dr. Ludwig Chierici von einem Gerät, das "man dem Verstorbenen so auf die Brust legt, dass bei der geringsten Bewegung dieses Letzteren ein scharfes Eisen hervorspringt und dem Betreffenden das Herz durchbohrt". Sanftere Methoden zur Verhinderung eines qualvollen Todes im Sarg sahen die Bestattung in einem Sarg vor, der nur mit einem Leichentuch bedeckt wurde und in einem offenen gelassenen Grab lag, in das man eine Leiter stellte. (Karl Shaw: Die schrägsten Vögel der Welt. Lexikon der Exzentriker) ^


Angst vor dem Scheintod (3)

Die Furcht vor dem Scheintod war im 19. Jahrhundert so groß, daß mehr als 200 Bücher zu dem Thema geschrieben und Gesellschaften gegründet wurden, die sich das Ziel gesetzt hatten, die Beerdigung von Scheintoten zu verhindern. Besonders besorgt waren offenbar Schriftsteller. Harriet Martineau hinterließ ihrem Arzt zehn Pfund mit der Auflage, daß er ihr, um sicher zu gehen, daß sie wirklich und wahrhaftig tot war, vor der Beerdigung den Kopf abtrennte. Entsprechend versprach der Romancier Edmund Yates jedem Chirurgen 20 Guineen, der so freundlich wäre, ihm vor der Beisetzung die Halsschlagader durchzuschneiden. Der Romancier Wilkie Collins trug immer einen Brief bei sich, der jedem, der ihn "tot" auffände, doch bitte einen Arzt beizuziehen, um auch dessen Einschätzung zu hören. (Karl Shaw: Die schrägsten Vögel der Welt. Lexikon der Exzentriker) ^


Lehre vom langen Leben

Medizin: die Lehre davon, wie man Menschen am Leben hält, die nicht recht wissen, wozu sie weiterleben sollen, da sie keinen Sinn darin sehen, in bester Gesundheit hundert Jahre zu werden, ohne zu wissen, was damit gewonnen ist, lang zu leben in einer Welt, die nicht imstande ist, zugleich mit der physischen Gesundheit das Wissen um Woher und Wohin und Warum und Wozu des langen Lebens zu lehren. (Luise Rinser: Kriegsspielzeug. Tagebuch 1972-1978) ^


Schon öfter gestorben

Ich mache einen Kurs als Sterbebegleiterin, sagt Regine. Ohh, mache ich und muß ein wenig lachen. Das ist eine ernste Sache, sagt Regine. Ich möchte fragen, was man in einem solchen Kurs lernt, aber ich traue mich nicht. Und, frage ich statt dessen, kommst du klar? Neulich wollten sie mich zum ersten Mal einer Einundneunzigjährigen beistehen lassen, aber die Frau hat mich nach einer halben Stunde weggeschickt. Jetzt lachen wir beide und sehen dabei aneinander vorbei. Du bist ihr wahrscheinlich wie der Tod persönlich vorgekommen, sage ich. So habe ich das noch nie gesehen. Als Sterbender ist man doch gekränkt über jeden, der weiterlebt, sage ich. Du sprichst, sagt Regine, als wärst du schon einmal gestorben. Klar doch, sage ich, schon öfter, du etwas nicht? (Wilhelm Genazino: Ein Regenschirm für diesen Tag) ^


Sehnsucht nach Frieden

Es heißt, die schlimmste Nacht sei die Nacht des Sterbens, doch von ihr soll hier nicht die Rede sein. Denn bei allem Schrecken - und er ist der größte, weil endgültige - liegt im Sterben auch die Sehnsucht nach Frieden, die herkommt aus Krankheit und Leiden, Entkräftung, Mutlosigkeit. Das Bewußtsein sträubt sich gegen diese Sehnsucht nach Frieden, auch die noch gesunden Teile des Körpers, aber sie ist da und erstarkt in dem Maß, in dem sich das Bewußtsein und die Reste der Gesundheit von der Krankheit zurückziehen, und sie obsiegt am Ende, in der größten Niederlage. (Aleksandar Tisma: Die Schule der Gottlosigkeit)  ^


Krieg und Tod

"Unser Bewußtsein ist gegen die Vorstellung des eigenen Todes ebenso unzugänglich, gegen den Fremden ebenso mordlustig, gegen die geliebte Person ebenso zwiespältig (ambivalent) wie der Mensch der Urzeit. Wie weit haben wir uns aber in der konventionell-kulturellen Einstellung gegen den Tod von diesem Urzustande entfernt! Es ist leicht zu sagen, wie der Krieg in diese Entzweiung eingreift. Er streift uns die späteren Kulturauflagerungen ab und läßt den Urmenschen in uns wieder zum Vorschein kommen.Er zwingt uns wieder, Helden zu sein, die an den eigenen Tod nicht glauben können; er bezeichnet uns die Fremden als Feinde, deren Tod man herbeiführen oder herbeiwünschen soll; er rät uns, uns über den Tod geliebter Personen hinwegzusetzen. Der Krieg ist aber nicht abzuschaffen; solange die Existenzbedingungen der Völker so verschieden und die Abstoßungen unter ihnen so heftig sind, wird es Kriege geben müssen." (Sigmund Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod, 1915) ^


Agonien

In Bath betrachtete Lady Fidgety an einem offenen Fenster stehend den Garten, der ihr Haus umgab, und nachdenklich verglich sie in ihrem amarantroten Seidenkleid die Platanen, Grünflächen und Blumenbeete mit einem Paradies. Das Zimmer, in dem sie sich aufhielt, versank nach und nach in der Agonie eines herrlichen Spätnachmittags. In der Tiefe eines Alkovens schien der Kranke seinen Atem der Nacht abzuringen. Mehrere Male sprach er mit größter Anstrengung den Namen seiner Frau aus, doch sein Rufen störte sie in ihren überlegungen, und sie bewahrte eine gewissermaßen religiöse Stille. Offen gesagt, verdroß es sie, Lord Fidgety langsam auf die unerträgliche Mühsal des Endes zugehen zu sehen; mit einem Wort, sie verabscheute Agonien. (Julien Green: Dixie) ^


Beim Begräbnis

Starb ein Nachbar oder sonst ein wohlhabender oder gar reicher oder eben einflußreicher Mann, gingen alle hin. Sie bildeten einen fast immer hundert Meter langen Zug hinter dem Sarg, dem der Pfarrer mit seinem Gefolge vorausschritt. Die aufgebahrten Toten hatten entstellte Gesichter, von ausgeflossenem und dann vertrocknetem Blut sehr oft verunstaltet. Es nützte oft nichts, das Kinn an den übrigen Kopf zu binden, es blieb unten, und der Beobachter starrte in die finstere Mundhöhle. Die Aufgebahrten lagen im Sonntagsanzug da, die Hände um einen Rosenkranz gefaltet. Der Geruch des Toten und der Kerzen, die zu beiden Seiten seines Kopfes aufgestellt waren, war süßlich, abstoßend. Tag und Nacht ohne Unterbrechung bis zum Begräbnis wurde die Totenwache gehalten. Männer und Frauen wechselten sich im Rosenkranzbeten ab. Man mußte schon mindestens mit drei Stunden rechnen, bis der Tote in seinem Grab war. Vor dem gestanzten Silberblech auf den schwarzen Särgen, das den gekreuzigten Christus darstellen sollte, ekelte es mich. Dieses Begräbnisse machten den größten Eindruck auf mich, zum erstenmal in meinem Leben sah ich, daß die Menschen starben und daß man sie eingrub und so gut zuschüttete, daß sie die Lebenden absolut nicht mehr vergiften konnten. Noch glaubte ich nicht daran, eines Tages selbst sterben zu müssen, auch an den Tod meines Großvaters glaubte ich nicht. Alle sterben, ich nicht, alle, nicht mein Großvater, war meine Sicherheit. (Thomas Bernhard: Ein Kind) ^


Kein Trost

Früher habe ich den Tod als Skandal empfunden und die Angst davor mit Hilfe Epikurs ein wenig verdrängt. Solange wir da sind, sagt er, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, sind wir nicht mehr da. Also braucht er uns nicht zu kümmern. Das ist eine hübsche Schlaumeierei, aber keine Erkenntnis. Dass wir nicht tot sind, solange wir leben: Diese Tautologie kann uns wahrhaftig nicht trösten ... (Markus Werner in einem Interview) ^


Auf Friedhöfen

Die Friedhöfe in anderen Teilen der Erde sind so eingerichtet, daß sie den Lebenden Freude gewähren. Es lebt viel auf ihnen, Pflanzen und Vögel, und der Besucher, als einziger Mensch unter so viel Toten, fühlt sich davon aufgemuntert und gestärkt. Sein eigener Zustand erscheint ihm beneidenswert. Auf den Grabsteinen liest er die Namen von Leuten; jeden einzelnen von ihnen hat er überlebt. Ohne daß er es sich gesteht, ist ihm ein wenig so zumute, als hätte er jeden von ihnen im Zweikampf besiegt. Er ist auch traurig, gewiß, über so viele, die nicht mehr sind, aber dafür ist er selber unüberwindlich. Wo sonst kann er sich so vorkommen? Auf welchem Schlachtfeld der Welt bleibt er als einziger übrig? Aufrecht steht er mitten unter ihnen, die alle liegen. Aber auch die Bäume und die Grabsteine stehen aufrecht. Sie sind hier gepflanzt und aufgestellt und umgeben ihn als eine Art von Hinterlassenschaft, die dazu da ist, ihm zu gefallen. (Elias Canetti: Die Stimmen von Marrakesch) ^


Galeotti ist gestorben

Eines Tages standen Terni und meine Mutter im Vorzimmer, und meine Mutter weinte. Sie sagten, Galeotti sei gestorben. Die Worte, "Galeotti sei gestorben", blieben immer in mir. Seit ich auf der Welt war, war noch nie jemand gestorben, der uns so nahestand. Der Tod nahm in meinem Denken für immer die Gestalt diese fröhlichen Mannes an, der uns im Sommer häufig in den Bergen besuchte. Galeotti war überraschend an einer Lungenentzündung gestorben. Viele jahre später, nachdem das Penicillin entdeckt worden war, sagte mein vater häufig: Wenn man das Penicillin schon zur Zeit des armen Galeotti gekannt hätte, wäre er nicht gestorben. Er starb an einer Streptokokken-Infektion. Mit Pencillin läßt sich das heilen. Kaum war jemand gestorben, so fügte mein Vater seinem Namen das Wort "arm" bei uns wurde böse, wenn meiner Mutter es nicht auch so hielt. Auf diese Gewohnheit wurde in der Familie meines Vaters großen Wert gelegt: Wenn meine Großmutter von ihrer toten Schwester sprach, sagte sie stets "die arme Regina" und nante sie nie anders. Galeotti wurde also schon eine Stunde nach seinem Tod "der arme Galeotti". Meiner Großmutter wurde die Nachricht von seinem Tod sehr schonend beigebracht, weil sie große Angst vor dem Sterben hatte und es nicht schätzte, wenn der Tod in ihrer Umgebung bei Leuten, die sie kannte, umging. (Natalia Ginzburg: Familienlexikon) ^


Beerdigungen

Ich denke, sagte ich, es ist nicht einfach, bei einer Beerdigung immer den richtigen Ton zu treffen. Er leckte sich den Senf vom Finger, nickte dann. Kommt drauf an, sagte er, was verlangt wird. Richtet sich ganz nach den Wünschen der Hinterbliebenen, ob die es trocken oder naß haben wollen. Der Beerdigungsredner schaufelte sich noch mehr Senf auf seine Frikadelle. Das bestimmen die Hinterbliebenen. Hat man bald n Gefühl dafür, ob die weinen wollen oder sich hinter einem konzentrierten Ernst aufs Erbe freuen. Klar, muß man sich umsehen, im Leben der Hingeschiedenen. Aber denen kann es ja Wurscht sein, was da veranstaltet wird. Obwohl es auch Fälle gibt, die testamentarisch genau festlegen, was über ihr Leben gesagt werden soll. Höhepunkte, nachträgliche Rechtfertigungen, auch gehässiges Nachtreten, sozusagen aus dem Sarg heraus. Es gibt da nichts, was es nicht gibt. Er bestellte sich noch eine Dose Bier, riß den Verschluß auf und trank. (Uwe Timm: Johannisnacht) ^


Als Großvater starb

Als mein Großvater gestorben gestorben war, habe ich mich verleugnen lassen, ich wollte nicht zu seiner Beerdigung, dazu hatte ich ihn zu sehr geliebt. In seinen letzten Lebensjahren hatte er oft erwogen, aus der Kirche auszutreten, ich weiß nicht, ob er es getan hat, jedenfalls stand fest, daß ein Geistlicher an seinem Grab irgendwas labern würde. Vielleicht bin ich auch nicht auf diese Beerdigung gegangen, um den Pastor zu schonen, cholerisch wie ich nun einmal bin, hätte ich ihm möglicherweise einen Klumpen Erde ins Gesicht geworfen oder wäre ihm unflätig ins Wort gefallen. (Michael Schulte: Bambus, Coca-Cola, Bambus) ^


Verschiedene Beerdigungen

Stimmt nicht, daß alle europäischen Beerdigungen gleich ablaufen und abliefen. Es ist schon etwas dran an dem Satz: 'Jeder stirbt zufällig, aber jeder wird so beerdigt wie er gelebt hat.' Am offenen Grab Frank Wedekinds wurde Heinrich Lautensack wahnsinnig, wollte sich lebendigen Leibes in die Grube stürzen und sich mitbeerdigen lassen. Lautensack wurde abgeführt und verbrachte den Rest seiner düsteren Tage in einer Nervenheilanstalt. Eine ähnliches Szene bei der Beerdigung Thomas Manns ist kaum denkbar. Halb Paris folgte dem Sarg Victor Hugos, man trug nicht nur einen Schriftsteller zu Grabe, sondern auch eine Epoche. (Michael Schulte: Bambus, Coca-Cola, Bambus) ^


Diesselbe Angst

Man glaubt, man könnte sich mit der Vorstellung vom Tod nie ohne Angst abfinden. Wenn wir noch jung sind, ist er für uns so weit weg, in eine so ferne Zeit gerückt, daß allein schon diese Distanz ihn unannehmbar macht. Später dann, wenn die Jahre verstreichen, ist es genau das Gegenteil - seine größere Nähe -, was uns mit Furcht erfüllt und ständig daran hindert, ihm ins Angesicht zu schauen. Aber in jedem Fall ist die Angst immer dieselbe: Angst vor der Erniedrigung, Angst vor der Vernichtung, Angst vor der unendlichen Kälte, die das Vergessen mit sich bringt. (Julio Llamazares, Der gelbe Regen) ^


Unsterblich

Einst war die Unsterblichkeit ein hohes Ziel, eines, von dem jeder wußte, daß es nur in seiner metaphorischen Form erreicht werden konnte. Künstler wollten unsterblich werden und wurde es zuweilen auch (Homer, Shakespeare), Wissenschaftler (Kopernikus, Einstein), Heerfürher wie Alexander oder Napoleon, deren Beruf just die Sterblichkeit anderer war. Vorgemacht hatten es uns die Götter. Sie, von Zeus über Allah bis hin zu unserem HErrn, sind unsterblich. Nie hat man gehört, daß ein Gott stürbe. Götter werden zuweilen geboren, das kommt vor. Aber dann haben wir sie am Hals für alle Zeiten. (Urs Widmer: Von der Unsterblichkeit) ^


Notwendige Furcht

... danach in deutschen Konzentrationslagern mit all ihren Schrecken. Der kleine Mann, der hier neben Ihnen sitzt, war in Dachau, Stutthoff und Majdanek. Selbst jetzt wiege ich nur hundertzehn Pfund. Als die Amerikaner die Konzentrationslager befreiten, wog ich noch genau sechundsechzig Pfund. Die ärzte glaubten nicht, daß ich überleben würde. Ganz kurz vor der Befreiung, während der letzten Tage, war ich in ein Koma gefallen. Ich hatte schon den Tod gekostet. Ich möchte Ihnen jetzt sagen, daß es nichts Angenehmeres gibt. Alle Vergnügen dieser Welt können sich nicht mit der Friedlichkeit des Todes messen. Wie seltsam, daß die Menschen das am meisten fürchten, was ihnen die größte Seligkeit bringt. Offenbar ist diese Furcht notwendig, ohne sie würden die Menschen nicht am Leben hängen. (Isaac Bashevis Singer: Ein Tag des Glücks. Geschichten von der Liebe) ^


Horla

Niemand glaubt an den eigenen Tod. Bei allem gelegentlichen Lebensüberdruß ist der Mensch unfähig, sich seiner persönlichen Sterblichkeit bewußt zu sein, allenfalls im Zusammenhang mit der Unsterblichkeit der Seele oder der Seelenwanderung, was den Tod ja wieder aufhebt. Horla nennt Maupassant den Schrecken, der einen durchfährt, wenn es einem gelingt, sich die persönliche Sterblichkeit annähernd bewußt zu machen. Vielleicht ist der Mensch unsterblich? Vielleicht stirbt er überhaupt nur am Schrecken vor dem Tod? An dem Horla? So, wie man sagt, daß die gejagten Hasen nicht durch den Schrotschuß sterben, sondern durch den Schreck, daß sie getroffen sind? (Herbert Rosendorfer: Das Messingherz) ^


Kein Widerspruch

"Geh nach Hause und sage im Schloß, daß sie alles zu meinem Empfang vorbereiten sollen. Ordentlich - es wird ohnehin die letzte Mühe sein, die ich meinen Leuten mache. Ich glaube, daß ich nur heimkommen werde, um mich hinzulegen zum Sterben." Pavel widersprach ihr nicht. Er fühlte wohl, auf einen Widerspruch war es hier nicht abgesehen wie so oft bei alten Leuten, wenn sie Anspielungen machen auf ihren nahenden Tod: Es war ernst gemeint, und also wurde es aufgenommen. (Marie von Ebner-Eschenbach: Das Gemeindekind)  ^


Sie gehören dazu

(...) zum Tod habe ich das gleiche Verhältnis wie früher, ich hasse ihn nicht und ich fürchte ihn nicht. Wenn ich einmal untersuchen wollte, mit wem und mit was ich nächst meiner Frau und meinen Söhnen am meisten und am liebsten Umgang habe, so würde sich zeigen, daß es lauter Tote sind, Tote aller Jahrhunderte, Musiker, Dichter, Maler. Ihr Wesen, verdichtet in ihren Werken, lebt fort und ist mir viel gegenwärtiger und realer als die meisten Zeitgenossen. Und ebenso ist es mit den Toten, die ich im Leben gekannt, geliebt und "verloren" habe, meinen Eltern und Geschwistern, meinen Jugendfreunden - sie gehören zu mir und zu meinem Leben heute ebenso wie einst, als sie noch lebten, ich denke an sie, träume von ihnen und rechne sie mir zu meinem täglichen Leben. (Hermann Hesse: Stufen des Lebens. Briefe) ^


Tod im TV

Der Bundesverband deutscher Bestatter (BDB) will in Zusammenarbeit mit dem Sender EosTV damit beginnen, über Satellit und im Internet ein Sparten- Programm mit für ältere Menschen relevanten Themen auszustrahlen. Geplant seien beispielsweise Dokumentationen über Friedhöfe und Reportagen über Trauerrituale. Diskussionsstoff biete sich, weil der Bestattungskanal sich unter anderem mit filmischen Nachrufen auf Verstorbene finanzieren will. Das Fernsehen fungiere dabei als zeitgemäßes Kondolenzbuch, Zielgruppe sei die wachsende Zahl älterer Menschen. ^


Die richtige Methode

Er sagte: "Arme Nancy. Sie ist ganz durcheinander." Angela sagte: "Sie hat mich gefragt, ob das Kennedy- Baby im Himmel ist, wo der Hamster sich in seinem Rad dreht. Wirklich, Piet, ich frage mich, ob die Religion das wert ist und ob es nicht doch gesünder wäre, den Kindern die Wahrheit zu sagen, nämlich, daß wir unter die Erde kommen und nichts mehr wissen und eines Tages als Gras zurückkehren." "Und von Kühen gefressen werden. Ich kapiere nicht, wieso der Tod euch Stoikern so verdammt gesund erscheint. Demnächst wirst du es noch beweisen wollen, indem du dich mit aufgeschnittenen Pulsadern in ein warmes Bad legst." "So, das möchtest du wohl." (John Updike: Ehepaar) ^


Der Tod watet im Leben

Wenn der Tod in die Tür tritt, stellen wir uns auf die Zehenspitzen und fauchen ihn an, und wenn er uns in den Arm nimmt, fangen wir an, großartig offenherzig gegeneinander zu sein, wir schlagen uns. Natürlich dauert es nicht lange, und wir liegen da, hier und dort ein bißchen blau. Dann werden wir in die Erde eingegraben. Warum das geschieht? Ja, damit das Sterben für die Zurückbleibenden gesünder wird! Aber wir selber liegen da mit Würmern in den Augen, zu tot, um sie wegwischen zu können. Ist das nicht alles so? Und das ist dabei nur die Hälfte. Wir haben nur von dem gesprochen, was der Tod verrichtet, wenn er nur so für sich hingeht und pflückt, aber das befriedigt ihn nicht immer, mit Krieg, Erdbeben, Seuchen tritt auf als Majestät, mit immer abwärts gewandten Daumen: der Tod watet im Leben. (Knut Hamsun: Das letzte Kapitel) ^


In voller Fahrt abspringen

Du hast noch nicht Rückschau auf dein Leben gehalten. Wenn du das aber einmal tust, wirst du sehen, daß das Leben nicht sinnlos ist. Am Ende zeigt sich, daß es bestimmte Kurven beschreibt. Doch das, Serjosha, können wir erst am Schluß erkennen. Und auch da... Wenn man das Leben verfolgt, Serjosha, so gibt es uns fortwährend Zeichen. Man muß sie nur spüren. Doch ist in uns alles wie zugekorkst. Alle Gefäße. Alissa Andrejewna hat mich damals verflucht. Ich hab drüber gelacht. Na klar - Relikte der Vergangenheit. Ich hab ihr verziehen. Obgleich ich sie wegen solcher äußerungen... Warum war ich neulich so wütend auf dich? Weil du nicht tiefer blickst. Zum Beispiel hätte ich sie für diesen Fluch büßen lassen können, nicht wahr? Aber als sie im Sterben lag, bin ich zu ihr hin und hab sie um Verzeihung gebeten. Und sie hat mir verziehen. Begreifst du - sie hat mir verziehen. Das war mir ein Zeichen! Ich hab's nicht gehört. Sie bekam die Letzte ölung. Das ist zwar religiöses Blendwerk, aber es bereitet den Menschen auf den Tod vor. Unter Respektierung seines vergangenen Lebens. Heutzutage macht man dem Sterbenden blauen Dunst vor, lenkt ihn ab, und dann muß er sozusagen in voller Fahrt abspringen. Warum denn?" (Daniil Granin: Das Gemälde) ^


Signatur

Wie die meisten Menschen, die ihr Ende in deutlicher Nähe wahrnehmen, beschäftigte Reisiger die Vorstellung des Anblicks, den er im Moment des Auffindes seiner Leiche bieten würde. Darum auch war es vielen Leuten so sehr zuwider, in einem Bett, erst recht in einem Krankenhausbett zu versterben. Man machte dort selten eine gute Figur. Vielleicht weniger der Körperhaltung wegen, die sich ja im Liegen gar nicht so unelegant ausnahm, als auf Grund des Ortes, der Häßlichkeit und Unförmigkeit der Betten. Es war nun mal ein Faktum, daß man in einem verunfallten Sportwagen sitzend, so demoliert der Wagen, so schrecklich zugerichtet man selbst sein mochte, einen sehr viel interessanteren Eindruck machte. Und das war kein geringes Argument. Es war mitnichten unbedeutend, wie wer starb und welche atmosphärische Note er hinterließ. Das war wie die Signatur unter einem Bild. Eine solche Signatur konnte eine Menge retten und eine Menge verderben. Gerade Reisiger, dieser uneingestandene Kunstgeschichtler, wußte das nur zu gut. (Heinrich Steinfest: Der Umfang der Hölle) ^


Lüge und Betrug

"Alles, was über den Tod erzählt wird, ist Lüge. Die Wirklichkeit ist ein Insult, jede Absprache gegen sie Betrug. Ich hasse die Pfaffen und Märchen der Religion. (...) Alles, was über den gelogen wird, dreht mir den Magen um. Das ewige Leben. Leben nach dem Tode. Jüngste Gerichte, Sphären, Himmel und Hölle. Nichts als widerliche, dumme, winselnde Lügen. Die Wirklichkeit ist der obzön grinsende Tod." (Sandor Marai: Tagebücher 1984-1989^


Wuchtige Effekte

Am nächsten Tag erfahren wir durch ein Telegramm aus Paris, daß Laurence nach einer Operation gestorben ist, die an sich belanglos war und bei der sie es nicht einmal für notwendig erachtet hatte, uns zu benachrichtigen. Es gelingt mir nicht zu begreifen, daß all dies wahr ist. Wir haben uns tatsächlich ein ganzes Jahr lang nicht gesehen, und was hat sich um mich herum verändert und sagt mir, daß sie nicht mehr da ist? Heute bin ich durch diese Nachricht wie betäubt; der Schmerz wird erst später einsetzen, wenn keine Briefe mehr aus Paris kommen. Das Begräbnis findet morgen statt. Was für emphatische Lehren uns das Leben doch gibt, wenn es uns von sich loslösen will! Es schlägt hart zu und findet Gefallen an wuchtigen Effekten; es ist ein Schriftsteller ohne Feingefühl; Genie besitzt es, noch dazu vom grobschlächtigsten, Talent jedoch keineswegs. (Julien Green: Varuna)  ^


Alte Bräuche

Bald passierte er die ersten Häuser. Drei junge Mädchen in Sonntagstracht kamen ihm entgegen. Die alten Bräuche waren noch lebendig. Die Mädchen gingen als Leichenbitterinnen vollführten einen beinahe formvollendeten Knicks. (...) Die Mädchen klopften an die Tür des nächsten Hauses. Eine Frau erschien im Eingang. "We skel jam grööte faan Meetje. Ulew as duad!" sprachen die drei im Chor. "Wir sollen dich von Meetje grüßen. Oluf ist tot." "Toonk, gröötems weler!" Die alten Formeln. Natürlich wußten alle Dorfbewohner längst, daß Oluf Braren gestorben war. Immerhin, auch der verachtete Schulmann bekam seinen Abschied, wie es sich gehörte. Die verfallene Schulmeisterwohnung war leicht zu finden. Hier hatte Oluf Braren die letzten siebzehn Jahre seines Lebens verbracht. Die Tür stand offen. Ein dunkles Loch, wie das Maul eines toten Walfisches. Matthiessen trat ein. Er stieß mit dem Fuß gegen etwas, beinahe wäre er darüber gefallen. Als seine Augen sich an das dämmriges Licht gewöhnt hatten, erkannte er, daß eine Art Kiste den Eingang versperrte. Sein Erstaunen schlug in Entsetzen um. Er wußte, worüber er eben gestolpert war: Was da vor ihm stand, war keine Kiste oder Truhe, es war der offene Sarg seines Freundes Oluf Brarens. Natürlich, er wurde nach alter Sitte betrauert. Man legte die Leiche in den Hauseingang, damit die Dorfbewohner vorbeikommen und sich von dem Toten verabschieden konnten. Im Augenblick war er, Nahmen Matthiessen, der einzige Gast. Kaum erkannte er den Freund wieder. Die Haut war weiß, als wäre sie aus Wachs. Oluf Braren wirkte erstaunlich klein, sein Kopf erschien im Verhältnis zum Körper groß, puppenhaft, fast wie die Figuren auf seinen ersten Bildern. Er lag da wie ein schlafendes Kind. Der Brauch, den Verstorbenen im Hauseingang stehend, die Freunde begrüßt, sie lachend und unter vielen Worten in das Innere seiner ärmlichen Wohnung hineingeleitet. Jeder Besuch war dem kleinen Schulmeister ein Fest gewesen. Nun empfing er die Freunde ein letztes Mal, ein stiller Gastgeber. (Olaf Schmidt: Friesenblut) ^


Reife

Wer sich sein reifes Leben lang Mühe gab, wer Freude für sich und andere suchte, wer mit angeborenen Schwächen so weit wie möglich zurecht kam, wer seine Talente nicht brach liegen ließ, wer an Treue glaubte und sie übte, wer half, wo er helfen konnte und Helfen Sinn hatte, wer einmal dies glaubte und einmal das, weil er eben ein Mensch und kein Engel war, was sollte der vorm Tode fürchten. (Golo Mann in einem Brief) ^


Am Ende

Eines Tages würde ich (und würden auch sie) einer Krankenschwester ausgesetzt sein, ich würde mithören, wie sie mit dem Assistenzarzt spricht und sagt: "Er kann nicht loslassen" - und ich würde in einem Bett liegen, das vorerst ein Sterbebett war und bald ein Totenbett sein würde, nur ganz kurz. Denn sie würden mich schon, noch bevor ich auf Zimmertemperatur abgekühlt sein würde, zum großen Aufzug schieben und mit mir hinunterfahren, ich weiß. - Am Ende würde ich wildfremden Menschen ausgesetzt sein, die zufällig Tag- oder Nachtdienst hatten; würde einem Zufall ausgeliefert sein, den der Dienstplan diktierte. (Arnold Stadler: Sehnsucht. Versuch über das erste Mal) ^


Todesanzeige

Schon damals waren die Todesanzeigen ziemlich verkommen, nicht erst, seit "sterben" durch "gehen" ersetzt worden war und das Kreuz durch eine geknickte Weizenähre. Aber noch nicht so verkommen, daß ich mir eines Tages sagen mußte. Das sind doch gar keine Todesanzeigen mehr! - Das ist doch unlauterer Wettbewerb, heimliche "promotion" - manche Todesanzeige wäre eigentlich längst eine Sache des Kartellamts. Es konnte doch nicht sein, daß für einen verstorbenen Mercedesmanager oder einen von der Deutschen Bank oder einen Politiker seitenlang getrauert wurde. (...) Aber die Chefetagen legten Wert darauf, daß ganzseitige Anzeigen mit den Logos der Multis in der Mitte Todesanzeigen sein sollten. Und daß vom Tod möglichst wenig die Rede war. Die waren doch froh, daß sie wieder einen loshatten und konnten die angeblichen Todesanzeigen noch bei der Steuer unter "Werbung" verbuchen. Aber das war nicht nötig, denn die großen Häuser zahlten keine Steuer. Aber auch kleineren Häusern und Labels aus dem sogenannten Mittelstand, selbst Familienbetrieben, deren Oberhaupt, das die Firma gegründet hatte, gerade gestorben war, gelang es immer wieder, sich auf der Todesanzeigenseite der F.A.Z. geschickt zu plazieren. Sie dachten sich immer wieder wettbewerbsverzerrende, ja wettbewerbsvertuschende, verbraucherfreundliche, neue, von der Werbeabteilung erdachte Formulierungen aus. Endgültig war klar, daß hier nicht mehr gestorben, sondern gegangen wurde. (Arnold Stadler: Sehnsucht. Versuch über das erste Mal)  ^


Benachteiligt

Als Randfigur der Familie hat er nicht einmal den Vorteil, seine Verlegenheit mit Aktivitäten zu verbergen, wie es Angehörige sonst tun, die ihre neue geweckte Angst vor dem Tod mit den technischen Einzelheiten des Ablaufs des Begräbnisse in Schach halten, mit Behördengängen, Telefonaten, Anzeigen, Absprachen mit Pfarrern und Beerdigungsunternehmern, mit Umsicht für Gästeliste, Speisefolgen. (Friedrich Christian Delius: Adenauerplatz) ^


Die Unbeweglichkeit des Todes

Für viele ärzte liegt im Tod immer etwas Tröstliches, etwas Rechtfertigendes, etwas Vergeltendes, etwas von einem süßen Sieg: Es gibt ärzte, die vor allem Medizin studieren, um die anderen sterben zu sehen, nicht, um sie zu behandeln: Sie mögen Verletzungen, Wunden, Pusteln, mögen den dicken, sanften Geruch des Blutes, mögen das angstvolle Klagen der Sterbenden, mögen das Leiden und das Fieber, aber vor allem mögen sie die Unweglichkeit des Todes, die würdige Ruhe, die ernste Stille, die unvermittelte Reinheit des Todes, den Geschmack des Todes nach grünen äpfeln, nach Klebe, nach Seidenpapierblumen, und sie beugen sich zu den Sterbenden hinunter mit der finsteren Grausamkeit der großen Vögel auf den Feldern, die in der Dämmerung die Häuser der Kranken mit grausamem Jubel beobachten, mit den dunklen Schwingen in lila Wasser rudern. (Antonio Lobo Antunes: Einblick in die Hölle) ^


Memento mori

Würde man bereitwillig seine Tage eingesperrt in einem Büro verbringen, an eine Tastatur, ein Telefon oder einen Bildschirm genietet, den Kopf mit Zahlen und mit Dingen vollgestopft, die man nicht vergessen darf, und schon mit der Furcht vor dem abendlichen Stau im Nacken, würde man das bereitwillig tun, wenn einem voll bewußt wäre, daß man dazu bestimmt ist, die Radieschen von unten anzugucken? Nein, meine Herren! Wenn man dem Tod ins Gesicht sehen kann, bestellt man seelenruhig, mit frischem Blick und leichtem Schritt seinen Garten. Einen Baum zu pflanzen, das hat angesichts des Todes einen Sinn. Nicht aber, in einer Fabrik oder einem Büro der Knecht einer Maschine zu sein. Den Tod zu vernachlässigen heißt sein Leben zu verfälschen. Der Gedanke an den Tod rückt alles an seinen rechten Platz, er stärkt den Guten und verfolgt den Bösen, er gibt allem seinen wahren Geschmack und läßt uns lieben, was das Leben an Bestem zu bieten hat: Ruhe, Stille, Vergessen, die Ewigkeit der Berge, guten Wein, wahre Bücher... und den Schlaf. Weit davon entfernt, zur Passivität zu führen, macht das Bewußtsein des Todes Mut. Was hat man zu fürchten, wenn man weiß, daß man dem Schlimmsten nicht entgehen kann? Empfangen wir den Tod an unserem Tisch, schlemmen und prassen wir mit ihm, und wenn es an der Zeit ist, ihn zurück auf sein Schloß im tiefen Wald zu begleiten, dann wollen wir ihn selber mit gut benetzter Kehle und prallem Wanst an der Hand nehmen, neugierig zu erfahren, wo wir uns wiederfinden werden. Was für eine Reise steht uns da bevor! (Henri-Frederic Blanc: Im Reich des Schlafes) ^


Mit jemandem reden können

Alle diese Menschen, gleich wer sie sind, sind von diesem Vorgang, sich von dem in jedem Falle bevorstehenden Tode abzulenken, beherrscht, hatte ich gedacht. Alles an allen Menschen ist nichts als Ablenkung vom Tode. Erstaunlich ist, daß ich gerade vor dem Moritz sehr oft solche Gedanken habe entwickeln können, mit dem Moritz über solche Todesgedanken habe sprechen können. Wenn wir nur einen Menschen in unserer Nähe haben, mit welchem wir letztenendes alles besprechen können, halten wir es aus, sonst nicht. (Thomas Bernhard: Ja) ^


Keine Angst

"Hast du eigentlich Angst vorm Tod?" fragte sie plötzlich. Ragnar schien nicht überrascht von dieser Frage. "Ich weiß nicht", sagte er nachdenklich und sah hinunter auf Johannas Kopf, den sie an seinen Knien rieb. "Als Kind hatte ich ja wohl wahnsinnige Angst vor ihm; es ist passiert, daß ich aufgewacht bin mitten in der Nacht und geschrien habe, gebrüllt, weißt du - weil mir eingefallen war, daß ich sterben muß. Der Tod hatte solch ein Grauen aus seinen Augenhöhlen. Aber das hat sich geändert, kommt mir vor. Der Tod kann nicht schlimm sein. Das Leben ist schlimm, ja, das ist die überraschung. Man war nicht drauf gefaßt. Man hat es sich leichter vorgestellt, oder doch von einer schöneren Traurigkeit. Ich glaube jetzt, daß der Tod wohl eher als die angenehme überaschung ausfallen wird." (Klaus Mann: Flucht in den Norden) ^


Bereits dem Tod gleichen

"Wie komisch du bist, Bernard, mit deiner Angst vor dem Tod. Wirst du nie, wie ich, vom tiefen Gefühl deiner Nutzlosigkeit ergriffen? Nein? Glaubst du nicht, daß das Leben von Menschen unserer Art bereits gewaltig dem Tode gleicht?" Er zuckte die Achseln: Sie langweilte ihn nachgerade mit ihren Verstiegenheiten. Es ist kein Kunststück, geistreich zu sein: Man braucht nur stets das Gegenteil dessen zu behaupten, was vernünftig ist. (Francois Mauriac: Die Tat der Therese Desqueyroux) ^


Wechselhaft

"Wenn er ganz bei sich ist, weiß er, daß er stirbt, und fügt sich. Seine Krankheit ist sehr wechselnd; einen Tag, manchmal mehrere Tage hintereinander, ist er kräftig und munter, und dann ist er bereit zum Sterben, nachher aber ist er ganz niedergeschlagen und voll Angst. Ich weiß nicht, wie es sein wird, wenn er immer mehr verfällt. Das kann nicht mehr lange dauern. Die ärzte in Rom haben ihm weniger als ein Jahr gegeben. Es kommt jemand aus London, ich glaube morgen, der uns Genaueres sagen wird." (Evelyn Waugh: Wiedersehen mit Brideshead)  ^


Erlebnis-Bestattungen

Haben Sie aber schon gehört, daß es seit neuestem Erlebnis-Bestattungen gibt? Nein, gibt es noch nicht, aber ich glaube, das ist eine Marktlücke. Ich übergebe die Idee kühnen, weitblickenden Erlebnis-Managern, sie können damit Millionär werden. Die Erlebsnisbestattung: mittels Schnitzeljagd ist der richtige Friedhof zu finden; dann Sarg zusammennageln; das Friedhofspersonal wirft sich die Kränze gegenseitig zu, die Trauergäste müssen versuchen, sie zu fangen; den Pfarrer muß man von einem Baum herunterholen - und die Leiche - ja: die Tante muß von den Hinterbliebenen selbst erschlagen werden. (Herbert Rosendorfer: Die Schönschreibübungen des Gilbert Hasdrubal Koch)  ^


Todesanzeigen

Es ist später Nachmittag. Ich lese die Familiennachrichten der Zeitungen und schneide die Todesanzeigen aus. Das gibt mir immer den Glauben an die Menschen zurück - besonders nach Abenden, an denen wir unsere Lieferanten oder Agenten bewirten mußten. Wenn es nach den Todesanzeigen ginge, wäre der Mensch nämlich absolut vollkommen. Es gibt da nur perfekte Väter, makellose Ehemänner, vorbildliche Kinder, uneigennützige, sich aufopfernde Mütter, allerseits betrauerte Großeltern, Geschäftsleute, gegen die Franziskus von Assisi ein hemmungsloser Egoist gewesen sein muß, gütetriefende Generäle, menschliche Staatsanwälte, fast heilige Munitionsfabrikanten - kurz, die Erde scheint, wenn man den Todesanzeigen glaubt, von einer Horde Engel ohne Flügel bewohnt gewesen zu sein, von denen man nichts gewußt hat. Liebe, die im Leben wahrhaftig nur selten rein vorkommt, leuchtet im Tode von allen Seiten und ist das häufigste, was es gibt. Es wimmelt nur so von erstklassigen Tugenden, von treuer Sorge, von tiefer Frömmigkeit, von selbstloser Hingabe, und auch die Hinterbliebenen wissen, was sich gehört - sie sind von Kummer gebeugt, der Verlust ist unersetzlich, sie werden den Verstorbenen nie vergessen - es ist erhebend, das zu lesen, und man könnte stolz sein, zu einer Rasse zu gehören, die so noble Gefühle hat. (Erich Maria Remarque: Der schwarze Obelisk) ^


Grabinschrift

Wanderer, hier unter diesem Stein
Ruht des lustigen Andrews Gebein.
Wenn einst am Jüngsten Tag die Sonn sich hebt,
Dann steht er wieder auf und lebt.
Sei froh, solang du kannst; bald bist auch du
So traurig wie jetzt der lustige Andrew.
(Henry Fielding: Joseph Andrews Abenteuer)  ^


Das wäre ein Sieg

Gibt es irgendeine überzeugende Theorie, mit der das Töten entschuldigt werden kann? Der Tod folgt den Gesetzen des Witzes, aber kann man lachen, wenn die Pointe auf einen selbst abzielt? Vielleicht schaffst du es, dem Tod mit einem Lächeln entgegenzutreten, wenn du dich mit ihm befaßt, über ihn nachdenkst, ihn richtig verstehst und auf das Ursprüngliche zurückführst. Das wäre ein Sieg über Leben wie der Tod. (Nagib Machfus: Palast der Sehnsucht) ^


Wiedergeburtseuphorie

Interviews mit Menschen, die sich bei einer Flugzeugenentführung lange Zeit in Todesangst befanden. Der Reporter fragt sie, ob sich nach ihrer Rettung das alltägliche Leben geändert habe. Ja, das sei schon der Fall, sagt eine Entronnene, es komme jetzt gelegentlich vor, daß sie das Konto überziehe. Auch daran denke ich ohne Häme. Es ist wohl kaum möglich, sich stets auf der Höhe einer Wiedergeburtseuphorie zu halten. (Silvia Bovenschen: älter werden) ^


Morden im Dritten Reich

Berger ging und kam mit drei Sträflingen zurück. Sie machten Mosse los. Die aufgestaute Luft entwich rasselnd aus den Lungen, als die Schlinge um den Hals sich löste. Die Haken an der Wand waren gerade hoch genug, daß die Gehängten mit den Füßen den Boden nicht mehr erreichen konnten. Das Sterben dauerte so bedeutend länger. Bei einem normalen Galgen brach gewöhnlich der Nacken durch den Fall. Das tausendjährige Reich hatte das geändert. Die Galgen wurden auf langsames Ersticken eingerichtet. Man wollte nicht nur töten, man wollte langsam und sehr schmerzhaft töten. Eine der ersten Kulturleistungen der neuen Regierung war gewesen, die Guillotine abzuschaffen und statt ihrer das Handbeil wieder einzuführen. (Erich Maria Remarque: Der Funke Leben) ^


Todesangst

Er fühlte plötzlich, wie es kam. Er hatte viele Ängste in seinem Leben kennen gelernt, er kannte die graue, molluskenhafte Angst der endlosen Gefangenschaft, er kannte die scharfe, zerreißende Angst kurz vor der Folter, er kannte die tiefe, huschende Furcht vor der eigenen Verzweiflung - er kannte sie alle, und er hatte sie bestanden, er kannte sie, aber er wußte auch um die andere, die letzte, und er wußte, daß sie jetzt da war: die Angst der Ängste, die große Angst vor dem Tode. (Erich Maria Remarque: Der Funke Leben) ^


Fast eine Beleidigung

Die Möglichkeit, daß überhaupt nichts kommen könnte, habe ich damals noch nicht in Betracht gezogen, vielleicht kommt ja wirklich nichts, gar nichts mehr, denke ich heute nicht so selten, vielleicht bleiben alle Rätsel ungelöst und alle Fragen offen. Das zu denken fällt allerdings nicht leicht, denn das Nichts ist für ein Ich ja fast eine Beleidigung - der eigenen Eitelkeit tut die Einsicht weh, daß man selbst nicht wichtig genug sein könnte, um auch nach dem Tod noch dazusein. (David Wagner: Leben) ^


Verlust der Abwehr

Das Fleisch wird zäher, die Empfindlichkeit geringer, das Fassungsvermögen flacht ab... Nach Jahren gemessen bist du dem Tod näher, aber... um's jetzt mal im Jargon dieser Beziehungsklempner auszudrücken... du öffnest dich ihm weniger. Der Schwamm wird weniger durchlässig. Die Sehschlitze der Angst setzen sich zu. Es ist wie beim Krebs: Wer ihn in jungen Jahren bekommt, bei dem vermehren sich die bösartigen Zellen rasend schnell... für sie gibt es in all dem frischen Fleisch noch jede Menge zu erleben... In einer alten, ausgetrockneten Wurstpelle geht der Krebs in aller Gemütsruhe vor... sogar das Wuchern hat hier etwas Sparsames, Häppchenweises... Auch wer unter Demenz leidet und kaum mehr weiß, wo hinten und vorn ist, dem ist der Tod wurscht. Das Sterben passiert zu einem großen Teil, ohne daß er es merkt. Ich will damit nur sagen, Verlust der körperlichen und geistigen Abwehr gegen den Tod (A.F.Th. van der Heijden: Unterm Pflaster der Sumpf) ^


Die Wiener und der Tod

Jedenfalls war Cheng nur aus Achtung vor dem Akt der Beförderung einer Leiche aufgestanden. Somit eher aus Achtung vor den Sargträgern als vor dem Verstorbenen. Was ja übrigens eine schöne österreichische Tradition darstellt. Nicht die Leiche an sich, sondern den Umgang mit der Leiche ins Zentrum zu rücken. Und folglich eine Hochachtung gegenüber jenen Menschen zu entwickeln, die in professioneller Weise mit den lieben Verstorbenen zu tun haben. In keiner anderen Stadt der Welt sind Gerichtsmediziner, Sargträger und Bestattungsunternehmer so sehr respektiert wie in Wien. Das ist mehr als ein Klischee. Es ist die Substanz der Stadt und seiner Bewohner, nämlich weit weniger in den Tod verliebt zu sein, wie fälschlich behauptet wird, als in seine Verbildlichung. Wenn gesagt wird "Einer stirbt und alle beneiden ihn", klingt das zwar gut, ist aber unrichtig. Die Überlebenden sind hier die Fröhlichen. Nirgens sieht man so viele glückliche Gesichter wie auf Wiener Friedhöfen, was übrigens einen Hinweis auf die zetiweise Authentizität dieses als schwindlerisch verschrienen Menschenschlages darstellt. (Heinrich Steinfest: Ein dickes Fell) ^


Todesstrafe

Der Grund, warum wir die Lebensgeschichten von Verurteilten so mögen und warum so viele von uns die Abschaffung der Todesstrafe bedauern, liegt darin, daß gewöhnliche ordentliche Leute wie Sie und ich ein feines Gespür für echte Dramatik haben. Wir wissen, daß das angemessene Ende einer Tragödie nicht in einer neunjährigen gemütlichen Haftstrafe und nützlicher, Befriedigung verschaffender Arbeit in der Gefängnisbäckerei bestehen kann. Wir wissen, daß Kunst einzig im Tod ihr wahres Ende findet. Ein Bursche, der sich die Mühe gemacht hat, seine Frau zu erwürgen, hat ein Recht auf einen glanzvollen Auftritt am Galgen. Es ist ein Verbrechen, ihn wie einen gewöhnlichen Dieb Postsäcke nähen zu lassen. (Kyril Bonfigliolo: Nimm das Ding da weg!)


Ein Abgang

Ein Schlaganfall beraubte den alten Herrn seiner Füße. Stundenlang schob Kulmann ihn im Rollstuhl die Alleen des Parkes auf und ab, und das große, bleiche Greisenantlitz wackelte mißmutig und ergeben bei jeder Bewegung des Rollstuhles. Endlich kam das Ende. Kulmann hatte seinen Herrn eines Nachmittags allein im Park gelassen, um zu Hause einen Grog zu trinken. Das mochte ein wenig lange gedauert haben. Als Kulmann gegen Abend seinen Grafen aufsuchte, fand er ihn in der Herbstdämmerung tot im Rollstuhl sitzen, feucht von Abendnebeln, überstreut von Herbstblättern, und den goldenen Knopf der Reitpeitsche fest zwischen die Zähne geklemmt. (Eduard Graf von Keyserling: Beate und Mareile)


Landbegräbnisse

Landbegräbnisse an heißen Sommertagen haben etwas besonders Intensives und Erschütterndes. Die Leute wischen sich andauernd den Schweiß von der Stirn und aus den Augenwinkeln, die Ärmel der viel zu warmen schwarzen Trauerkleidung werden hochgekrempelt, aber nicht so weit, dass es wirklich Linderung und Kühlung bringen würde, denn das könnte respektlos erscheinen. Niemand möchte signalisieren, dass sein eigenes Körperempfinden, die Hitze, die sich in ihm ausbreitet, schwerer zu ertragen ist als der Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen. Die hohen Temperaturen machen die Trauernden zugleich träge und ungeduldig; selbst Blicke werden einsilbig. (Clemens J. Setz: Indigo)


Es lebe der Tod!

Das Testament des Gerichtsrats bedachte beide Söhne paritätisch. (...) Sie feierten eine von niederen Zwängen freie Zukunft, sahen sich imstande, die nächsten Jahre nach eigenem Gutdünken zu gestalten und die Pläne, die der entmachtete, nun verwesende Vater für sie gehabt hatte, erst einmal ruhen zu lassen. Dadurch, daß die Alten abtreten, ohne die ihnen gegebene Zeit über Gebühr auszureizen, machen sie uns Nachgeborenen einiges möglich. Es lebe der Tod! (Helmut Krausser: Nicht ganz schlechte Menschen)


Kandidat für einen Prostatatumor

Professor Konstantin schaute sich weiter um. Ihr Blick parkte bei Robert, hervorragender Kandidat für einen gutentwickelten Prostatatumor. Die Chemotherapie schlüge gut an, er müsste sich viel übergeben und verlöre an die vierzig Kilo. Nach einem Jahr, da er sich mit einer philippinischen Pflegerin in seiner abstoßenden Villa erholte, kam der Rückschlag, Metastasen in Nieren und Knochen sowie in der Bauchspeicheldrüse. Er wurde dann sehr schnell bettlägerig, ließ unter sich, durchlitt Phasen großer Unsicherheit, Luftknappheit und Angst, einer verwirrten, bodenlosen Angst, in einem Ausmaß, das er nur als Kind erlebt hatte, wenn er an den Tod dachte, der wie ein Monster unter seinem Bett auf ihn lauerte. Es wurden große Dosen Morphin verabreicht, unterdessen von einer ausgebildeten Pflegefachkraft, die er jedoch kaum mehr wahrnahm. Der bald einsetzenden Atemknappheit war Panik verbunden, die durch Morphin alleine nicht zu therapieren war, darum verabreichte die Schwester zusätzlich Lorazepam und Midazolam, sein Körper war wundgelegen, da war kaum mehr Fleisch zwischen Knochen und Laken, das dünne alte Fleisch, die traurige Haut, die qualvolle Ausscheidung, und dann der Death Rattle, die geräuschvolle Atmung in den letzten Stunden oder Tagen des Lebens. Er war nicht mehr in der Lage, Speichel reflektorisch zu schlucken oder Schleim aus der Trachea abzuhusten. Durch den Verlust von Schluck- und Hustenreflex kommt es zur Ansammlung der Sekretion im Oropharynx, in der Trachea und in den Bronchien. Ein abstoßendes Geräusch, das selbst einer erfahrenen Schwester immer wieder zusetzt, das sie nervös macht und wünschen lässt, die Patienten würden endlich gehen. Doch sie gehen nicht. Wie Karpfen liegen sie, stinkende Haufen verwelkten Fleisches, und schnappen rasselnd nach Luft. Dann irgendwann reißen sie die Augen auf, ungläubig, die Hand greift ins Leere, als ob da noch einer sein müsste, da ist keiner, am Ende, und dann bäumen sie sich auf und pfeifen, und endlich, endlich ist Ruhe, und die Schwester reinigt die Instrumente. (Sibylle Berg: Vielen Dank für das Leben)


Nahe dem Schüdderump

Wir haben eine sich selbst nicht wenig lobende Gesundheitspolizei, die Sitten sind andere und bessere geworden, selbst der Ungebildete weiß, daß grüne Pflaumen und Gurkensalat zur Zeit der Brechruhr nicht zu den gesunden Nahrungsmitteln gehören. Gesundheitstlanell, wollene Leibbinden und Korksohlen werden täglich in den Intelligenzblättern angeboten und von den verständigen Leuten gekauft. Selbst der Ungebildete vermag, wenigstens in Deutschland, die Intelligenzblätter zu lesen, für die Gebildeten haben Lessing, Herder, Schiller, Goethe und Jean Paul gelebt, und – um so erstaunlicher ist es, wie nahe wir trotz alledem doch noch dem Schüdderump [Todeswagen] stehen! (Wilhelm Raabe: Der Schüdderump)


Kinder und der Tod

Welchen Erklärungsversuchen sind Sie bei Kindern in Ihrer Einrichtung [Hospiz] begegnet? - Das ist enorm unterschiedlich und hängt sehr von der Prägung durch die Eltern ab. Einige Eltern sagen ihren Kindern, es gäbe irgendwelche Sterne, wo die Toten drauf sind, die Seele sei in ihrem Herz oder sonst etwas. Familien haben eben ihre Geschichten, ob es Wolken sind oder sie immer bei ihren Kindern sein werden. Bei naturwissenschaftlich orientierten Familien gibt es Bücher, in denen steht: "Wenn ich tot bin, verwese ich und dann ist es vorbei." Das Kind gibt das auch so wieder und als Erwachsene stehe ich daneben und muß erst einmal Luft holen. (Der ewige Kollege. Reportagen aus der Nähe des Todes)


Delegation & Wertschätzung

Daß keiner mehr eigenhändig die Bettpfanne seiner pflegebedürftigen Angehörigen Verwandten ausspülen muß, wenn er dies nicht möchte, ist ein Luxus unserer Zeit. Heute haben wie die Möglichkeit, diese 'Bürde' zu delegieren. Wie werden hierzulande die Menschen honoriert, die - neben den angenehmen Aspekten einer Pflege - bereit sind, diese Tätigkeiten für die Allgemeinheit zu übernehmen? (Der ewige Kollege. Reportagen aus der Nähe des Todes)


Ich kann das auch

Heroisch sterben, bah, was für ein Schwindel. Heldentum existiert nur auf den Brettern, nicht dazwischen. Neulich las ich, daß jemand "im Sterben wuchs" und "stolz und würdig verschied". Vielleicht ist ja der händeringende Widerstand - "ich will nicht, ich will nicht" - die würdigste Form. Albert sagt immer, Todesangst sei bei ihm in erster Linie die Angst, nicht sterben zu können. Er fürchtet, sich nicht gehenlassen zu können. Sterben ist schwer, na klar. Aber wenn man sieht, welche Idioten, Schlappschwänze und Feiglinge schon alles gestorben sind... in ihrem Bett, in ihrer Falle, in ihrem Lumpenhaufen... am Straßenrand, auf einem Baum... na, das erlaubt doch nur einen Schluß: daß Sterben ganz leicht ist. Wenn mein Nachbar es kann, kann ich es auch. (A.F.Th.van der Heijden: Der Gerichtshof der Barmherzigkeit, S. 34)


Hölle, Himmel, Fegefeuer

Arturo Bandini war sich ziemlich sicher, daß er nach seinem Tod nicht zur Hölle fahren würde. Dazu müßte man Todsünden begehen. Zwar hatte er viele begangen, aber noch jedes Mal hatte er es rechtzeitig zur rettenden Beichte geschafft - das heißt, vor dem Sterben. Mit etwas Glück würde ihm das ein ganzes Leben lang gelingen, und dann würde er auch nicht zur Hölle fahren. Dank der Beichte und dank seiner schnellen Beine. Sorgen hingegen bereitete ihm das Fegefeuer, diese Zwischenstation auf halbem Weg zwischen Himmel und Hölle. Im Katechismus war das Anforderungsprofil für den Himmel eindeutig: Die Seele mußte absolut rein sein, ohne den geringsten Makel einer Sünde. Wenn die Seele nach dem Tod weder rein genug für den Himmel noch hinereichend schwarz für die Hölle war, blieb nur der Mittelweg des Fegefeuers, in dem die Seele geröstet und geröstet wurde, bis sie frei von jedem Makel war. (John Fante: Warte bis zum Frühling, Bandini; S. 89)


Der Skandal allen Lebens

Der Tod, natürlich, ist ein weit größeres Rätsel. Mit ihm haben wir, anders als beim Schöpfungsakt, naturgemäß keine praktische Erfahrung. Man stirbt nur einmal, das dafür mit Garantie. Der Tod bleibt 'der' Skandal allen Lebens. Nichts, nichts, nichts ist unverstehbarer als der Tod. Die meisten von uns machen eines Tages - in fortgeschrittenem Alter oft, und durchaus überrumpelt - die Erfahrung, daß wir Menschen erst erwachsen werden, unheilbar erwachsen, wenn Vater und Mutter tot sind. (Urs Widmer: Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück, S. 80)


Todesangst

In Tuttlingen, gerade in seinem Pflegebett, hat Henry mich angebettelt: "Bitte laß mich nicht sterben!" Als ob ich etwas hätte ausrichten könne. (...) Diese stumpfsinnige Angst vor dem Einschlafen! Doch wehe, wenn der Mann mit dem Letzte-Ölung-Köfferchen hereinkam! Da lebten sie wieder auf. Die Todesangst verging wie das Zahnweh, wenn man auf dem Behandlungsstuhl Platz nahm. Oder nicht? "Das ist doch alles ganz natürlich! Das Ende ist doch ein natürlicher Teil des Ganzen, du mußt keine Angst haben, lieber Henry! (...) Es ist doch alles ganz natürlich." 'Natürlich!' - Sagen Sie das mal einem Menschen, der sterben soll! Die Angst gehörte dazu. Sie war Teil des Ganzen. (Arnold Stadler: Der Tod und ich, wie zwei, S. 158f.)


Erde zu Erde

Wollte nie kremiert werden. Nicht aus religiösen Gründen. Ich bin Atheist, fand aber immer die Vorstellung richtig, begraben zu werden. Wieder zu Erde werden. Auch die Würmer stören mich nicht. Keineswegs. Allenfalls der Geruch, der ja. Aber sonst, wie gesagt, hat mir der Satz immer gefallen: Erde zu Erde. Kleines Schäufelchen drauf. Später einen Rosenstock mit derselben Schaufel einpflanzen. Hatte etwas Tröstliches Obwohl es ja nichts ändert, klar. (Uwe Timm: Halbschatten, S. 200)


Die Dogon in Mali

In Mali in Westafrika leben die Dogon, die den Tod mit großartigen gemeinsamen Ritualen zelebrieren. Sie tanzen maskiert, wobei sie wilde Darstellungen von Tieren, Bäumen und Geistern präsentieren. Sie verspotten dabei auch die benachbarten Stämme und die Weißen. Da trägt jemand die "Maske des weißen Mannes", der nicht tanzt, sondern steif als "Verwaltungsbeamter" mit Papier und Schreibstift umherschreitet und Geldforderungen aufschreibt. Ein "Anthropologe" sitzt auf einem Stuhl, winkt mit einem Notizbuch und stellt die idiotischsten Fragen, die sich ein Dogon ausdenken kann. Ein "Tourist" mit einer Kamera ist da, der alle beiseiteschubst. Diese Tänze sind reine Vitalität, eine Lobpreisung der ganzen menschlichen Komödie, eine lebendige Maske über dem Gesicht des Todes. (Jay Griffiths: Slow Motion. Lob der Langsamkeit)


Freiheit & Tod

Wenn man krank genug ist, erreicht man schließlich einen Punkt, wo es, so leidenschaftlich man auch um sein Leben ringen mag, einem Teil von einem gar nicht leid täte, zu sterben, Alles lieber als dieses Elend, dieser nicht enden wollende jämmerliche Nachtmahr, sich zu einem bloßen Klumpen leidender Materie herabgemindert zu fühlen! 'Gib mir die Freiheit oder gib mir den Tod!' Aber in diesem Fall sind die beiden identisch. Die Freiheit ist gleich dem Tod, ist gleich identisch. Die Freiheit ist gleich dem Tod, ist gleich dem Streben nach Glück. (Aldous Huxley: Genie und Göttin)


Sterben ist eine Kunst

"Sterben ist eine Kunst, und in unserm Alter sollten wir sie lernen. Es hilft einem, jemand gesehn zu haben, der wirklich wußte, wie. Helen wußte, wie man sterben soll, weil sie wußte, wie man leben soll - jetzt und hier leben soll, und zum größeren Ruhme Gottes. Und das bringt es notwendigerweise mit sich, dem Hier und Heute und Morgen und seinem eigenen, jämmerlichen kleinen Selbst abzusterben. Im Verlauf des Lebens, wie man es leben soll, war Helen in täglichen Raten gestorben. Als es zur letzten Abrechnung kam, war so gut wie nichts mehr zu zahlen. Nebenbei", setzte Riverse nach einem kurzen Schweigen hinzu, "ich selbst war der letzten Abrechnung hübsch nahe im vergangenen Frühjahr. Tatsächlich wäre ich gar nicht mehr hier, wenn es kein Penicillin gäbe. Lungenentzündung, die gute Freundin alter Männer! Heutzutage bringen einen die Ärzte wieder hoch, damit man leben kann, um sich seiner Arterienverkalkung oder seines Prostatakrebses zu erfreuen. Du siehst also, dies alle ist völlig postum. (Aldous Huxley: Genie und Göttin, S. 8)


Schon

Auf dem Höhepunkt ihrer dramatischen Szene wurde die Alte unterbrochen. Das Auto der Rettungsgesellschaft heulte heran. Als es jäh stand, war die Stille grabestief. Die Menschen starrten vor sich hin mit aufgerissenen Augen, in denen das unbeschreibliche Entsetzen vor ihrem eigenen Leben erwacht war. Mit lässigen Bewegungen, als seien wir lästige Fliegen, hießen uns die Wachleute zurücktreten. Ein Arzt im weißen Kittel lüftete ein wenig die Sackleinwand am Kopfende des Todeshäufleins und ließ sie sofort wieder fallen. Ich sah nichts. Das Ganze ging wie angelernt. Schon hatten die Sanitäter mit zwei Griffen den verhüllten Toten auf eine Bahre gehoben und in den Wagen geschoben. Schon sprang der Motor an. Schon entfernte sich das Rettungsauto. Schon hatte irgend eine Butte Sand gebracht und begann mit einer knirschenden Schaufel zu streuen. Schon verschwanden die blutigen Spuren unter dem gelben Sand. Die gute Wienerstadt hatte in diesen Tagen eine bemerkenswerte Routine im Wegräumen von Selbstmördern erworben. Aus den Mienen der Gaffer schmolz das unbeschreibliche Entsetzen vor dem menschlichen Leben, und die platte Stumpfheit zog in sie ein, durch welche dieses Leben erst erträglich wird. Die Leute begannen auseinanderzugehn. (Franz Werfel: Cella oder Die Überwinder, S. 130f.)


Auf der Totenmesse

Am folgenden Tag, im Verlauf der Totenmesse, an der das ganze Dorf teilnahm, und anschließend vor der Kirche, in dem Moment, da sie die Beileidsbezeugung entgegennahmen, sagte sich Jed, daß sein Vater und er sich den Umständen bemerkenswert gut angepaßt hatten. Blaß und abgespannt, beide in dunklen Anzügen, hatten sie keinerlei Mühe, den Ernst und die resignierte Trauer zu vermitteln, die der Anlaß erforderte, ja sie schätzten sogar, ohne der Sache inhaltlich wirklich zustimmen zu können, die Note diskreter Hoffnung, die der Priester zum Ausdruck gebracht hatte; er war selbst schon recht betagt, ein 'alter Routinier' auf dem Feld der Beerdigungen - angesichts des Durchschnittsalters der Dorfbevölkerung vermutlich bei weitem seine Hauptbeschäftigung. (Michel Houellebecq: Karte und Gebiet, S. 51)


Trauerkultur heute

Daß Schlußsituationen mit ihren Trennungen, Abschieden, Ablösungen und Abbrüchen heutzutage ein Problem darstellen, liegt nicht zuletzt an den gesellschaftlich nicht mehr bereitgestellten und sozial abgesicherten Räumen, die für eine "Zeremonie des Abschieds" notwendig wären. Traurig ist's zu sehen, wie wir trauern, oder deutlicher: wie wir's nicht mehr können. Eine ehemals in den Lebensrhythmus integrierte Trauerkultur gibt es nur noch rudimentär. Wir ergreifen die Flucht, wenn uns jemand auf die Kommunikationsfloskel: "Wie geht es dir?" wahrheitsgemäß antwortet: "Nicht gut, ich bin traurig". Die Mittel der Tröstung sind uns mit der zunehmenden Unfähigkeit, traurig sein zu können und traurig sein zu dürfen, ebenso abhanden gekommen. Wir erschrecken über weinende Menschen. Sehen wir sie in der Öffentlichkeit, gehen wir ihnen aus dem Weg. Der große Bogen um die Trauer ist uns zur Routine geworden. Selbst hilflos, sind wir zur Hilfe kaum mehr fähig. Profitorientierte Unternehmen müssen notwendige Ersatzleistungen übernehmen für das, was ehemals Individuen und intakte soziale Gemeinschaften leisten konnten: Trauerhilfe nämlich. Unser Ende - und das der anderen - verdrängen wir aus dem Leben, wir begreifen das Ende nicht als Teil des Lebens. Seltsam, obgleich doch jeder weiß, daß sich die Todesquote der menschlichen Gesamtbevökerung nicht geändert hat: Sie macht heute, wie früher ebenso, 100% aus, und auch die, die daran zweifelten, sind letztendlich über ihren Zweifeln gestorben. Trauer war früher, im Gegensatz zu heute, ein Alltagsphänomen. Trauer in der Öffentlichkeit zur Schau zu stellen leisten sich nur mehr jene Personen, die sich sicher sind, daß ihnen schwarz gut steht. (Karlheinz Geißler: Zeit - verweile doch. Lebensformen gegen die Hast, S. 115f.)


Verachtung

Den Krawattenknoten hatte er so fest gezurrt, daß ihm die Haare zu Berge standen. Im Grunde ist das meine ganze Erinnerung: daß ich ihn verachtete und immer wieder aus dem Fenster schaute. Ich verachtete ihn allerdings nicht aus physischen oder ästhetischen Gründen, sondern deshalb, weil ich den Eindruck hatte, daß dieser ehrgeizige und gierige Mann noch nie an den Tod gedacht hatte. War er überhaupt schon einmal bei einem Begräbnis gewesen? Ja, und wenn. Dann war es für ihn doch auch nur der Beweis, daß der Tod immer nur andere traf. (Robert Menasse: Ich kann jeder sagen, S. 135)


Kommerzielle Anpreisung

In einer seriösen Lokalzeitung ruft eine ganzseitige, mit Photos angereicherte und als Reportage maskierte Anzeige die Sterbenden auf, ihre letzten Tage in der hiesigen Mercy-Klinik (einer Einrichtung mit gutem Ruf, dort wurden auch L.s Augen operiert) zu verbringen, da man nirgends so bequem und mit so aufmerksamer Betreuung sterben könne wie dort. Der Sterbende muß ausdrücklich an einer "terminal illness" leiden, also ein hoffnungsloser Fall sein, dem nicht mehr zu helfen ist. Die Krankenhäuser stehen großenteils leer, weil auch die Versicherungen die wuchernden Pflegekosten (400 $ pro Tag im Mehrbettzimmer) nicht mehr tragen können; die Schwerkranken bleiben lieber zu Hause und schlucken ein Aspirin, das ist billiger, wenn man auf den Tod wartet. Diese kommerzielle Anpreisung des Sterbens ist etwas typisch Amerikanisches, anderswo gibt es dafür wahrscheinlich kein Beispiel. (Sandor Marai: Tagebücher 1984-1989, S. 41)


Ein gewisses Bedauern

Das Begräbnis meiner Mutter war am übernächsten Tag. Ohne fromm zu sein, hatte sie doch nach außen hin immer dem Katholizismus angehangen, und so brachten wir sie zuerst in ihre Pfarrkirche. Seltsamerweise war ich es, der darauf bestand, daß an ihrer Bahre eine Messe gelesen wurde. In der Tat erinerte ich mich ihrer Vorliebe für Trauerfeierlichkeiten - und ich wollte sie sozusagen dieser letzten Genugtuung nicht berauben. Jetzt, da sie gegangen war, empfand ich ein gewisses Bedauern, zu ihr so brüsk und kalt gewesen zu sein. Ohne an ein Weiterleben der Seele zu glauben, hoffte ich doch insgeheim, der Klang des 'Dies irae' dringe an die Ohren meiner Mutter durch die Dicke des Sargs und mache ihr Vergnügen. (Julien Green: Der andere Schlaf, S. 104/5)


Der Tod der Mutter

Meine Mutter starb. Ein Herzanfall streckte sie eines Morgens nieder. (...) Ich fand ihren Körper, als ich von der Schule heimkam. Dieser Anblick des Grauens wird mich mein Leben lang verfolgen. Ich rief Nachbarn herbei und hatte erst einmal die Mitleidsbekundungen der Leute zu ertragen. Dann mußte dieses leblose, schwere Fleisch berührt, aufgehoben und zu seinem Bett gebracht werden. (...) Am Abend war ich mit meiner Mutter allein. Ich hatte meinen Onkel benachrichtigt, und wir waren übereingekommen, abwechselnd an dem Leichnam zu wachen, erst ich und dann er während jener allerschrecklichsten Stunden des Morgengrauens. (...) Um den abergläubigsten Befürchtungen, die mich bestürmten, nicht nachzugeben, versuchte ich mich durch Lesen zu zerstreuen, doch in dergleichen Umständen wird die Nichtigkeit der meisten Bücher offenbar. Ich wartete auf einen Satz, ein Zauberwort, das mich von mir selber befreit hätte, aber auch die Seiten, die als die schönsten gelten, vermochten nichts gegen das Grauen angesichts des Kadavers der armen Frau. (Julien Green: Der andere Schlaf, S. 84/85)


Totenfriede und -verdrängung

Nichts ist ja umstrittener als der sogenannte Totenfriede, diktiere ich den Schülern ins Generalsudelheft. Es wird zu beweisen sein, daß die fingierte Totenruhe, welche das Gesetz schützen und die Umfriedung symbolisch einhegen soll, dem Bedürfnis der Lebenden entspringt, Ruhe vor den Toten zu haben. Je fortschrittlicher die Gesellschaft, desto deutlicher die Tendenz, die Totenstätte aus dem öffentlichen Leben, den Tod aus dem Bewußtsein zu verdrängen. (Hermann Burger: Schilten)


Wegzehrung

Lautstark zitiert er [Jakob Grimm] Cato und stellt danach fest: "in allen lustspielen sind die geizigen immer greise." Er verdonnert regelrecht Leute, "die kostbare ringe an ihrem finger behalten wollen und gold, ja papiergeld in den sarg bergen, sei es um diese habe mitzunehmen oder wenigstens sie verhaszten erben zu entziehen." Nun, davon wäre ich frei. Würde mir allenfalls eine meiner Pfeifen, mäßigen Vorrat Tabak und Zündhölzer als Wegzehrung in die Kiste legen lassen. Und zum Blei- oder Filzstift einigen Papiervorrat. Es könnte ja sein, daß sich die Strecke ins Nichts allzu lang hinzieht. (Günter Grass: Grimms Wörter, S. 262)


Den Tod vor Augen

Die Heiterkeit und der Lebensmuth unserer Jugend beruht zum Theil darauf, daß wir, bergauf gehend, den Tod nicht sehn; weil er am Fuß der andern Seite des Berges liegt. Haben wir aber den Gipfel überschritten, dann werden wir den Tod, welchen wir bis dahin nur vom Hörensagen kannten, wirklich ansichtig, wodurch da zu derselben Zeit die Lebenskraft zu ebben beginnt, auch der Lebensmuth sinkt; so daß jetzt ein trüber Ernst den jugendlichen Übermuth verdrängt und auch dem Gesichte sich aufdrückt. So lange wir jung sind, man mag uns sagen, was man will, halten wir das Leben für endlos und gehn danach mit der Zeit um. Je älter wir werden, desto mehr ökonomisieren wir unsere Zeit. Denn im späteren Alter erregt jeder verlebte Tag eine Empfindung, welche der verwandt ist, die bei jedem Schritt ein zum Hochgericht geführter Deliquent hat. (Arthur Schopenhauer: "Kurze Vergangenheit" - über das Alter)


Warum wir den Tod fürchten

Epikur hat versucht, den Gründen, warum den Menschen der Tod so schrecklich erscheint, nachzugehen und gelangt offenbar zu vier Motiven: Erstens fürchten sie, daß er Schmerzen bereite, wenn auch vielleicht nicht das Sterben selbst, so aber doch der bevorstehende Tod. Zweitens "erwarten oder argwöhnen sie aufgrund der Mythen einen ewigen Schrecken" nach dem Tode. Drittens "haben sie gerade vor der Empfindungslosigkeit im Totsein Angst", und viertens glauben sie, daß der Tod die Glücksmöglichkeiten verkürze, daß ihnen durch ihn "etwas vom besten Leben abgehe". (Malte Hosenfelder: Epikur: "Der Tod geht uns nichts an")


Die Wirkung des Toten

Was auch immer die Gründe für seinen Tod gewesen sein mögen: der Tote befindet sich gegenüber der Gemeinschaft insgesamt in einem zum versöhnenden Opfer analogen Verhältnis. In der Trauer der Hinterbliebenen schwingt ein eigenartiges Gemisch von Schrecken und Erleichterung mit, das den Entschluß zu gutem Verhalten fördert. Der abgesonderte Tote scheint so etwas wie ein Tribut zu sein, der dafür bezahlt werden muß, daß das gemeinsame Leben weitergehen kann. Ein einziger Mensch stirbt, und schon ist die Solidarität aller Lebenden verstärkt. (Rene Girard: Die Rache der Toten)


Digitale Nachlassverwaltung

Was passiert mit meinen Online-Sachen nach meinem Tod? Wer kümmert sich um die Blog, Facebook-, Twitter- Accounts, um Webseiten usw.? Eine Schwedin erfand den digitalen Nachlassverwalter My Webwill (bei Twitter; bei Facebook). Eine deutsche Dependance des für uns Netizens so nützlichen Dienstes soll bald eröffnet werden. Das nachtmagzin berichtete am 27. Juli 2010 über My Webwill. Allerdings ist die Sache nicht billig: neben einer Einrichtungsgebühr von 125 Euro muß man lebenslang einen Jahresbeitrag von 20 Euro zahlen. Ich bin sicher, daß in absehbarer Zeit auch entsprechende deutsche Plattformen für den digitalen Nachlaß sorgen werden. Wer im Netz keine Spuren verwischen, sondern, zum Gedenken an Verstorbene, etablieren will, kann das Erinnerungsprotal eMorial nutzen.


Gründe gegen das Alleinleben

In der Lobby stand eine Topfpflanze, und die Frau am Empfang hatte immer eine Dose Frischluftspray in der Schublade. "Für Gammler, wie sie sagte, womit sie Leute meinte, die ganz allein gestorben waren und sich bereits im fortgeschrittenen Stadium der Verwesung befanden, als man sie entdeckte. An Halloween hatten wir einen solchen Fall, einen achtzigjährigen Mann, der beim Wechseln der Glübirne von der leiter gefallen war. Viereinhalb Tage hatte er in einer Wohnung ohne Klimaanlage auf dem Boden gelegen, und als wir den Reißverschluß des Leichensacks aufzogen, schlug uns ein Gestank entgegen, den der zuständige Pathologe "den Duft eines sicheren Arbeitsplatzes" nannte. Die Autopsie fand vormittags statt und war das beste Argument für eine gut funktionierende Nachbarschaftshilfe, das mir je untergekommen ist. Wohne niemals allein, sagte ich mir. Wenn du eine Glübirne wechselst, hole zuerst jemanden von nebenan und bitte ihn dazubleiben, bis du fertig bist. (David Sedaris: Schöner wird's nicht, S. 110)


Die Faszination des Todes

In dem Alter ist der Tod etwas, das nur Tieren und Großeltern widerfährt, und die Beschäftigung damit ist wie ein Projekt im Naturkundeunterricht, aber eins von der besseren Sorte, ohne Hausaufgaben. Die meisten Jungen sind dem irgendwann entwachsen, nur bei mir wuchs die Neugierde mit der Zeit immer mehr. Als Teenager sparte ich das Geld vom Babysitten und kaufte mir für fünfundsiebzig Dollar ein Exemplar von 'Rechtsmedizinische Untersuchungen von Toten', eine Art Bibel für Gerichtspathologen. Darin wird gezeigt, wie man aussieht, wenn man in einer Pfütze steht und ein Verlängerungskabel durchbeißt, wenn man von einem Traktor überfahren wird, einen der Blitz trifft, man mit einer geringelten oder glatten Telefonschnur erdrosselt wird, einen Schlag mit dem Tischlerhammer abbekommt, verbrannt, erschossen, ertränkt, niedergestochen oder von Wild- oder Haustieren zerfleischt wird. Die Bildunterschriften lasen sich wie großartige Gedichttitel. Mein persönlicher Favorit lautete "Großflächiger Schimmel auf dem Gesicht eines Einsiedlers". (...) Die Pathologen versuchten mir das eine oder andere beizubringen, aber ich ließ mich durch groteske Details immer wieder ablenken. Wie zum Beispiel die Entdeckung, daß wenn man sich aus großer Höhe von einem Gebäude stürzt und auf dem Rücken landet, die Augäpfel aus den Höhlen ploppen und an zwei Schnüren baumeln. "Wie bei der Scherzbrille mit den Spiralaugen!", sagte ich zum dem Chef-Pathologen. Der Mann nahm seinen Job ausgesprochen ernst und reagierte immer gleich auf meine Feststellungen. "Na ja", seufzte er, "nicht wirklich". Nach einer Woche in der Autopsie- Suite konnte ich immer noch keine Speisekarte bei Denny's aufschlagen, ohne das Gefühl zu haben, mich übergeben zu müssen. Wenn ich nachts die Augen schloß, sah ich Eimer voller verschrumpelter Hände, die im zeiten Kühlraum des Labors aufbewahrt wurden, Sie hatten dort auch eine ganze Wand mit Gehirnen, aufgereiht wie Konserven im Supermarkt. Und dann waren da noch diverse Einzelteile: ein übrig gebliebener Torso, ein hübscher blonder Skalp, zwei eingelegte Augen in einem Glas für Babynahrung. Alles zusammen hätte eine ungemein schlaue Sekretärin ergeben, die wie der Wind tippen konnte, aber nie ans Telefon ging. (David Sedaris: Schöner wird's nicht, S. 107f.)


Der Tod meiner Mutter

Der Tod meiner Mutter. An einer Straßenecke in Paris war sie von einem Lieferwagen angefahren worden. Maman hatte die Straßen immer wie im Zeitalter der Kutschen überquert, ohne Rücksicht auf Ampeln und Zebrastreifen; sehr bestimmt hob sie den Arm, um den Kutschern den Befehl zu erteilen, langsamer zu fahren. Der Fahrer des Lieferwagens hatte seine Motorpferde nicht rechtzeitig zügeln können, und meine Mutter, die über die Fahrbahn geschleift wurde, erlag ein paar Tage später ihren zahlreichen Verletzungen und Knochenbrüchen; wahrscheinlich war sie noch im Tod empört über die schlechte Erziehung der Fahrer von heute. Sie war achtundsechzig Jahre alt und kerngesund gewesen; auch hatte sie die Absicht gehegt, sich noch eine hübsche Scheibe vom Leben abzuschneiden, so daß ich es immer auf später verschoben habe, mich an den Gedanken zu gewöhnen, daß sie eine Tages nicht mehr denselben Planeten wie ich bewohnen könnte. Während ihrer letzten bewußtlosen Tage, die ich neben der stumm liegenden Gestalt verbrachte, entdeckte ich mit Entsetzen, daß ich zeit meines Lebens nie wieder diesen einfachen kleinen Satz "Hallo, Maman" würde aussprechen können. Mit ihrem Tod nahm sie mir das erste Wort der Sprache, das Wort, auf dem meine Sicherheit im Leben beruhte. Das ist der erste, manchmal auch der einzige Verrrat einer Mutter, wenn sie einen ohne Vorwarnung verläßt. (Groult, Benoite: Salz auf unserer Haut, S. 271)


Ein schwarzer Fleck in unseren Eingeweiden

Man malt sich den Tod in Bildern aus und stellt ihn sich als Sensenmann oder klapperndes Skelett, als grinsendes Gespenst im Leichentuch oder knochigen Totenkopf vor, vergleicht ihn mit einem tiefen Schlaf, deklamiert ihn als Beginn des ewigen Lebens und erklärt ihn zur Strafe für die irdischen Sünden. Man denkt an ihn oder blendet ihn aus, aber was er wirklich ist, läßt sich nicht sagen. Auch jener böhmische Ackermann, der den Tod vor den Richterstuhl zitiert, wird mit schönen Erklärungen abgespeist, die uns Lebende nicht beruhigen können. Es offenbart sich in ihnen der Widersinn des Denkens, etwas verstehen zu wollen, das einem feind ist, etwas begreifen zu müssen, das uns zerstört. Mit Begriffen und Argumenten läßt der Tod sich schlecht fassen. Manche, die als weise helten, haben ihn als ein Ereignis, das außerhalb des Lebens existiert, aus der Sphäre der wichtigen Fragen hinauskomplimentiert. Epikur munterte in einem Lehrbrief dazu auf, nicht über den Tod zu sinnieren, weil er nicht da sein, solange wir leben, und wir nicht mehr leben, wenn er da sei. Spinoza forderte in seiner lichtdurchfluteten Ethik, man möge über das Leben und nicht über den Tod nachdenken und alle Furcht und Hoffnung vergessen. Für beide findet er jenseits des Daseins statt. Dabei ist er ein schwarzer Fleck in unseren Eingeweiden, der täglich wächst, bis er alles Leben in sich aufgesaugt hat. (Karl-Heinz Ott: Ins Offene, S. 32f.)


Ein letzter Wurf

Mutter, die nicht einfach mit einer Zigarette zwischen die Lippen geklemmt in ihrem Sessel starb, wie ich immer gedacht hatte, sondern nach einem Wutanfall. Auch sie eine Christusempörte, die sich auf dem Sterbebett zu einer großen Szene aufschwang. Eigentlich nicht mehr bei Kräften, den Kopf kaum heben könnend, mit ruhelos wandernden Augen, irgendwie ungläubig, mit leicht schielenden und fast frechen Mädchenaugen die Decke absuchend, mümmelnden Mundes, in brummelndem Tonfall immer wieder 'so, und was jetzt' hervorbringend oder 'si, jetzt hemmer den Salat', ihre abgezehrten Greisenarme steckendünn, bäumte sie sich plötzlich auf, packte, was auf ihrem Nachttisch stand, warf all das Zeugs, Teller, Becher, Pillen, Löffel, Schachteln, nach einem Kruzifix, das an der Wand hing, zielte und traf's. Tropfnaß die Wand, die Bescherung am Boden. Unsere Mutter am Ende.


Einer Leichen drohen

Es ist durchaus ein gewisses Handicap für ihn, daß er den Anblick von Leichen nur schwer erträgt. Erst neulich brachte man uns einen Ertrunkenen. Niemand wußte, wer er war. Unbekannte Tote landen im Leichenhaus. Tja, wie immer hat Ginus einen großen Bogen um die Leiche gemacht, das Leichenhaus wollte er unter keinen Umständen betreten. All das üble Wasser, das herausgeleckt ist, habe ich allein aufwischen müssen. Als ich in gebückter Haltung mit dem Feudel zugange war, rutschte mir eine Hand des Toten von der Bahre herab und schlug mir gegen den Kopf. Es ist seltsam, aber man erschrickt trotzdem kurz. Während es mir nichts ausmacht, wenn ein Toter über mir liegt... ich erinnere mich noch genau, da lag auch einer dort, ebenfalls ertrunken, und der fing plötzlich an, fürchterlich zu rülpsen... tja, das passiert manchmal... Faulgase, die sich in der Leiche bilden... ich sage also zu ihm: 'Halt die Schnauze, sonst schlag ich dich tot.'" (Maarten 'tHart: Der Flieger, S. 196)


Keine endgültige Diagnose

Man kann einen Menschen nicht vor seinem Tode begreifen, folgerte er. Solange jemand am Leben ist, stellen alle Dinge, die er vielleicht noch vollbringen wird und von denen man nichts weiß, ebenso viele Unbekannte dar, welche die Rechnung fälschen. Erst der Tod legt die Konturen fest: Es ist, als wenn die Persönlichkeit sich loslöste aus dem nur Möglichen und sich isolierte; man kann ringherum gehen, sie endlich von hinten sehen, sich ein Urteil über die gesamte Erscheinung zu bilden. Ich habe immer gesagt, fügte er, im stillen lächelnd, hinzu, keine endgültige Diagnose vor der Obduktion! (Roger Martin DuGard: Die Thibaults) ^


Ein erfülltes Leben

Im Frühsommer 1927 starb mein Vater. Er war seit einiger Zeit kränklich, aber wirklich umgebracht hat ihn die Untätigkeit, oder vielleicht traf das, was Charles Peguy einmal über den Menschen im allgemeinen gesagt hat, auf meinen Vater ganz besonders zu: Er starb an keiner Krankheit, er starb an seinem ganzen Leben, einem langen Leben voll harter Arbeit. (Julien Green: Erinnerungen an glückliche Tage) ^


Ein finsteres Jahrhundert

Die Anzahl derer festzustellen, die während der Grippeedemie von 1918 gestorben waren, die insgesamt zehn Millionen Opfer gefordert hatte. 1918: nur eins der schrecklichen Jahre in der Überfülle mit Leichen übersäter anni horribiles, die das Andenken an das zwanzigste Jahrhunderts für alle Zeiten verfinstern werden. (Philip Roth: Jedermann) ^


Hinauszögern des Zusammenbruchs

... während er selbst den Kampf um seine Position als unangreifbarer Mann inzwischen verloren hatte, da sein Körper mit der Zeit zu einem Lagerhaus für künstliche Gerätschaften geworden war, die den endgültigen Zusammenbruch hinauszögern helfen sollten. Noch nie waren mehr Sorgfalt und Schläue erforderlich gewesen, um den Gedanken an sein eigenes Ableben zu zerstreuen. (Philip Roth: Jedermann) ^


Drohungen

Ich kaufe ein Programmheft und lese im Halbdunkel der Kirche einen Satz aus einer Kantate: Ach Herr, lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden. Das Programm hat schon begonnen, und ich überlege immer noch, ob auch mir einmal mit dem Tod gedroht werden muß, damit ich schlau aus mir werde. (Wilhelm Genazino: Die Liebesblödigkeit) ^


Der Tod ist kein Scherz

Das Glück hatte den langen Umweg von Bulgarien über Jugoslawien und Ungarn nach Österreich gebraucht, um zum Einwandererherz von Nikodim Stawrev zu finden. Der Tod dagegen wählte einen kürzeren. Er erschien kurz nach der Mittagspause bei der Baufirma Pokorny, sah sich die schlechten Arbeits- und Sicherheitsbedingungen an, suchte sich den lustigen Arbeiter aus, kitzelte ihn so lange am Kopf, bis dieser seinen Helm abnahm, um sich dort zu kratzen, ließ einen Kübel Mörtel vom Gerüst auf ihn herunterfallen und unterbrach sein Leben im einundvierzigsten Jahr. Nikodim hatte noch den Geschmack von Extrawurstsemmeln im Mund, als er die Welt verließ, um die längste Mittagspause zu genießen, bevor er vor dem größten aller Baumeister erscheinen sollte. Sein ganzes Leben hatte Nikodim gescherzt. Deswegen nahm Pavlina die Nachricht von seinem Tod anfangs nicht ernst. Sie glaubte es nicht einmal, als sie ihn im Krankenhaus frisch gekämmt und reglos daliegen sah. Sie sagte nur zu dem Arzt: "Gleich wird er auferstehen", und begann die Leiche zu ohrfeigen. "Das ist nicht lustig", schrie sie Nikodims Leiche an, bis man sie mit vereinten Kräften wegzerrte. "Wer wird mich jetzt zum Lachen bringen", dachte sie noch, bevor sie ohnmächtig wurde. (Dimitré Dinev: Ein Licht über dem Kopf) ^


Totenwache

"Ein Prachtkerl war er! Und erst sein Schnurrbarrt! Schaut wie fesch der ist. So einen hab ich mir immer gewünscht", sagte Josef und zeigte mit einem Pfefferoni auf die Leiche. "Und das alles sollen jetzt die Würmer fressen, die keine Ahnung haben, was schön und was unschön ist. Ich hab Würmer immer gehaßt, und ihn habe ich geliebt, sehr geliebt. Für ihn hätt' ich sogar eine Niere gespendet, wenn er sie gebraucht hätte. Das mein' ich ernst." Josef klopfte sich dorthin, wo er glaubte, daß sich seine Niere befand. "Ich will ihm einen Kuß geben." Er erhob sich, strich zuerst dem Toten über den Kopf und gab ihm einen Kuß. "Hab nichts Falsches gemacht, oder?" fragte er anschließend. "Keineswegs. Man kann alles tun, was der Verstorbene auch gerne getan hätte", meldete sich Zeko. "Schaut, seine Schubänder sind nicht gebunden. Ich bin' sie gleich. "Nein. Die sollen offen bleiben! Keine gebundenen Schuhe, keine geschlossenen Gürtelschnallen. Sonst bleibt seine Seele hier hängen", erklärte Zeko. "Na so was", kratzte sich Josef am Kopf und versuchte, jene Zentren in seinem Hirn zu aktivieren, die für solche unentwirrbaren Angelegenheiten zuständig waren. "Eine heikle Sache, diese Seele", stellte er fest. Virgil nickte zustimmend. "Er hat auch seinen Hochzeitsanzug an", fuhr Zeko mit seiner Aufklärung fort, "damit ihn später seine Frau im Jenseits erkennt." "Gut, daß du mir das sagst. Ich werd' noch morgen mein Hochzeitsgewand verbrennen", jauchzte Josef. Alle lachten und ihre Augen füllten sich mit Tränen, als ob der Rauch von Josefs verbranntem Hochzeitsanzug sie schon reizte. (Dimitré Dinev: Ein Licht über dem Kopf) ^


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