Natur des Menschen (1) [>>]

Von der Verfaßtheit und vom So-Sein [^^] [^]


Summa Vitae
Versiegende Quellen
Quasselkultur
Angetrieben werden
Lebensveränderung
Studium einer Fachwissenschaft
Wonach steht uns der Sinn?
Entscheidungsfreiheit und Hoffnung
Lachen als Form der Kritik
Das Dasein des Lehrers (2)
Das Dasein des Lehrers (1)
Die Sprache der Freiheit
Trivial-seifiges Da-Sein
Krieg
Kristalline Wissenschaft
Charaktereigenschaften
Eine verläßliche Fähigkeit
Sich die Frische erhalten
Das Spiel des Lebens
Ausgetretene Pfade
Im Mittelalter
Intelektuelle
Weber oder Schloßherr
Nach reiflicher Überlegung
Ein Zirkel von Torheiten und Mißbräuchen
Der Mensch und die Perfektion
Zivilisation
Schule
Neugierde
Der ewige Kampf
Gegenseitiges Nichtverstehen
Verklemmungen
Die Masse
Wann gäbe es Frieden?
Theater
Essentielle Authentizität der Seele
Kleiderfragen
Aussichts- und Deckungsmenschen
Zartes Pflänzlein Liebe
Intro- und Extrovertierte
Bonbon des Lebens
Der Faktor Geld
Das Irrationale versteht jeder
Kopf und Bauch
Verschiedenartigkeit der Ideale
Unaufhörliche Befragung
Ozean von Gut und Böse
Das normale, menschliche Gefühl
Todesgewißheit und Langeweile
Das Verwinden von Seelenschmerz
Der letzte Depp
Wissen und Realität
Das Konstruktionsideal der Moderne
Macht und Mobilität
Das Experiment des Vergnügens
Die Gnade selektiv anwenden
Dörflicher Dialekt
Eine kurze Explosion von Intelligenz
Die Langeweile des Lebens
Nero und Caligula
Das Schicksal kommandieren
Wo gehört man hin?
Verfall der Rohstoffe
Stadt und Dorf
Bordell als Mythos
Macht
Das Wachkoma teilen
Der Fortschritt ist blind
Zwei Sorten von Dummheit
Mitleid (2)
Der Mensch, ein Witz
Mißtrauen gegen die Liebe
Schlechte Meinung von eigener Rasse
Wenn zwei sich streiten
Ein effizienter Teil
Tango tanzen
Geborene Herumtreiber
Torheiten des Geistes
Unsere Segnungen
Der Kobold des Verkehrten
Mangelnder Überlebenswille?
Die großen Fragen stellen
Etwas Notwendiges hinzufügen
Christa Wolf: Bestandsaufnahme
Kein Mephisto mehr
Distanz und Abwesenheit
Höflichkeit und Triebhemmung
Mitleid (2)
Stars und Sternchen
Nach uns die Sinflut
Beschleunigung
Erwartbare Hindernisse
Ein wahrer Freund
Neue Informationen
Kulturelle Hybris
Liebe und Freude


Summa Vitae

Wenn sich das Leben eines Schriftstellers in die Länge zieht, erwartet man von ihm eine Summa vitae, eine Art zusammenfassende Philosophie. Ich weiß von keiner Summa vitae. Und zusammenfassend nur, daß die Menschen nicht so gefährlich sind, wenn sie "schlecht" sind, wohl aber, wenn sie dumm sind. Und es gibt viele dumme Menschen. Sie sind gefährlich. (Sandor Marai: Tagebücher 1984-1989) ^


Versiegende Quellen

Die heutige Medienwelt untergräbt immer mehr die Möglichkeiten, Quellen inneren Lohns im Kontext eines kohärenten Weltbildes mit fest verinnerlichten Werten und Prinzipien zu entwickeln. Komplexes Wissen wird verbruchstückt, die medialen Reize immer stärker, schneller und primitiver. Selbst altgediente Intellektuelle bekennen, dass das Internet sie ungeduldiger und ablenkbarer macht, dass sie sich dabei ertappen, Bücher querzulesen oder von hinten zu beginnen. Bei heutigen Jugendlichen sind Lesefreude und die Kompetenz, auch komplexe Texte zu verstehen, im Sinkflug begriffen. So werden die Menschen zunehmend in die Abhängigkeit von äußeren Reizgebern konditioniert. Am Ende stehen innere Leere, Depression und womöglich der Konsum chemischer Drogen. (Dietmar Hansch: Erfolgreich gegen Depression und Angst) ^


Quasselkultur

Wir leben doch in einer Quasselkultur, oder? Ich will mir ein Fußballspiel anschauen und krieg erst mal eine satte Stunde Gequassel verpaßt. Dann wird endlich gebolzt, und in der Pause gibt's wieder Text, von angeblichen Fachleuten, die Schwierigkeiten mit der elementaren Grammatik haben. Und kaum ist das Spiel zu Ende, kommt auch noch der Trainer dazu, und alle erzählen mir lang und breit, was da gerade in meinem Fernseher lief. (Ralf Rothmann: Feuer brennt nicht) ^


Angetrieben werden

"Wie sehr trifft wohl der Satz zu, daß alle Menschen von etwas angetrieben werden?" mutmaßte Flavia. "Bedeutet es, daß jeder von etwas ganz Bestimmtem angetrieben wird?" "Nicht von einer Sache allein - nicht einmal ein Uhrwerk ist so unkompliziert -, sondern von einer Kombination. Ja, wenn man die findet, kann man die Menschen in Bewegung setzen. Oder anhalten." (Sybille Bedford: Ein trügerischer Sommer)  ^


Lebensveränderung

Auch ganz erwachsene Menschen halten im Grunde zäh an dem Aberglauben fest, daß ein äußerer Akzent des Lebens, etwa ein Wohnungswechsel oder eine Ortsveränderung, auch die Person ganz zu durchdringen vermöge; und vielleicht fühlt man dabei, daß dem eigentlich so sein sollte: aber es verhält sich auf solche Art nur im umgekehrten Falle, wenn nämlich innerer Wandel den äußeren früher oder später nach sich zieht. Die Veränderungen, die der heutige Mensch an seinen Umständen vornimmt, sind fast ausnahmslos Veranstaltungen zweckhafter Art. Sind sie vollzogen, kann eine leichte Depression eintreten: weil man sich etwa zwischen neuen weißen oder gar strahlenden Wänden, und allerlei hinzukommender Frischlackiertheit und bisher nicht gehabter praktischer Bequemlichkeit, als den alten Esel antrifft, der, wäre er eine Kuh, vor der ganzen Pracht stünde, wie eben dieses Tier vor dem bekannten Scheunentore zu stehen pflegt. So indessen bewegt es leicht die langen Ohren. (Heimito von Doderer: Die Dämonen) ^


Studium einer Fachwissenschaft

Das Studium einer Fachwissenschaft ist einer Brautschau ähnlich. Die gesamte Heilkunde oder die gesamte Zoologie oder die geamte Altertumswissenschaft führen an sehr viele und verschiedene Objekte der Liebe heran, bis endlich ein aus fast unerforschlichen Wurzeln der Biographie heraufsteigender Eros sich auf eines oder einiges derselben stürzt: die Karinome, die Lepidopera oder die Brakteaten. Es gehört dazu auch, daß normale Mitbürger nicht einmal wissen können, was das nun eigentlich sei. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Wonach steht uns der Sinn?

Wie es komme, daß die Menschen glückselig vor dem Fernseher säßen, Abend für Abend, süchtig nach dem Innergleichen, nach ihren Serien zum Beispiel, nach ihren Quizsendungen und so fort, deren Beliebtheit offenbar darin bestehe, daß sie das Immergleiche unablässig repetierten. Wie es komme, daß Hunderttausende auf den Schnauzbart eines Moderators oder Talkmasters fixiert seien und ein Aufheulen durchs Land gehe, wenn der Moderator oder Talkmaster urplötzlich ohne Schnauzbart auftrete. Wie sich erklären lasse, daß sich der Wunsch nach ödester Gleichförmigkeit nur von dem Bildschirm rege, nicht aber im restlichen Ehealltag. Kaum nämlich habe man sich aus dem Fernsehsessel erhoben, denke man schon an Scheidung, nur weil der Partner sich die Zähne so wie gestern putze und anschließend gurgle wie immer. Wonach, Herr Clarin, steht unserer Natur nun eigentlich der Sinn? (Markus Werner: Am Hang)


Entscheidungsfreiheit und Hoffnung

Selbst jetzt, als alter Mann, versuche ich immer wieder, mich an meine Vorsätze zu halten, und ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß es mir eines Tages gelingen wird. Hoffnung und die Idee der Willensfreiheit sind etwas, was man nicht ganz aufgeben kann. Seit ich erwachsen bin, habe ich wahrhaftig schon viel Zeit vergeudet, aber irgendwie ist es mir gelungen, auch ein wenig zu arbeiten. Ich würde sagen, daß Zeitvergeudung meine zweitgrößte Leidenschaft und die Reue über die Zeitvergeudung mein drittgrößtes Leiden ist. In meinen Augen beweist diese Reue aber, daß ich wirklich an die Entscheidungsfreiheit glaube. (Isaac Bashevis Singer: Ich bin ein Leser; S. 113)


Lachen als Form der Kritik

Lachen ist eigentlich eine Form der Kritik menschlichen Verhaltens. Wenn wir von jemandem sagen, er sei ein Dummkopf, dann heißt das indirekt, daß er einen freien Willen hat und sich auch klug hätte verhalten können, wenn er es nur gewollt hätte. Hier treffen Lachen und Ethik aufeinander. Wenn wir annehmen würden, daß der Mensch völlig determiniert ist und gar nicht anders handeln kann, als er es tut, dann könnten wir niemanden dumm oder unmoralisch nennen, sowenig wie wir Tiere oder Steine mit diesen Begriffen kritisieren können. Lachen und Witz sind Mittel, mit denen wir auf Menschen reagieren, die sich weigern dazuzulernen, den Dingen auf den Grund zu gehen oder mit eigenen Augen zu sehen anstatt mit denen anderer, oder die gar nichts sehen wollen. (Isaac Bashevis Singer: Ich bin ein Leser)


Das Dasein des Lehrers (2)

... wird überall kalter Kaffee, verdünnter Sprit und gepantschter Wein geboten, nicht weil unsere Lehrer methodisch und didaktisch versagen, sondern weil sie methodisch und didaktisch zu gut funktionieren. Die Lehrerkrankheit ist nicht die Besserwisserei, sondern die totale Inflation eines Wissens, das methodisch präpariert, rhetorisch erfragt und didaktisch verbreitet wird. Immer nur Antworten auf Scheinfragen und Fangfragen, die man selber stellt. Und auch das Geständnis, daß man keine Rezepte habe, gehört zum didaktischen Konzept. (Hermann Burger: Schilten)


Das Dasein des Lehrers (1)

Wer frisch und unverbraucht an eine Schule kommt, denkt, die Substanz reiche für zwanzig, dreißig, vierzig Jahre. Sie reicht aber nicht einmal für fünf Jahre, und je besser der Lehrer, desto eher ist sie verbraucht. Und je ehrlicher der Lehrer, desto offener gesteht er ein, daß er am Rande ist, erschöpft, ausgepumpt, lebenshungrig. Der große Lehrer weiß: Es braucht Hunderte von Lebensstunden, um eine einzige Schulstunde zu überstehen. Jede Lektion muß mit dem Tausendfachen an Lebenserfahrung gedeckt sein. In Wirklichkeit ist es aber umgekehrt in unserem Beruf: Jede Erfahrung muß tausendfach ausgebeutet werden. Man läßt uns nicht zu Atem kommen, man will tote Strohmänner in dösenden Klassen. (Hermann Burger: Schilten)


Die Sprache der Freiheit

Vor allem der Zynismus dem Leben oder den Lebensumständen gegenüber, in welchen man steckt, oder das Weiterwursteln in längst als falsch Erkanntem, verlangt den Ernst, den man der Wirklichkeit gegenüber nicht aufbringt, in der Kunst, den falschen Ernst, das falsche Pathos. Der wahre Nihilismus ist immer feierlich wie das Theater der Nazis. Die Sprache der Freiheit in unserer Zeit ist der Humor, und sei es auch nur der Galgenhumor, denn diese Sprache setzt eine Überlegenheit voraus auch da, wo der Mensch, der sie spricht, unterlegen ist. (Friedrich Dürrenmatt: Literatur und Kunst, Essay und Reden, S. 110)


Trivial-seifiges Da-Sein

Diese Fraun daraufhin in ihrer Seele bös verzuckern innerlich Süßlichkeiten & äußerlich Fett ansetzen Die sich-gehenlassen Auf jammervolle Art grausam werden & hart Ihre Augen wie kleine Münzen die in Pfützen gefallen sind & denen sowohl echte Gefühle von Anderen Menschen ihnen gegenüber versagt geblieben sind als auch die eigene Empfindungsfähigkeit abgestumpft & zu Hornhaut wurde Müssen sie um überhaupt noch ?was zu fühlen die zuckerige höhnisch-grelle Überhöhung suchen - & so hören sie Schlager-Musick voll kremiger Tonfolgen akkustisches Schmieröl durchhasten fondantbunte Illustrierte mit chemisch gesüßten & mit Emotzjonalverstärker E 08/15 aufgepoppten Schtorris im- Fernsehen eckstra Für-Leute=wie-sie zurechtgeschnittene sogenannte Liebe's Filme & seit-neuestem jene einst für die Armenghettos in der Drittenwelt geleimten Telenovelas - für die Ewigen dienst-Mädchen ohne Lohn Und grad diejenigen die jetzt darüber lachen Ihrliebenkinder das sind oftmals die 1. die solchem Süßkram innerlich schon längst verphallen sind Denn vielleicht weil Sie zu den pekuniär besser Gestellten 1samen gehören täuscht Sie das gesamte Angebot sau- teuren Rühr-Teigs drüber hinweg daß im entstellten= Leben alles=1 ist: Telenovela & Esoterik Magie & Maggi Heilende Hände Profet & Profit & alles Weltanschauung's Ragout Feng Schui mit Schamanen Brimbor-Yum Yum - die Sinne immer=weiter vergröbernd den seelischen Durst noch brennender machend Wie beim Schiff-Brüchigen der auf nem Brett hilflos im öden Meere treibend die Flammen seines Durstes wider besseres Wissen mit Salzwasser.... zu löschen sucht - !Endlich für 1 2 Momente !Ohnedurst !Ohneschmerzen - um danach nur umso stärker in der Eingeweideglut zu brennen Die-Menschen wenden sich ab von den Wirklichkeiten von Wahrheit wollen sie Nichts wissen. Sie tauschen Wirklichkeiten ein für Wirklichkeit's Camouflagen Wahrheit für das blasse Geschenk des-Gefühls-von-Sicherheit. Denn nach jeder Großen Angst Dem Blitz-Einschlag ins Leben folgt die-Arroganz !Ich habs überstanden !Ich lebe noch. Triviales seifiges da-Sein als Gleitschicht über die Ab-Gründe des Lebens u die Schrecken aus dem Erinnern. (Reinhard Jirgl: Die Stille, S. 198)


Krieg

Wie war das möglich, daß die Menschen nach jedem beendeten Krieg statt dessen so selbstverständlich sicher waren, daß dieser der absolut letzte war, daß die Fülle der erlebten Greuel es schon jedem verbot, den nächsten Krieg herbeizuführen, wie war das möglich, daß die Menschen in ihrer Naivität nicht sahen, daß die Fülle der Greuel eine noch größere Fülle von Greueln nach sich ziehen, daß der Krieg unablässig weitergehen würde in den vergifteten Seelen und das Lebensziel dieser vergifteten Seelen die Ausweitung des Krieges auf alle, das Vergiften aller ist. (Wojciech Kuczok: Dreckskerl, S. 41)


Kristalline Wissenschaft

Angeregt von Ulrich hatte Meno begonnen, Bücher über Ökonomie zu lesen, eine Materie, die ihn nie sonderlich interessiert hatte und deren zahlenklirrende Exaktheit, mathematische Profile und scheinbar unumstößliche Selbstgewißheit ihn ebenso abstießen wie die Nüchternheit, mit der Menschliches, also Fehlbarkeit, Verliebtheit und Inkonsequenz, auf das sternenkalte Reißbrett der Naturgesetze gespannt wurden. Aber er begann etwas zu ahnen... Die Furcht der Menschen, daß diese kristalline Wissenschaft, ihre Axiome, gegen die sich das hiesige Gesellschaftssystem seit fünfunddreißig Jahren stemmte, recht behalten könnte... (Reinhard Jirgl: Die Stille, S. 573)


Charaktereigenschaften

Eigenschaften, hat Schopenhauer gesagt, und damit meinte er Charaktereigenschaften, bilden ein Kontinuum: Jede menschliche Vollkommenheit ist einem Fehler verwandt, in welchen überzugehen sie droht; jedoch auch, umgekehrt, jeder Fehler einer Vollkommenheit. Geduld gleitet ab in Zaghaftigkeit; Impulsivität reift zu Entschlossenheit; aus Zärtlichkeit wird Umklammerung. Du hast dich in deine Frau verliebt, weil dir ihre Lebhaftigkeit und Leidenschaft gefielen, sage ich mir, hier über den Gewitterwolken, das Gesicht dem schmutzigen Fenster zugewandt. Ihre Energie. Ich habe mir das schon hundertmal gesagt. Nur um festzustellen, daß es sich dabei im Grunde um Dreistigkeit handelte. Oder noch schlimmer, wie vorhin am Flugsteig, um Hysterie. Die Liebe, erläuterte Schopenhauer, womöglich mit Bedauern, sieht von einer gegebenen Eigenschaft nur die positive Hälfte. (Tim Parks: Schicksal, S. 36)


Eine verläßliche Fähigkeit

Er wird undiszipliniert sein, vielgestaltig und polyglott, aber dies ist ja unser Schicksal und unser Leben, seit die göttliche Kraft uns ihre Macht bewies, als sie den einsprachigen Turm zu Babel einstürzen ließ. Gegen den Widerstand zahlloser regionaler Gottheiten und ihrer Priester haben Schriftsteller zu allen Zeiten viele schadhafte Türme zu errichten versucht - Lichtungen im Wald, Marktplätze in Athen, Katakomben in Rom, Graffiti an Gefängniszellen, Samiszat in sibirischen Straflagern -, und sie werden es in ungeahntem Ausmaß auch im World Wide Web tun. In diesem Punkt gibt es allen Grund zum Optimismus. Die kritische Fähigkeit, Bedeutung aus dem Chaos zu fischen, ist Teil des menschlichen Instinks, ebenso wie das Geschenk. Zivilisationen und ihre Regeln ohne äußere Anleitung zu erschaffen und umzuformen. Die Menschen besitzen die Gabe, einen Weg zu finden, Güter zu produzieren, geordnete Märkte zu schaffen, Qualität zu erkennen und dieser einen Wert beizumessen. Auf diese Fähigkeit ist Verlaß. Es gibt keinen Grund zu der Befürchtung, daß die atemberaubende Vielschichtigkeit des World Wide Web diese Fähigkeit überfordern wird. Tatsächlich wird diese Vielfalt solche Fähigkeit nur noch stärken, zumindest lassen einen die Erfahrungen der Menschheit dies hoffen. (Jason Epstein: Vom Geschäft mit Büchern, S. 166f.)


Sich die Frische erhalten

Es ist langweilig und geisttötend, immer nur Dinge zu betreiben, welche man schon kann. Jeder Polizist oder Paßbüro-Beamter weiß dies ja und hütet sich wohl, etwa das Alphabet, das Lesen von Namen usw. zu lernen, und erhält sich dadurch frisch und gesund, daß er viele Jahre lang jedes Schreiben oder Kontrollieren eines Passes mit der ganzen Intensität, Neugierde und langwierigen Bemühung betreibt, als sei es das erstemal, daß er diese schwierige Arbeit tue. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 14: Betrachtungen und Berichte. 1927-1961, S. 110)


Das Spiel des Lebens

Das Sein bestimmt das Bewußtsein, und das Leben von uns Menschen ist durch unsre Klassenlage bestimmt. Und weil das stimmt, wiederhole ich es ohne die Wörter von Karl Marx: nämlich daß wir nichts denken und fühlen, was nicht durch unsere Lebenserfahrung in uns hineigekommen ist, und daß diese Erfahrung, wie das ganze Leben selbst, durch den sozialen Ort bestimmt ist, an den uns unser Schicksal verschlagen hat. Seltsamerweise müssen solche Gedanken, die in der Theorie nach der Revolution rufen und in unsrer derzeitigen Praxis eher dem guten alten Schicksal gleichen, bei vielen als Entschuldigung herhalten, wenn sich in ihrem eigenen Leben der Entwurf und die Ausführung nicht decken. Denn mancher, der Verwaltungsjurist geworden ist, fühlte in sich einst die Begabung zum Löwenjäger. Es ist ja in der Tat kränkend, einfach selber sein Leben versiebt zu haben, und es ist außerordentlich entlastend, wenn andere, gar noch die Umstände, daran schuld sind. Eine radikale Theorie, mag sie noch so richtig sein, kann zuweilen auch von der eigenen Wehleidigkeit ablenken. Wie viele von uns (denken viele von uns) wären längst beim Film oder Nobelpreisträger oder Kaiser von Sumatra, wenn nur die Karten im Spiel des Lebens nicht so ungerecht verteilt wären! (Urs Widmer: Auf, auf, ihr Hirten. Die Kuh haut ab, S. 249)


Ausgetretene Pfade

Komisch jedoch: wenn wir dann auf unsern Lebensflößen den Bach hinunter und endlich irgendwo an Land gespült werden, machen wir dennoch allesamt ein Gesicht, als hätten wir genau dahin gewollt. Wie der Camel-Mann. Das hängt wohl damit zusammen, daß man uns (kaum sind wir ein bißchen größer geworden, und ohne mit der Forderung nach Anpassung aufzuhören) auch ununterbrochen zuruft, wir müßten unverwechselbar sein und unser Schicksal selber bestimmen. Kein Wunder, daß wir selten wissen, wo es langgeht. Oft, etwa beim Lieben oder beim Motorradfahren oder beim Denken, fühlen wir uns just dann am eigenständigesten, wenn wir auf den ausgetretensten Pfaden des Allgemeinen wandeln. Aus diesem Widerspruch, den uns die hochfahrenden Menschen der Renaissance eingebrockt haben, schlagen seither die Mächtigen ihr Kapital - wenn nicht alle, so doch viele: denn wer tun möchte was alle tun und sich dazu herrlich autonom fühlt, ist gewiß der ideale Arbeitnehmer. (Urs Widmer: Auf, auf, ihr Hirten. Die Kuh haut ab, S. 201)


Im Mittelalter

Im Mittelalter wurde man so um die dreißig Jahre alt. Ein Fünfzigjähriger war ein edler Greis. Und natürlich lebte man viel mehr im Jetzt, weil es ein Lebensabend, an dem der aufgeschobene Genuß nachgeholt werden konnte, kaum je gab. Keiner hatte die leiseste Ahnung, was der nächste Morgen bringen würde. Ein rostiger Nagel genügte, und man war tot. Wenn man einen Treueschwur verweigerte, hing man am nächsten Baum - schwor man, am übernächsten. Die Kriege: Gerüchte von fernen Morden. Also stand man arglos vor der Tür, und jäh verwandelte sich der stille Frieden in ein tobendes Gemetzel. Die Reichen, die genau so ungern wie die Armen starben, mauerten sich in Türme ein, die sie immer höher und schiefer bauten. Wenn gar eine Pest nahte, wurden alle, die die Kraft dazu hatten, so übermütig, daß sich die fremdesten Männer mit den unbekanntesten Frauen in siebenschläfrigen Betten wälzten, stöhnend vor Sehnsucht nach dem Leben, mit dem es beim ersten Ruf der Lerche vorbei sein konnte. Der Tod grinste die Menschen an, und dise drängten ihn mit der ganzen Wucht ihres Überlebenswillen aus den Hirnen hinaus oder krochen, wenn sie das nicht schafften, vor ihm im Staub, sich die Rücken geißelnd. (Urs Widmer: Auf, auf, ihr Hirten. Die Kuh haut ab, S. 146)


Intelektuelle

Schule und Uni können nicht 'ganz' anders als die Welt sein, die sie umgibt. (Geben sie manchmal recht wenig Mühe, es zu versuchen.) Leser und Gucker werden ebenfalls auf Sieg getrimmt, wie das bei uns halt so üblich ist. Einer ist immer der Stärkere. So vom zweiten Semester an, und dann für die Ewigkeit, tragen sie mit jeder Zeichnung und mit allen Büchern einen Kampf aus, den sie jeweils prompt gewinnen. Selten bleiben sie sprachlos. Freunden sich gar mit unsern Linien und Wörtern an. (...) Also gleich auch noch das: diese gefinkelten Intellektuellen haben zudem die Neigung, sich mit ähnlich intellektuellen Gefinkelten zu umgeben, möglichst ein bißchen blöderen als sie selbst es sind. Sie erkennen sich gegenseitig am Geläut. So vermehren sie sich schnell, die "Intellektuellen", wissen immer ungebrochener und lauter alles und nichts, und das auf Kosten jener, deren kritische Neugier sie am allerwenigsten ausstehen können. (Urs Widmer: Auf, auf, ihr Hirten. Die Kuh haut ab)


Weber oder Schloßherr

"Der Hauptgegensatz alles Modernen gegen das Alte besteht darin, daß die Menschen nicht mehr durch ihre Geburt auf den von ihnen einzunehmenden Platz gestellt werden. Sie haben jetzt die Freiheit, ihre Fähigkeiten nach allen Seiten hin und auf jedem Gebiete zu bestätigen. Früher war man dreihundert Jahre lang ein Schloßherr oder ein Leinenweber; jetzt kann jeder Leinenweber eines Tages ein Schloßherr sein." "Und beinah auch umgekehrt", lachte Melusine. (Theodor Fontane: Der Stechlin, S. 256)


Nach reiflicher Überlegung

...so habe ich mich mit eben dieser Erheiterung der Phantasie überlassen, die Delphine - kluge Tiere, Bruder, deren Hirnvolumen, auf ihr Körpergewicht bezogen, dem unseren nicht um vieles nachsteht - könnten einmal, in grauer Vorzeit, die Gabe des Sprechens, die vielleicht auch ihnen angeboten wurde, nach reiflicher Überlegung abgelehnt haben, um sich ihre pfeifende Kommunikation im Ultraschallbereich, ihr spielerisches Dasein und ihr freundliches Verhalten bewahren zu können. (Christa Wolf: Störfall, S. 106)


Der Mensch und die Perfektion

Nun sind es ihre Erfinder, die dem Computer, dem perfekten Automaten, einen Menschen einverleiben wollen. Die Vollkommenheit des Automaten nämlich erregte - ganz abgesehen von den sozialen Problemen, die mit seinem massenweisen Erscheinen in der westlichen Welt auftauchten - bei vielen Menschen irrationale Ängste. Die Perfektion ist mehr als menschlich, übermenschlich, also auch unmenschlich und beunruhigend daher. Nicht völlig frei von einem stillen Grauen bedienen wir die Knöpfe, beneiden die folgenden Generationen um ihren unbefangenen Umgang mit diesen Geräten und entwickeln möglicherweise ein verspätetes Verständnis für unsere Urgroßeltern, die verängstigt und mit zitternden Fingern den Schalter ihrer elektrischen Glühlampe betätigten. (Christoph Hein: Öffentlich arbeiten. Essais und Gespräche, S. 166)


Zivilisation

Zivilisation: Wir verstehen darunter die Gesamtheit der durch den Fortschritt von Wissenschaft und Technik geschaffenen und stetig verbesserten materiellen und sozialen Lebensbedingungen. Da diese Verbesserungen der Lebensbedingungen zumindest in zwei Erdteilen höchst fraglich ausfielen, können wir Zivilisation nur mit dem Stand der erreichten Technik gleichsetzen. Und da die technische Entwicklung in allen Staaten der Erde am großzügigsten, rücksichtslosesten und erfolgreichsten in der militärischen Forschung und Industrie betrieben wird und selbst die kleinsten Erfindungen für den zivilen Bereich, etwa den Haushalt, sich nur zu oft als Nebenprodukte der Kriegsforschung erweisen, können wir als genauere Definition formulieren: Zivilisation ist der jeweils erreichte Stand der Waffentechnik samt ihrer zivilen Abfallprodukte und den sich daraus ergebenden materiellen und sozialen Lebensbedigungen der staatsabhängigen Bürger. Soviel zum Zauberwort Zivilisation.) (Christoph Hein: Öffentlich arbeiten. Essais und Gespräche, S. 46)


Schule

"Unsere Vorfahren", führte er aus, "sind in ihrer Weisheit zu dem Ergebnis gekommen, daß Kinder eine unnatürliche Belastung für die Eltern sind. So richteten sie Gefängnisse ein, die sie Schulen nannten, und rüsteten sie mit Foltern aus, genannt Erziehung. Schule, das ist das Quartier, das du zwischenzeitlich beziehen mußt, wenn deine Eltern dich nicht mehr wollen und die Industrie dich noch nicht will. Ich bin ein bezahlter Wärter der Unnützen der Gesellschaft: der Lahmen, der Langsamen, der Schwachköpfigen, der Ungebildeten. Der einzige Ansporn, mein Junge, den ich dir geben kann, damit du dich benimmst, ist dieser: wenn du deinem Buckel nicht krumm machst und etwas lernst, dann wirst du so dumm bleiben wie ich und wirst in der Schule unterrichten müssen, um dein Brot zu verdienen. (John Updike: Der Zentaur, S. 111)


Der ewige Kampf

Wem, der die Geschichte des Menschengeschlechts mit tieferm Blick durchspäht, kann es entgehen, daß, sowie eine Krankheit gleich einem verheerenden Ungeheuer hervortritt, die Natur selbst auch die Waffen herbeischafft, es zu bekämpfen, zu besiegen. Und kaum ist dies besiegt, als ein anderes Untier neues Verderben bereitet, und auch wieder neue Waffen werden erfunden, und so bewährt sich der ewige Kampf, der den Lebensprozeß, den Organismus der ganzen Welt bedingt. (E.T.A Hoffmann: Die Serapionsbrüder, S. 400)


Gegenseitiges Nichtverstehen

Wenn wir abends zu Hause blieben, saß ich mit einem Buch auf dem Schoß da und schaute Sheri beim Malen zu. Aber wenn sie hochguckte und mich lesen sah, legte sie ihren Pinsel weg und verschwendete ihre ganze Kunst an mich. Sie mißtraute Büchern. Ich sah sie nie eins lesen. Ich denke, sie glaubte, ich könnte in ihnen etwas finden, das mir einen Vorteil ihr gegenüber verschaffen würde, oder etwas, das ich gegen sie verwenden könnte. Das gleiche Gefühl hatte ich bei ihren Bildern. Sie malte abstrakt, und ich konnte ihr dabei nicht folgen. Sie ließ mich außen vor wie einen Hund, den man an eine Parksäule bindet, wenn man in einen Laden geht. Ich habe mich bei abstrakter Malerei nie wohl gefühlt. Ich hatte kein Talent für Abstraktionen, sah ihre Notwendigkeit nicht ein, sah ihre Schönheit nicht. Wie der Liberalismus in der Politik klammerte die Abstraktion so viele Dinge aus, die ich mochte. (Anatole Broyard: Verrückt nach Kafka. Erinnerungen an Greenwich Village, S. 21)


Verklemmungen

In der ersten Nacht, die ich in der Jones Street zubrachte, wurde ich vor Morgengrauen wach, weil ich pinkeln mußte. Ich rüttelte Sheri und fragte sie, wo sie den Schlüssel für das Klo im Flur aufbewahrte. Piß in die Spüle, sagte sie. In der Spüle ist Geschirr. Das muß sowieso abgewaschen werden. Aber ich hatte Schwierigkeiten, in die Spüle zu pinkeln, weil mich die Vorstellung erregte. Mit der Badewanne in der Küche war es das gleiche. Ich habe nie einen unbefangenen Blick für sie entwickelt; für mich blieb es immer eine Art von Exhibitionismus, vor jemandem in einer Wanne zu sitzen. Ich war der einzige Sohn einer katholischen Familie aus dem Französichen Viertel in New Orleans, und es gibt keine Menschenklasse, die sexuell so verkorkst ist wie die französische Bourgeoisie, vor allem, wenn sie einen kolonialen Schlag hat. (Anatole Broyard: Verrückt nach Kafka. Erinnerungen an Greenwich Village, S. 18)


Neugierde

"Woran arbeiten Sie eigentlich", fragte Kantus. "Ich arbeite nicht", sagte Morolf, "ich forsche." "Ist das ein Unterschied?" "Ja." "Was für einer?" "Der gleiche gewaltige, den ein gelangweilter Ehemann empfindet, wenn er mit einer Geliebten schläft." "Ach was", sagte Kantus. Er ließ sich schon wieder verblüffen. Er fiel auf jeden rhetorischen Trick rein. Und seine Ohren waren so rot, als ob er in der Badewanne läge. "Warum fühlt sich eine Ehemann gelangweilt", sagte Morolf. "Weil es an seiner Frau nichts gibt, was er nicht schon zu kennen glaubt. Aber die Menschen sind neugierig. Also verletzt er die Gebote, schafft sich eine Geliebte an und sündigt. Ich kann jeden Tag neugierig sein, ohne die Gebote zu verletzen, und werde sogar noch dafür bezahlt. (Irmtraud Morgner: Trobadora Beatriz, S. 636)


Die Masse

"Die Massen sind mir wichtig. Man sollte ihnen beibringen, wie man der Ausbeutung widerstehen kann." "Dora, du sprichst von den Massen, als ob sie unschuldige Lämmer seien, und nur ein paar Schurken für die menschliche Tragödie verantwortlich wären. In Wirklichkeit sind große Teile der Masse auch bereit zu töten, zu plündern, zu vergewaltigen und das zu tun, was Hitler, Stalin und ähnliche Tyrannen immer getan haben." (Isaac Bashevis Singer: Schoscha, S. 241)


Wann gäbe es Frieden?

In der Natur hat ja alles und jedes seinen Platz. Und wenn Sie sich nach Verrücktheiten umsehen, die gibt es auch. Was hält man in Ihren Kreisen von der Welt - ich meine von Hitler und Stalin und ähnlichem Abschaum?" "Was kann man schon sagen? Die Menschen wollen keinen Frieden." "Warum sagen Sie 'die Menschen'? Ich will Frieden und Schoscha will Frieden und das gleiche wollen Millionen anderer. Ich behaupte immer noch, daß die meisten Menschen in der Welt keine Kriege wollen, nicht einmal Revolutionen. Sie würden am liebsten ihr Leben so gut wie möglich verbringen. Mit etwas mehr, oder etwas weniger, in Palästen, in Kellern, solange sie ein Stück Brot und ein Kissen unter ihrem Kopf haben. Stimmt das, Schoscha?" "Ja, das stimmt." "Die Schwierigkeit ist, daß die stillen, geduldigen Leute passiv sind, und die an der Macht, die Übeltäter, die sind aggressiv. Wenn eine Mehrheit von Anständigen ein für allemal beschließen würde, die Macht in ihre Hände zu nehmen, vielleicht gäbe es dann Frieden." (Isaac Bashevis Singer: Schoscha, S. 126)


Theater

Ihr selbst hätte, zu ihrem Glück, der Professor rechtzeitig erklärt, wie sie auch ohne Theater jenen aristotelischen Zustand der Katharsis erreichen könne, ohne den der Mensch die Vielzahl und Tiefe seiner Gefühle nun einmal nicht kennenlernen könne. Früher, hätte der Professor erzählt, wären die Menschen ins Theater gegangen, um sich für ein paar Stunden einem Unglück auszusetzen, von dem sie in ihrem wirklichen Leben um Gottes Willen verschont bleiben wollten. Und während sie um ein großes würdiges Unglück weinten, beweinten sie ihr kleines gleich mit, das auf die Art gewissermaßen geadelt wurde. Seit das Theater der Illusion abgeschworen habe und der Imagination die Folgerichtigkeit und dem Rausch die Einsicht voranstelle, statt durch Imagination unbekannte Zusammenhänge ahnen zu lassen, durch den Rausch den dressierten Verstand zu überlisten und ihm geheime und verbotene Wege zu weisen, sei es zu einer ganz unsinnigen Einrichtung geworden, die ihn, den Professor, vorwiegend langweile. Denn was, außer Illusion, sollte das Theater sein, da es ja keine Wirklichkeit ist, hätte der Professor gesagt. Einem Theater, das stärker auf den Verstand als auf das Gemüt wirken wolle, sei die Wirklichkeit in jedem Fall vozuziehen, da sie absichtslos wirke; sie sei die Wirkung schlechthin, wie ihr Name schon sage. (Monika Maron: Die Überläuferin, S. 139)


Essentielle Authentizität der Seele

Zu den wenigen Dingen, die ich im Lauf der Jahre gelernt habe, gehört, daß kein Anlaß, wie schwerwiegend oder schrecklich die Umstände auch sein mögen, gefeit ist gegen rein soziale Peinlichkeit. Zu meiner Zeit habe ich Anwälte gekannt, die vor Verlegenheit verstummten, Richter, die meinem Blick auswichen, Gefängniswärter, die erröteten. Es spricht doch sicher für unsere Spezies, dieses plötzliche, hilflose Nichtweiterwissen, wenn der allgemeine Verhaltenskodex versagt; zeugt dieses Phänomen nicht von der essentiellen Authentizität der Seele? (John Banville: Athena, S. 137)


Kleiderfragen

Einmal abgesehen von der politischen Einordnung, wußte ich, was der junge Mann in Chicago sagen wollte. Es ist zweifellos eine sehr traurige Welt, wenn man sich allein mit einer Fliege den Anstrich geben kann, ein bunter Vogel zu sein. Wobei ich nicht einmal weiß, wer schlimmer ist: diejenigen, die einen für einen bunten Vogel halten, bloß weil man eine Fliege trägt, oder der Träger selbst, der genau das von sich glaubt. (David Sedaris: Schöner wird's nicht, S. 8)


Aussichts- und Deckungsmenschen

Daß man alle Menschen in Ausssichtsmenschen und Deckungsmenschen einteilen könne, hat Antonin gesagt. Also es gibt Menschen, die oben auf einem Hügel sitzen und hinunterblicken wollen, so wie die Fürsten auf ihren Festungen stehen und das Umland überschauen, und es gibt Menschen, die sich in einer Senke verstecken, an eine Felswand schmiegen müssen, um sich geborgen zu fühlen. Die tief versteckt in einem Wald sitzen und sich dem Schutz der Natur anvertrauen. Es ist immer die Frage, wo liegt der Feind. (Gregor Hens: Himmelssturz, S. 163)


Zartes Pflänzlein Liebe

Schostakowitsch über seine Oper Lady Macbeth: "Es geht darin auch darum, wie die Liebe sein könnte, wäre die Welt nicht voller Niedertracht. Die Niedertracht läßt die Liebe zugrunde gehen. Ebenso die Gesetze und Besitzverhältnisse und Geldsorgen und der Polizeistaat. Wären die Verhältnisse anders gewesen, so wäre die Liebe anders gewesen." Aber sicher. Die Umstände verändern die Liebe. Und wie ist das bei extremen Umständen, z.B. denen der Stalinschen Schreckensherrschaft? Schostakowitsch fährt fort: "Jeder schien sich Sorgen zu machen, was aus der Liebe wird. So wird es wohl immer sein, es sieht immer so aus, als habe für die Liebe das letzte Stündlein geschlagen." (Julian Barnes: Darüber reden, S. 213)


Intro- und Extrovertierte

Wir kriegen allesamt entweder Krebs oder was mit dem Herzen. Es gibt, im wesentlichen, zwei Arten, solche, die ihre Gefühle in sich hineinfressen, und solche, die alles rausschreien. Introvertierte und extrovertierte, wenn dir das lieber ist. Introvertierte neigen bekanntermaßen dazu, ihre Gefühle, ihre Wut und ihre Selbstverachtung zu internalisieren, und diese Internalisierung ruft, ebenso bekanntermaßen, Krebs hervor. Extrovertierte andererseits lassen alles fröhlich raushängen, wüten gegen die ganze Welt, übertragen ihre Selbstverachtung auf andere, und dies Überanstrengung führt, logischerweise, zu Herzanfällen. (Julian Barnes: Darüber reden, S. 15f.)


Bonbon des Lebens

Warte, bis du mit Sex anfängst, halluzinierte ich zu hören. Und das Seltsame dabei, Richie, ist, daß es stimmt. Es ist die eine große Überraschung, die die Natur für uns in petto hat, die Liebe mit ihrer beschleunigten Pulsfrequenz und ihrer bodenlosen Überschätzung des Liebesobjekts, mit dem rhythmischen Spannungsaufbau und der Entladung, aber das war's dann auch, ein zweites solches Bonbon hat uns das Leben nicht zu bieten, es sei denn, man zählt Bridge mit, und den Tod. (John Updike: Das Gottesprogramm. Rogers Version, S. 150f.)


Der Faktor Geld

"Wenn ein Mann eine Spur von Großmut in seinem Wesen zeigt, und du sie beseitigen möchtest, so hinterlasse ihm eine Erbschaft. Wenn ein Mann schlecht ist, und du ihn noch schlechter machen willst, dann hinterlasse ihm eine Erbschaft. Wenn du einer Anzahl von Menschen auf ewig die Möglichkeit für Korruption und Unterdrückung auf breiter Basis verschaffen willst, so hinterlasse ihnen eine Erbschaft, in Form einer wohltätigen Stiftung. Wenn du einer Frau mit größter Sicherheit einen schlechten Mann verschaffen willst, so hinterlasse ihr eine Erbschaft. Willst du junge Männer ins Verderben stürzen, alte Männer zum Anziehungspunkt für die größten Gemeinheiten der Menschheit machen, Eltern und Kinder, Ehefrau und Ehemann, Brüder und Schwester gegeneinander aufhetzen, so hinterlasse ihnen Geld! (Wilkie Collins: Das Geheimnis des Myrtenzimmers, S 42)


Das Irrationale versteht jeder

Das Irrationale hingegen versteht jeder. Deshalb kam die Religion so früh in die Welt und verbreitete sich rasch, während das wissenschaftliche Denken so spät in die Welt kam und sich ganz und gar nicht ausgebreitet hat. Die ganze Geschichte legt Zeugnis davon ab, daß nur das Mystische überhaupt eine Chance hat, vom Volk verstanden zu werden. Der gemeine Menschenverstand muß im dunklen Tempel der Kultur als esoterisches Geheimnis gehütet werden. (Gilbert Keith Chesterton: Ketzer. Ein Plädoyer gegen die Gleichgültigkeit, S. 84)


Verschiedenartigkeit der Ideale

Es ist unmöglich, eine eventuelle Auseinandersetzung zwischen Zivilisationen zu verhindern, weil es unmöglich ist, zu verhindern, daß Ideale miteinander in Konflikt geraten. Gäbe es nicht mehr unseren modernen Streit zwischen Nationen, dann gäbe es eben einen Streit zwischen Utopias. Denn das höchste Gut treibt nicht bloß zur Einheit, es treibt ebensosehr zur Verschiedenartigkeit. Menschen lassen sich häufig dazu bringen, für die Einheit zu kämpfen; niemals aber lassen sie sich daran hindern, auch für die Verschiedenartigkeit zu kämpfen. Diese im höchsten Gut beschlossene Vielfalt ist der Sinn des verbissenen Patriotismus, des verbissenen Nationalismus der großen europäischen Zivilisation. Sie ist übrigens auch der Sinn der Dreifaltigkeit. (Gilbert Keith Chesterton: Ketzer. Ein Plädoyer gegen die Gleichgültigkeit, S. 72)


Unaufhörliche Befragung

Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit! Nur ihr Mann hatte ihr unaufhörlich Fragen gestellt, denn die Liebe ist eine unaufhörliche Befragung. Ja, ich kenne keine bessere Definition der Liebe. (Mein Freund Hübl würde einwenden, daß uns in diesem Fall niemand mehr liebt als die Polizei. Das stimmt. So wie jedes 'oben' als Gegenstück sein 'unten' hat, so hat auch das Interesse der Liebe seine Entsprechung in der Neugier der Polizei. Manchmal wird oben und unten verwechselt, und ich kann mir gut vorstellen, daß einsame Menschen sich danach sehnen, gelegentlich zu einem Verhör ins Kommissariat abgeführt zu werden, um jemandem von sich erzählen zu können.) (Milan Kundera: Das Buch vom Lachen und Vergessen, S. 221)


Ozean von Gut und Böse

Welch ein unglückliches, elendes Geschöpf ist doch der Mensch, der mit seinem Bedürfnis nach positiven Lösungen in diesen ewig wogenden, uferlosen Ozean von Gut und Böse, von Tatsachen, Erwägungen und Widersprüchen hineingeworfen ist! Die Menschen mühen sich seit Jahrhunderten ab, um Gut und Böse voneinander zu scheiden. Die Jahrhunderte kommen und gehen, und was auch ein vorurteilsloser Geist auf die Waage von Gut und Böse werfen mag - die Waagschalen schwanken nie, und auf jeder Seite bleibt ebensoviel Gutes wie Böses. Wenn der Mensch nur endlich gelernt hätte, nicht so scharf und entscheidend zu urteilen und zu denken und nicht immer Antworten auf Fragen zu geben, die ihm nur darum gegeben sind, damit sie ewig Fragen bleiben! Wollte er doch begreifen, daß jeder Gedanke zugleich falsch und richtig ist! Er ist falsch, weil der Mensch einseitig ist und unmöglich die ganze Wahrheit in ihrer Gesamtheit erfassen kann; er ist richtig, weil durch ihn immer eine Seite des menschlichen Strebens ausgedrückt wird. Die Menschen haben sich in diesem ewig wogenden, uferlosen, unendlich durcheinandergemischten Chaos von Gut und Böse verschiedene Abteilungen geschaffen, haben in diesem Meer imaginäre Grenzlinien gezogen, und sie erwarten, daß das Meer sich nach diesen Linien teile. (Lew Tolstoj: Sämtliche Erzählungen, Bd 2., S. 115)


Das normale, menschliche Gefühl

Warum fehlt allen diesen hochentwickelten humanen Menschen, die in ihrer Gesamtheit zu jedem ehrenvollen humanen Werk fähig sind, das gewöhnliche menschliche Gefühl für ein pesönliches gutes Werk? Warum finden alle diese Menschen, die in ihren Parlamenten, Meetings und Vereinen mit solchem Eifer für die Lage der ehelosen Chinesen in Indien, für die Verbreitung des Christentums und der Zivilisation in Afrika und für die Gründung von Vereinen zur Besserung der gesamten Menschheit sorgen, in ihren Herzen nicht die einfachen, ursprünglichen Gefühle des Menschen für den Menschen? Ist denn dieses Gefühl gänzlich ausgestorben, und ist an seine Stelle der Ehrgeiz und der Eigennutz getreten, von denen sich diese Leute in ihren Parlamenten, Meetings und Vereinen leiten lassen? Widerspricht denn die Verbreitung des Prinzips eines vernünftigen und egoistischen Zusammenwirkens von Menschen, das man Zivilisation nennt, dem Bedürfnis eines instinktiven und selbstlosen Zusammenwirkens? Ist dies wirklich jene Gleichheit, für die so viel unschuldiges Blut vergossen wurde, für die so viele Verbrechen begangen wurden? Können sich denn die Völker wie die kleinen Kinder am bloßen Klang des Wortes "Gleichheit" berauschen? (Lew Tolstoj: Sämtliche Erzählungen, Bd 2., S. 114)


Kopf und Bauch

Das Zentrum des menschlichen Lebens ist, wie Ihnen jeder gute Physiologe bestätigen wird, der Bauch. Er ist der Sitz unserer Triebe, Bedürfnisse, physiologischen Impulse. Der Kopf mit dem Gehirn und das Gehirn mit dem Denken soll dem Bauch bei der Befriedigung dieser Triebe und Bedürfnisse eigentlich nur helfen. Er soll dem Bauch beistehen, seine primären biologischen Funktionen aufrechtzuerhalten. Alle anderen Zwecke, wie das Wesen der Wahrheit, das Gesetz der Geschichte, die Natur der Wirklichkeit oder der Sinn der Welt sind dem Kopf von Natur aus fremd. Dazu wurde er nicht gemacht. So daß es nicht überrascht, daß, wenn der Mensch sich von seinem naturgegebenem Zentrum, dem Bauch, entfernt und sich auf den Kopf versteift, er dafür zahlen muß. Aus dem Bauch heraus ist Zufriedenheit möglich, aus dem Kopf heraus bloß Qual. (Gert Hofmann: Die Fistelstimme, S. 88)


Todesgewißheit und Langeweile

Wie wir armen Menschen uns bemühen, etwas zu schaffen, was uns als wichtige, bleibenswerte Künstler ausweist. Wie wir einander grausam bekämpfen beim Ringen um diesen scheinbaren Weg zu den Sternen, der, wenn alles gut läuft, uns flüchtigen Ruhm und Wohlstand beschert, einigen Mitmenschen Freude bereitet und, im günstigen Fall, ein Jota höherer Einsicht in die Niedrigkeit unsres Daseins. Und doch sind wir eben, was wir sind, geboren mit Fehlern außerhalb unsrer Verantwortung, wir haben, im Unterschied zu den Tieren, die bösartigsten aller Tyrannen zu überwinden - Todesgewißheit und Langeweile. (Helmut Krausser: Die kleinen Gärten des Maestro Puccini, S. 29)


Das Verwinden von Seelenschmerz

"Seine Laune kommt mir doch ein bißchen gekünstelt vor." "Finden Sie? Ich hab ihn in der letzten Zeit immer auffallend gut gestimmt gefunden." "Wirklich gut gestimmt? Glauben Sie das ernstlich? Nach dem, was er erlebt hat?" "Warum nicht? Menschen, die sich so viel, fast ausschließlich mit sich selbst beschäftigen wie er, verwinden ja seelische Schmerzen überraschend schnell. Auf solche Naturen, und wohl nicht nur auf solchen, lastet das geringfügigste physische Unbehagen viel drückender, als jede Art von Herzenspein, selbst Untreue und Tod geliebter Personen. Es rührt wohl daher, daß jeder Seelenschmerz irgendwie unserer Eitelkeit schmeichelt, was man von einem Typhus oder einem Magenkatarrh nicht behaupten nicht behaupten kann. Und beim Künstler kommt vielleicht dazu, daß aus einem Magenkatarrh absolut nichts zu holen ist... wenigstens vor kurzem stand das noch ziemlich fest... aus Seelenschmerzen hingegen alles, was man nur will, vom lyrischen Gedichte bis zu philosophischen Werken." (Arthur Schnitzler: Der Weg ins Freie)


Der letzte Depp

Die Blödheit nahm zu. Ich spürte es an jedem Ort, in jedem Augenblick. Die Feinde wurden blöder, aber nicht harmloser. Schlimmer, daß auch die Freunde nicht nur weniger wurden, sondern blöder. Am schlimmsten aber - und auf blöde Art auch beruhigend -, daß ich spürte, wie ich selbst blöder wurde, also zumindest noch immer Zeitgenosse war und zu meinesgleichen paßte. Die Verblödung war wie ein großes Loch, in das sich alles drängte. Niemand wollte am Ende mit seinem bißchen Grips als letzte Depp übrigbleiben. (Steffen Mensching: Lustigs Flucht, S. 77f.)


Wissen und Realität

Unser Verständnis der Eigenart des Wissens bei einem Menschen, der in der Weise des Seins lebt, können wir vertiefen, wenn wir uns vergegenwärtigen, was Denker wie Buddha, die Propheten, Jesus, Meister Eckhart, Sigmund Freud und Karl Marx vertreten haben. Wissen beginnt in ihren Augen mit der Erkenntnis der Täuschungen durch die Wahrnehmungen unseres sogenannten gesunden Menschenverstandes; nicht nur in dem Sinn, daß unser Bild der physischen Realität nicht der "tatsächlichen Wirklichkeit" entspricht, sondern insbesondere in dem Sinn, daß die meisten Menschen halb wachen und halb träumen und nicht gewahr sind, daß das meiste dessen, was sie für wahr und selbstverständlich halten, Illusionen sind, die durch den suggestiven Einfluß des gesellschaftlichen Umfelds hervorgerufen werden, in dem sie leben. Wissen beginnt demnach mit der Zerstörung von Täuschungen, mit der "Ent- täuschung". Wissen bedeutet, durch die Oberfläche zu den Wurzeln und damit zu den Ursachen vordringen, die Realität in ihrer Nacktheit "sehen". Wissen bedeutete nicht, im Besitz von Wahrheit zu sein, sondern edurch die Oberfläche zu fringen und kritisch und tätig nach immer größerer Annäherung an die Wahrheit zu streben. (Erich Fromm: Haben oder Sein, S. 48)


Das Konstruktionsideal der Moderne

Die Gerade als kürzeste Verbindung ist zum Konstruktionsideal der Moderne geworden. Als wenig zweckmäßig ist sie in der Natur jedoch kaum anzutreffen. Von einem Dialog zwischen Kultur und Natur ist somit in der heutigen Straßenarchitektur nichts zu sehen. Insofern jedoch Kultur identisch ist mit dem Umweg, mit Verzögerung und Muße, ist Zeitgewinn, Beschleunigung und Direktheit identisch mit Barbarei. Auch die Start- und Landepisten von Flugzeugen, die Gärten von Versailles oder begradigte Flußläufe und kanalisierte Bachbette sind somit weniger Symbole von Zivilisation als vielmehr Menetekel einer Kultur der Direktheit und Zeugnisse zivilisatorischer Rücksichtslosigkeit (Michael Baeriswyl: Chillout. Wege in eine neue Zeitkultur, S. 25)


Macht und Mobilität

Seit Menschengedenken gehören Macht und Mobilität untrennbar zusammen. Mächtig ist, wer die spezifische Mobilität einer Epoche organisiert - das gilt für die Beherrschung der körperlichen Kraft eines Pferdes ebenso wie für die Herrschaft über die immaterielle Macht des Internets. Macht hat, wer Menschen, Tiere, Geräte, Waren, Waffen, Truppen oder Informationen unter Mißachtung aller Hemmnisse, die ihm die Natur entgegenstellt, dahin bewegen kann, wo er sie benötigt. Und ohnmächtig ist, wer von den Mächtigen oder drückender Not gezwungen wird, mobil zu sein. (Michael Baeriswyl: Chillout. Wege in eine neue Zeitkultur, S. 21)


Das Experiment des Vergnügens

Wir führen gegenwärtig das größte je unternommene gesellschaftliche Experiment zur Beantwortung der Frage durch, ob Vergnügen (als passiver Affekt im Gegensatz zu den aktiven Affekten Wohl-Sein und Freude) eine befriedigende Lösung des menschlichen Existenzproblems sein kann. Zum erstenmal in der Geschichte ist die Befriedigung des Luststrebens nicht bloß das Privileg einer Minorität, sondern mindestens für die Hälfte der Bevölkerung der Industrieländer möglich. Das Experiment hat die Frage bereits mit nein beantwortet. (Erich Fromm: Haben oder Sein, S. 17)


Die Gnade selektiv anwenden

Einst konnte man bequem nach der Bibel leben und glauben, daß wir zu unserem Wohle auf Land und See von seelenlosem Getier umgeben waren. Jetzt stellt sich heraus, daß selbst Fische Schmerz empfinden. Der sich weitende Kreis für moralisches Mitgefühl ist nun mal die Crux des modernen Lebens. Nichts allein fern von uns lebende Menschen sind unsere Schwestern und Brüder, sondern auch die Füchse, die Labormäuse und jetzt sogar die Fische. Perowne angelt und verspeist sie allerdings auch weiterhin. Und selbst wenn er niemals einen lebendigen Hummer in kochendes Wasser werfen würde, hat er nichts dagegen, sich im Restaurant welchen zu bestellen. Der Trick, der Schlüssel zu Erfolg und Dominanz des Menschen, besteht wie eh und je darin, die Gnade selektiv anzuwenden. Denn trotz allem kritischen Gerede ist es das Nahe, das Sichtbare, das die stärkste Kraft ausübt. Und das, was man nicht sehen kann... (Ian McEwan: Saturday, S. 176)


Dörflicher Dialekt

Damals fuhr ich wöchentlich mit dem Bus in die Stadt und fürchtete, von den Städtern als Dörfler erkannt zu werden. Mit einem einzigen Satz konnte ich mich verraten, mit einer schlichten Frage mein Kauderwelsch von Dialekt offenbaren, mit einer kurzen Bemerkung hörbar machen, daß ich zu jenen Ungelenken zähle, die im ländlichen Abseits zu Recht vergessen werden. Das Hochdeutsche war für unsereins eine Fremdsprache, deren Idiom wir in der Schule mühsam erlernen mußten, deren gleitende Rhythmen und Melodien, deren Genauigkeit und Schärfe das kehlige Gestotter auch dann verfehlte, wenn es sich angestrengt um eine klare Aussprache bemühte. Der städtische Tonfall schüchtert den Dörfler ein, und er fürchtet, in dieser Sprache mit Sätzen konfrontiert zu werden, die er selten auf Anhieb und vielleicht niemals versteht. Der bäuerische Zungenschlag klingt herb und derb und so schwerfällig, als sei er das lautmalerische Spiegelbild der schwieligen Pranken und feisten, aufgedunsenen Gesichter. Für helle und schnelle Gedanken eignet sich der träge ländliche Singsang nicht. Die Selbstlaute vergraben sich tief im Rachen, die Sätze verschwimmen zu Brei, und ein weicher Klang will sich selten ergeben. (Karl-Heinz Ott: Ins Offene, S. 38)


Eine kurze Explosion von Intelligenz

Las man alte Bücher über die Evolution von Ernst Haeckel und Thomas Huxley, konnte es mitunter scheinen, als glaubten die Verfasser, daß all das auf dem Weg zu einer Art von 'Höhepunkt' war. Aber war es wirklich so? Hatte die Evolution nicht schon vor ziemlich langer Zeit ihren Höhepunkt erreicht? Vielleicht im Kambrium? Als es unzählige Arten, ja, ganze Gattungen gab, die inzwischen verschwunden waren? Wenn es so war, daß es keinen Höhpunkt gab, dann bestand Grund zu der Annahme, daß die Biologie, die Entwicklung, dieses ganze blinde Hin- und Herpeitschen, dieses Wiegen und Flüstern, im selben Stil auch nach dem Menschen weitergehen würde. Gab es eigentlich einen Grund zu glauben, daß diese hochmütige Art etwas anderes war als eine Episode, eine kurze Explosion von Intelligenz im großen Dunkel der Natur? Eine Lichtung in einem sehr dunklen und sehr dichten Wald? (Lars Gustafsson: Frau Sorgedahls schöne weiße Arme, S. 195)


Die Langeweile des Lebens

Ein Leben, das anfängt, lang zu werden, hat mich gelehrt, daß das meiste, was passiert, sogar das Unangenehme, trivial ist. Langweilige Menschen erleiden langweilige Knochenbrüche, langweilige Charaktere leben langweilige Leben. Dieses seltsame Bedürfnis, sich "zu engagieren", sich auf die eine oder andere Weise hevorzutun, sei es als Ministerpräsident oder als Kassierer in der Wohnungsbaugenossenschaft, hat, davon bin ich überzeugt, damit zu tun, daß das Leben grundsätzlich langweilig ist. Ich selbst bin ein glücklicher Mensch. Ich habe diese Sache mit der Langeweile durchschaut, und wenn man sie durchschaut, kann sie einem nichts mehr anhaben. Ich bin ein glücklicher Mensch. Ja. Denn ich habe verstanden, daß die Seele sich, genau wie die Urinblase, immer so weit füllt, wie sie kann. Die Seele ist immer ausgelastet. Der große Finanzmann in seinem prachtvollen Büro, an zwei Telefonen gleichzeitig hängend und dabei die Börsenberichte auf einem Monitor verfolgend, und der Strafgefangene in seiner Zelle, der seit Wochen das Projekt verfolgt, eine fette Hausfliege dazu zu bringen, zu kommen, wenn er pfeift, sind im Grunde genommen gleichermaßen von dem erfüllt, was sie tun. Nicht mehr und nicht weniger. Es gibt keine leeren Käselöcher im Bewußtsein. Und deshalb ist die Langeweile des Lebens keine Eigenschaft des Lebens. Sie ist etwas, was wir mit ihm machen. (Lars Gustafsson: Frau Sorgedahls schöne weiße Arme, S. 65)


Nero und Caligula

"Lies die Kapitel über Nero und Caligula", schlug Victor vor. "Ich bin überzeugt, das sind Davids Favoriten. Der eine zeigt, was geschieht, wenn man mittelmäßiges künstlerisches Talent mit absoluter Macht kombiniert. Der andere führt vor, wie nahezu unvermeidlich es für diejenigen ist, die in Schrecken gehalten wurden, selbst Schrecken zu verbreiten, sobald sie die Gelegenheit haben." "Aber ist das nicht der Schlüssel zu eurer erstklassigen Bildung? Man verbringt seine Jugend damit, vom Erschreckten zum Erschrecker befördert zu werden, ohne daß einen irgendwelche Frauen dabei ablenken." Victor beschloß, diese neuerliche Demonstration von Annes recht anstrengender Haltung gegenüber dem englischen Privatschulsystem zu ignorieren. "Das Interessante an Caligula", fuhr er geduldig fort, "ist die Tatsache, daß er ein vorbildlicher Kaiser sein wollte und in den ersten Monaten seiner Herrschaft wegen seiner Großmut gepriesen wurde. Doch der Zwang, selbst zu wiederholen, was man erlitten hat, ist stark wie die Schwerkraft, und man braucht eine besondere Ausrüstung, um ihm zu entrinnen." Es amüsierte Anne, so eine überaus psychologische Verallgemeinerung aus Victors Mund zu hören. Vielleicht wurden Menschen für ihn lebendig, wenn sie nur lange genug tot waren. (Edward St. Aubyn: Schöne Verhältnisse, S. 129)


Das Schicksal kommandieren

Die höchste Raison des kleinen Menschen ist es, mit seiner zappelnden Kampflust stündlich das Schicksal kommandieren zu wollen, heute das Übermorgen vorzubereiten, in der Frühe schon die Fallen und Schlingen zu legen, darein die Ziele des Abends gehen werden, und immer mit der dürstigen Unruhe des Nichts nur zu wünschen und zu wünschen. Das große Naturell ist durch seltsame Willenlosigkeit ausgezeichnet, oder durch die tragische Art des irrenden Willens. (Franz Werfel: Die tanzenden Derwische. Erzählungen, S. 17)


Wo gehört man hin?

Die Ehe ist der reinste Betrug, nur leider von so zwingender Machart, daß du sie ein Leben lang akzeptieren wirst. Herrschaftssysteme kommen und gehen, Epochen ändern sich - aber immer wird es Frauen geben, die ihren Weg gehen, und Männer, die ihnen lechzend hinterherlaufen. Ist die Jugend ein Fluch, dann ist das Alter ein ganzes Bündel von Flüchen. Wo findet das Herz Ruhe, wo? Das größte Elend wird sich erst zeigen, wenn man sich eines Tages bestürzt fragt, wo man eigentlich hingehört hat. (Nagib Machfus: Zuckergäßchen)


Verfall der Rohstoffe

Doch wie man eine Kultur an der Entwicklung ihrer Arbeit, Sicherheit oder Hygiene erkennen kann, so ist auch der Verfall der Rohstoffe verräterisch: Trinkschokolade wird aus Aroma- Pulver, Wasser und Kondensmilch gewonnen, Sahne stammt aus der Sprühdose und wirkt wie ein Abfallprodukt der Tapetenindustrie, das Brot wäre auch zum Verfugen von Badezimmerkacheln gut geeignet, und nach dem Siegeszug der Apfelschorle kann man eigentlich alles zusammenschütten, Aromata, Milchmischgetränke, Parteiprogramme, Crossover eben. (Roger Willemsen: Deutschlandreise, S. 192)


Stadt und Dorf

Der Städter verliert die narrative Logik seines Lebens, der auf dem Dorf Gebliebene bleibt in der Erzählung. Er sieht Alte verunglücken. Familien trauern. Die Halbstarken werden zu Vätern und die kleinen Kinder gehen heute Hand in Hand mit Freunden zwischen den erneuerten Fassaden. Der eine hat eine Green Card bekommen, der andere Multiple Sklerose. Im Dorf sind alle Nahestehende. (Roger Willemsen: Deutschlandreise, S. 140)


Macht

Wenn Michel Foucault Recht hat, ist Macht aufgeschobene Gewalt. Und wirklich: Wo immer sich ein wenig Macht angesammelt hat, stehen schon ein paar Stufen bereit. Der Kunde, der Konsument, der Angestellte und der Dienstleister, sie alle gefangen in diesem Netz von möglichen Übertretungen. In einem Dschungel der Regeln wird ihnen das richtige Leben so schwer gemacht, daß sie eigentlich immer unmittelbar vor ihrer Ergreifung stehen. (Roger Willemsen: Deutschlandreise, S. 117)


Bordell als Mythos

Unter den Mythen unserer mythenlosen Kultur ist das Bordell der rätselhafteste, aber nicht nur, weil sich diese Institution in allen Kulturen von Anbeginn an durchgesetzt und weniger verändert hat als die Kirche, der Schlachthof oder die Schule. Dem Bordell hat die Veröffentlichung, die Vervielfältigung der Bilder, die Durchleuchtung seiner Innenräume, seine Verkitschung in Film- und Literaturstoffen nichts anhaben können. Es ist der Inbegriff des Heimlichen geblieben, und was immer Männer von Frauen wirklich wollen und was Frauen bereit sind, Männern anzutun, hier hat es sein Versteck. (Roger Willemsen: Deutschlandreise, S. 95)


Das Wachkoma teilen

Wie viel ist ein Inch? Wie viele elende Hypotheken nimmt man auf im Wunsch, gegenwärtig zu sein, liest die falschen Bücher, sieht belanglose Filme, hört uninteressante Musik, bewegt sich an stimmungslose Orte und obwohl das alles sich substanzlos anfühlt, baut es sich, zusammengenommen, zu einem einzigen stimulierenden Gefühl von Gegenwart zusammen. Wo immer ein "Ereignis" angekündigt wird, selbst wo sich 15 Millionen Menschen eine sterbenslangweilige "Wetten, daß"- Sendung ansehen, verzichten sie auf Erfahrung mit der Wirklichkeit aus Hunger nach Gemeinschaft. Und am nächsten Tag ist da keine Gemeinschaft: Nichts wurde gehört, nichts gesagt, nichts ist geschehen. Nicht in das Gemeinschaftsleben ist man eingetreten, sondern man hat das Wachkoma geteilt. Eine Nation, die nicht da war, sediert, abgemeldet, in Trance zwischen Kühlschrank und Couchtisch, und so treten sie am nächsten Morgen in die Welt, zurück in die Religion ihrer Arbeit, in die Sinnstiftung durch Warenverkehr, in die Reklame... und dann spricht jemand von Träumen und von Liebe. Dabei wäre man mit ein paar Inches mehr schon ein Stück weiter. (Roger Willemsen: Deutschlandreise, S. 84)


Der Fortschritt ist blind

In der Zeitung die Anzeige für eine Taschenlampe, die "80 Prozent heller" leuchtet. Gemacht für Leute, die ihre Taschenlampe immer schon dunkel fanden und gerne in die Welt hinein fragen: Ist Ihnen Ihre Taschenlampe nicht zu dunkel? Die Frage weckt das Bedürfnis, und sie meint noch mehr: Macht Ihnen Ihr Leben noch Freude, wenn Sie es mit solchen Taschenlampen beleuchten müssen? So fragt der Westen und fragt. Am Ende steht immer ein "Besser- Schlechter-Verhältnis" und mit ihm ein Verlangen, und ein Expertentum entsteht, ohne Rücksicht auf Funktion und Bedürfnis. Der Fortschritt ist blind, das sieht man doch schon an dieser Lampe, und nichts läßt er zurück als bemitleidenswerte, unterentwickelte Lebensformen. Wer will da noch ernsthaft glauben, "Zukunft" und "Fortschritt" hätten irgendetwas gemein? (Roger Willemsen: Deutschlandreise, S. 61)


Zwei Sorten von Dummheit

Wie sie plärren in Chören, die Bürger, von der Schönheit des Lebens, ein Geschenk von Gott, ein Männermärchen, das sie bis heute in den Schulen in Kinderhirne schütten, um die Schafe auf den Weiden zählen zu können. Sie kriechen durch ihr Dasein, klammern sich an Moral und Gesetze, an Pianokonzerte und die Philosophen, die auch nichts zu erklären vermochten, wie auch, mit einem Menschenhirn. Sie rennen Marathon und schreien: "Ich habe den Krebs besiegt", um dann am Herzschlag zu verrecken. Es gibt zwei Sorten von Dummheit: die derjenigen, die das Schild "Betreten verboten" befolgen, und die der anderen, die es extra nicht tun. Ich gehöre zu den Letzteren, auch albern in ihrem Trotz, die Freaks, die Rocker, die Kiffer, aber die kenne ich, verstehe ich, die anderen werden mir immer ein Rätsel bleiben. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 108)


Mitleid

Ich bin die einzige Person, die die Energie aufbringen wollte, mich zu bemitleiden, wäre da Energie vorhanden. Mitgefühl bringt man für die engsten Angehörigen auf. Für das Kind, die Eltern. Meist findet schon zwischen Partnern kein wirkliches Mitleid mehr statt, und den Bewohnern des eigenen Dorfes oder Landes bringt man nur noch Sätze der wohlerzogenen Anteilnahme entgegen, die eigentlich meinen: Gut, daß es mich nicht getroffen hat. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 85)


Der Mensch, ein Witz

Gibt es einen größeren Witz als den Menschen? Emotionale Krüppel in abstoßenden Hüllen, der Welt, dem Rudel, dem Wetter, den Gewalten hilflos ausgeliefert, torkeln wir durch ein Dasein, das an Lächerlichkeit nicht zu überbieten ist. All unsere ernsthaften Versuche, die Welt zu verstehen, charakterlich integre Personen zu werden, Besitz anzuhäufen, die Umwelt zu retten, Doktortitel zu erwerben, enden mit verschissenen Winden im Altersheim. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 63)


Schlechte Meinung von eigener Rasse

Daß ich irgendwann eine so schlechte Meinung von der eigenen Rasse haben würde, überraschte mich, ich war davon ausgegangen, daß man gütiger würde, im Alter. Als junger Mensch hatte ich mich noch über Tierschützer erregt, verstand nicht, warum man seine Energie nicht dazu verwendete, Menschen zu retten, heute wußte ich es besser. Es gab wohl nur wenige Tiere, die so von der Brillanz ihrer Meinung überzeugt waren wie der Mensch und die mit solcher Vehemenz ihre Dummheit verteidigten. Die Menschen hatten ihre niedlichen Momente, doch das täuschte nicht darüber hinweg, daß die meisten von überwältigender Einfalt und Niedertracht waren. An mir konnte ich beobachten, wie überaus schnell der Wunsch entstehen konnte, andere mit Einkaufswagen zu rammen. Nach Momenten, in denen mir klar war, daß andere denselben Impuls bekamen, wenn sie meine Fesseln sahen: Wir mochten uns nicht besonders. Jeder fühlte sich dem anderen überlegen, und daraus bildete sich ein Dauerton der Aggression, der den Menschen wie ein Tinnitus im Ohr klang. Permanent. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 31)


Mißtrauen gegen die Liebe

Natürlich mochte ich die, die nicht ich waren, nur selten. Machten sie mir doch allein durch ihre Anwesenheit klar, daß ich nicht einzigartig war. Daß ich älter werden würde, schlaff, verrottet, vergessen. Bei jedem, der behauptete, Menschen zu lieben, vermutete ich einen Geistesdefekt, und der machte mir Angst. Wie ihre Stimmen tiefer wurden, wenn sie sagten: "Ich liebe meine Freunde und meine Familie und täte alles für sie." Ihre überwältigende Liebe sehen wir täglich, sie liegt am Boden, mit einer Axt im Schädel, sie zerren sich gegenseitig vor Gericht, bestehlen sich, es genügt ein falscher Satz der Freunde, die einem so nahe sind, und man merkt, man hat mit keinem etwas gemein. Ich mißtraute der Liebe zutiefst. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 15)


Wenn zwei sich streiten

Mischte ich mich in diesen Streit ein, und sei es auch nur, indem ich klingelte und scheinbar arglos "Der Bäcker ist da" rief, dann bestand die Gefahr, daß sich die beiden Kampfhähne auf mich stürzten. Meine Erfahrung hatte mich damals schon gelehrt, daß zwei streitende Parteien ihre Meinungsverschiedenheiten sofort vergessen, wenn ein Friedensstifter auftaucht. Dieser wird dann von den sich verbündenden Kampfhähnen in Stücke gerissen. (Maarten 'tHart: Der Flieger)


Ein effizienter Teil

Frauen sind bessere Menschen, aber auch das ist nur eine Lüge. Sie werden unterdrückt, vergewaltigt und geschlagen, überall in der Welt geschieht Unrecht gegen Frauen, aber wenn sie selber mächtig sind, verwandeln sie sich in allerkürzester Frist zu schlechten Kopien der Männer. Macht macht männlich, und das ist ein schlechtes Vorbild für unsere Kinder. Wir setzen die Kinder unserer Willkür aus, quälen sie im Namen einer globalisierten Leistungsgesellschaft durch die Schule und zwingen sie, Dinge zu lernen, die sie im Leben nicht benötigen, um gute Menschen zu werden. Es ist nämlich überhaupt nicht wichtig, ein guter Mensch zu werden. Es wird lediglich verlangt, ein effizienter Teil der Gesellschaft zu sein. Wir verlieren das kreative Potential unserer Kinder, weil wir sie glauben machen, daß wir wüßten, worauf es im Leben ankommt. Dabei haben wir das Leben längst verlernt und funktionieren allenfalls. Kreativität wird nur noch gefragt, wenn es um die Erfindung von Strafen und unmoralischen Vorteilen geht. Für die Schönheiten der Kunst und der Musik und der Philosophie haben die Kinder keine Zeit mehr, weil sie mit ihrer Normung beschäftigt sind. (Jan Weiler: Drachensaat, S. 98)


Tango tanzen

Ungefähr in der Zeit des Balkankrieges kam der Tango in Mode, so als könnte er die düsteren Gedanken vertreiben, die das Morden im fernen Serbien verursachte. Leisem Geflüster und hochgezogenen Augenbrauen entnahm ich, daß der Tango für anständige Leute ein gewagter Tanz war. Der alte Papst Pius X. war ob des ungeheuren Erfolgs so besorgt, daß er einen anderen Tanz zu lancieren versuchte, die sittsame venezianische 'Furlana', die man drei oder vier Schritte von seinem Partner entfernt tanzte, ein 'fazzoletto' in der Hand. Die Pariser grinsten, ihr Vertrauen in den Tango war unerschütterlich. (Julien Green: Erinnerungen an glückliche Tage, S. 102)


Geborene Herumtreiber

Es gibt bekanntlich Menschen, die bereits als Herumtreiber auf die Welt kommen. Kaum können sie auf eigenen Beinen stehen, werden sie vom Nomadenfieber gepackt und wandern aus. Dabei laufen die einen ständig vor etwas weg, während die anderen ewig auf der Suche sind. Zu welcher Sorte der ebenfalls aus dem Allgäu stammende Schriftsteller Sebald gehört hat, konnte der alte Herr nie richtig herausfinden. Fest stand nur: Er hat es nicht daheim ausgehalten. Vielleicht, weil sein Nest so öde war, daß sogar die Spatzen vor Langeweile rückwärts flogen? (Gerhard Köpf: Ein alter Herr, S. 91)


Torheiten des Geistes

Frau-von-Bath-Effekt. Dieser subtile und zugleich gewichtige menschliche Wesenszug liegt vielen Diskussionen über Erkenntnistabus zugrunde. In ihm verbinden sich mehrere unangenehme und dennoch vertraute Facetten unserer Grundwesensart. Wir sind mit unserem Schicksal unzufrieden, egal wie es aussehen mag, eben weil es unser Schicksal ist. Wir begehren, was uns nicht zu eigen ist, weil es das andere verkörpert. Diese Mischung verkehrter Impulse, die ich in Anlehnung an Montaigne als "Torheiten des Geistes" bezeichne, habe ich als grundlegendes Motiv in den Werken Prousts und vieler anderer Autoren nachgewiesen. (Roger Shattuck: Tabu. Eine Kulturgeschichte des verbotenen Wissens)


Unsere Segnungen

Nachrichten von Kriegen, Katastrophen und Verbrechen erschütterten die Menschen zu allen Zeiten. Wir haben diese uralten Geißeln längst nicht besiegt und leiden längst unter ganz neuen. Am Ausgang des zwanzigsten Jahrhunderts erwarten wir oft Wunder und erhoffen einen Segen, der sich nicht selten als Fluch erweist, allerdings nicht etwa aufgrund von Rückständigkeit und Unwissenheit, sondern gerade aufgrund des Fortschritts der Erkenntnis und deren Anwendung. Nicht nur die barbarischsten, sondern auch die zivilisiertesten Nationen setzen immense Ressourcen ein, um atomare und biologische Waffen von unvorstellbarer Zerstörungskraft zu entwickeln. Die Genforschung eröffnet uns die vage Aussicht, dereinst die körperlichen und geistigen Gaben unserer Kinder wie Tapetenmuster auszusuchen. Die penetrante Allgegenwart audiovisueller Medien in unserem Lebensalltag von frühester Kindheit an droht den menschlichen Charakter und das Verhalten indes ebenso massiv zu formen wie die Genmanipulation. Bei unserer Jagd nach Energiequellen verringern wir möglicherweise die Lebensspanne unseres Planeten. Die Redefreiheit und die Autonomie der Forschung, Wissenschaft und Kunst tragen gemeinsam dazu bei, so argumentiere ich im zweiten Teil des Buches, daß der Menschheit die Fähigkeit entrissen wird, ihr eigenes Schicksal selbst zu lenken. Unsere größten Segnungen werden uns vernichten. (Roger Shattuck: Tabu. Eine Kulturgeschichte des verbotenen Wissens, S 16)


Der Kobold des Verkehrten

Zu dieser seltsamen und zugleich verbreiteten Unzufriedenheit mit uns selbst, auch wenn wir glücklich sein könnten, gesellt sich als weitere Komplikation ein Verbot, welches das Ganze nur noch schlimmer macht. (...) Der Kobold des Verkehrten, der ins unseren ruhelosen Köpfen spukt, führt bisweilen zu Selbstverletzung und Selbstzerstörung. (Roger Shattuck: Tabu. Eine Kulturgeschichte des verbotenen Wissens, S. 94)


Mangelnder Überlebenswille?

Um einen innersten Verdacht auszusprechen: Vielleicht liegt den Menschen, die heute da sind, nicht wirklich - oder nicht genug - daran, als Gattung zu überleben; vielleicht genügt ihnen die Aussicht auf ein relativ ungestörtes Dasein für ihre eigene Lebensdauer? Und sind nicht relativ ungestört die meisten, wenn die Morde an Völkern nur über tausend Kilometer von den Grenzen ihres eignenen Landes entfernt stattfinden. Läßt sich die Ungestörtheitsgrenze nicht vielleicht noch näher heranschieben? (Christa Wolf: Die Dimension des Autors, S. 500)


Die großen Fragen stellen

Frage: Sie kennen den Drang unseres Zeitalters nach Wissenschaft, nach Dokumentation. Antwort: Ich kenne und schätze und teile ihn. Aber unser wissenschaftliches Zeitalter wird nicht sein, was es sein könnte und sein muß - bei Strafe einer unerhörten Katastrophe -, wenn nicht die Kunst sich dazu aufschwingt, dem Zeitgenossen, an den sie sich wendet, große Fragen zu stellen, nicht lockerzulassen in ihren Forderungen an ihn. Ihn zu ermutigen, er selbst zu werden - das heißt, sich dauernd, sein ganzes Leben lang, durch schöpferische Arbeit zu verwandeln. (Christa Wolf: Die Dimension des Autors, S. 34)


Etwas Notwendiges hinzufügen

Ich glaube nicht, daß sich die Menschheit die große Anstrengung, die wir Kunst nennen, über Jahrtausende hin auferlegt hätte, daß sie in Zeiten größter materieller Not die Kräfte dafür freigegeben hätte, wenn nicht die Kunst dem Leben etwas Notwendiges und Neues hinzufügen würde. Nicht unbedingt Materielles, obwohl ich mich frage, ob nicht Anna Karenina sich so gut wie materialisiert hat... (Christa Wolf: Die Dimension des Autors, S. 34)


Christa Wolf: Bestandsaufnahme

Beginne ich in mir abzutöten: das makellose, unschuldig leidende Schneewittchen und die böse Stiefmutter, die am Ende in den glühenden Pantoffeln tanzt, so vernichte ich ein Ur-Muster, die lebenswichtige Grundüberzeugung vom unvermeidlichen Sieg des Guten über das Böse. Ich kenne auch keine Sagen, habe mir nie gewünscht, an der Seite des hürnenen Siegfried dem Drachen gegenüberzutreten; niemals bin ich vor einem Rauschen im finsternen Wald erschrocken: Rübezahl! Die Tierfabeln habe ich nie gelesen, ich verstehe nicht, was das heißen soll: "listig wie ein Fuchs", mutig wie ein Löwe". Eulenspiegel kenne ich nicht, habe nicht gelacht über die Listen der Schwachen, mit denen sie die Mächtigen besiegen. Die Sieben Schwaben, die Schildbürger, Don Quijote, Gulliver, die Schöne Magelone - hinweg mit ihnen. Weg mit dem ohnmächtig donnernden Zeus und der Weltesche Yggdrasil, weg mit Adam und Eva und dem Paradies. Nie ist eine Stadt mit Namen Troia um einer Frau willen bestürmt und eingenommen worden. Nie hat ein Doktor Faustus mit dem Teufel um seine Seele gerungen. Arm, ausgeplündert, entblößt und ungeweint geblieben; der Hexe im Märchenbuch wurden nicht die Augen ausgekratzt; die jubelnde Erleichterung über die Rettung eines Helden habe ich nicht kennengelernt; nie bin ich zu den phantastischen Träumen angeregt worden, die ich mir im Dunklen erzähle. Ich weiß nicht, daß Völker verschieden sind und doch einander ähnlich. Meine Moral ist nicht entwickelt, ich leide an geistiger Auszehrung, meine Phantasie ist verkümmert. Vergleichen, urteilen fällt mir schwer. Schön und häßlich, gut und böse sind schwankende, unsichere Begriffe. Es steht schlecht um mich. Wie soll ich ahnen, daß die Welt, in der ich lebe, dicht, bunt, üppig, von den merkwürdigsten Figuren bevölkert ist? Daß sie voller Abenteuer steckt, die ausgerechnet auf mich gewartet haben? Kurz: der Gang zu den Müttern hat nicht stattgefunden, aus den Quellen ist nicht getrunken worden, das Maß für Menschen und Dinge wurde nicht gesetzt. Die verpaßten Erschütterungen sind nicht nachholbar. Eine Welt, die nicht zur rechten Zeit verzaubert und dunkel war, wird, wenn das Wissen wächst, nicht klar, sondern dürr. Fad und unfruchtbar sind die Wunder, die man seziert, ehe man an sie glauben durfte. Unersetzbar vor allem die Erfahrung, daß die Fülle des Lebens nicht ausgeschöpft ist durch die wenigen Handlungen, die wir zufällig tun dürfen. Unsagbar verödet ist eine menschliche Existenz, die sich selbst, vergleichend, nicht als Gleichnis nehmen, sich keinen Ort finden kann in dem beispiellosen Zug der Menschheit aus dem Dickicht in die ersehnte Ordnung - nennen wir sie, mit einem altväterlichen Wort, "Gesittung". (Christa Wolf: Die Dimension des Autors, S. 474)


Kein Mephisto mehr

Vielleicht braucht der Faust heutzutage keinen Mephisto mehr, er besorgt die Geschäfte des Mephisto so nebenbei mit... Seit Auschwitz, seit Hiroshima ist Mephisto irgendwie aus der Mode, oder? Es ist irgendwie unanständig, über ihn zu reden. Und wem verkaufen nun die verschiedenen Herren Faust ihre Seelen. Sie bieten sie auf der Börse an. (F.C. Delius: Die Frau, für die ich den Computer erfand, S. 186)


Distanz und Abwesenheit

Die Liebe bedarf, damit sie sich recht entfalten kann, einer wohldosierten Abwesenheit des Begehrten. Wie überhaupt an dieser Stelle zur Abwesenheit gesagt werden muß, daß sie es ist, die dafür sorgt, daß man einen gewissen Nimbus entfaltet. Je unnahbarer jemand sich aufgrund seiner repräsentativen Stellung geben darf, das gilt in der Liebe wie im Berufsleben, umso größere Aufmerksamkeit und Ehrerbietung wird ihm dargebracht. Es ist die Seltenheit des Anblicks, die jemanden erhebt. Mit ihm in Kontakt zu stehen erscheint als Gnadengeschenk. (Adam Soboczynski: Die schonende Abwehr verliebter Frauen, S. 172)


Höflichkeit und Triebhemmung

Ohne Höflichkeit, die unsere Leidenschaft dämpft, die den Alltag mit sanften Lügen umspannt, ohne Triebhemmung, ohne auferlegte Distanz wären wir so unverstellt gefährlich, wie es nur Tiere sind. Man muß schon staunen, wie sehr das zivile Zusammenleben vom beharrlichen Sich- Zusammenreißen der Menschen geprägt ist, ja überhaupt erst ermöglicht wird. (Adam Soboczynski: Die schonende Abwehr verliebter Frauen) ^


Mitleid

Ich weiß nicht genau, ob ich Mitleid mit den anderen oder Mitleid mit mir selbst habe. Es ist nicht möglich, Mitleid mit den anderen von Selbstmitleid klar zu trennen. Die beiden Mitleide (kann man das sagen?) sind unauflöslich ineinander verschlungen. Sicher ist nur: Man kann kein Mitleid mit den anderen haben, ohne sich gleichzeitig selbst zu bemitleiden. Warum aber wird das Mitleid so stark diskriminiert? Es ist nichts anderes als eine soziale Einfühlung, ohne die wir nicht leben können. (Wilhelm Genazino: Die Liebesblödigkeit, S. 119)


Stars und Sternchen

Freilich ergeben andererseits die durchschnittlichen Menschen die Basis und, philosophisch gesehen, die Bedingung der Möglichkeit für den einsam herausragenden und besonderen Menschen. Das Genie braucht hinter sich eine große einfältige Masse, der Star, zu deutsch Stern, braucht um sich eine dichte Finsternis, will das Starlet, das Sternchen, leuchten, muß es rundum zappenduster sein. (Alois Brandstetter: Kleine Menschenkunde, S. 52)


Nach uns die Sinflut

In den höchstentwickelten Ländern verhalten sich die Menschen ebenfalls so, als rechneten sie eigentlich nicht mehr mit gattungsmäßigen Nachfolgern. Walter Benjamin hat diesen Typus bereits in den zwanziger Jahren heraufkommen sehen, charakterisiert als "aus unbeträchtlichen Anfängen emporgekommene Agenten, die nicht wie die Finanzmagnaten auf Jahrzehnte für die Familie, sondern nur für sich selbst, und das kaum über Saisonabschlüsse hinaus, disponierten." Heute verbrauchen die hochentwickelten Länder Rohstoffe und natürliche Ressourcen in ungebremstem Tempo und unternehmen außer Kosmetik nichts Ernsthaftes gegen die irreversible Schädigung der Biosphäre, die sie dabei anrichten. Ihre Bewohner, soweit sie es sich leisten können, sorgen sich nur um die Schäden, die sie selbst erleiden könnten: Mit Hilfe von Jogging, Körperpflege, gesunder Ernährung und ähnlichen Maßnahmen bis zum Pensionsalter versuchen sie individuell so fit bleiben, daß sich danach auch die Pensionierung noch dezent und mit ungetrübtem Spaß an Kreuzfahrten rund um den Globus durchstehen läßt, und was irgendwann nach uns kommen mag, geht uns nichts mehr an. (Lothar Baier: Keine Zeit. 18 Versuche über die Beschleunigung, S. 175)


Beschleunigung

Die den Aufklärern nach dem Verblassen der christlichen Heilsgeschichte dämmernde Erkenntnis, daß die Menschen selbst es sind, die ihre Geschichte machen, hat sich zweihundert Jahre später zu der Einsicht verdünnt, daß das, was die Menschen bei fortschreitender Naturbeherrschung tatsächlich zustande brachten, nicht die wachsende Beherrschung ihrer Geschichte ist, sondern die irreparable Schädigung der Biosphäre. Die Beschleunigung, ursprünglich als Hilfe bei der Anstrengung gedacht, die Geschichte selbst in die Hand zu nehmen, ist der Aufklärung entglitten und hat sich am Ende mit Technik und Ökonomie zu einer nicht mehr steuerbaren Gewalt verbunden. In Mitleidenschaft gezogen wurde dadurch vor allem das große Befreiungsprojekt, in das die klassischen Aufklärer ihre Hoffnung setzten: das Mündigwerden der Menschen. Auch hier hatten die Aufklärer Zeiterfordernisse unterschätzt. Kants 'Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit' zog und zieht sich viel länger hin, als es Verhältnisse angemessen wäre, die sich beschleunigt verändern. Zurückgeblieben ist von der Aufforderung zum Mündigwerden nicht viel mehr als eine soziale Konvention, die untersagt, zu erkennen zu geben, daß man etwas nicht weiß, nicht informiert ist, zu etwas keine Meinung hat. Das gälte dann als nicht aufgeklärt. Man muß, will man sich nicht selbst disqualifizieren, alles Neue bereits mitbekommen haben, zu allem einen Kommentar auf Lager haben, eine Einschätzung, eine Erklärung, womöglich eine Theorie. Da diese Anforderung kaum jemals zu erfüllen sind, hat sich als guter Ton eine einzigartige Wissens- und Aufklärungsheuchelei eingenistet, die früheren Epochen unbekannt war. (Lothar Baier: Keine Zeit. 18 Versuche über die Beschleunigung, S. 25f.)


Erwartbare Hindernisse

Im Leben eines jeden Menschen ist die Chance extrem gering, daß immer nur etwas Gutes geschieht. Die Wahrscheinlichkeit, daß unsere Wünsche immer erfüllt werden, ist so winzig, daß man sie vergessen kann. Früher oder später muß sich jeder mit Ereignissen konfrontieren, die seinen Zielen entgegenstehen. (Mihaly Csikszentmihaly: Flow. Das Geheimnis des Glücks)


Ein wahrer Freund

Ein wahrer Freund ist jemand, bei dem man gelegentlich ausflippen kann, jemand, der nicht von uns erwartet, immer gut in Form zu sein; es ist jemand, der unser Ziel der Selbstverwirklichung teilt und daher bereit ist, auch Risiken zu teilen, die jede Zunahme an Komplexität einschließen kann. (Mihaly Csikszentmihaly: Flow. Das Geheimnis des Glücks)  ^


Kulturelle Hybris

Diese kulturelle Hybris, diese arrogante Annahme, daß wir bestimmte Rechte von einem Universum zugeteilt bekommen, das grundsätzlich menschlichen Bedürfnissen gleichgültig gegenübersteht, hat früher oder später ein böses Erwachen zur Folge. Wenn Menschen zu glauben beginnen, Fortschritt sei unvermeidlich und das Leben schön, verlieren sie angesichts der ersten Anzeichen von Not ihren ganzen Mut und ihre Entschlossenheit. Wenn sie merken, daß das, was sie geglaubt haben, nicht ganz stimmt, verlieren sie den Glauben an alles, was sie bisher gelernt haben. Ohne die gewohnte Unterstützung der kulturellen Werte zappeln sie in einem Morast der Angst und Apathie. (Mihaly Csikszentmihaly: Flow. Das Geheimnis des Glücks) ^


Liebe und Freude

Aber wie sieht es denn bei uns mit der Liebe und mit der Freude aus? Um ein paar Tage oder höchstens Wochen im Jahr ein bißchen Freude zu haben, bringt ihr dreiviertel eures Lebens im Staub und Schweiß einer freudlosen Arbeit zu, die nicht adelt, sondern niederdrückt. Und wenn ihr dessen müde seid und ein Hunger nach Licht und Freude euch ergreift, so haben die allermeisten von euch sie nicht in sich selber zu holen, sondern müssen sie kaufen - im Theater, im Tingeltangel, in der Kneipe. Und wie steht es mit der Liebe? Der Mann, der zehn bis zwölf Stunden für den Gelderwerb, zwei bis vier für Kneipe oder anderes Vergnügen opfert, hat für Frau und Kinder, Brüder und Schwestern nur Augenblicke übrig. Er nimmt sich vor, das solle anders werden, sobald er Geld genug hat und sich zur Ruhe setzen kann. Aber wie vielen gelingt das? Und denen es gelingt, die sind dann müde und verbraucht und geben das sauer Erworbene entweder für die Zerstreuung ihrer Langeweile oder für Arzt und Apotheker aus. Dementsprechend nimmt die durchschnittliche Lebensdauer ab, die Kindersterblichkeit zu, und wie die Namen des Elends alle heißen. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 13: Betrachtungen und Berichte. 1899-1926) ^


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