Natur des Menschen (2) [<<] [>>]

Von der Verfaßtheit und vom So-Sein [^^] [^]


Themenstreusel: Menschliches Sosein
E- & Popmusik
Sonderbar, der Mensch
Den Geschmack trimmen
Verpackungswelt
In die Lehre gegangen
Die Unteren und die Oberen
Die Eitelkeit der Wissenschaftler
Falsches Sozialisieren
Der Schnürsenkeltest
Enthusiasmus
Bruchstücke der Realität
Brutaler Reviekampf
Ihre eigenen Hohepriester
Superrational
Die Wenigen und die Vielen
Eine Kreis, eine Gruppe
Gefahr für die Zivilisation
Tiere essen
Neue Begegnungen
Das Bystander-Phänomen
Sekundärtugenden
Die Freiheit des Willens
Kleinstadtleben
Zarte, zu behütende Wesen
Geld verdienen
Pädagogisches Gefälle
Die Leimrute
Vom Granteln
Träume
Der Idealist
Die Hohe Schule der Egozentrik
Die Unvollkommenheit des Menschen
Teuflisch
Anreizsensitivität
Geistige Bewegung
Erfindungen
Lüge und Wahrheit
Jahreszeiten
Genies & Liebende
Österreicher
Marktregulatoren
Konsumtypus des Spätkapitalismus
Der Club der Korpulenten
Zur Wildheit fähig
Stumpfsinnige
Ohne den Segen
Zuweisungen
Das Wissen des Dicken
Optimist oder Pessimist
Zeitpunkt für die Wahrheit
Die tödlichen Papiere
Vernachlässigte Verpflichtungen
Zurechtgestutzt
Das Rätsel von gestern
Zwiegespalten
Abhängig vom Geld
Geld schafft den Tod
Analysten und Propheten
Der Umgang mit Geld
Fehlende Transzendenzoffenheit
Maschinengläubigkeit
Auf Wahrheitssuche
Wahrheit
Fernsehen & Idendifikation
Schönheit
Lebenslust und Depression
Fehlende Unlustbereitschaft
Wäschewechsel
Pubertät ein Leben lang
Erfolg
Übers Wetter reden
Weihnachten
Erbarmungslose Natur
Menschenopfer
Shakespearische Gefühle
Ein brauchbarer Schmarotzer
Der Weißstrumpf
Die guten Bösen
Die Erregungen seiner Natur
Zurückversetzt
Oligospermie
Fernmanipulation
Einschätzung von Kunst
Relationen der Vergleiche
Vermurkste Konstruktion
Warten
Anonyme Depots
Frühes Erwachen
Schlaf
Nur noch Maschinisten
(Fort)Schritt halten
Revolutionär
2 Wege zum Erfolg
Wahrheit wie Fettflecke


E- & Popmusik

Das Phänomen Popmusik, von dem Adorno behauptete, es werde nicht lange bleiben, ist geblieben und beherrscht die Welt. Die Charts werden im Schnitt zwar banaler, dennoch wird auch heute noch tolle Popmusik gemacht. Es ist nicht so, daß das junge Publikum irgendwann, davon angewidert, zur E-Musik abwandert. Es ist nicht so, daß auf den Straßen, wie von Schönberg prophezeit, Zwölftonreihen gepfiffen werden. Die Jugend droht uns verlorenzugehen. Die E-Musik müßte aktiv um die Jugend kämpfen, und sie könnte gewinnen, eben weil sie einfach die geileren Ekstasen zu bieten hat. (Helmut Krausser: Alles ist gut) ^


Sonderbar, der Mensch

Ich möchte hier eine allgemeine Betrachtung über die verwickelte menschliche Natur einschieben. Es kann jemand ein sehr ängstliches Gemüt haben und dennoch ein Vergnügen an seiner eigenen Ängstlichkeit empfinden, Ein Mensch kann feige sein und sich nach Situationen sehnen, in denen sein Mut auf die Probe gestellt wird. Ja, es ist sogar wahrscheinlich, daß die Menschen das herbeisehnen, was sie fürchten. Sehr sonderbar sind die Menschen. (Joseph Roth: Perlefter. Fragmente und Feuilletons aus dem Nachlaß)  ^


Den Geschmack trimmen

Als ich ein Jüngling war, bedurfte es nur einer braven BH-Reklame in einer Schwarzweiß-Illustrierten, um meine Ohren heiß zu machen und meine Phantasie zu nähren. Ich fragte nicht nach stärkeren Reizen und suchte nicht danach. Im Lauf der Jahre aber wurde immer mehr gezeigt. Freizügigere Darstellungen boten sich an, und natürlich schaute man hin, auch wenn man nicht nach diesem Angebot gerufen hatte. Und dann gewöhnte man sich an den Anblick, was die Empfänglichkeit für noch eindeutigere Kost bei vielen erhöhte. Und am Schluß steht der Porno als mutmaßlicher Maximalreiz. Und am Schluß der subtilen Bedürfnislenkung und Abrichtung von Auge und Geschmack behaupten die Anbieter dreist, sie ließen sich einzig von der Nachfrage der Kunden und deren authentischen Wünschen leiten. Auf gleich verlogene und kriminelle Art rechtfertigen die Boulevardzeitungsherren und die Fernsehbosse den ungeheuerlichen Schrott, mit dem sie die Massen füttern. Erst trimmt man die Geschmäcker auf das Abgeschmackte und fördert Tag für Tag die Einfalt, und dann beruft man sich auf sie und das Bedürfnis der angeblich mündigen Kundschaft. (Markus Werner: Am Hang)  ^


Verpackungswelt

Diese Hotel hatte das typische Hotelfrühstück: es gab vor, solide zu sein, gab vor, vornehm zu sein, und war dabei nur ein trockenes, künstlich fettes, uninteressantes Industrieprodukt. Er konnte kaum begreifen, daß es den Menschen der großen Konsumgesellschaften so schwerfiel zu erkennen, daß sie auch als Konsumenten betrogen wurden. Man redete ihnen ein, daß sie im Luxus lebten, aber in Wirklichkeit konnten ja unmöglich alle Leute Zugang zu wirklichen Qualitätswaren haben. Man lebte in einer Verpackungswelt, umgeben von Dingen, die so taten, als seien sie begehrenswert, ohne es zu sein. (Lars Gustafsson: Die Kunst den November zu überstehen und andere Geschichten) ^


In die Lehre gegangen

Nur politische Heuchler versprechen aller Jubel Jahre den-Menschen Die-Bessere-Welt. Denn den-Haifisch besiegen nicht Schwärme edler Goldfische - den-Hai besiegt der-Krake der ihn=packt. Und der-Krake ist jener, der beim-Haifisch in=die-Lehre ging. Ob das Regime des- Haifischs od des-Kraken besser od schlechter sei, das ist für den Bestand Desmeeres vollkommen !Ohnebelang. Wir sind !keine Heuchler, wir sagen offen !Wer wir sind & !Was wir wollen. (Reinhard Jirgl: Nichts von euch auf Erden) ^


Die Unteren und die Oberen

Das-Durchseuchen der-unteren durch die-oberen Ebenen geschieht auf= Einladung der-Unteren; die Unteren erwarten Das-Heil stets von=Oben. Daher gilt für=die-Oberen: Versprich stets !mehr, als du zu geben gewillt bist od geben kannst. Verkaufe das-Nötige=an-die-Unteren so !teuer wie möglich. Opfer zu bringen & Entbehrungen aller-Art hinzunehmen sind die-Unteren-Menschen gewohnt & lassen sich das solange gefallen, wie sie Dafür etwas geboten bekommen. (...) Aus der Vorschule=für-Obrigkeit: Spare !niemals mit Ver-Sprechungen & mit Surrogaten. !Füttere das-Jenseits deiner Ver-Sprechen, aber !hüte dich davor, den-Unteren Das Echte zu geben. Die-Unteren würden übrigens die Echtheit Des Echten niemals erkennen können; Sklaverei ist !steigerbar, sobald sie An-Schein & Vokabular von Freiheit erhält. (Reinhard Jirgl: Nichts von euch auf Erden) (Reinhard Jirgl: Nichts von euch auf Erden) ^


Die Eitelkeit der Wissenschaftler

Wissenschaftler sind, wenn Sie die Wahrheit wissen wollen, nicht mehr und nicht weniger eitel als andere Leute. Es ist nur so, daß ihre Eitelkeit verblüffender wirkt, weil sie Seite an Seite mit ihrer wohlbekannten Objektivität erscheint. Der Laie ist schockiert, aber an diesem Schock hat nicht so sehr der Wissenschaftler schuld, als vielmehr das Bedürfnis des Laien, den Wissenschaftler zu vergötzen, worum jener nie gebeten hat. (Walker Percy: Liebe in Ruinen) ^


Falsches Sozialisieren

Das falsche Sozialisieren hat keinen Sinn (nur das richtige hat einen, sieht aber ganz anders aus). Es kann einen ungeheuren Fehler darstellen, sich immer gleich jedem Narren anzupassen, entgegenzukommen, verständnisvoll und lieb und gut zu sein. Damit deutet man eine menschheitsumarmende Haltung sehr vornehm an, tritt sich aber selbst auf die Füße und fällt am Ende mit der Nase mitten in seine eigene Verbitterung, seinen Groll, seine Sentimentalität, kurz in seine miserabelsten Möglichkeiten hinein wie in einen Sumpf. Und man endet mit Böswilligkeit. Solche gefallsüchtige Menschlichkeit und solchen Edelmut hält niemand durch. Das sind, 'Schecks, ausgestellt auf ein Bankhaus, wo wir kein Guthaben besitzen', wie ein englischer Dichter einst sagte. (Heimito von Doderer: Ein Mord den jeder begeht) ^


Der Schnürsenkeltest

Alle Welt redet heute von Integration. Ich habe bereits als Kind den präzisesten Test entwickelt, um festzustellen, ob Kinder integriert sind oder nicht. Nämlich den Schnürsenkeltest. Was das ist? Stellt euch eine Gruppe von Schülern auf dem Heimweg vor. Sie gehen, lachen, reden, lärmen. Kinder eben. Dann bückt sich einer, um sich den Schuh zuzubinden, und jetzt Achtung: Wenn die anderen stehen bleiben, und zwar alle, auch die, die vor ihm gelaufen waren und gar nicht sehen konnten, dass er sich bückt, wenn sogar die auf der Stelle stehen bleiben und auf ihn warten, dann wisst ihr zweifelsfrei: Der Junge ist integriert. Wenn aber kein Mensch mitkriegt, dass einer stehen geblieben ist, und erst, sagen wir, in der zwölften Klasse mal jemand fragt: Sagt mal, was ist eigentlich aus dem Typ geworden, der damals stehen geblieben ist, um sich den Schuh zuzubinden, dann wisst ihr mit Sicherheit: "der Typ" war ich. (David Grossman: Kommt ein Pferd in die Bar)


Enthusiasmus

Enthusiasmus verstieß gegen gute Erziehung. Enthusiasmus ziemte sich nicht für einen Gentleman. Sie mussten an die Heilsarmee denken, mit ihren grölenden Trompeten und ihren Trommeln. Enthusiasmus bedeutete Veränderung. Sie bekamen eine Gänsehaut, wenn sie an all ihre lieben alten Gewohnheiten dachten, die ihnen nun im höchsten Grade gefährdet erschienen. Sie wagten kaum, sich die Zukunft auszumalen. (W. Somerset Maugham: Der Menschen Hörigkeit)


Bruchstücke der Realität

... warum wir mit dem pauschalen Gefühl durchs Leben gehen, daß jeder außer uns selbst im Unrecht ist. Und da wir nicht nur manches vergessen, weil es unwichtig ist, sondern auch manches vergessen, weil es zu wichtig ist - und weil Vergessen und Erinnern bei jedem von uns nach einem Muster abläuft, dessen labyrinthische Windungen ein ebenso charakteristisches Erkennungszeichen sind wie Fingerabdrücke -, ist es kein Wunder, daß die Bruchstücke der Realität, die der eine Mensch als Teil seiner Biographie in Ehren hält, von irgendeinem anderen, der, sagen wir, zufällig an genau demselben Küchentisch zehntausend Mahlzeiten eingenommen hat, als mutwilliger Ausflug ins Mythomanische aufgefaßt werden. (Philip Roth: Amerikanisches Idyll)


Brutaler Reviekampf

Und das ist immer wahnsinnig gefährlich, wenn du nicht viel redest, dass die Leute glauben, sie müssen dir auf die Sprünge helfen. Du redest nichts, weil du deine Ruhe haben willst, aber du erreichst das Gegenteil, weil sie umso mehr gackern, je mehr Platz du ihnen lässt. Das ist ein brutaler Revierkampf, da könnte man viel von den Tieren lernen, und wenn du dein Revier nicht verteidigst, indem du dauernd redest, hast du sofort wen im Genick sitzen, der dir die Ohren voll singt. (Wolf Haas: Wie die Tiere)


Ihre eigenen Hohepriester

Die verbreitetste Häresie unter den Künstlern ist aber nicht die Verherrlichung, ja Vergötzung eines anderen Künstlers, Giottos, Raffaels, El Grecos, Velaquez' oder wer es dann sei, jene grenzenlose und wirklich unmäßige, das heißt maßlose Bewunderung und Anbetung eines Vortbildes also, nein, die größte Gottlosigkeit und Dummheit zugleich der Künstler ist ihr immerwährende Selbsterhöhung im Eigenlob, welches stinkt. Viele beweihräuchern sind ständig selbst, haben ewige Lichter vor sich angezündet, sich zur Ehre der Kunstältäre erhoben und überhoben. Hand in Hand mit diesen Größenwahn- und Omnipotenzphantasien geht eine profunde Verachtung jeder Kollegenschaft einher. Sie können, eifersüchtig, wie sie sind, keine anderen Götter neben sich dulden. Sie sind selbsternannte Götter und ihre eigenen Hohepriester zugleich. (Alois Brandstetter: Vom Manne aus Eicha)


Superrational

Wilhelm, der glaubte an nichts, für den war ein Luftzug durchs Schlüsselloch eben nur ein Luftzug, vom offenen Fenster etwa, auf keinen Fall von schwanweißen, rauschend entfalteten Flügeln eines startenden Engels - Wilhelm und du, ihr müßt einem alles entzaubern und erklären: die zersägte Jungfrau als Trick mit Spiegeln und Tüchern, das blitzende Spiel der Fische als interspezifische Aggression und Liebeskummer als eine Nukleinsäure-Reaktion, und am liebsten möchtet ihr jedem Menschen eine Elektrode in den Kopf stecken und einen Schaltplan in die Tasche, damit er sich selbst steuern und rückkoppeln und regulieren und kontrollieren kann, ach, geht mir doch weg mit euren Computergehirnen! (Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand)


Die Wenigen und die Vielen

Vor Jahren, in seinen Semesterferien, hatte er bei Reger gearbeitet, und er erinnerte sich mit dem furchtsamen Widerwillen eines Pedanten an den aufwendigen Mann, seine Ungezwungenheit, sein schallendes Lachen und seine illuminierten Ideen... Theaterdonner, genialische Gebärde, es ist kein Verdienst, glänzende Aufgaben mit Glanz zu lösen, ein Schloß zu restaurieren, ein hochberühmtes Gewandhaus wiederaufzubauen, generös mit Millionen aus dem Staatshaushalt herumzuwirtschaften statt, wie andere, wie wir hier, mit dem Pfenning fuchsen zu müssen, um einen Zentimeter Fensterbreite zu streiten und endlose Korrespondenzen wegen eines Rapid-Krans zu führen und niemals Dank zu ernten: die Welt bewundert immer Phantasten und Blender; sie profitiert von dem praktischen und fleißigen Arbeiter, dem Unentbehrlichen, der seine tägliche Pflicht tut, und übersieht ihn - kein Abglanz der festlichen Beleuchtung, in der die Wenigen stehen, fällt auf die Vielen... (Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand)


Eine Kreis, eine Gruppe

Ein Kreis, ein innerer, ein äußerer, eine Zeitlang ist das der Kern der Welt für eine Handvoll Leute, die dies und jenes machen, einen eigenen Jargon bilden, eigene Kürzel, die Außenstehende nicht verstehen; ab und zu stößt sich da zwar etwas aneinander, aber der Kreis bleibt geschlossen: ein Jahr, zwei Jahre, zehn... dann beginnt er zu zerbröckeln und endet damit, wenn sich zwei nach langer Zeit treffen, daß es heißt: "Weißt du noch?" (Herbert Rosendorfer: Der Meister)


Gefahr für die Zivilisation

Nun liegt ja in der Tat eine nicht zu bestreitende Notwendigkeit darin, daß das Schöne, Liebe, Süße wie überhaupt Willkommene lächerlich zu machen angestrebt wird, denn indem Freude an und für sich nicht moralisch ist, was Besorgnisse wecken muß, setzt man ihr mit einer Art von Genugtuung entweder direkt oder indirekt Moralisierendes entgegen. Angenommen kann wohl mit einiger Berechtigtheit werden, daß sich das Nichts-als-lustig- und -munter-Sein die Zivilisation zu beeinträchtigen eignet. (Robert Walser: Der kleine Tierpark)


Tiere essen

Eigentlich ist es abscheulich von uns Menschen, Delikatessen wie z.B. Froschschenkel nicht zu verschmähen. Unzähligen Hühnern werden Tag um Tag innerhalb der Zivilisation die Köpfe kurzerhand abgeschnitten, was eine Tatsache ist, die zu einiger Bedenklichkeit Anlaß geben sollte. (...) Hühner legen Eier, und zum Dank für dieses Entgegenkommen schlachtet und verzehrt man sie auch noch. Das heißt wirklich einerseits nützlich und anderseits rücksichtslos sein. Dabei muß aber die Ernährungsfrage in Betracht gezogen werden, die von eminentem Umfang ist. Man sieht bei einigem intelligentem Umsichschauen klar, wie sich die Tiere dem Appetit der Menschen aufopfern müssen. Die Tiere werden zu Vertilgungszwecken künstlich gezüchtet, oder sie werden ernährt, um zu Beschäftigungen herangezogen zu werden. Was haben Gänse, Enten usw. Übles getan, daß man sie umbringen muß? Die Verfehlung dieser Geschöpfe besteht darin, daß sie eßbar sind, teilweise sogar einen Leckerbissen für uns Unersättliche bilden, die wir uns so leicht und so gern mit der Medaille der Humanität und Bildung schmücken. Wenn jeder Fleischsuppenesser, Kalbsbratenvertilger an den Entleibungen mithelfen müßte, die zu seiner Beköstigung erforderlich sind, er verlöre vielleicht hin und wieder die Eßlust. Was wir nicht mitansehen, geschieht fast so gut wie nicht für uns. (Robert Walser: Der kleine Tierpark)


Neue Begegnungen

"Richtige Menschen trifft man nur am Anfang des Lebens, danach kommen die Kopien. Nichts gegen Sie, bitte schön! Aber bei jeder neuen Begegnung muss man sich wieder durch eine dicke Schicht von Smalltalk und Verstellung durchwühlen, die, ähm, Schminke der Selbstbehauptung durchstoßen … wozu? Am Ende unterscheiden sich die neuen nicht grundlegend von den alten Bekannten. Nur, dass man die Neuen erst anlernen muss … Geht Ihnen das nicht so? Da werden Sie zu jung dafür sein, für Sie ist jeder neue Mensch noch eine Offenbarung, hm?" (Michael Ziegelwagner: Der aufblasbare Kaiser)


Das Bystander-Phänomen

... das Bystander-Phänomen, das die immer wiederkehrenden Situationen bezeichnet, in denen eine Gruppe von Menschen Zeugen eines Unfalls oder eines Überfalls wird und nicht eingreift, sondern "gaffend" stehen bleibt. Die Presseberichte sprechen dann von "Herzlosigkeit", "Schaulust" oder "erschreckender Gleichgültigkeit", aber das alles ist nicht der Grund für das Nichteingreifen. Denn meist sind alle Außenstehende mit einer Situation konfrontiert, die für sie ungewöhnlich und höchst verunsichernd ist. Sie wissen nicht, was sie tun sollen, und machen daher das Naheliegendste: Sie nehmen das Verhalten der anderen als Informationsquelle, um herauszufinden, was das angemessene Verhalten ist. Da die anderen aber genau dasselbe machen, verstärkt sich die Tendenz zum Nichteingreifen automatisch: Alle bleiben stehen, niemand tut etwas. Wenn Menschen dagegen allein in eine vergleichbare Situation geraten, helfen sie meistens. Man könnte sagen, dass die Gruppensituation das prosoziale Potential blockiert, das in der Alleinsituation ohne weiteres aktiviert wird. (Harald Welzer: Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand)


Sekundärtugenden

Sekundärtugenden haben derzeit ein schlechtes Image. Wer es bis zum Burn-out gebracht hat, der hat immerhin einmal gebrannt, es loderte mal ein Feuer in ihm. Er hat versucht, alles aus sich herauszuholen, und so etwas hat heute in einer vom Leistungsstreben befeuerten Gesellschaft einen hohen Wert. Genauso wie es einen hohen Wert hat, dass man sich nach allem Aus-Sich-Herausholen mit ebenso ungezügeltem Konsum belohnen darf. Wer bis zum Umfallen arbeitet, darf sich auch bis zum Umfallen zerstreuen. Doch welchen Wert haben die Sekundärtugenden? Er kann nicht hoch sein, denn sonst würden sie Primärtugenden heißen. Charaktereigenschaften wie Selbstdisziplin, Hartnäckigkeit und Ordnungsliebe stehen heute vor allem für Eines: Langweile. Und wer will schon ein Langweiler sein? Ist es nicht besser, kurz und heftig Spaß zu haben, als sich endlos zu Tode zu langweilen? (Jörg Zittlau: Langweiler leben länger. Über die wahren Ursachen eines langen Lebens)


Die Freiheit des Willens

"Die Illusion des Menschen von der Freiheit seines Willens ist so tief verwurzelt, dass ich bereit bin, sie anzuerkennen. Ich handle, als wäre ich ein freies Wesen. Ist die Handlung jedoch vollbracht, wird klar, dass alle Kräfte des Weltalls von Ewigkeit her verschworen waren, sie zustande zu bringen; nichts, was in meiner Macht lag, hätte sie verhindern können. Sie war unvermeidlich. Wenn sie gut war, kann ich kein Verdienst beanspruchen, war sie schlecht, keinen Tadel hinnehmen." (William S. Maugham: Der Menschen Hörigkeit)


Kleinstadtleben

In einer großen Stadt regt sich heutzutage kein Mensch auf, wenn sich ein Jugendlicher provokant benimmt. Aber in einer Kleinstadt wieder ganz eine andere Sache. Jetzt ist die Clare mit ihrem lackierten Schneidezahn in Zell natürlich nicht zu übersehen gewesen. Aber so ist es in der Provinz, hat sich der Brenner gedacht. Entweder die Leute kümmern sich gar nicht um das moderne Zeug, das in den Städten so wichtig ist. Oder sie übertreiben es gleich. Bestellen sich die ungesündeste Mode, die im Quelle- Katalog nur zu finden ist. Und fertig ist die Nierenbeckenentzündung. Er hat das von seiner Jugend in Puntigam gut gekannt. Da hat nur der Jimi Hendrix einmal im Fernsehen sein müssen. Und am nächsten Morgen hat die Polizei garantiert einen Rauschgifttoten im Bahnhofsklo gefunden. (Wolf Haas: Auferstehung der Toten)


Zarte, zu behütende Wesen

Sie gehörte, das wusste er - und hatte es, nahm er an, auch schon sehr früh gewusst -, zu jenen seltenen, stets liebenswerten Menschen mit einer delikaten moralischen Natur, die ständig genährt und umsorgt werden musste, damit sie sich erfüllen konnte. Obwohl seine Tochter der Welt fremd war, musste sie dort leben, wo sie sich nicht daheim fühlte; nach Zärtlichkeit und Ruhe verlangend, hatte sie mit Gleichgültigkeit, Herzlosigkeit und Lärm auszukommen. Sie war von einem Wesen, das an diesem ihm abwegigen, feindlichen Ort, an dem es zu leben hatte, nicht über die nötige Brutalität verfügte, sich gegen jene grausamen Kräfte wehren zu können, die sich ihm widersetzten, weshalb Grace sich bloß in eine Stille zurückzuziehen vermochte, in der alles einsam, klein und auf besänftigende Weise ruhig war.


Geld verdienen

... die Masse seiner Mitleistungsträger, Großentscheider und Vielverdiener, die alleweil bereit waren, auf Nachfrage zu beteuern, Geld sei nicht ihr Antrieb, sie würden ja nicht Geld um des Geldes willen verdienen, als würde ihnen irgendjemand absurderweise unterstellen wollen, sie würden ihr Geld in einen quadratischen Speicher füllen und ihren Bürzel darin tunken. Nein, nein, Geld sei ja nur Mittel zum Zweck, es würde Möglichkeiten eröffnen, Möglichkeiten, Großes zu tun, wobei sich dann die Größe der Taten meistens doch in Quadratmetern Wohnfläche in Cap Ferrat oder Rumpflängen in St. Barth manifestierte oder bestenfalls im Zukauf noch einer BH- Bügelfabrik in Bangladesch, die noch mehr Geld abwarf, mit dem man "Dinge in Bewegung setzen konnte", wie sie sich gerne ausdrückten. (Jonas Lüscher: Frühling der Barbaren)


Pädagogisches Gefälle

Seinen größten Reiz entfaltet das Spiel der Erziehung nun mal außerhalb der Institutionen. (...) Worum geht es dabei? Es geht um Nahbarkeit. Um lockende Herablassung. Ein Erwachsener spricht einen Heranwachsenden wie seinesgleichen an, lässt aber ein leichtes Gefälle bestehen, so dass der Jüngere seine tastenden Sätze zum Älteren hinaufschieben muss, während der seine Andeutungen und Ratschläge sanft herunterrollen lassen kann. Je nach Gefügigkeit des Schülers wird der Neigungswinkel erhöht oder gesenkt. Solange der Erzieher sich sicher ist, dass der andere ihn sucht, darf es auch gerne so wirken, als verhielte es sich umgekehrt. Das ist die Kunst des Pädagogen, wer sie beherrscht, kann nicht nur Köpfe füllen, sondern auch Herzen formen und Seelen führen. (Per Leo: Flut und Boden)


Die Leimrute

Es ist unglaublich, wie viel Glück schon darin liegt, daß man Arm und Fuß nach Gutdünken erheben kann. Zwar sind wir immer noch, wenn ich an die Wünsche denke, die unser Geist in manchen Stunden faßt, angekettet: die Psyche ist in die Leimrute, die uns klebend hält und von der wir nicht losflattern können, weiß der Himmel wie, hineingesprungen und wir und Rute sind nun so eins, daß wir zuweilen das Gefängnis für unser besseres Selbst halten." (Ludwig Tieck: Des Lebens Überfluß)


Vom Granteln

Das bayrische Grantigsein ist zu unterscheiden von ähnlich misslichen Befindlichkeiten anderer Volksstämme. Der Grant des Österreichers etwa, der mit dem bayrischen Grant oft in einen Topf geworfen wird, ist morbide, todesverliebt und jenseitig. Dieser Grant hat die Farbe des Verzweifelten. Zornrot werden die Grantler in Wien, diesen Donauraunzern und Wienerwaldmoserern schwillt der Kamm, und nicht selten fliegt über ihnen schon der große schwarze Vogel Tod. Aber auch beim überseeischen Blues, der mit dem Granteln oft verglichen wird, geht es um etwas grundsätzlich anderes. Für den Blues gibt es nämlich immer handfeste Gründe: tagelanger Regen down in Tennessee, ein böses Erwachen mit Kopfweh, der letzte Tropfen Whiskey, eine unerklärliche Schusswunde - solche fatalen Dinge behandelt der Blues, und der Schmerz wird immer schön eingepresst zwischen Tonika und Subdominante. Der Bayer braucht für seinen Fünfseenblues solche profanen Gründe nicht. Er beherrscht die Kunst zu klagen, ohne zu leiden. Zum föhngestützten Alpin-Grant hat er nicht einmal ein Instrument nötig. Er grantelt sozusagen freihändig und auswendig. In diesem Zusammenhang wird auch immer wieder die ostwestfälische Schwermut und Nachdenklichkeit bemüht. Oder die russische Seele, die man angeblich aus den Liedern der Wolgaschiffer heraushören soll. Oder die französische Tristesse, die es bei Sartre und Camus sogar zu philosophischem Ansehen gebracht hat. All das kann niemals an die spontane Gefühlsregung eines alpenländischen Grantlers herankommen. (Jörg Maurer: Felsenfest)


Träume

Wer Zeit hat zu träumen, ist offenbar nicht ausgelastet. Träume sind, ähnlich wie Pickel, eine Sache, die vorbei sein sollte, wenn die Pubertät um ist. Mit 17 hat man noch Träume, mit 27 bestenfalls Visionen, und ab 37 hat man höchstens noch Erscheinungen. Nach ein paar Gläsern Wein oder Bier. Es sei denn, man ist 'Künstler' oder hat sonst wie eine Schraube locker. Für normale Leute gilt: hinlegen, pennen, aufstehen, arbeiten gehen, nach Hause kommen, fernsehen, hinlegen. Und sonntags brunchen. Ich wüßte nicht, wo man da auch noch Träume unterbringen sollte. Wenn jemand als Träumer bezeichnet wird, ist das in der Regel nicht als Kompliment gemeint. Es sei denn, es geht um Martin Luther King, und selbst der ist am Ende erschossen worden. (Jörg Böckem, Ralf Husmann im ZEIT-Magazin 10)


Der Idealist

Eine kleine Schlamperei bei der Herstellung des Gehirns, eine Schraube zu wenig, ein Transmitter zu viel - und schon kam es zu einer der Behinderungen, die das Leben zu einer mühsamen Angelegenheit macht. Mühsam, wenn man die Wohnung verlässt und auf andere Menschen trifft. Ich spreche davon, dass fast jeder - außer sein Verstand hat sich gütig in Alkohol oder Drogen aufgelöst - davon ausgeht, seine Sicht auf die Welt sei die einzige, und damit nicht genug: auch die einzig richtige. Verrückt, nicht wahr, bedenkt man die Anzahl der Menschen auf der Welt? Und alle haben recht. Immerzu. Das gibt ein ständiges Rauschen des Rechthabens im Universum. Über diese Grundbehinderung hinaus gibt es Menschen, nicht viele, eine Milliarde vielleicht, die nicht nur recht haben, sondern auch noch wissen, wie alles besser wäre oder besser zu machen sei, richtiger. Die gemeingefährliche Gruppe der Idealisten. Früher sammelten sie Gartenzwerge, legten kleine Tümpel an, in denen sie von einer Welt voller Zwerge und Libellen, Rotkäppchen und Bambis träumten. Heute steht der Idealist vor Bahnhöfen und wettert gegen den Schienenverkehr, er reist auf Flottillas nach Gaza, er kämpft gegen Strommasten und Windmühlen und für hungernde Afrikaner. Und natürlich war die Beschreibung zu Beginn dieses Pamphlets grob fahrlässig, denn der Idealist tritt in allen Erscheinungsformen auf. Er sieht aus wie wir alle, ist eifernder Christ, Abtreibungsgegner, Linker, Rechter, Startbahngegner, Sexualerziehungsgegner, er ist Sektenbeauftragter, Drogenbeauftragter, und er singt ein Lied auf Bio. Er hat vor allem eine klare Meinung und ist nicht Mensch genug, es damit gut sein zu lassen, seine Meinung ist so funkelnd und klar und prima, dass sie jedem anderen aufgedrückt werden muss, und sei es mit Gewalt. (Sibylle Berg: Wie halte ich das nur alles aus?)


Die Hohe Schule der Egozentrik

'Ich denke, also bin ich' ist ein Satz eines Intellektuellen, der Zahnschmerzen unterschätzt. 'Ich fühle, also bin ich' ist eine Wahrheit von größerer Gültigkeit und betrifft jedes lebende Wesen. Mein Ich unterscheidet sich nicht wesentlich von dem Ihren durch das, was er denkt. Viele Menschen, wenig Gedanken: alle denken wir annähernd das gleiche, übergeben einander die Gedanken, leihen sie aus und stehlen sie. Wenn mir aber jemand auf den Fuß tritt, spüre nur ich den Schmerz. Die Grundlage des Ich ist nicht das Denken, sondern das Leiden, das elementarste aller Gefühle. Im Leiden kann nicht einmal eine Katze an der Unverwechselbarkeit ihres Ich zweifeln. Im Leiden verschwindet die Welt, und jeder von uns bleibt sich selbst überlassen. Das Leiden ist die Hohe Schule der Egozentrik. (Milan Kundera: Die Unsterblichkeit)


Die Unvollkommenheit des Menschen

Die Unvollkommenheit des Menschen ließ sich allenthalben beobachten: am menschlichen Rückgrat, das mit seiner S-Krümmung nicht viel aushielt, daran, dass sich Atmung und Nahrung umstandslos ein und denselben Eingang teilten, an der unhygienischen Nachbarschaft von Geschlechts- und Ausscheidungsorganen, den Qualen bei der Geburt, den misslich platzierten und leicht verletzlichen Hoden, dem so häufig getrübten Sehvermögen, den Autoimmunkrankheiten, die zur Selbstzerstörung führten. Und das waren nur die körperlichen Gebrechen. Der Homo sapiens war der beste Beweis gegen die Existenz Gottes. Kein Gott, der etwas taugte, konnte an der Werkbank so nachlässig gewesen sein. (Ian McEwan: Solar)


Teuflisch

Sie wissen, was ein Teufel ist? Das ist ein junger Mann von angenehmem Äußeren, mit einer pechschwarzen Visage und roten, ausdrucksvollen Augen. Auf dem Kopf trägt er, obwohl er gar nicht verehelicht ist, Hörner. (...) "Ich bin ein Teufel", stellte er sich vor. "Bekleide den Posten eines Beamten zu besonderer Verfügung bei seiner Exzellenz, dem Direktor der Höllenkanzlei des Herrn Satan, persönlich!" "Hab davon gehört, hab davon gehört... Sehr angenehm. Setzen Sie sich! Möchten Sie einen Vodka? Freut mich sehr... Und womit beschäftigen Sie sich?" Der Teufel wurde noch verlegener. "Genaugenommen habe ich keine bestimmte Beschäftigung", antwortete er, hustete verwirrt und schneuzte sich in den 'Rebus'. "Früher hatten wir tatsächlich zu tun... Wir führten die Menschen in Versuchung... wir brachten sie ab vom Weg des Guten... Jetzt aber ist diese Tätigkeit, entre nous soit dit, keinen Pfifferling wert... Den Weg des Guten gibt es nicht mehr, wovon also soll man die Menschen abbringen? Zudem sind sie schlauer geworden als wir... Geruhen Sie mal jemanden in Versuchung zu führen, wenn er an der Universität alle Wissenschaften absolviert und durch Feuer, Wasser und eiserne Röhren gegangen ist! Wie soll ich Sie lehren, einen Rubel zu stehlen, wenn Sie schon ohne meine Hilfe Tausende geklaut haben?" (Anton Cechov: Gespräch eines Betrunkenen mit einem nüchternen Teufel. Erzählungen)


Anreizsensitivität

Menschen reagieren auf Anreize, aber nicht auf die Absicht hinter den Anreizen. Gute Anreizsysteme bringen Absicht und Anreiz in Deckung. Ein Beispiel: Im alten Rom musste der Ingenieur einer Brücke unter dem Brückenbogen stehen, als sie eröffnet wurde. Ein ziemlich guter Ansporn, die Brücke stabil genug zu bauen. Schlechte Anreizsysteme hingegen schießen an der Absicht vorbei oder pervertieren sie gar. So macht etwa die Zensur eines Buches dessen Inhalte in der Regel erst recht bekannt. (...) Die französische Kolonialherrschaft in Hanoi verabschiedete ein Gesetz: Für jede tote Ratte, die man ablieferte, gab es Geld. Damit wollte man der Rattenplage Herr werden. Das Gesetz führte dazu, dass Ratten gezüchtet wurden. Anwälte, Architekten, Berater, Wirtschaftsprüfer oder Fahrlehrer nach Aufwand zu bezahlen, ist idiotisch. Diese Leute haben einen Anreiz, möglichst viel Aufwand zu generieren. (...) Wie sagt das alte Sprichwort? "Frage nie einen Friseur, ob du einen Haarschnitt brauchst." (Rolf Dobelli: Die Kunst des klaren Denkens)


Geistige Bewegung

Dieser Architekt war ja auch nicht sauber. Das schien eine rein technische Opposition zu sein, alles und jedes zu hinterfragen und probeweise umzukehren, um geistig in Bewegung zu bleiben, wie er das wahrscheinlich genannt hätte. Man könnte es geistigen Zappelphilipp nennen, ohne jeden Mehrwert. Und solche wie Moni hatte Bernays wahrlich oft genug gesehen. Der Starrsinn, mit dem sie auf ihrer blankpolierten Trennlinie zwischen Schwarz und Weiß, zwischen garantiert und unmöglich beharrte, war bei beschränkter Intelligenz die einzige Möglichkeit, angstfrei den moralischen Kurs zu halten. (Eva Menasse: Quasikristalle)


Erfindungen

Manchmal muß man vor Ehrfurcht ja einfach in die Knie gehen. Da kommt jemand mit einer neuen Idee daher, die noch keinem eingefallen ist, eine Idee, die so simpel und vollkommen ist, daß man sich fragt, wie man es nur in aller Welt geschafft hat, bisher ohne sie zu überleben. Der Koffer auf Rollen, zum Beispiel. Warum hat das so lange gedauert? Seit dreißigtausend Jahren schleppen wir unsere Lasten mit uns herum und mühen uns schwitzend von einem Ort zum anderen, und das einzige, was dabei rausgekommen ist, waren Muskelkater, Rückenschmerzen und Erschöpfung. Ich meine, es ist doch nicht so, als wär das Rad noch nicht erfunden, oder? Das macht mich wirklich fertig. Warum mußten wir bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts warten, bis dieses tolle Gerät das Licht der Welt erblickte? Man sollte doch annehmen, daß irgendwer beim Anblick von Rollschuhen auf die Idee gekommen wäre, zwei und zwei zusammenzuzählen. Aber nein. Es vergehen fünfzig Jahre, fünfundsiebzig Jahre, und noch immer schleppen die Leute, jedesmal wenn sie Tante Rita in Poughkeepsie besuchen wollen, ihre Taschen über Flughäfen und Bahnhöfe. Ich sage dir, mein Freund, die Dinge sind nicht so simpel, wie sie aussehen. Der menschliche Geist ist ein grobes Werkzeug, und oft fällt es uns nicht leichter, für uns selbst zu sorgen, als dem kleinsten Wurm in der Erde. (Paul Auster: Timbuktu)


Lüge und Wahrheit

Die meiste Zeit über erzählte ich ihnen einfach die Wahrheit, ein Vorgehen, das Sir Henry Wotton (noch so einer, der im Ausland Lügen verbreitete) empfahl, um seine Gegner zu verwirren. Ein anderer kluger Bursche hat mal gesagt: "Wenn du ein Geheimnis bewahren willst, verpacke es in Aufrichtigkeit." Ich verpackte verschwenderisch. Aber wissen Sie, wenn man beidhändig auf dem Klavier gleichzeitig die Wahrheit und die Unwahrheit spielt, verliert man nach und nach den Sinn für die Wirklichkeit. Mein Vater hat mich immer davor gewarnt, zu lügen, wenn man mit der Wahrheit durchkommen kann; er hatte schon früh erkannt, daß mein Gedächtnis, die wichtigste Ausstattung eines Lügners, lückenhaft war. (Kyril Bonfigliolo: Nimm das Ding da weg!)


Jahreszeiten

In der heißen Jahreszeit ist das Gefühl, buchstäblich zur Erde zu gehören, aus ihren planetaren Chemievorräten gebaut worden zu sein, viel stärker und überzeugender. Der Winter mit seinem kalten, weißen Skalpell trennt derartige Überlegungen vom Körper ab, der Mensch wird zu einem Gespenst, das durch die Schneelandschaft treibt, versteckt unter vielen Lagen warmer Kleidung, und ich kann mir nur schwer vorstellen, welches Körperempfinden ich hätte, müsste ich auf diese existenzielle Abkühlung verzichten, die mir einmal im Jahr zwei, drei friedliche Monate beschert. (Clemens J. Setz: Indigo)


Genies & Liebende

Mr. Collins war in seinem Beruf ein Genie. Ein Genie kann überall ein Genie sein. Nicht nur in der Kunst, nicht nur als Feldherr, sondern auch als Schuhrabrikant, als Bankier, als Ölmagnat. Oft genug sind auch Verbrecher Genies, weil ihre Genialität innerhalb gesetzlicher Grenzen kein Wirkungsfeld findet. Im Grunde ist jedes Genie ein Verbrecher, weil jedes Genie bestehende und ausgeprobte Gesetze übertritt und zu Fall bringt. Darum sind Genies stets gefürchtet von dem guten Bürger, dessen Existenz, die allein in Beharrlichkeit beruht, von den Genies gefährdet wird. Eine Frau nun, die die Geliebte eines bedeutenden Mannes sein und bleiben will, muß wohl in vielen ihrer Eigenschaften das unabänderliche Gegenteil jenes Mannes sein und zugleich ihm in vielen Eigenheiten so ähnlich sein, als wäre sie ein Teil seines Selbst. Liebende sollten sich in vielen Dingen nicht verstehen, um immer wieder Neues, Unerwartetes und Fremdes im andern zu finden. Das verhindert die Monotonie, die sich in einer gutgeschlossene Ehe einstellt, wo jeder des andern sicher ist. Andererseits sollten Liebende sich in vielen Dingen so gleich sein, daß sie mit einem Wink, im Tonfall der Stimme, sofort verstehen. (B. Traven: Die weiße Rose, S. 70)


Österreicher

Die traditionell österreichische, unnachahmliche Selbstverständlichkeit, Nebensächliches mit tödlicher Würde, dagegen sogenannten Lebensernst kavaliermäßig als Schulmeisterei aufzufassen... ... zu prassen gleich einem Ostelbier und dennoch bis in die Fingerspitzen hinein österreichischer Aristokrat zu bleiben - Wissen und Kenntnisse wohl zu besitzen, aber sie lieber zu verbergen hinter scheinbaren Skurrilitäten, als sie am unrechten Ort plump zur Schau zu stellen wie ein durch die Erziehungslüge der Schule in seiner menschlichen Eigenart geschmacklos gewordener Dauergymnasiast. (Gustav Meyrinks: Walpurgisnacht)


Marktregulatoren

Wer nicht als willfähriger Allesverbraucher dastehen will, ist aufgefordert, über den passenden Strommix Bescheid zu wissen, sollte wöchentlich den Handytarif wechseln und sorgsam den Kauf von Flaschengetränken kalkulieren. Ökologische Interventionen sind mittlerweile die perfidesten Marktregulatoren, was dem flächendeckenden Erfolg der Konsumkritik zu keinem Zeitpunkt geschadet hat. Aus dem Subjekt der Begierde, das es zu verführen galt, ist ein Getriebener der Produktaufklärung geworden, den Preisagenturen, Ebay- Versteigerungen im Internet und Stiftung Warentest mit nie nachlassendem Bescheidwissertum zu Leibe rücken. Neben den Konsumzwang ist eine Verpflichtung aufs Schnäppchen getreten, die den streunenden Verbraucher mit vernünftigen Argumenten verfolgt. (Harry Nutt: Mein schwacher Wille geschehe)


Konsumtypus des Spätkapitalismus

Der mit Rationalität gedopte Kunde erlebt keine Rauschzustände, sondern leidet an Kontrollzwängen. Unter Anleitung der Stiftung Warentest ist ein Konsumententypus konstruiert worden, der als innengeleiteter Charakter im Sinne des amerikanischen Soziologen David Riesman seine Bedürfnisse beherrscht und kalkuliert zu Markte trägt. Seit der Sozialstaat an seine Grenzen gestoßen und der Konsum zur Bürgerpflicht erhoben worden ist, hat die Irritationsdichte erheblich zugenommen. Überall werden Konjunkturprogramme gestrickt und wieder aufgeribbelt. In seiner letalen Phase erweist sich der Kapitalismus als Patient, dem dringend geholfen werden muss. (Harry Nutt: Mein schwacher Wille geschehe)


Der Club der Korpulenten

Wer bereits in den Kontrollmodus übergegangen ist, macht rasch die Erfahrung, dass es hilft, mit der Sprache herauszurücken. Wer Gewichtsprobleme hat und sich auch noch traut, sie zu artikulieren, wird nicht als Fresssüchtiger betrachtet, mindestens aber mit etwas mehr Nachsicht behandelt. Wie unter Hundebesitzern erkennt man sich als Bündnispartner und Leidensgenosse, ohne gleich im Bewusstsein von Aussätzigen weiterleben zu müssen. Der Club der Korpulenten bittet um Aufnahme ins gesellschaftliche Vereinsregister. Wer zu schwer ist, kann leichter werden, und alle anderen können beim Projekt der aufopferungsvollen Selbstreduzierung zusehen. Der Kampf mit den Pfunden ist, wenn man so will, die öffentlichste Form des Umgangs mit Willensschwäche, ein Modellstudiengang mit vielen Anschlussmöglichkeiten und Quereinstiegen. Ab einem gewissen Alter steht fast jeder vor der Immatrikulation, und Anleitungen zur Erlangung und Beibehaltung des neuen Leicht-Sinns gibt es in allen nur denkbaren Medienerzeugnissen. (Harry Nutt: Mein schwacher Wille geschehe).


Zur Wildheit fähig

Ich bin zu Wildheit fähig. Dieser Teil hat gesellschaftlich relativ wenig Platz. Es gibt kaum gesellschaftliche Räume, in denen man sich richtig gehenlassen kann. Ich gehe bisweilen in Discos und tanze, aber das ist es nicht. Deshalb finde ich Massenereignisse wie Fußballweltmeisterschaften oder die Wahl Obamas, bei der man einfach nur jubelt, unwahrscheinlich plausibel. Dabei geht es gar nicht um die Zustimmung zur Sache. Es gibt dem Bedürfnis nach Ekstase einen Raum. Wir leben jedoch in einer Gesellschaft, in der das nicht regelmäßig vorgesehen ist. (Ursula März)


Stumpfsinnige

Stumpfsinnige sind grundsätzlich sehr gefährlich, und zwar nicht einmal, weil sie unbedingt boshaft sind (beim Stumpfsinnigen sind Bosheit oder Gutmütigkeit völlig irrelevante Qualitäten), sondern weil sie keinerlei Erwägungen an sich heranlassen und stets rücksichtslos voranschreiten, als gehöre der Weg, auf dem sie sich befinden, ausschließlich ihnen. Von ferne mag es scheinen, es handle sich um Menschen starrer und fester Überzeugungen, die ganz bewußt auf ein gültig markiertes Ziel zusteuern. Das ist aber eine optische Täuschung, die einen nicht irreleiten darf. Es sind ganz einfach innerlich abgetötete Wesen, die nur vorwärts stürmen, weil sie außerstande sind, sich zu irgendeiner Folge von Erscheinungen in Beziehung zu setzen. (Michail Syltykow-Schtschedrin: Geschichte einer Stadt, S. 288)


Ohne den Segen

CALM: Dies frohgemute Weitermachen ist doch schon der ganze Krebs!
AMREI: Wieso? Was'n jetzt? Haben wir den Blues?
CALM: steht auf, geht umher: Alle finden alles nur noch schrecklich. Jeder, der seine Sinne beisammen hat, sieht Zukünftiges mehr als düster. Jeder weiß, daß es so nicht weitergehen kann - und macht immer so weiter. Manchmal durchsäuert mich ein namensloser Ekel, auch vor mir selbst. Wir bedenken alles, und trotzdem bleibt das Gefühl, das Wichtigste vergessen zu haben. Was wir unternehmen, ist erfolgreich, aber ohne Segen - wie ein Gebet mit einem Kaugummi im Mund. Wie eine neue Kirche, gemauert im Akkord. Wir glauben tatsächlich, die Zeit vergeht, wollen schnell sein, schneller, die ersten, und ahnen doch: Geschwindigkeit ist ein Spuk, eine Windstörung des Herzens; jeder kommt an, wo er immer schon war. - Wir rasen weiter. Und haben uns vor Ehrgeiz selbst versäumt. Jeder will besser und klüger werden, frißt sich durch Bücher, bekniet den Computer und quasselt Mephisto die Ohren ab. Und vor lauter Wissen und Information vergißt man die uralte Weisheit und bleibt dumm wie ein Lehrstuhl - ohne den Segen.
(Ralf Rothmann: Berlin Blues. Ein Schauspiel, S. 86f.)


Zuweisungen

Das wahre Leben setzt sich, wie die Atmosphäre aller Tage, sehr viel mehr aus trüben, grauen Stunden zusammen, die die Natur in Nebeldünste hüllen, als aus Perioden, da die Sonne strahlt und die Felder erfreut. Junge Leute sehen immer nur die schönen Tage. Später schreiben sie der Ehe allen Jammer zu, der dem Leben an sich innewohnt, denn dem Menschen ist eine Neigung eingeboren, die Ursache seiner Nöte in den Dingen oder den Wesen zu suchen, die ihm die nächsten sind. (Honore de Balzac: Der Ehekontrakt)


Das Wissen des Dicken

"Der Haß des Dünnen gegen den Dicken ist vielleicht von derselben Art wie der instinktive Haß des Mannes gegen die Frau. Die Frau besitzt, zumindest potentiell, ein Wissen, das ein Mann niemals erwerben kann, da sie nun mal der Ursprung neuen Lebens ist und er sozusagen nur mit seinem Stock in der Erde herumstochert. So kommt auch der Dicke, sofern er genug unter seiner Korpulenz leidet, in den Genuß eines Wissens, zu dem sein leptosomer Antipode keinen Zugang hat. Ein Leben lang hin und her geschleudert zu werden zwischen Freßsucht und Fasten... zwischen Gier und Selbstbestrafung... So einer trägt die Welt in sich." (A.F.Th.van der Heijden: Der Gerichtshof der Barmherzigkeit, S. 476)


Optimist oder Pessimist

Ist Pessimismus als Lebenseinstellung das gleiche wie Zimperlichkeit auf dem Zahnarztstuhl, oder zeugt Pessimismus im Gegenteil von intellektuellem Mut? Das war die allesbeherrschende Frage für Quispel in diesem Frühjahr. Lehnt man in pessimistischer Haltung die Welt und das Dasein als nicht lebenswert ab, oder nimmt der Pessimist unsere Welt im Gegenteil in all ihrer Unvollkommenheit an? Pessimist und Optimist, beschloß er eines Tages, sind Zwillingsbrüder, der eine dunkel, der andere blond. (A.F.Th.van der Heijden: Der Gerichtshof der Barmherzigkeit, S. 397)


Zeitpunkt für die Wahrheit

Ein schwerwiegender Irrtum, zu glauben, die Wahrheit mache frei, gleichgültig wann, gleichgültig wo, gleichgültig von wem geäußert. Alles kam auf den Zeitpunkt an, wann eine Wahrheit überhaupt vertragen werden konnte und wann nicht; wurde sie zum falschen Zeitpunkt, am falschen Ort an die Öffentlichkeit gebracht, sorgte sie nur für Verwirrung und trotzige Abwehr. Die Wahrheit erfüllte sich in der Zeit; auf langen Um- und Abwegen kam sie allmählich zum Vorschein. (Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg, S. 154)


Die tödlichen Papiere

Ich setzte mich also vor meinen Sekretär und öffnete ihn in dem Vorsatz, unter meinen alten Papieren eine Auswahl zu treffen und einen großen Teil zu verbrennen. Zuerst saß ich betroffen vor dieser Anhäufung vergilbter Blätter, dann griff ich eins heraus. Oh, rührt nie an dieses Möbel, an diesen Friedhof der Korrespondenzen von einst, wenn ihr am Leben hängt! Und wenn ihr es zufällig öffnet, packt die Briefe mit vollen Händen, schließt die Augen, um nicht auch nur ein Wort zu lesen, damit eine einzige vergessene und wiedererkannte Handschrift euch nicht mit einem Schlag ins Meer der Erinnerungen stürzt; tragt die tödlichen Papiere zum Feuer; und wenn sie Asche geworden sind, zerstampft sie zu unkenntlichem Staub... wenn nicht, seid ihr verloren... so wie ich seit einer Stunde verloren bin! (Guy de Maupassant: Novellen 1875-1881, S. 280)


Vernachlässigte Verpflichtungen

Kleine, vernachlässigte Verpflichtungen können sehr störend werden. Wir wollen sie vernachlässigen, wir wollen sie vergessen, aber sie haken sich in uns fest, melden sich mit kleinen flüchtigen Stichen. Sie sind lästig wie die Sommerfliegen, die wir immer vertreiben und die sich immer wieder uns ins Gesicht setzen. Das ist nicht Pflichtgefühl, – nur eine Unvollkommenheit in unserem Vorstellungsmechanismus. (Eduard Graf von Keyserling: Seine Liebeserfahrung)


Zurechtgestutzt

Vielleicht verändert der Schock von 2011 die Amerikaner tatsächlich so, wie jener von 1755 uns Europäer verändert hat. Wir gehen nämlich seither den Weg des Fortschritts nicht mehr mit dem Optimismus Candides, sondern mit dem Mut des Sisyphos. Wir rollen unsere Steine den Berg hoch und sind schon recht zufrieden, wenn sie nicht gleich wieder den Berg hinunterpoltern. Das ist nicht die schlechteste Lösung. Sisyphos war bekanntlich glücklich, vergessen wir das nicht. (Urs Widmer: Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück, S. 104)


Das Rätsel von gestern

Es ist schon eine großartige Leistung der Schöpfung, daß sie es geschafft hat, uns mit einem solch wirkungsvollen Gemisch aus Erregungen und Vergeßlichkeit zu munitionieren, daß wir uns immer erneut daran machen, jenem Rätsel auf die Spur zu kommen, das wir doch schon ungezählte Male gelöst haben. Als sei es das erste Mal. Und tatsächlich ist das, was wir finden, jedesmal erregend neu, obwohl es, wären wir zu nüchterner Betrachtung fähig, dem Befund von gestern ziemlich gliche. Zum Glück sind wie, wenn wir lieben, nicht nüchtern. (Urs Widmer: Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück, S. 80)


Zwiegespalten

Es erstaunt mich immer wieder, wie wenig wir uns in der Regel des schreienden Widerspruchs bewußt sein, der unsern Alltag prägt. Nämlich, wir erleben uns als politisch reife Demokraten und wehren uns aus guten Gründen gegen jeden Abbau unserer demokratischen Rechte. Wir gestehen unsern Politikern keine noch so kleine Selbstherrlichkeit zu. Wehe, sie fragen uns nicht, ob sie das Dach des Kunstmuseums flicken dürfen. Gleichzeitig begeben wir uns jeden Tag in eine Arbeitswelt, in der nichts, aber auch gar nichts demokratisch geregelt ist. Alles läuft streng hierarchisch ab. Der Chef hat recht, auch wenn er unrecht hat, und zuweilen sind wir dieser Chef. Wie halten wir das eigentlich aus, ohne irre zu werden, tagsüber Weisungen zu empfangen und Weisungen weiterzugeben, genau nach Funktionsdefinition, und am Abend ein reifer Bürger zu sein, gleichmäßig am Wohle aller interessiert? Die Wirtschaft hat ein nur schwach entwickeltes demokratisches Selbstverständnis. Sie war und ist am Mehrwert interessiert und am demokratischen Staat nur soweit, als dieser Bedingungen zu schaffen vermag, die das Geldverdienen möglichst reibungslos erlauben. (Urs Widmer: Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück, S. 22)


Abhängig vom Geld

In jedem und jeder von uns lebt deshalb der Traum, vom Geld unabhängig zu sein. Nicht viel zu haben, nein, gar nicht darauf angewiesen zu sein. Ein Leben ohne Geld zu leben. Mit andern Kriterien: Mit sich selber identisch eine Arbeit zu tun, die genau deshalb gar nicht mehr als Arbeit empfunden würde, mit Beziehungen zu Menschen, die nicht von Interessen geprägt wären. Manche, sogenannte Aussteiger, steigen auf einer einsamen Insel aus und winken dem davonfahrenden Boot nach und leben von Kokosnüssen und Krabbengetier. Es klappt, in der Regel, gerade bis zur ersten Magenkolik. Ein gebrochener Zeh reicht, und man gräbt nach seiner Versicherungspolice. Wenn ich mich in den letzten hundert Jahren umsehe, erkenne ich eigentlich nur einen, der die terroristischen Macht des Geldes aufgehoben hat, indem er sich eine eigene Währung schuf: Pablo Picasso. Er lernte, sein eigenes Geld zu zeichnen. (Urs Widmer: Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück, S. 17)


Geld schafft den Tod

Es ist schwieriger, die diffuse Gegenwart auszuhalten und halbwegs rational zu betrachten, als auf die apokalyptischen Reiter zu deuten, die den Horizont entlanggaloppieren. Das nämlich tun wir sogar mit einer gewissen Lust. Die Apokalypse ist nicht nur schrecklich, sie ist auch großartig, allein schon, weil das eigene individuelle Sterben im allgemeinen Sterben ertragbarer wird. Es trifft alle, nicht nur mich. Ist es ein Zufall, daß mir beim Nachdenken über das Geld das Weltende einfällt? Das Geld, selber so neutral, daß es Gutes wie Böses bewirken kann, scheint doch mehr Unheil zu stiften, als daß es Glück schafft. Es macht - Ausnahmen bestätigen die Regel - egoistisch, es vereinzelt die Menschen und hindert sie daran, sich als Mitglieder einer Gemeinschaft zu verstehen, in der keiner ohne den andern leben und überleben kann. Wir denken längst, wir können das allein, unser Leben leben, besser sogar als mit den andern; wir müssen dafür allenfalls noch irgendeinen Jackpot leerräumen. Geld ist, was es wirkt. Es schafft die Unterschiede. Die Unterschiede schaffen den Neid, der Neid schafft die Wut, die Wut schafft die Gewalt, die Gewalt heißt dann oft Mord, Massenmord, Krieg, Geld schafft den Tod. (Urs Widmer: Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück, S. 16f.)


Analysten und Propheten

Unser Geldsystem hat heute eine Abstraktionshöhe erreicht, in dem die Deuter und Propheten wieder die größte Macht haben. Wie, bizarrerweise, bei den Sumerern schon einmal, gleich bei den ersten zögernden Abstraktionsschritten, die man außerhalb der Tempel nicht zu tun wagte. Die Analysten von heute tragen immer noch Kultgewänder, keine Tücher und Turbane mehr, aber doch jene grauen Maßanzüge, ohne die Kurven, die der Dow Jones und der Dax und der Swiss-Market-Index und der Nasdaq fliegen, gleichen der Flugbahn von Bussarden und Geiern. (Urs Widmer: Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück, S. 16)


Der Umgang mit Geld

Über das Geld nachdenkend, wird man leer, gelähmt oder jäh aggressiv, weil das alles so entsetzlich undurchschaubar ist. Das Geld macht jeden klein, es macht sogar die Größten der Großen klein, weil da immer ein noch größeres Geld bleibt, über das der größte Große nicht verfügt und dessen Wirkung er nicht versteht. Das Geld, das doch wie das Objektive selber aussieht, bewirkt in uns nur allzuoft irrationales Verhalten. Jene Ökonomen, deren Verhalten und Sprache uns signalisieren, daß sie alles im Griff haben, glauben vielleicht selber, daß sie den Markt steuern, weil sie seine Logik verstehen und das Kommende prognostizieren können. Das ist aber nicht so. Es genügt, die Prognosen des vergangenen Jahres mit den Wirklichkeiten von heute zu vergleichen. Der einzelne Ökonom mag sich und vielleicht sogar uns vernünftig vorkommen. Der Markt denkt nicht daran, sich vernünftig zu verhalten. Er reguliert sich nicht selber, schon gar nicht nach den Gesetzen irgendeiner ökonomischen Vernunft, und das aus einem ganz simplen Grund. Der simple Grund sind wir. Wir ökonomisch Handelnden, mit unserer Gier, unserer Machtlust, unserer Hoffnung, einen größeren Happen von der Beute als die andern zu kriegen. Immer, auch wenn längst alle Alarmglocken schrillen, findet sich noch einer, der sich, aufheulend vor Gier, doch noch ins Getümmel wirft. Und dadurch auch den letzten Rest von Rationalität im Markt über den Haufen rennt. Der Markt verhält sich irrational, weil die Menschen, die in ihm handeln, sich irrational verhalten. Sie können gar nicht anders handeln. Es gibt keine Objektivität im Umgang mit Geld. (Urs Widmer: Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück, S. 14)


Fehlende Transzendenzoffenheit

In einem Paradigma, das keine Transzendenzoffenheit erlaubt, wird die menschliche Natur einem Maß unterworfen, das unmenschlich ist. Wenn durch die Anwendung von struktureller Gewalt die Transzendenz verdunkelt und die Ekstase als Flucht vor der Wirklichkeit bezeichnet wird, dann ist das Ende jeglicher evolutiven Entwicklung erreicht, und es bleibt nur noch der Fortschritt des 'Mehr-Desselben'." (Christa Wolf: Ein Tag im Jahr. 1960-2000, S. 317)


Maschinengläubigkeit

... wobei ich übrigens ein Lehrmädchen auf der Post nur mit Mühe daran hindern konnte, mir ganze hundert Mark zuviel herauszugeben: Sie hatte die enorme Rechenleistung, von fünfhundert Mark dreihundertvierzig abzuziehn, nicht selbst vollführen können, sondern sie einer Rechenmaschine anvertraut, und der glaubte sie nun mehr als meinem simplen Vorrechnen mit den Fingern: Dies nur als Vor-Beispiel zum Hoffmannschen MaschinenMenschen, der an den Automaten festhängt, die er gleichwohl nicht zu bedienen weiß). (Christa Wolf an Franz Fühmann, 27.6.1979)


Auf Wahrheitssuche

... welche Qual es oft heißt, die Wahrheit zu suchen; der Weg zu ihr ist nicht immer so beschaffen, daß man auf ihm vorwärtsstürmt. Wenn ich die nunmehr zwanzig Jahre wäge, die ich hauptberuflich als Schriftsteller verbracht habe, so senkt sich die Schale mit den Qualen sichtbar tiefer als die mit der Lust. Das ist am wenigsten Schuld der Gesellschaft, von Schuld ist zunächst überhaupt nicht die Rede, die Sache selbst bringt es so mit sich. Es ist oft grausam quälend gewesen, das eigene Leben zu überdenken und der Wahrheit seiner Existenz ins Auge zu sehen. Ich kenne nur zu gut die Versuchung, bei der halben Wahrheit stehen zu bleiben, sich einen schmalen Ausschlupf offen zu halten, vor der Scham eines Geständnisse zu kapitulieren, ein - um mit Ihnen nochmal Bjelinski zu zitieren - eine "ergötzliche kleine Lüge" zu hätscheln und, um der Pein von Konsequenzen zu entgehen, sich einen "angenehmen Irrtum" zu erlauben, kurzum, den Qualen und Ärgernissen der ganzen Wahrheit auszuweichen, und mich befällt manchmal ein Gefühl vom Neid, wenn ich Kollegen versichern höre, das Schreiben sei rundum ein prächtiger Spaß. - Nein, ich will sie doch nicht beneiden. (Franz Fühmann an Klaus Höpke, 20.11.1977)


Wahrheit

Ihre eigene Feststellung, wenn ich zwei Arten von Wahrheit unterscheide: Die Wahrheit als Resultat, und die Wahrheit als Prozeß. Zwischen diesen beiden Qualität steht keine unübersteigbare Mauer, auch diese Begriffe sind im Fluß, aber sie sind eben auch feste Begriffe, und man sollte sich hüten, sie willkürlich gegeneinander auszutauschen. Das Haben der vor uns schon gefundenen und mannigfach als gültig bestätigten Wahrheit ist etwas Anderes als das Teilhaben am Prozeß ihrer Findung, die das fortschreitende Leben ständig verlangt, und wenn die Wahrheit als Resultat allen gehört, die guten Willens sind, sie zu besitzen, gehören zum Finden der Wahrheit alle, die guten Willens sind, sie zu suchen. Da wie dort gibt es kein Monopol. Weder ein Einzelner, noch ein Berufsstand noch irgend eine soziale Organisation oder politische Gruppierung ist im alleinigen Besitz der Wahrheit und dürfte es auch nicht im Privileg von Mitteln sein, sie finden zu können, dürfte es nicht sein um der Wahrheit willen, die nur von allen gefunden werden kann. - Die Wahrheit des Lebens ist die Wahrheit derer, die leben. (Franz Fühmann an Klaus Höpke, 20.11.1977)


Fernsehen & Identifikation

Mich beschäftigt immer wieder die Frage nach der Wurzel der selbstzerstörerischen Tendenzen in den menschlichen Gesellschaften. Und hier, unter meist älteren Westdeutschen, beobachte ich noch etwas: Die (Über-) Macht der Medien. Wie die Leute süchtig sind auf problemloseste Unterhaltung und auf die Möglichkeit, sich mit Trivial-Figuren aus irgendwelchen Fernseh- Serien zu identifizieren. Nicht mit ihren Angehörigen setzen sie sich echt auseinander, sondern mit fiktiven Figuren, die ihnen keinen Widerstand entgegensetzen und sie ins Nichts führen. Woher dieses Bedürfnis, das mir gar nicht so fremd ist? (Christa Wolf an Charlotte Wolff, 2.12.1985)


Schönheit

Die Vase mit den Orchideenblüten. Schönheit haftet nicht den Dingen an, sondern liegt im Helldunkel, im Schattenspiel, das sich zwischen den Dingen entfaltet, sagt der Dichter Tanizaki Junichiro. Und ich denke, es ist tatsächlich so, daß die Dinge sich für uns jeweils anders abschatten. Erst in unserem Blick, der immer auch aus einer bestimmten Perspektive, einer Geneigtheit, werden sie schön. (Uwe Timm: Halbschatten, S. 120)


Lebenslust und Depression

Ja gäbe es überhaupt die "Schöne blaue Donau" und die "Fledermaus", wenn ein Psychotherapeut den notorischen Nichttänzer Johann Strauß befreit hätte von seinen schwarzen Depressionen? Zu seinen Walzern haben vermutlich mehr Menschen gejubelt als zu irgendeinem anderen Menschenwerk, bis heute ist Johann Strauß der König der Hotelfoyer-, der Fahrstuhl- und der Flugzeug- Lande-Musik, ja der meistgespielte, meistausgeschlachtete Komponist der Geschichte. Was war das für ein Mensch? Er hatte Angst, allein zu sein, Angst, seine Einfälle könnten ihm gestohlen werden (sodaß er sich ein extra gedämpftes Klavier anfertigen ließ zum Schutz gegen Spione), und Angst vor allem, Eisenbahn zu fahren - in jedem Tunnel warf er sich zu Boden. Der Weltmeister im Ausstreuen von Lebenslust war ein Griesgram, ein Sonderling am Rande des Verfolgungswahns. Der unglückliche Strauß hat Glück gestiftet - ein glücklicher Johann Strauß wäre vielleicht nie aufgeblüht oder längst vergessen. (Wolf Schneider: Glück. Eine etwas andere Gebrauchsanweisung)


Fehlende Unlustbereitschaft

Gesunken ist auch unsere 'Unlustbereitschaft'. Körperliche und seelische Widrigkeiten, die unsere Großväter zehn Jahre lang schweigend hinnahmen, treiben uns binnen zehn Minuten zur Tablette oder auf die Barrikade. Die Allgegenwart von Tasten, Knöpfen, Hebeln und Sensoren, mit deren Hilfe wir die erwünschte Reaktion (des Autos, der Waschmaschine, des Fernsehapparats) in Sekundenschnelle erzwingen können, züchtet Ungeduld in allen Lebenslagen und drängt uns zur Sofortlösung aller Weltprobleme. So sehr die Technik einerseits Bedürfnisse befriedigt, die wir gar nicht hatten - so sehr sind wir andrerseits imstande, mit unseren Ansprüchen den Möglichkeiten der Technik vorauszueilen. (Wolf Schneider: Glück. Eine etwas andere Gebrauchsanweisung)


Wäschewechsel

Wäsche waschen, das hieß einst: Alle vier Wochen einen Waschtag einlegen, meist am Fluß, oft mit klammen Fingern, aber doch in fröhlichem Werken mit Dorfklatsch und Gesang. Vor Omas dampfender Waschküche graust es uns heute noch. Ja, die Waschmaschine hat das Leben bequemer gemacht. Aber hat sie eigentlich den Arbeitsaufwand vermindert? Nicht unbedingt - denn mit der Maschine zusammen haben sich unsere Gewohnheiten verändert. Frische Wäsche legten unsere bäuerlichen Ahnen ein- oder zweimal im Monat an. Sie allwöchentlich zu erneuern, galt noch 1914 als ein Luxus, den bei Remarque ein Bauernknecht zu den Wunderlichkeiten des Militärdiensts rechnete. ("Hast alle acht Tage deine Wäsche wie ein Kavalier"). Der heutige Maßstab, daß solche Wäsche übel gerochen haben muß, war den Leuten fremd. Es gab daran nichts, worunter sie gelitten hätten - so wenig wie unser täglicher Austausch für uns eine Quelle bewußten Vergnügens ist. Was also hat der technische Fortschritt uns auf diesem Feld gebracht? Hygiene. Das ist ja was. Nur mit Glück hat es nichts zu tun. Ja, wenn Mutter noch am Waschbrett stehen müßte, während ihre halbwüchsigen Söhne bereits auf täglichem Wäschetausch bestehen! Doch diese Kombination kommt ja nicht vor. Nicht zufällig geht in der kulturgeschichtlichen Entwicklung die Ungeduld des Wäschewechselns mit der Motorisierung des Waschens Hand in Hand. Was die Maschine an Zeit einsparen könnte, verschleudert sie wieder durch die Gewohnheiten, die ihr Vorhandensein nach sich zieht. (Wolf Schneider: Glück. Eine etwas andere Gebrauchsanweisung)


Pubertät ein Leben lang

Ist dir nicht klar, daß die Pubertätszeit bei allen schöpferischen Menschen verlängert ist und eigentlich ihr ganzes Leben lang dauert, daß eben gerade in diesem Nicht-fertig-Werden der Stachel liegt, der für Produktion gebraucht wird? Ausnutzen muß man's, nicht sich dessen genieren. Mut dazu haben, dazu stehen, es für so wertvoll nehmen, wie es ist. Natürlich: Ein bißchen vereinsamt es auch, aber nur so viel, wie zur Arbeit nötig ist. (Christa Wolf, in: Reimann/Wolf: Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen. 1964-1973)


Erfolg

Darüber habe ich vorhin auch meditiert: warum so viele Leute unleidlich werden, wenn sie Erfolg haben, und warum Erfolg so oft zusammengeht mit Verrat an sich selbst, und warum er manche satt macht, daß sie an Leib und Seele verfetten, und manche macht er unsicher, was beinahe noch schlimmer ist, weil hinter dieser Unsicherheit so etwas wie schlechtes Gewissen steckt (so scheint es mir jedenfalls), das überspielt, überschrien, mundtot gemacht werden muß. (Brigitte Reimann, in: Reimann/Wolf: Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen. 1964-1973)


Übers Wetter reden

Weil die Menschen einmal der Tierwelt angehört haben, sprechen sie noch heute so oft über das Wetter und das Klima: das ist eine primitive Erinnerung, die die Sinnesorgane geprägt hat und mit den Überlebensbedingungen vorgeschichtlicher Zeiten verbunden ist. Diese begrenzten, stereotypen Gespräche sind jedoch noch immer das Zeichen für ein echtes Problem: Obwohl wir in Häusern wohnen, in denen wir aufgrund einer erprobten, zuverlässigen Technik die Garantie stabiler klimatischer Bedingungen haben, sind wir unfähig, uns von diesem tierischen Atavismus zu lösen; daher können wir uns unserer Schändlichkeit und unseres Unglücks wie ihres endgültigen, unumstößlichen Charakters paradoxerweise nur dann wirklich bewußt werden, wenn die klimatischen Bedingungen dafür günstig genug sind. (Michel Houellebecq: Die Möglichkeit einer Insel)


Weihnachten

Darum liegt auf dem Weihnachtsfest ein Gewicht, das kein Fest ertragen könnte. Deshalb der Weihnachtsstreß. Man hat zu lange darauf gewartet, es kann nur enttäuschend sein. Es ist auch zu sehr familienorientiert. Viele Leute werden klaustrophobisch, wenn sie zu eng eingegrenzt mit ihrer Familie, und wahrscheinlich noch mehr, wenn sie ohne sie, das Weihnachtsfest verbringen sollen. (Jay Griffiths: Slow Motion. Lob der Langsamkeit)


Erbarmungslose Natur

Wenn man sich beispielswiese die Naturfilme im Fernsehen ansieht, sagte der Dekan, sollte man ja, wenn man mit normalen intellektuellen Fähigkeiten begabt ist, ziemlich nachdenklich werden. Diese Welt kann keine richtig sympathische oder wohlwollende Welt sein! Was wir sehen, ist eine fast durch und durch böse Natur. Eine gigantische, sinnreiche Maschinerie, dafür eingerichtet, Schmerzen zu bereiten, immer aufs neue. Wovon handeln diese Naturfilme? Kleine hilflose Tiere werden zu Tode gejagt. Von größeren und stärkeren, von schnelleren oder von listigeren Tieren. Sie werden zu Tode gejagt, und sie dürfen nicht ohne Schmerz, lähmende Angst, ja Erniedrigung sterben. Und das Eigenartige ist ja, daß dies der Allgemeinheit als lehrreiches, nahezu erbauliches Programm präsentiert wird. Man kann den hechelnden, apologetischen Eifer dieser Naturenthusiasten förmlich hören, wenn sie uns zu erklären versuchen, wie raffiniert und reizend es ist, wenn der Hautflügler seine Eier in den hilflosen Körper der vollständig gelähmten Larve legt. Offenbar erwarten sie wirklich, daß wir das bewundern! Die Präzision, mit der diese scheußlichen kleinen Maschinen, kaum anders als Computerprogramme, ihren Legestachel an den richtigen Stellen in den Körper des armen Wirtstiers bohren, die Jagdtechniken des Raubtiers und die Grausamkeit des Neuntöters gegen die Feldmäuse. Di erbarmungslose, effektiv funktionierende Grube des Ameisenbärs, die dem Opfer keine Chance läßt, oder das kunstvolle Fangnetz der Spinne. Warum sollten wir das bewundern? Kann man sich für die Entwicklung von Leben auf einem Planeten eine grausamere Methode vorstellen als die Evolution? Eine schmerzhaftere, eine brutalere, eine gleichgültigere! (Lars Gustafsson: Der Dekan, S. 93f.)


Menschenopfer

Was Scheußlichkeiten betreffe, so könne er ihnen manches beibringen, diesen Terroristen, bloße Anfänger, die nichts weiter konnten, als die Leute mit der Kugel oder mit dem Messer umzubringen oder ihnen den Kopf zu zertrümmern, Lappalien im Vergleich zu den Techniken der alten Peruaner, die darin äußerst raffinierte Formen entwickelt hatten. Mehr noch als die alten Mexikaner, obwohl es ein internationales Komplott der Historiker gebe, um den peruanischen Beitrag zur Kunst der Menschenopfer zu schmälern. Alle Welt wisse, daß die aztekischen Priester den Opfern des Blumenkrieges auf der Spitze der Pyramiden das Herz herausrissen, aber wer hatte von der religiösen Leidenschaft der Stämme der Chancas und der Huancas für die menschliche Eingeweide gehört, von der Präzisionschirurgie, mit der sie Leber, Gehirn und Nieren ihrer Opfer entfernten, die sie, begleitet von einer guten Mais-Chicha, bei ihren Zeremonien verzehrten? (Mario Vargas LLosa: Tod in den Anden, S. 206)


Shakespearische Gefühle

"Das ist unser ironisches Schicksal - shakespearische Gefühle zu haben und (wenn wir nicht durch eine Chance von eins in einer Billion zufällig wirklich Shakespeare sind) von ihnen wie Automobilverkäufer zu reden oder Halbwüchsige oder Universitätsprofessoren. Wir üben die Alchimie in umgekehrter Richtung aus - berühren Gold, und es verwandelt sich in Blei; wir berühren die reinen Lyrismen des Erlebens, und sie verwandeln sich in die verbalen Äquivalente von Quatsch und Gewäsch." (Aldous Huxley: Genie und Göttin)


Ein brauchbarer Schmarotzer

Ich nehme Gastfreundschaft nicht gerade gern in Anspruch. Der Gast ist stets ein untergeordneter Mensch, dem Haus untergeordnet, das ihn aufnimmt. Er fühlt die lästige Verpflichtung zu einer ständigen Dankbarkeit, während sich der glückliche Gastfreund behaglich dem Genusse seiner generös geübten Wohltat hingeben darf. Weiß Gott, Geben ist seliger denn Nehmen. Insbesondere dann, wenn der Nehmende aufs Geben angewiesen ist. Allzuleicht gerät der Gast in den muffigen Verdacht, seine geheiligte Rolle nur aus Ersparnisgründen zu spielen. Zu den gewöhnlichsten Dingen des Lebens muß man entweder Talent oder Stumpfheit genug besitzen, um ihre peinliche Zweideutigkeit zu überwinden. Wie viele innere Freiheit und Menschenverachtung gehört zum Beispiel dazu, ein brauchbarer Schmarotzer zu sein. (Franz Werfel: Cella oder Die Überwinder, S. 94)


Der Weißstrumpf

Die Naturgeschichte erzählt uns, daß in den frühen Erdepochen jeweils eine andre Tierart vorgeherrscht hat. Die Echsen zum Beispiel und dann die Reptilien. Gegenwärtig ist die Tierart des Weißstrumpfs an der Reihe, die Erde zu erobern und sie umzuprägen. Schauen Sie sich nur gut die Photographien in sämtlichen illustrierten Zeitungen an, gleichgültig wo, in Amerika, in Rußland, in Deutschland, ja sogar bei den Farbigen. Immer derselbe Typus, schlank, hübsch, muskulös, mit leeren Augen, unbeträchtlichem Hirnkasten, aktivistischem Kinn und blitzenden Filmzähnen. Schwimmend, springend, laufend, boxend, motorisiert von A bis Z! Einer wie der andre. Man kann die Gesichter von Pferden und Hunden leichter auseinanderhalten als die Gesichter der Weißstrümpfe. (Franz Werfel: Cella oder Die Überwinder, S. 35)


Die guten Bösen

Über den Daumen gepeilt, gibt es nur vier Sorten von uns: die guten Guten, die bösen Bösen, die bösen Guten und die guten Bösen. Die guten Guten und die bösen Bösen bleiben, was sie waren, die sind selten, aber langweilig. Ebenso die bösen Guten, die sind eine Weile die lieben Kinder braver Eltern mit Häuschen und Garten, doch sie werden größer und wollen die Häuschen und die Gärten und machen alles, damit sie alles bekommen, wovon sie meinen, es stünde ihnen zu. Die einzigen, die zählen, das sind die guten Bösen, die ziehen die Arschkarte schon am Tag ihrer Geburt und lernen, wie die bösen Bösen, nichts als lügen und betrügen und prügeln und rauben, bis sie ein paar Jahre Knast abgreifen und auf dem Zahnfleisch kriechen und manchmal unter die Röcke einer Religion oder einer Ideologie. (Katja Lange-Müller: Böse Schafe, S. 128)


Die Erregungen seiner Natur

Dem "Du sollst nicht töten" fügte ich hinzu: "Beschränke die Geburt von Mensch und Tier - Er, der gesagt hat, 'Du sollst nicht töten', hätte auch sagen sollen: 'Du sollst nicht übermäßig zeugen'..." Dem Gebot "Du sollst nicht ehebrechen" fügte ich hinzu, daß keine Ehe länger als fünfzehn Jahre dauern sollte. Direkt neben diese Dreistigkeit zeichnete ich ein Wesen mit dem Geweih eines Hirschs, den Schuppen und Flossen eines Fischs und den Beinen eines Hahnes. Beim Nachdenken über das, was ich aus der Geschichte und von meiner eigenen Natur her wußte, war ich bereits zum Schluß gekommen, daß die Menschen ständig Abenteuer, Abwechslung, Risiken, Gefahren und Herausforderungen brauchen. Die Angst vor der Langeweile ist mindestens so groß und oft sogar größer als die Angst vor dem Tod. Aber gibt es überhaupt eines Basis für Ethik angesichts dieser biologischen Notwendigkeiten? Sind nicht alle Gebote nur Wunschdenken? Kann im Unterdrücken der Gefühle ebensoviel Abenteuer liegen wie darin, ihnen freien Lauf zu lassen? Liegt nicht mehr Risiko in der Zerstörung als im Aufbau? Kann der Mensch jemals den Launen und Erregungen seiner Natur nachgeben, ohne andere Menschen und Tiere zu verletzen? (Isaac Bashevis Singer: Verloren in Amerika, S. 148)


Zurückversetzt

Ja, mein Liebchen, wenn ich heute um mich sehe und die Menschen von heute in ihrem Treiben und bunten Wesen betrachte, so kommt mich oft ein Staunen an um ihre Hast und Ungeduld. Ich sehe sie rennen und laufen, ich sehe sie auf ihren Eisenbahnen dahinfliegen; ich sehe sie ihre Gebäude aufrichten über Nacht und ihre Gewohnheiten und Meinungen, ihre Kunst und Wissenschaft, alles das, worin und wonach sie leben, ändern, wie man die Hand umkehrt. Ich höre ihr Sprechen und Seufzen, wie alles so schlecht bestellt und wie's kaum noch der Mühe wert sei, Atem zu holen; und mit all dem kommt mir der Wunsch und Gedanken, daß der Herr sie plötzlich mit Haut und Haar zurückversetzte in die Welt vor fünfzig Jahren und sie da einmal acht Tage lang ihren Weg suchen lasse. Da würden sie schön in die Kniee fahren. (Wilhelm Raabe: Frau Salome)


Oligospermie

Leicht demütigende, aber rasche Untersuchungen ergaben, daß er an einer 'Oligospermie' litt. Der Name der Krankheit war in seinem Fall eher ein Euphemismus: Seine Ejakulate, deren Volumen im Übrigen recht bescheiden war, zeichneten sich nämlich nicht durch 'eine zu geringe Anzahl von Spermien' aus, sondern sie enthielten 'überhaupt keine Spermien'. Eine Oligospermie kann sehr unterschiedliche Ursachen haben: Krampfaderbildung im Hodensack, Hodenschwund, hormonales Defizit, chronische Entzündung der Prostata, Grippe oder anderes. Sie hat nur in den seltensten Fällen etwas mit männlicher Potenz zu tun. Manche Männer, die nur sehr wenige oder gar keine Spermien produzieren, haben bisweilen Erektionen 'wie ein Stier', während andere, fast impotente Männer damit ganz Westeuropa wiederbevölkern könnten. (Michel Houellebecq: Karte und Gebiet, S. 287)


Fernmanipulation

Man muß mit der Zeit gehen. Im Mittelalter wäre ich nicht in die Ferne aufgebrochen, ohne meine Liebste in einen Turm oder einen Keuchheitsgürtel einzuschließen; im neunzehnten Jahrhundert hätte ich ihr eine Zwangsjacke gekauft. Heute, aus törichter Rücksicht auf die Freiheit des Individuums, stehen uns dies wohlbedachten und zuverlässigen Verfahren nicht mehr zu Gebote. Um Menschen aus der Ferne unter Kontrolle zu halten, muß man sie telekommunikativ bombardieren. (Amelie Nothomb: Attentat, S. 141)


Einschätzung von Kunst

Im Zweifelsfalle ist es immer gefährlicher, einen Künstler zu bewundern, als Vorbehalte anzumelden. Dies ist nicht allein eine Frage des Mutes; denn es bedarf auch einiger innerer Substanz, um einen Künstler schätzen zu können, um so mehr, wenn man ohne die 'Hilfe' eines anderen entscheiden muß, ob er schätzenswert ist. Davon haben die meisten Leute nichts oder nur wenig. Darum gibt es viele Fans und so wenige Bewunderer, so viele Verächter und so wenige Gesprächsbereite. (Amelie Nothomb: Attentat, S. 132)


Relationen der Vergleiche

"Wo man auch steht, die Sehnsucht geht immer zum anderen Ufer", wusste schon Laotse. Das größere Auto des Nachbarn, die höhere Position des Bruders, die Arbeitsbedingungen im Betrieb einer Bekannten, die Natur in Australien – es ist überall besser, wo wir nicht sind. (...) Die Nulllinie des Erlebens pegelt sich per Gewöhnung immer in der Mitte der Lebenssituation ein, in der man gerade ist. Ein Australier entwickelt wegen fünf Regentagen im Jahr das gleiche Maß an Ärger wie Sie wegen 50 Regentagen. (Dietmar Hansch: Erfolgreich gegen Depression und Angst)


Vermurkste Konstruktion

Die Evolution ist überhaupt ein schlechter Konstrukteur. Sie kann alte Strukturen kaum mehr korrigieren, muss immer wieder neue anbauen und all dies in sich wandelnde Funktionszusammenhänge einbinden. Schon unser Körper ist deshalb eine ziemlich vermurkste Konstruktion: Die Netzhaut ist falsch herum ins Auge eingebaut, Wirbelsäule und Hüftgelenke taugen nicht für den aufrechten Gang, Speiseröhre und Luftröhre überkreuzen sich, was Jahr für Jahr Hunderte von Erstickungstoten kostet, usw. Das betrifft auch das Gehirn: Als das Schlafzentrum justiert wurde, waren die Hirnrinde und das Denken noch nicht erfunden. Deshalb können Menschen schlecht abschalten, deshalb klagen 30% aller Erwachsenen über Schlafstörungen. Vor allem ist das Gehirn ein höchstgradig vernetztes System, was die Gefahr positiver Rückkopplungen mit sich bringt. Bei dem überkomplexen Durcheinander in unserem Gehirn kommen diese Rückkopplungen auch schnell in Gang (...) (Dietmar Hansch: Erfolgreich gegen Depression und Angst)


Warten

"Wir werden warten", sagte Grete, "es ist der Hauptberuf der Frau". Man hörte diese Sentenz nicht zum ersten Mal von ihr. Jedoch, trotz der Länge der durchwarteten Zeit, hat sie es, unseres Erachtens, darin zu keinerlei Meisterschaft gebracht, also - nach ihrer eigenen Theorie - den Beruf gründlich verfehlt. Denn kein wirklich Wartender piesackt das Erwartete herbei. Es verhält sich vielmehr passiv. Das liegt im Begriffe des Wartens. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Anonyme Depots

Es gibt Zeiten, die im Rückblick dem Gedächtnisse keinen Halt bieten. Sie haben keine Nenn-Seite, keinen Henkel, den die Erinnerung greifen kann. Dennoch sind gerade solche Wochen oder Monate - ja, unter Umständen kann's Jahr und Tag sein - wie Schalen, in welchen sich anonyme Depots gesammelt haben, an die wir noch nicht herandurften (loci intacti). Irgendwann einmal werden auch sie zur Ausschüttung kommen, und vielleicht einen glänzenderen Namen haben als jene, die den ihren von vornherein als Handgriff darboten, der nun freilich längst abgewetzt ist. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Frühes Erwachen

Es gibt Tage, an denen man ungewohnt früh erwacht, und man ist am Abend vorher doch keineswegs zeitig ins Bett gekommen. Man erwacht, es ist noch dunkel. Aber die glimmenden Zeiger und Ziffern der Armbanduhr auf dem Nachttisch sprechen uns überraschend zu und sagen von einer schon morgendlichen Zeit. Man liegt im Dunklen auf dem Rücken, in jenem merkwürdigen Zustande der Wahl- und fast Willensfreiheit, als wäre man aller seiner habituellen Schwächen durch den Schlaf über Nacht ledig geworden - oder als schliefen diese eben noch, und nur ganz man selbst im höchsten Grade sei wach. Man ist wirklich ausgeschlafen; und wie aus allen üblen Gleisen gesprungen, deren man ja täglich welche befährt, mit dem fahrplanmäßigen Zügen des Charakters. Man ist wachsam , und ist aus jenem inneren Kleinbahnverkehr wie ausgestiegen. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Schlaf

Im Hintergrunde des Zimmers stand ein breiter Diwan. Seine Müdigkeit ließ ihn jetzt plötzlich Kühle empfinden, ja beinahe Frösteln. Er warf Jacke und Schuhe ab, und da sich bei den Kissen auf dem Sofa eine weiche Kamelhaardecke fand, wickelte er sich in diese ein. Schon erfolgte das Absinken in den Schlaf, das damit verbundene Glücksgefühl, der Zerfall der wachen Zusammenhänge, das Durchschreiten jenes Gebietes, wo es für ein kurzes leidigen Unsinn gibt, weil die Gesetze des Traums noch nicht eingreifen und die des wachen Lebens kraftlos geworden sind. Er sank, erheblich tief. (Heimito von Doderer: Die Dämonen) ^


Nur noch Maschinisten

Sobald uns, wir es irgendwann einmal geschehen muß, aufgeht, daß unsere Hard- und Softwaresysteme alle Informationen für uns bereithalten, auf die wir jederzeit sofortigen Zugriff benötigen, könnte es sehr wohl dahin kommen, daß wir ihnen diese Aufgabe ganz überlassen. Will sagen: Kann sein, daß wir uns entscheiden, die Maschinisten unserer künstlichen Hilfsgehirne zu werden und uns nicht mehr die Informationen selbst, sondern nur noch die Abfrage- und Suchverfahren einprägen, die uns zu ihnen führen. Auf einer bestimmten Stufe dieser Entwicklung würden wir dann zum genauen stammesgeschichtlichen Gegenteil unserer Vorfahren, die in Ermangelung technischer Hilfsmittel der Informationsspeicherung alles ihrem Gedächtnis einprägen mußten. Sollte es mit uns tatsächlich so weit kommen, welchen Status hätten dann Wissen und Bildung? Die Führerpersönlichkeit des elektronischen Stammes wäre nicht der Mensch mit dem umfassendsten Wissen, sondern wer an den technischen Gerätschaften die breiteste Skala von Bedienungsfunktionen auszuführen vermag. Was würde aus der heute schon etwas antiquierten Idee der Weisheit? Ich wage es mir kaum vorzustellen. (Sven Birkerts: Die Gutenberg- Elegien. Lesen im elektronischen Zeitalter)  ^


(Fort)Schritt halten

Man bleibe ein wenig hinter dem Fortschritt zurück: man lasse ein wenig die Hand vom Rundfunkgerät und das Aug' vom Zeitungspapier und von der Leinwand; und man bleibe am Sonntag zurück in jenem Niemandsland um die Stadt, das nur morgens und abends die Lärmwelle der Ausfahrenden oder der Heimkehrenden durchbraust; man bleibe ein wenig hinter dem Fortschritt zurück - und im Nu wird man so einsam sein wie (...) am stillen Herd zur Weihnachtszeit. Den Fortschritt macht heute nicht Prometheus, der als Einsamer und Einziger das Feuer trug. Der Fortschritt ist ein Tausendfüßler geworden. Er wohnt heute in der Straße der Quantität und dort auf allen Hausnummern zugleich; deren sind viele, jene Straße ist lang, wenn auch nicht unendlich. Einsam aber ist der gelinde und diskrete Zurückbleiber hinter dem Fortschritt. Er kann heute weitaus einsamer und abgesonderter sein als je einem mittelalterlichen Schloßherrn möglich gewesen. (Heimito von Doderer: Die Dämonen) ^


Revolutionär

"Revolutionär wäre demnach jeder, der wegen Unmöglichkeit und Unhaltbarkeit der eigenen Lage die Allgemeinheit verändern möchte", sagte ich. "Sagen Sie gleich: die Grundlagen des Lebens überhaupt. Finden sich genug Leute in gleicher Unmöglichkeit und Unhaltbarkeit, so macht das denjenigen, der hier sozusagen den lockenden Weg zeigt - nämlich am Leben, wie es einmal ist, vorbeizukommen, obendrein mit sittlichem Pathos - zum revolutionärem Führer. Revolutionär wird, wer es mit sich selbst nicht ausgehalten hat: dafür haben ihn dann die anderen auszuhalten. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)  ^


2 Wege zum Erfolg

Man kann sagen, daß es ganz allgemein zwei Wege zum äußeren Erfolg in allen Affären zu geben scheint, nämlich entweder den einer außerordentlichen tiefgründigen Kenntnis irgendeines bestimmten Gebietes, als den Weg des Fachmannes sozusagen - oder aber jene Sicherheit, ich möchte fast sagen, unschuldsvolle und traumhafte Sicherheit, die dem völlig Fremden und Beziehungslosen eignet, der ohne jede Voraussetzung heute an hundert Waggons Milchkonserven herantritt und morgen an die Erzeugung und den Vertrieb von Operetten- Librettis. Diese beiden äußerst entgegengesetzten Ausgangspunkte halten die Spitze, und jede Mischform wird schwächer sein. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)  ^


Wahrheit wie Fettflecke

Bekanntlich gilt im praktischen Leben auf die Länge der unangenehme Satz 'es kommt alles heraus'. Die Tatsachen schlagen durch wie Fettflecke, man mag sie einwickeln, wie man will. Tut aber einer gar noch das Gegenteil und macht den ohnehin schon rennenden Fakten noch raschere Beine - die langen Beine der Wahrheit - so kann er einen Sachverhalt mit außerordentlicher Beschleunigung in die Blutbahnen der allgemeinen Kenntnisse bringen und darin verbreiten, so daß am Ende nicht einmal jene davon verschont bleiben, die's nicht im mindesten interessiert: auch sie müssen's wissen. (Heimito von Doderer: Die Dämonen) ^


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