Auf Reisen (1)

Wege und Irrwege, Strapazen und Erkenntnisse [^^] [^]


Themenstreusel: Reisen
Andere Länder, andere Sitten
Am Äquator
Auf Stoffsuche
Koloniales Verhalten
Heimat
Die Strapaze der Veränderung
Wenn Alexander Paepcke reiste
Gründe zum Wegreisen
Einem Fluch gehorchend
Gegen das Reisen
Der Blick des Touristen
Vertraute Gefühle an unvertrauten Orten
Das seelische Nachbild
Essen auf dem Schiff
Hesse: Moderner Reisebetrieb
Am Äquator
Für angehende Schriftsteller
Un-Wahrzeichen


Andere Länder, andere Sitten

Fast überall auf der Welt gehört es zum guten Ton, gastgebenden Eltern, führen sie erstmals ihre Kinder vor, Freundliches über die Nachkommenschaft zu sagen, mag es sich auch um die widerwärtigsten Bälger handeln. In Indonesien ist das ein wenig anders - jedes, noch so aufrichtig gemeinte Lob die Kinder betreffend, gereicht denen, in der Vorstellung der Eltern, zum Schaden. Und zweitens: In jedem Haus, in jeder Wohnung, in jeder Hütte wird man mit der Frage empfangen: 'Haben Sie schon gegessen?' Diese Frage ist keine fröhliche Einladung zu einer Mahlzeit, sondern lediglich eine Begrüßungsformel. Auch wenn einem der Magen zwischen den Knieen hängt, hat man dankbar zu beteuern, soeben vorzüglich gespeist zu haben. (Michael Schulte: Bambus, Coca-Cola, Bambus) ^


Am Äquator

Am Äquator gibt es keine Dämmerung. Ohne viel Federlesens geht die Sonne unter, um zwölf Stunden später ebenso schnell und beiläufig wieder aufzugehen. Nicht wie in anderen Gegenden: theatralische Wolkenformationen, rot- und goldglühende Horizonte, Feuersbrünste am Formament, die von violetten und schwarzen Schleiern gelöscht werden, um endgültig, aber immer noch zögernd, der Nacht ihr Recht einzuräumen. (...) Die Sonne am Äquator gebärdet sich funktional, spendet Licht und Wärme, wie es sich gehört, verzichtet auf alles Opernhafte. Dennoch, oder vielleicht gerade deswegen, gab es in einigen Äquatorgegenden, in Lateinamerika zum Beispiel, Sonnenkulte. Mag sein, daß dieses plötzliche Verschwinden der Sonne erschreckender ist als der pompöseste Sonnenuntergang. (Michael Schulte: Bambus, Coca-Cola, Bambus) ^


Auf Stoffsuche

Ein angehender Schriftsteller auf der Suche nach einem Romanstoff kann nichts Besseres tun als auf Reisen gehen. Das hat schon Goethe gesagt. Mein Reiseziel stand schnell fest, hatte ich doch in zahlreichen Broschüren, Zeitungsartikeln, Reportagen und Abenteuerbüchern gelesen, das Leben sei nirgends vielfältiger, aufregender und gefährlicher als in New York. Genau das richtige Pflaster für einen verzweifelten Romancier. (Michael Schulte: Sabine Hubers Glück und Elend) ^


Koloniales Verhalten

Ich verabscheue die Reisenden, die in ihrer Stammkneipe zu Hause an einem Abend zwanzig oder dreißig Mark versaufen, die Unsummen am Flipper verspielen, die sich täglich und wissentlich von ihrem Metzger bescheißen lassen, im Ausland aber, und zwar nur in den ärmsten Ländern, aus Angst betrogen zu werden und weil sie sich einbilden, feilschen 'gehöre dazu', ein Benehmen an den Tag legen, das dem der ehemaligen Kolonialherren, die zu verachten sie vorgeben, keineswegs unähnlich. Ich handle nie. Entweder zahle ich den geforderten Preis, auch wenn ich weiß, daß er ein wenig überhöht ist, oder ich gehe wortlos weiter. (Michael Schulte: Bambus, Coca-Cola, Bambus) ^


Heimat

"Ich habe nie eine Heimat gehabt, das hängt mit diesem Scheißkrieg zusammen, ich habe immer ein Zigeunerleben geführt, und was Heimweh ist, kenne ich nur aus Büchern. Aber Fernweh, schöne Frau, Fernweh, das kenne ich zur Genüge. Man spürt es, wenn es einen packt, physisch, es ist, als sei im Inneren deines Körpers eine Feuersbrunst ausgebrochen, und der geringsten Anlaß genügt, ein Flugzeug am Himmel, der Geruch des Meeres, das Tuten eines Schiffes oder das Geräusch eines vorbeifahrenden Zuges. Heimweh, das ist die Sehnsucht nach einem erfahrenen Glück, aber Fernweh ist die Suche nach erhofftem Glück, von dem man nicht einmal eine klare Vorstellung hat, das zu suchen man nicht aufgibt, obwohl man ganz tief innen weiß, daß es nicht existiert." (Michael Schulte: Bambus, Coca-Cola, Bambus) ^


Die Strapaze der Veränderung

Der Trübsinn, der von Neshdanow Besitz ergriffen hatte, war jenes Gefühl, das jeden Wohnortwechsel begleitet, ein Gefühl, das alle Melancholiker, alle nachdenklichen Menschen befällt: Menschen von heiterer, sanguinischer Wesensart ist es unbekannt, sie neigen eher dazu, sich zu freuen, wenn eine Abwechslung im Alltag eintritt, wenn die gewohnte Umgebung sich ändert. (Iwan Turgenjew: Neuland) ^


Wenn Alexander Paepcke reiste

Wenn Alexander Paepcke reiste, bereitete er die Reise vor. Er suchte die kürzeste Fahrzeit heraus und den günstigsten Anschluß, und von der Haustür an mußte seine Familie sich nach keiner als seiner Uhr richten. Als er im nassen Juni 1942 aufs Fischland fuhr, richtete sich der Zug nach Stralsund nicht nach Alexanders Uhr und kam zu spät an, als daß der nach Ribnitz noch hätte warten können. Alexander war gekränkt über die zwei Stunden Wartens in Stralsund. Zwar bediente er den Krieg nun in der Zivilverwaltung der besetzten französischen Gebiete, aber in der Gestalt einer Zugverspätung erkannte er den Krieg nicht, da es ein Zug in Deutschland war, der ihm das angetan hatte. (Uwe Johnson: Jahrestage 2) ^


Gründe zum Wegreisen

Gründe zum Wegreisen sind ja immer da. Unsereiner, der mit der Welt nicht in guter Harmonie lebt, der weder an die dilettantische Philosophie Lenins noch an die kindliche des Herrn Ford in Amerika zu glauben vermag; unsereiner, der in der enthusiastischen Betriebsamkeit der Industrien und der Politik nicht viel anderes zu sehen vermag, als halbbewußte, aber unendlich zielsichere Vorbereitungen für den nächsten Krieg - unsereiner fühlt sich in seiner Haut niemals so wohl, daß er nicht gerne jeden kleinen Anlaß ergriffe, um ein wenig davonzufahren, ein wenig zu flüchten und sich zu zerstreuen. Wenn man so allein in seiner Studierstube sitzt und die Lächerlichkeit seines Tuns und Denkens täglich von allen Seiten her bestätigt bekommt, und nichts mehr zu tun hat, als den Nachtigallen im Garten zuzuhören und die zunehmende Gicht in den Fingern zu kontrollieren, nun, da hat man keine sehr feste Position, man ist leicht vom Ast zu schütteln. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 14: Betrachtungen und Berichte. 1927-1961) ^


Einem Fluch gehorchend

Immer wenn bei uns endlich die Sonne scheint und die Häuser und Gärten in den herrlichsten Farben erglühen, stürzen wir, einem furchtbaren Fluch gehorchend, mit Sack und Pack davon und kämpfen uns, schon unterwegs von ähnlich Getriebenem umgeben, zu einsamen Inseln und Stränden vor, die ohne uns tatsächlich schön wären. Auch ich habe es immer so gehalten; kenne Kreta und Jerusalem und Bergün. Dieses Jahr allerdings nehme ich den Satz ernst, den ich vor Jahren einmal gelesen habe und der seither in mir herumrumort: daß wir wegfahren, um anderswo Menschen zu sehen, die zu Hause bleiben. So kehre ich also den Spieß um und den will nun endlich der sein, zu dem die andern kommen. Jene, die der Fluch ihres Landes zu uns treibt. Ich stelle eine Holzbank vor mein Haus, setze mich darauf und rauche mein Pfeifchen, und aufgeregt schnatternde Japaner oder herrlich blonde Schwedinnen gehen an mir vorbei und fotografieren mich in meiner einheimischen Tracht, einem T-Shirt, auf dem Coca-Cola steht. (Urs Widmer: Auf, auf, ihr Hirten. Die Kuh haut ab) ^


Gegen das Reisen

Jeder lebt zu Hause mehr oder weniger wie in einem Gefängnis und will weg. Und doch bin ich eigentlich gegen das Reisen überhaupt und speziell gegen die Hochzeitsreiserei. Wenn ich so Personen in ein Coupe nach Italien einsteigen sehe, kommt mir immer ein Dankgefühl, dieses 'höchste Glück auf Erden' nicht mehr mitmachen zu müssen. Es ist doch eigentlich eine Qual, und die Welt wird auch wieder davon zurückommen; über kurz oder lang wird man nur noch reisen, wie man in den Krieg zieht oder in einen Luftballon steigt, bloß von Berufs wegen. Aber nicht um den Vergnügens willen. Und wozu denn auch? Es hat keinen rechten Zweck mehr. In alten Zeiten ging der Prophet zum Berge, jetzt vollzieht sich das Wunder und der Berg kommt zu uns. Das Beste vom Parthenon sieht man in London und das Beste von Pergamum in Berlin, und wäre man nicht so nachsichtig mit den lieben, nie zahlenden Griechen verfahren, so könnte man sich (am Kupfergraben) im Laufe des Vormittags in Mykenä und nachmittags in Olympia ergehn." (Theodor Fontane: Der Stechlin) ^


Der Blick des Touristen

Und weil es zwar ein Tourismus-Amt gibt, aber keinen wirklichen Fremdenverkehr, löst der Tourist Irritationen aus. Er bewegt sich nicht mit den Schritten des Tagelöhners oder Arbeitslosen. Er sucht was, wendet ein anderes Zeitmaß auf die Kulisse an, sieht eine Fassade hoch, und schon tun es zehn andere, um festzustellen: nie gesehen! Aber wie auch, wenn kein Sommerfrischler da ist, den Blick der Einheimischen zu lenken. Diese betrachten sich niemals selbst, sie werden betrachtet. Als Fremder sucht man immerzu das Eigentliche, irgendetwas, was hinter allem ist, das Wesentliche, aber man kommt nur durch Fassaden und Tapetentüren. Manchmal stehen einzelne gehässig renovierte Kleinodien dazwischen, wie um den Verfall noch bewußter zu machen. Der Rest ist Kapitulation. Nirgends sonst wendet die Architektur so schamlos ihre Materalien nach außen: Gips, Bimsstein, Ziegel, Mauerwerk, geborstenes Holz, blätternde Farbe. Was sich hier zum Ensemble versammelt, ist die Baukunst der Niederlage. (Roger Willemsen: Deutschlandreise) ^


Vertraute Gefühle an unvertrauten Orten

Urlaub meint für die meisten, mich eingeschlossen, an unvertrauten Orten möglichst schnell vertraute Gefühle wiederherzustellen. In den kommenden zwei Wochen verließen wir das Zimmer täglich und schlugen zaghaft größer werdende Zirkel um das Hotel. Wir liefen um den Block, holten uns Suppe, mit der wir auf Bordsteinkanten saßen, weil man in Tokio nicht viel herumsitzt und es an entsprechenden Unterlagen gebricht. Nach zwei bis drei Stunden Außenaufenthalt waren wir erschöpft, wegen der Menschen, der Geschwindigkeit, der Luft, der Fremdheit, die ermüdete, und gingen wieder in unser Bordzimmer. Wir saßen im Bett, lasen, schauten aus dem Fenster, schauten verstörendes japanisches Fernsehen. Unsere erste gemeinsame Reise war in jeder Hinsicht gelungen. Dem Mann wohnte, wie auch mir, absolut keine Neugier inne. Er wollte nichts besichtigen, studierte keine Metropläne, schlug sich nicht mit Reiseführern herum und mit anstrengenden Tagesausflügen. Ich mochte fremde Orte gerne, solange ich mit ihnen keine großen Verbrüderungsszenen vornehmen mußte. Wenn es mir gelang, ein symphatisches Cafe zu finden, ein Hotelzimmer mit feinem Ausblick und eine Steckdose für meinen Tauchsieder, um mir Tee zuzubereiten, und ein gutes Restaurant im engen Umfeld des Hotelzimmers, war ich völlig zufrieden. (Sibylle Berg: Der Mann schläft) ^


Das seelische Nachbild

Kommt man in eine einem bis dahin unbekannte Stadt, so viel man von ihr gehört haben und so berühmt sie auch sein mag, so trägt man bei allem, was man sieht, das Wissen um das, was man daheim zurückgelassen hat, mit sich und hält das seelische Nachbild des Vertrauten als transparante Folie hinter oder auch vor das Neue, um es daran zu messen. (Alois Brandstetter: Kleine Menschenkunde) ^


Un-Wahrzeichen

Angeblich ist Holland das Land der Windmühlen. Wenn man sie auf das Fehlen von Windmühlen anspricht, reden sich die Holländer auf die Zerstörungen im Krieg heraus. Ich halte das für eine Lüge. Wahrscheinlich hat es in Holland nie Windmühlen gegeben sowenig wie in Griechenland Tempel. Die Griechen reden sich dabei darauf hinaus, daß entweder die Türken die Tempel in die Luft gesprengt oder irgendwelche englischen Lords sie ins British Museum verschleppt hätten. Alles Lügen. Wenn man in Athen, zum Beispiel, ein echt griechisches Gebäude sieht, mit Säulen, Karyatiden usw. so kann man Gift darauf nehmen, daß es 1840 von Klenze gebaut wurde. Griechenland besteht heute außer solchen Klenzebauten praktisch nur aus Autoreparaturenwerkstätten und Buden, in denen gebratenes, fettes Hammelhackfleisch mit toten Fliegen verkauft wird (letzteres nennen sie Gyros). (Herbert Rosendorfer: Vier Jahreszeiten im Yrwental) ^


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