Sinn & Weltanschauung (2) [<<]

Der Mensch auf der Suche nach dem Wesentlichen [^^] [^]


Themenstreusel: Weltanschauung
Stammvater Abraham
Kain & Abel
Katholische Spuren
Pfingsten
Das Kirchenjahr
Sündenerforschung
Latein
Den Schöpfer beim Angeln preisen
Das göttliche Ohr
An exponierter Stelle
Schiwe sitzen
Zwang zur Monogamie
Der Abgang von Gott
Kinderglaube & -gebet
Technikbegeisterung
Protestantische Kulturprägung
Bedeutung auftanken
Weicher gebettet
Isaacs Opfer
Ruiniert von geistlichen Büchern
Religiöse Vorlieben
Trotzdem, ich glaube noch
Leere Kalorien
Verzeihung
Institutioneller Dienstweg


Stammvater Abraham

Sie verachtete die monotheistischen Religionen nicht nur, sie war manchmal sogar voller Haß. Eine besondere Abneigung hatte sie gegen Abraham und gegen diejenigen, für die er eine wichtige Figur war. Abraham war jemand, den sie wirklich verachtete. Wirklich, wirklich mein Sohn, Abraham ist eine besonders widerwärtige Figur, ein Mann, der vor lauter Gottesgehorsam bereit ist, seinen Sohn umzubringen, Isaak umzubringen, nur weil dieser eifersüchtige Gott es von ihm verlangt, er will seinen Sohn schlachten, und daß er es nicht getan hat, spricht nicht für ihn, und es spricht auch nicht für seinen Gott. Er hätte es getan, und sein Gott hatte es von ihm verlangt, und beides ist unverzeihlich, und dieser Mann Abraham, dieser fürchterliche Vater, ist der Stammvater dieser drei Religionen, und am Ende heißt es noch, durch seinen Samen sollen alle Völker der Erde gesegnet werden. Das ist eine Wendung, die öfter in der Bibel vorkommt, aber in diesem Fall hat sie einen widerwärtigen Beigeschmack. Isaak hätte sehr viel mehr Grund gehabt, seinen Vater umzubringen, als der arme Ödipus, der überhaupt keinen Grund dazu hatte. Er war nur das Opfer einer Verkettung unglücklicher Umstände. (Günther Ohnemus: Die unglaubliche Reise des Harry Willemer)  ^


Kain & Abel

Die Bibel war das einzige Buch im Haus, sie war den Verwandten ein Talisman, der Beweis der eigenen Christlichkeit, falls Gott oder Jesus eines Tages an die Tür klopfen sollte. Ich war der Einzige, der darin stöberte. Einmal las ich im Alten Testament die Geschichte von Kain und Abel. Es war mir ein Rätsel, wie sich Gott nur an Abels geopferten Lämmern erfreuen konnte, während er die Früchte von Kains Acker verschmähte. Bei uns kam fast nie Fleisch auf den Tisch, für mich sowieso nicht, und es musste immer alles aufgegessen werden. Weshalb aß Gott ausschließlich Fleisch? Die Tante sagte, ich solle in der Schule den Pfarrer fragen, der Onkel gab mir eine Ohrfeige. Eine zweite erhielt ich in der Schule vom Pfarrer. Als ich älter war und von Nietzsches "Gott ist tot" hörte, da dachte ich mir vergnügt, er könnte an Vitaminmangel gestorben sein. (Frederic Zwicker: Hier können Sie im Kreis gehen) ^


Katholische Spuren

Unterwegs erfuhr ich von der Regisseurin den richtigen Namen: "Maria Yôchien" - Marienkindergarten. Ich fiel aus allen Wolken. "Ich war in einer katholischen Einrichtung, ohne es zu wissen?" "Wir haben Fotos der Erzieherinnen gefunden. Sie trugen Ordenstracht. Ist Ihnen das nicht aufgefallen?" "In meiner Erinnerung trugen sie Kittel wie Krankenschwestern. Ich wußte nicht, was Nonnen sind." (...) Während der restlichen Fahrt durchforschte ich mein Gedächtnis nach einer katholischen Spur in Yôchien. Vergeblich. Obwohl ich damals schon wußte, daß es diese Religion gab. Aber ich kannte ihre Bilder nicht. Das Erste, was ich beim Eintreten sehe, ist eine Statue der Jungfrau Maria. Ich erinnere mich aber nicht daran. Daraus schließe ich, daß mir 1970 die Identität dieser Dame unbekant war. (Amelie Nothomb: Eine heitere Wehmut)  ^


Pfingsten

Auf dem Platz von Sankt Peter, dieser mittelsten Mitte des katholischen Universums, hatten sich viele Tausende aus der ganzen Welt eingefunden. Pfingsten war vielleicht das freudvollste aller Jubelfeste, denn es verkündete die Allsprache der feurigen Zungen, die Ausgießung des Geistes über die Erde und war nicht gebunden wie Weihnachten und Ostern an die Stationen der menschlichen Natur, an Geburt, Leidensweg und Tod. Wie die Sonne, so trat auch die Kirche in die Jahreszeit ihres höchsten Triumphes, denn heute, da der zeugende Frühling dem gebärenden Sommer entgegendrängte, heute übernahm der Spiritus Sanctus die Königsmacht über den Kosmos. Dass aber – was in der irdischen Ordnung undenkbar schien – Macht und Geist in einen Meridian zusammenfielen, das war der Vorschein des Gottesreichs hienieden, wie immer die Gläubigen es sich ihrer Fassungskraft nach vorstellten, als ruhigen Schlummer jenseits, als behagliches Treiben in der himmlischen Pensionopolis, als Aufgehobenheit des geschaffenen Ichs über alle Begriffe oder auch nur als gerechtere Zukunftsverfassung der menschlichen Welt. (Franz Werfel: Der veruntreute Himmel. Die Geschichte einer Magd)  ^


Das Kirchenjahr

Die Magd hatte fast sechzig Jahre lang keine einzige Morgenmesse versäumt. Diese sechzig Lebensjahre waren gleichzeitig sechzig volle Kirchenjahre. Das Kirchenjahr ist ein übernatürlicher Spiegel und eine liebliche Entsprechung des Erdenjahres. Wie in diesem Baumblüte, Ährenschnitt, Weinlese und Schneefall ihre Zeit haben, so in jenem der schöne Wandelgang der Feste, der sich unaufhaltsam wiederholt. Und wie der natürliche Mensch mit Leib und Seele am Ablauf des Erdenjahres teilhat, so der Frommgläubige am ewig gleichen Reigen des Kirchenjahres. Beide blühen und reifen und welken in den verschiedenen Phasen des irdischen und überirdischen Sonnenumlaufs mit. (Franz Werfel: Der veruntreute Himmel. Die Geschichte einer Magd) ^


Sündenerforschung

Wäre Dante ein Schwede, Finne oder Deutscher gewesen, hätten seine Sünder kopfhängerisch in der Hölle herumgestanden, und kein neugieriger Jenseitsreisender hätte sie dazu überreden können, mehr über sich preiszugeben als zwei, drei karge Worte. Die Sündenerforschung der Nordländer findet in der Zurückgezogenheit des Verschwiegenen statt, gleichsam in einer Privataudienz mit Gott, der natürlich auch straft, aber eher im Sinne einer radikalen Verfinsterung des Gemüts. (Sibylle Lewitscharoff: Das Pfingstwunder)  ^


Latein

Mit Gott und den Heiligen zu sprechen gelang mir damals noch bestens, wobei der Singsang des Lateinischen mir manchmal freundschaftlich half. Damals kannte doch noch jedes Kind diese Zaubersprache, nicht wahr? Die eigene Sprache ist so verdammt ernsthaft. So voller Anmaßung gegenüber dem Verständnis der nicht zum Verstehen bestimmten Dinge. Während der Schulmessen in der Pfingstzeit sangen wir, glasklar vor uns hinschauend, mindestens vier des siebzehn Strophen zählenden Veni, Creator Spiritus aus dem Kopf. Klang ganz toll. Was wir davon begriffen, war, dass es um eine Taube ging. (Margriet de Moor: Mélodie d'amour)  ^


Den Schöpfer beim Angeln preisen

Vor diesem Sommer in Oxgody hatte ich seit meiner Jugend keinen Gottesdienst mehr besucht. Rückblickend glaube ich, daß ich mit ungefähr siebzehn oder achtzehn ein Ungläubiger geworden war, und es kann sich um keinen bedachten Entschluss gehandelt haben. Meine Eltern waren keine Kirchgänger, hatten aber kirchlich geheiratet und mich taufen lassen und, nehme ich an, vage an ein Leben nach dem Tod geglaubt. Während der Angelsaison verließ mein Vater fast jeden Sonntag früh das Haus. Davor streckte er kurz den Kopf in mein Zimmer und sagte: "Ich gehe meinen Schöpfer am Flußufer preisen: Kümmere dich um deine Mam." (J.L. Carr: Ein Monat auf dem Land)  ^


Das göttliche Ohr

Schon als Kind: reden und über das Reden reden, den anderen zuschauen, was sie miteinander anfangen und abbrechen, soziale Geschäftigkeit, die Sehnsucht nach einem Zuhörer, eine Zeit lang meinte ich damit Gott: ein kosmisches Ohr, zu dem alles hochstieg, und ich verlangte keine Antwort (wahrhaftige Zuhörer schweigen oft, weil sie zu beschäftigt sind mit Zuhören, vielleicht war das der Grund für Annas Schweigen). Das göttliche Ohr, dachte ich, umschließe die Welt, wir seien eben vielleicht nur ein Körnchen Schmalz in dieser allumfassenden Ohrmuschel. Später fand ich dann das göttliche Ohr so schwerhörig, dass ich mich entschloss, es als Zuhörer zu streichen, denn wenigstens eine winzige Versicherung muss es für den Sprechenden ja schon geben, dass er gehört werde, und wenn sie ausbleibt, sollte man die Idee aufgeben und besser an anderer Stelle suchen, lieber Ohren mit feinem Flaum und langen weichen Ohrläppchen, in die ich hineinflüstern kann, mit der Zungenspitze die Windungen nachfahren, das gefällt jedem, vielleicht sogar Gott. (Annette Pehnt: Briefe an Charley)  ^


An exponierter Stelle

Dann kontemplierte ich angesichts der ausgedehnten Wand vor mir. Ja, "kontemplierte" - ein passenderes Wort gibt es nicht: Es war ein feierlicher Moment. Sie erstreckte sich (das heißt die Wand) oben bis zu den Dachbalken und seitlich und abwärts bis zum Rand des Chorbogens. Wie ein Blinder fuhr ich mit beiden Handflächen über die Oberfläche, bis ich die Stellen fand, die übertüncht worden waren. Wir sind von Natur aus hoffnungsvolle Geschöpfe, stets bereit, von Neuem betrogen zu werden, voll banger Erwartung, welches Wunder sich möglicherweise in einem braunen, auch noch so schmuddeligen Packpapierpaket verbirgt. Aber ich wußte, daß es da war. Und ich wußte, es war das Jüngste Gericht. Es mußte das Jüngste Gericht sein, weil es sich immer an exponierter Stelle befand, dort, wo die Gemeindemitglieder nicht umhinkamen, die gottgewollten entsetzlichen Dinge anzuschauen, die ihnen widerfahren würden, wenn sie ihren Kirchenzehnten nicht herausrückten oder das Mädchen nicht heirateten, das sie geschwängert hatten. (J.L. Carr: Ein Monat auf dem Land) ^


Schiwe sitzen

Am Nachmittag wich mit einem Zirpen das letzte Leben aus meinem kleinen Großonkel in spe. Mindel wischte sich die Augen. Steinalt und sterbensmüde fühlte sie sich. Ächzend verhängte sie alle Spiegel mit schwarzem Tuch. In ausgetretenen Kamelhaarlatschen schlurfte sie mit gekrümmtem Rücken durchs Haus, schloss die Fensterläden und zog die Vorhänge zu. Nach jüdischer Tradition riss sie die rechten Rocksäume und Kragen der Mädchen ein, sich selbst als Mutter die linken, zerzauste sich und den Mädchen die Haare und entzündete rechts und links der Wiege Kerzen für die Zeit des Schiwe-Sitzens, der jüdischen Trauerzeremonie. Zu guter Letzt hielt sie feierlich das Pendel der Standuhr an. Ein paar Tage lang sollte die Zeit stillstehen, oder fast. Zum ersten Mal regte sich auch bei den sieben Mädchen so etwas wie ein Gefühl. Der Anblick der düsteren Szenerie mit den trüb funzelnden Kerzen neben der nun schwarz verhängten Wiege war ihnen unheimlich. Jeden Moment waren die sieben darauf gefasst, dass die unglückliche Seele ihres Bruders als Gespenst von irgendwo hervorhuschen würde: "… wenn er Charakter hat!" Zu ihrer Enttäuschung spukte er nicht einmal herum. "So ein Schmock!" Für ein Kleinkind unter zwei Jahren sollten ein Tag und eine Nacht anstatt der für Erwachsene vorgeschriebenen sieben Tage und Nächte Trauer reichen. Das hatten die Juden der Gegend vor Urzeiten so beschlossen. Schließlich starben Kinder jeden Tag weg wie die Fliegen. Die jüdischen Kinder raffte der Tod wegen des schlechten Wassers ihrer Brunnen sogar noch häufiger dahin als die christlichen. Und wo käme man hin, wenn man für jedes Würmchen, das wegstürbe, eine ganze Woche vertue und die Lebenden um der Toten willen hungern ließe? Wie befohlen sprachen die sieben hinterbliebenen Schwestern leiernd die Gebete. Nur Flora tat so, als trauerte sie aus tiefster Seele, heulte theatralisch auf und riss sich an Haaren und Kleidern. "Die schiebt Phiole! Das falsche Aas." (Marcia Zuckermann: Mischpoke!) ^


Zwang zur Monogamie

Wenn ich nicht irre, sind es vor allem Flachlandgorillas und Meerschweinchen, die von Natur zu monogamer Glückseligkeit verurteilt sind, bestimmt aber nicht Menschen, was die Kirche früh erkannt und zu einem weiteren Instrument der Knechtschaft erkoren hat. Kontrolle und Unterdrückung bis in die Schlafzimmer hinein, biologische Gegebenheiten zur Todsünde erklären, dabei freilich die durch die Jahrhunderte vögelnden Päpste mit ihren Heerscharen unehelicher Kinder großherzig übersehend. (Michael Schulte: Ich freu mich schon auf die Hölle. Szenen aus meinem Leben)  ^


Der Abgang von Gott

Es muß da wohl einen kausalen Zusammenhang gegeben haben zwischen dem Auftritt der Angst vor Groß T in meinem Kopf und dem Abgang von Gott; doch wenn, dann war es ein lockeres Hin und Her, ohne daß sich irgendein formeller Prozeß mit logischen Überlegungen vollzogen hätte. Gott, der zehn Jahre zuvor ohne Beweis und Begründung in meinem Leben aufgetaucht war, mußte aus einer Reihe von Gründen seinen Hut nehmen, von denen vermutlich keiner ganz triftig aussieht: die Langweiligkeit von Sonntagen, die Schleimer in der Schule, die den ganzen Kram ernst nahmen, Baudelaire und Rimbaud, die Freuden der Blasphemie (ein gefährlicher Punkt), Kirchenliedersingen und Orgelmusik und die Sprache der Gebete, die Unmöglichkeit, Wichsen immer noch als Sünde zu begreifen, und - als letzter Trumpf - keine Lust zu glauben, daß tote Verwandte zugucken bei dem, was ich so treibe. (Julian Barnes: Metroland)  ^


Kinderglaube & -gebet

Gott hatte ich verloren, als ich das Beten optimierte. Seit frühester Kindheit hatte ich jeden Abend zwei lange Normgebete gesprochen, und zwar mit enervierender, masochistischer Langsamkeit, um bloß nicht der Eile und Oberflächlichkeit bezichtigt werden zu können. Zwischen beiden hatte ich immer ein ziemlich langes Zwiegespräch mit Gott geführt, eine tatsächliche Rekapitulation des Tages vorgenommen wie auch eine Wunschliste für den nächsten Tag und die nähere Zukunft erstellt. Die Gespräche bildeten das Kernstück dieses Rituals im Dunkeln, die beiden Standardgebete den Rahmen. Irgendwann mit elf oder zwölf Jahren dann fingen die Gebete an, sich immer schneller abzuspulen, auch das Zwiegespräch beschränkte sich nun auf das Wesentlichste und arbeitete bald mit Wiederholungen und Textbausteinen. Ich war dabei, das Beten zeitlich und formal zu optimieren. Der Pragmatismus zog in mein Kinderbett ein. Die Rahmengebete wurden immer rasender und schneller heruntergerasselt, das eigentliche Gespräch kaum mehr durchdacht. Das Kreuzzeichen war ein kurzes Fingersteppen auf der Brust. Als das Ganze schließlich nur noch einem schludrig hingerappten Sprachwirrwarr glich, ließ ich das Gebetsritual sein. Damit starb aber auch Gott. Das schockierte mich, doch es führte kein Weg zurück. Mit der Ansprache der Instanz fiel auch der Glaube an ihre Existenz weg. (Thomas Melle: Die Welt im Rücken) ^


Technikbegeisterung

Mit dem Zurücktreten der religiösen Weltsetzung, mit dem Fraglichwerden der Beobachtung des Weltbeobachters Gott, kommt es zu der Frage: wer denn sonst? und wie denn sonst? Es meldet sich das Subjekt, zuweilen unter dem Pseudonym ›Geist‹. Auch die Kunst sieht seit der Romantik hier ihre Chance. Andere Möglichkeiten, vor allem solche der Physik, werden zunächst abgewiesen." In den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts allerdings, zur Zeit der Erfindung des "Radiomann"-Kastens, erhoben Technik und Naturwissenschaft (vor allem tatsächlich die Physik), ermutigt durch die berühmten Entdeckungen und Erfindungen der Zeit, aber auch durch den sowjetischen Leninismus und den amerikanischen "New Deal", längst utopische und sogar religiös-welterlösende Ansprüche. Unter anderem eben denjenigen, die ganze Welt beobachten zu können. "Vom Gebirg zum Ozean, alles hört der Radiomann." Man begeisterte sich in der Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg für die Technik, weil sie den Menschen die Geborgenheit und das Bescheidwissen über die Welt zurückgeben zu können schien, die ihnen mit der Religion verlorengegangen waren. (Stephan Wackwitz: Die Bilder meiner Mutter) ^


Protestantische Kulturprägung

Die zwei jungen Frauen nippen noch immer an ihrem Früchtetee und streicheln einander spröde die Arme. Wenn ich ihre Herkunft erraten müsste, würde ich auf eine größere Stadt protestantischer Kulturprägung tippen. Nur sehr leistungsorientierte, evangelisch sozialisierte Menschen sind imstande, einander so ausdauernd schmallippig und ohne jede Sinnlichkeit zu streicheln. Wären die beiden Katholikinnen, würde da längst die Möglichkeit einer Sünde mitschwingen. (Alex Capus: Das Leben ist gut)  ^


Bedeutung auftanken

Um sich geistig mit all dem zu arrangieren, was man auf Erden so verpaßt zu haben glaubt, greift der Mensch gern zu jenseitigen Aussichten. Wiewohl diese Welt von Erbärmlichkeiten und Albernheiten strotzt, wird kaum ein Schicksal als einfach nur albern und erbärmlich hingenommen. Das Leben ist sehr wahrscheinlich ein Zwischenhalt auf der Reise vom Nichts ins Nichts, man tankt dort Bedeutung auf, die später wieder abgelassen wird. (Helmut Krausser: Alles ist gut)  ^


Weicher gebettet

"So ist er verheiratet?" fragte Hirschfeldt weiter. "Er war es. Die Gräfin starb; erst Abzehrung, zuletzt ein Blutsturz, der sie tötete. Sie war sehr schön, eine Gräfin Lieven. Als sie starb, verbarg sich der Graf vor der Welt; er war nur dann und wann in Dresden, und es hieß, daß er zum Katholizismus übertreten werde." "Die Drosselsteins zählen sonst zu den festesten Protestanten." "Auch wohl der Graf. Aber es gibt Lagen – so wenigstens sagte die Tante, der ich auch die Verantwortung dafür zuschiebe –, wo der Protestantismus versagt und der Katholizismus das Herz weicher bettet." (Theodor Fontane: Vor dem Sturm) ^


Isaacs Opfer

"In irgendeiner Kirche hängt so eine schöne Darstellung von Isaaks Opfer. Mittelalter. Isaak ist auf den Holzstoß gebunden. Abraham steht mit einer Riesenreiterpistole vor ihm und will losdrücken. Aber oben auf einer Wolke steht das Englein und pißt auf die Zündpfanne. Und ein Spruchband geht darum: 'O Abraham, o Abraham, dein Schießen ist umsunst, dieweil das Englein auf die Zündpfann brunst'" (Hans Fallada: Bauern, Bonzen und Bomben) ^


Ruiniert von geistlichen Büchern

Bücher sind von Belang. Meine arme Frau Doris ist von Büchern ruiniert worden, von Büchern und von einem heidnischen Engländer, nicht von schmutzigen Büchern, sondern von geistlichen Büchern. Aber Bücher haben sie ruiniert. Man hüte sich vor episkopälischen Frauen, die sich mit Ayn Rand und Buddha einlassen und mit Dr. Rhine, früher an der Duke Universität. Ein bestimmter Typ von episkopälischen Mädchen hat eine Schwäche, die gleich nach der Jugend über sie kommt, genauso sicher wie ein italienisches Mädchen fett wird. Sie werden von gnostischem Stolz befallen, beginnen Antiquitäten zu kaufen und nach esoterischen Lehren zu schmachten. (Laszlo Nemeth: Abscheu) ^


Religiöse Vorlieben

Seine Lieblingsgegenstände waren die Kirchendisciplin, Gebräuche und Ceremonien, die apostolische Nachfolge, die Pflicht der Ehrfurcht und des Gehorsams gegen die Geistlichkeit, die verbrecherische Abscheulichkeit des Andersdenkens, die unbedingte Nothwendigkeit, alle frommen Formen zu beobachten, der tadelnswerte Vorwitz derjenigen Individuen, welche es versuchten, in Religionsdingen selbst zu denken, oder sich von ihren eigenen Auslegungen der heiligen Schrift leiten zu lassen, und gelegentlich — seinen reichen Zuhörern zu Gefallen — die Nothwendigkeit des ehrerbietigen Gehorsams der Armen gegen die Reichen, wobei er seine Maximen und Ermahnungen stets mit Citaten aus den Kirchenvätern unterstützte, die er weit besser zu kennen schien, als die Apostel und Evangelisten und deren Wichtigkeit er, wie es mir vorkam, für wenigstens eben so groß hielt, wie die Jener. (Anne Brontë: Agnes Grey) ^


Trotzdem, ich glaube noch

Ich zum Beispiel bin römischer Katholik, obschon ein schlechter. Ich glaube an die heilige katholische apostolische und römische Kirche, an Gott, den Vater, an die Auserwähltheit der Juden, an Jesus Christus seinen Sohn unsern Herrn, welcher die Kirche gegründet hat auf Petrus, seinen ersten Vikar, welche dauern wird bis ans Ende der Welt. Vor ein paar Jahren allerdings habe ich aufgehört, Christus zur Kommunion zu essen, aufgehört, zur Messe zu gehen, und führe seither ein liederliches Leben. Ich glaube an Gott und den ganzen Kram, aber Frauen liebe ich am meisten, dann Musik und Wissenschaft, dann Whisky, Gott an vierter Stelle und meinen Nächsten fast überhaupt nicht. Im allgemeinen mache ich, was ich will. Ein Mann, schrieb Johannes, der sagt, er glaube an Gott, und seine Gebote nicht hält, ist ein Lügner. Wenn Johannes recht hat, dann bin ich ein Lügner. Trotzdem, ich glaube noch. (Walker Percy: Liebe in Ruinen)  ^


Leere Kalorien

"Sag, daß du nicht an Gott glaubst. Sag, daß Gott für dich nichts als ein alter israelitischer Furz ist. Sag es!" (...) Da gab es einst diesen furchtbaren Stammes-Chauvinismus der Juden. Dann kam ein junger Größenwahnsinniger daher und sagte: ‹Seht mich an.› Und ungefähr ein Dutzend Leute taten es. Und dann… Wir wissen nicht, was geschah, keiner weiß es, wir wissen nur, daß zu der Zeit, als das Römische Reich verrottete, ein Mysterienkult stärker war als all die anderen. Die Leute waren damals ebensolche Wirrköpfe, wie sie es heute sind – es hätte jeder Kult sein können. Und die verdammte Sache ist bis heute unter uns lebendig. Es ist eine feste Einrichtung daraus geworden, ein Establishment, meine geliebte Frankie. Ein Riesenschwindel. Glaub mir. Die Worte sind leer. Das Brot ist nichts weiter als Brot. Die größte Vertriebsmacht in der Welt, und sie verkauft leere Kalorien – Jesus Christus. (Quelle nicht mehr nachvollziehbar; für Hinweise dankbar)  ^


Verzeihung

Und ich interessierte mich mehr für Elohim, den erhabenen Schöpfergott des Universums, als für seinen blassen Sprössling. Jesus hatte die Menschen zu sehr geliebt, das war das Problem; sich für sie kreuzigen zu lassen, zeugte mindestens von schlechtem Geschmack, wie die alte Hure gesagt hätte. Auch seine übrigen Taten deuteten nicht gerade auf besonders große Besonnenheit hin, das belegt die Vergebung für die ehebrecherische Frau mit Argumenten wie "Wer unter euch ohne Sünde ist" usw. Das dürfte nicht besonders schwer gewesen sein, man hätte nur irgendein siebenjähriges Kind herbeirufen müssen, das hätte ihn schon geworfen, den ersten Stein, das verdammte Gör. (Quelle nicht mehr nachvollziehbar; für Hinweise dankbar) ^


Institutioneller Dienstweg

Viele Jahrhunderte lang hätten Menschen geglaubt, Gott habe eine besondere Botschaft für sie. Aber einmal angenommen, ein unmittelbarer Zugang zum Göttlichen sei überhaupt möglich, so bestehe eine der bedeutendsten Leistungen der Amtskirchen ja gerade darin, für die Kommunikation zwischen Gottheit und Mensch einen Dienstweg eingerichtet zu haben und andere Wege nicht anzuerkennen. (Edith Wharton: Ein altes Haus am Hudson River)  ^


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