Jahrestage [<<]"Aus dem Leben von Gesine Cresspahl" - Uwe Johnson
Textstreusel WeihnachtenÜber Weihnachten in New York werde ich Ihnen Auskünfte nicht so vollständig geben können, wie Sie sie benötigen. Die optische Belästigung beginnt ungerechtfertigt früh, bis zu vier Wochen vorher. Der Kommerz schlägt als erster zu, nicht nur mit der gezielten Dekoration. Die Kaufhäuser hämmern dem Kunden auch noch akustisch ein, aus welchem Grunde er diesmal sein Geld hergeben soll; Weihnachtsmusik und Unsere garantiert aus Paris importierte Unterwäsche. Auf den Straßen kriecht die Heilsarmee aus den Nestern; Posaune und Klingelglöckchen. Schließlich stellt noch die schäbigste Bar einen elektrifizierten Winzling von Weihnachtsbaum zwischen die Flaschen. (Bd.2) ^ KinderglutEs ist der Mittwoch zwischen Weihnachten und Neujahr, also kinderglut. Marie hat dies Wort noch nicht geschrieben gesehen, nur gehört und gesprochen, sie ahnt da nichts von Verwandtschaft mit dem Deutschen. Jedoch kennt sie die Rechte eines Kindes in New York an diesem Tag: das Recht auf Schulfreiheit, auf Toben in der Stadt, durch die Warenhäuser, durch die Ubahn, ein Recht auf Vergnügen, wo es sich finden läßt. (Bd.2) ^ Der geteilte HimmelWenn deine Hilfsbedürftigen ankamen mit den Darstellungen ihrer Liebe zu einer Person im abgeschnittenen Land, du bist ihnen doch oft mit einer Zusage über den Mund gefahren, damit du dies Seelengerassel nicht mehr anhören mußtest. Wir alle hätten genauer hinhören sollen. Welche waren doch schlicht beleidigt, daß die D.D.R. ihnen den Tort tat, ihnen ein Liebesobjekt zu entziehen. Welche wollten die Verlobte oder Geliebte doch auch holen, um ihnen zu beweisen, daß sie auch in diesem Fach potent waren. Erinnerst du dich an den Lyriker aus München, der dir die Schürze vollgeheult hat? zwei Monate, nachdem das bestellte Mädchen ihm übergeben war, schmiß er es weg. Erinnerst du dich an Dietbert B., den Fotografen, den Weltmann? Hörte man sie reden, so ging ihnen die Entfernung von der geliebten Person ans Leben, waren sie einander unentbehrlich um jeden Preis, und tatsächlich reichte es ihnen nicht einmal zu einem beliebigen Ort, da zusammen zu leben. (Uwe Johnson: Jahrestage 1) ^ WestpaketeEmmy Creutz wünscht sich als Honorar 1 Herrenpullover (Silastik) mit Rollkragen in Weinrot, Größe 48-50, 1 bügelfreies Oberhemd, Größe 43, und 1 Herrenanorak Größe 56, Nylon, gefüttert, nicht so kurz, die Farbe wie Sie denken, Frau Cresspahl. Von diesen Waren kann Emmy Creutz nur aus der Werbung im westdeutschen Fernsehen erfahren haben. (...) Dann müssen wir das Paket an Ite Milenius in Lübeck schicken, damit Emmy Creutz der Zoll für Sendungen aus den U. S. A. erspart bleibt. Ite Milenius muß amtliche Bescheinigungen über Desinfektion beschaffen, sonst werden Textilien zu Gunsten der Deutschen Demokratischen Republik eingezogen. Ite Milenius soll die Sachen auf drei Päckchen nach Jerichow verteilen, an Emmy, Erich und Jürgen Creutz, da die Deutsche Demokratische Republik nicht drei Kleidungsstücke in einer Sendung erlaubt. (Uwe Johnson: Jahrestage 1) ^ Marode SchulenDein Kind (...) kam aber mit sechs Jahren immer noch nicht in eine städtische Schule, in einen der schäbigen Ziegelkästen, die stinken nach fiskalischem Geiz, in überfüllte Klassen, in denen die Kinder der Armen die Streite ihrer Eltern ausschlafen, in denen unterbezahlte Lehrer mehr auf die eigene Verteidigung bedacht sein müssen als auf den Unterricht, in eine Welt, in der Hieb gilt und Stich und Schlag. Gefielen dir nicht die zerbrochenen Bänke, die stinkenden Toiletten, die öden Zementhöfe hinter deftigem Maschendraht? (Bd.1) ^ MarieDiese Marie ist zehneinhalb Jahre alt und reckt sich zu vier Fuß elf Zoll. (...) Wohl finde ich Mecklenburgisches, Ironie in Schiefhalsigkeit, durch Kopfsenken verkanteten Blick, steinerne Versteckmiene, überhaupt das Anschlägige, das Schabernacksche. Das alles nun in ausländischer Sprache. Es ist das Amerikanisch des Mittelstands, diszipliniert durch eine Traditionsschule, vorsichtig gegen Slang. Was sie dann aber spricht, damit lebt sie. Oft muß ich, mit meinem Dolmetscherdiplom, nachschlagen. (...) Neuerdings ist eine Art Entschuldigung: I stand corrected, und das mit dem Akzent der Upper West Side von New York, für den Sie so leicht keine Zensur fänden. Deutsch spricht sie, als hätte sie Schmerzen im Hals. Wahrscheinlich mußte sie die mitgebrachte Sprache opfern, um bequemer anwachsen zu können in der Straße, der Schule, der Stadt. Düsseldorf, Berlin, Jerichow, für sie ist es Geographie. Germany. An Ferien in Dänemark erinnert sie sich besser. Sie jetzt in die deutsche Sprache zurückbringen, es wäre ein größeres Unglück für sie als der Umzug ins Amerikanische war. (Bd.2) ^ New York Times (1)Die Tante raucht (Zigarillos), sie trinkt auch von den harten Sachen; sie versteht einen Witz, solange sie im festen Interesse der Allgemeinheit ihn unzulässig zu nennen nicht umhinkann. Sie geht mit der Zeit. Sie kann kochen, sie kann backen. Die Tante ist ledig geblieben, es deutet ihre Ansprüche an. Sie gibt Ratschläge in Ehefragen, sie kann sich vorstellen wie es in der Ehe ist (immerhin soll ein Musikkritiker Musik kritisieren, nicht Sinfonien schreiben. Nicht einmal Sonaten). Sie ist modern. (In ihrer Familie hat Gesine eine solche Tante nicht.) Wir haben es hier mit einer Person zu tun, mit der man die Pferde stehlen gehen kann an allen Tagen, da die Gesetzgebung den Diebstahl der Pferde vorschreibt. (Bd.1) ^ MarjorieSie heißt nicht Marjorie. Wir wissen ihren Namen nicht. Wir kennen sie nicht. Sie ist uns zugekommen im vergangenen Winter, ein Mädchen, das an der 97. Straße auf den Bus 5 wartete. Es war ein Tag mit ätzendem Wind, kalt genug das Warten eindringlich und inständig zu machen. Sie stand nicht krumm und im Unglück der Kälte zusammengezogen; sie machte aus dem Frieren eine sorgfältige und zierliche Pantomime. Es sah aus, als fröre sie aus Kameradschaft. Wir gaben ihr nur ganz wenig Worte, und schon vertraute sie uns an: sie sei froh, dies Wetter nicht versäumt zu haben. Sie sagte es als eine Wahrheit, und da es ihre Wahrheit war, kam sie nicht zudringlich heraus. So zutraulich ist sie. So anmutig kann sie leben. Das Wort schön, für sie ist es übriggeblieben. Sie kann unter wuchtigen Capes verbergen, daß sie schon sechzehn Jahre lang richtig gewachsen ist, sehr schlank, noch nicht schmächtig, auf langen Beinen, die auch die Blicke weiblicher Passanten auf sich ziehen. Es ist ihr Gesicht. Ihr Gesicht ist eine Auskunft über sie, die nie enttäuscht, nie zurückgenommen werden muß. (...) Wir sehen ihr auf den Mund, weil er jung ist, wir sehen ihr auf die Lippen wegen ihres ganz bewußten, absichtlichen Lächelns. Es ist ernst, es ist überlegt. Es bedeutet etwas, es ist verständlich. Es ist freundlich. Was andere zu den Festen geschenkt kriegen, davon kann sie leben, aus dem Vollen. Sie sieht uns, sie strahlt. Sie redet mit ihren schwarzen Augen, und wir glauben ihr. Es ist nicht erfindlich, warum sie glücklich sein sollte, uns zu sehen; wir nehmen es hin ohne Widerrede in Gedanken. (...) Sie hat einen einzelnen, eigens für uns abgetrennten Blick abzugeben, der sagt, als hätte sie insgeheim neben unserem Ohr gesprochen: Es tut mir wohl, euch zu sehen. Es ist nicht einmal unbehaglich. Da ist kein Zweifel. Sie verhängt ihre Wahrheit über uns. Sie kann noch nur ausdrücken, was sie ist. Sie hat eine Art, sich uns zuzuwenden, aufmerksam, heiter, fast ergeben vor Teilnehmen, in einer schön aus Schultern und Nacken laufenden Bewegung, deren Abbild im Gefühl abgemalt wird wie eine Berührung. Sie umfaßt uns mit ihrem Blick jedes Mal, als erkennte sie uns, nicht nur ihr Bild von uns, auch was wir wären. Und wir glauben ihr. Wir verdächtigen nicht ihre Aufrichtigkeit. Mit ihr läßt Freundlichkeit sich tauschen, als sei sie noch ein Wert. (Uwe Johnson: Jahrestage 1) ^ Trotz der Unversorgten... traf auf Leute in Cresspahls Alter, in verwahrloster Kleidung, mit einem fauligen Geruch, die sie fast mit Unhöflichkeit am Betreten des Hauses hindern wollten. Sie hätte sich gern damit begnügt, den Jungen zu bedauern, daß er von der Arbeit zurückkam zu schlampigen Eltern, in eine verschmutzte Wohnung. Sie mochte lange nicht glauben, daß andauerndes Leben ohne Arbeit und Einkommen solche Gleichgültigkeit erzeugte, für die die Ritchetts tatsächlich auch sich geschämt hatten wie für eine private Verfehlung. Dann bekam sie heraus, daß Perceval mit seinem Lohn auch noch aufkam für die Eltern, dazu Geschwister, weil das Arbeitsamt von Richmond an ihrer Bedürftigkeit kleine Zweifel hatte. Jetzt dachte sie sich hinter den kahlen Fenstern in den Arbeiterstraßen mehr solche verreckten Haushalte, und konnte nahezu den Trotz der Unversorgten verstehen, die nur noch auf der Straße und in der Kneipe, mit gelegentlicher Rasur und ramschiger Kaufhauskleidung, einen bürgerlichen Schein wahrten. (Bd.1) ^ Moral (2)Nach seiner Auffassung ist die Moral ein Geschäft für die Verwalter der Macht, die sie im Munde führen, und nicht zu besorgen von ihren Abhängigen, deren Gewerbe das Überleben sei. (...) Im übrigen vertrauen sie auf die schöne Gewißheit, daß Keiner von ihnen einst behandelt wird als ein Kriegsverbrecher, und Jeder als ein Spezialist; das macht unbefangen. (Bd.1) ^ Geräusche in unsanierten HäusernSeitdem wird in sanierten Häusern wohnen, hören wir die Geräusche maroder Rohrsysteme nicht mehr, die hier noch anschaulich gemacht sind: "Nun werden die Morgenträume wieder interpunktiert von den Nöten des heißen Wassers, das Mr. Robinson aus dem Keller in freistehenden Rohren durch Stockwerk nach Stockwerk aufwärts schickt. (...) Später, wenn die Heizung ihre Erregung zu hilflosem Zischen in den Heizkörperventilen gedämpft hat, treten die anderen Geräusche des Sonntags auf." (Uwe Johnson: Jahrestage 1) ^ Moral (1)Aber sollen wir auch nicht mehr mit einer Eisenbahn fahren, da sie an den Transporten von Kriegsmaterial verdient? Sollen wir nicht mehr mit den Fluggesellschaften fliegen, die Kampftruppen nach Viet Nam bringen? Sollen wir verzichten auf jeden Einkauf, weil er eine Steuer produziert, von deren endgültiger Verwendung wir nichts wissen? Wo ist die moralische Schweiz, in die wir emigrieren könnten? (Bd.1) ^ PostzustellungBeim ersten Gang warf er die Drucksachen vor die Wohnungschwellen. Das ist ein platschendes, hallendes Geräusch, das die Post erst ankündigt. Post ist da für dich, wenn die Tür der Wohnung leise, unter einem sanften Puff erbebt. Dann hat er die echten Briefe zwischen Tür und Rahmen gedrückt, in der Höhe des Schlosses. Dort, verstehst du, sind sie mehr tabu, als die Werbeschriften auf dem Steinfußboden. (Bd.1) ^ Marodes New YorkDu wolltest doch wissen, warum es jetzt so oft knallt in den Straßen. Die New York Times hat es dir herausgefunden. Der Regen von gestern abend, das dünne Schneetreiben heute mittag hat ja nicht nur dich am Nacken erwischt, das Wasser lief auch, innig mit dem Tausalz verbunden, in die Kabelschächte, schloß die Leitungen kurz und brachte Gas zum Explodieren. Das war das Geräusch, das die Schachtdeckel machten: Pop. (Uwe Johnson: Jahrestage 2) ^ ErdölinteressenBestreiten müsse er Mrs. Cresspahl jedoch das Recht, aus dem Nachweis geschäftlicher Ziele abzuleiten, daß die amerikanische Beteiligung am Krieg verbrecherisch sei. Das sei, wenn schon marxistisch, vulgär. Erstens, die Nation habe für ihre Investitionen im südvietnamesischen Erdöl die geforderten Zahlungen entrichtet und sei damit legitimiert, für den Schutz dieser Investitionen zu sorgen. Dadurch sei keineswegs das Selbstbestimmungsrecht Viet Nams beeinträchtigt, eher gefördert durch die Beteiligung der U. S. A. an der Entwicklung einer einheimischen Erdölindustrie. Auch habe die Nation auf die Integrität des eigenen Selbstbestimmungsrechtes zu achten, zu dem die Deckung des Erdölbedarfs in natürlicher Weise gehöre. Nicht nur für eine Ablehnung von Kriegen lasse sich eine moralische Wurzel finden; auch für den Selbsterhaltungstrieb einer Nation, die obendrein mit der erantwortung einer Weltmacht beladen sei. (Bd.2) ^ Als Jude erkanntEs war also den Semigs nur in den ersten drei Wochen freundlich gegangen beim Grafen Naglinsky. Dann hatte Dora sich nicht mehr ins Dorf getraut, und zum Spazierengehen nur in die Forsten, die Beatus für Fremde gesperrt hatte. Im Dorf hatte Arthur nur zweimal Arbeit bekommen, dann war er erkannt als Jude, und seine Frau auch. "Wie es ja ist." Sie war angespuckt worden. "In Österreich riechen sie es." (Bd. 2) ^ Die Kirche am PlatzFreunde schreiben uns aus Friedenau, daß eine Untergrundbahn durch den Platz gebaut wird. – Ist es nicht schade um die Kirche! sagt Dr. Rydz. Er hat seine Schreibsachen weggelegt, ist ganz den Besuchern zugekehrt, spricht lebhaft, mit behaglich verschränkten Fingern. Die Kirche war ein Weniges zu klein für den Platz, so daß sie etwas verwachsen dastand, ein kleines Monster aus rotem Backstein. Häßlich, derb, tüchtig, eine Schöpfung der Kaiserin, die alle drei Monate ihrem Gotte eine neue Stätte einweihte. Er wird doch auf den Namen kommen: Auguste Viktoria von Schleswig-Holstein-Sonderburg- Augustenburg. Doflein hieß der Architekt. (Bd. 2) ^ DienstgeheimnisIm Postamt von Jerichow war an den Verteilerschrank eine Fangliste geheftet, immer noch zum Mißvergnügen von Obersekretär Knewer, der so lange die Standesehre eines deutschen Postbeamten zitiert hatte, bis Edgar Lichtwark ihm mit der Entlassung aus dem Dienst und dem Verlust der Pension gewinkt hatte. Als Knewer sich fügte, wurde er mit der Rückstufung aus der Personalabteilung bestraft, und war nicht einmal mehr würdig für telefonische Vermittlungen und Briefe per Einschreiben, und mußte nun innen die eingelieferten Sendungen stempeln und die wie die ankommenden nach Absender und Empfänger prüfen. (...) Im übrigen ging es ihm um das Grundsätzliche an seiner Würde, und er hätte einen zur Kontrolle angeforderten Brief nicht zu Gunsten des Empfängers unterschlagen, um so weniger, als er sich beobachtet glaubte von einem der beiden Lehrlinge, denen er nun beibringen mußte, daß der Stempelhammer in einer nur erahnbaren Lockerheit gehalten werden mußte, damit Jerichows Stempel dem Hitler klar auf dem Schädel saß. (Bd.2) ^ MüllentsorgungDann verstand sie nicht, daß Leute in einem solchen Haus ihren Abfall abends in Tüten an den Lastenfahrstuhl stellen können, statt daß sie ihn heimlich an die städtischen Papierkörbe an der Straßenecke tragen müßten. Sie nahm es hin wie noch etwas Unglaubliches, daß Mr. Robinson jeden Abend um zehn Uhr die Stockwerke abfährt und den Müll für den Ofen abholt; das war ihr noch zu erklären. (Bd.2) ^ KriegsgräuelIn Darmstadt, in einem kleinen, schäbigen Raum tagt ein Gericht nunmehr seit vier Monaten wegen der Morde in der Schlucht Babi Jar bei Kiev im Jahr 1941. Die New York Times gibt die Opfer jetzt als über 30 000 Juden und etwa 40 000 andere an. Die 11 Angeklagten, ehemalige Angehörige der S. S., tragen interessierte, gelangweilte, amüsierte, abwesende Mienen zur Schau. Keiner scheint beunruhigt oder bekümmert über die Aussagen. Einer kann sich nicht erinnern, der nächste war nicht zuständig, wieder einer hat nur davon gehört. Als die Wände der Schlucht gesprengt und das Geröll über die Opfer geschaufelt wurden, lebten manche noch. Einem Angeklagten wird durch Zeugenaussage vorgehalten, es sei seine Spezialität gewesen, kleine Kinder an den Beinen hochzuhalten, sie mit einer Pistole zu erschießen und in den vorbereiteten Graben zu werfen. Dieser eine regt sich auf. Da müsse einer den gleichen Namen gehabt haben wie er. Er sei es nicht gewesen. Ein Irrtum. Die New York Times hat die Zuschauer am 13. Februar gezählt. Es waren vier. Herr Bernd-Rüdiger Uhse, Westdeutschland, ein Vertreter der Anklage, erklärte gestern der New York Times die Gefühllosigkeit des Gerichtsverfahrens in der folgenden Weise: Wenn Sie heute einen Autounfall sehen und die blutigen Opfer betrachten, sind Sie entsetzt. Aber wenn Sie fünf Jahre später über den selben Unfall sprechen, werden Sie sich nicht sehr aufregen. (Bd.2) ^ Werbung in der U-BahnUnd wiederum haut die New York Times dem Bürgermeister, seiner Ehren John Vliet Lindsay, den Hintern voll. Denkt er doch ernstlich daran, die Lautsprecher der Subway für das Durchsagen von Reklame zu vermieten, nach dem Muster: Times Square. Umsteigen auf BMT und IND. Und kaufen Sie bei Nedick einen Orangensaft und Heißen Hund. Das einem eingesperrten Publikum! Das zu der Kakophonie von Klirren und Kreischen und Knirschen unter der Erde! - Es ist unglaublich! - Es ist das Letzte! ruft die New York Times, und schlägt abermals zu, den Bürgermeister übers Knie gelegt. (Bd.2) ^ Freitodverbot in der Bibel? (1)Kein Verbot des Selbstmords in der Bibel. Er wollte wohl glauben, daß diese Lisbeth Cresspahl beide Bücher der Heiligen Schrift ausgelesen hatte. Aber war es nicht lächerlich, eine Bürgerstochter, die Frau von Cresspahl bei theologischen Kniffeleien zu sehen. Gewiß hatte Samson den Tempel nicht nur über den vornehmen Philistern eingerissen, sondern auch über sich. Abimelech hatte seinen eigenen Tod besorgt, damit er der Schande entging, von einer Frau getötet worden zu sein. Ahithophel und Judas hatten sich erhängt. Siehe auch Apostelgeschichte 16,27; Offenbarung 9,6. Simri hatte sich verbrannt, und es war als eine Folge seiner Sünden gegen Gott erklärt. Es waren schließlich neun Stellen, die Brüshaver auf seinem Zettel notierte, statt die Predigt für den 24. April weiterzuschreiben. Er schlief darüber ein, und als Aggie ihn nach Mitternacht ins Bett holte, hatte er vergessen, was er im Seminar gelernt hatte: der Selbstmord sei nicht vor Menschen oder aus moralischen Gründen verwerflich; Selbstmord sei Abfall von Gott. (Bd.2) ^ Freitodverbot in der Bibel? (2)Gewiß verbietet die Bibel den Selbstmord nicht ausdrücklich. Aber es ist an die Stelle des Verbots der Gnadenruf an den Verzweifelten gesetzt. Es war nun einmal so, daß der Selbstmord die Reue unmöglich machte, und damit die Vergebung. (...) Er suchte nach dem Beweis dafür, daß Gott sich das Recht über das Ende des Lebens selbst vorbehalten habe, weil ihm allein bekannt sei, zu welchem Ende er dies Leben führen werde. (...) Wenn Gott den Selbstmord nicht verbietet, führt er nicht dem Verzweifelten die Hand, wenn er ein solches Ende zuläßt? Wenn Gott das Recht des Lebens selbst wahrnimmt, ist nicht auch dessen Ende Auftrag Gottes? (...) (Bd.2) ^ Freitodverbot in der Bibel? (3)Es ging die Bürger von Jerichow gar nichts an, wie Lisbeth Cresspahl gestorben war. Der Selbstmord sei nicht vor Menschen oder aus moralischen Gründen verwerflich. Es sei eine Sache zwischen Lisbeth und ihrem Gott, daß sie von ihm mehr erwartet habe, als er habe geben wollen. Sie sei zum Sterben so frei gewesen wie zum Leben, und wenn sie auch besser das Sterben ihm überlassen hätte, so habe sie doch ein Opfer angeboten für ein anderes Leben, den Mord an sich selbst für den Mord an einem Kind. Ob das ein Irrtum gewesen sei, werde sich nicht in Jerichow herausstellen. (...) Hingegen ging es die Bürger von Jerichow sehr wohl an, daß Lisbeth Cresspahl gestorben war. Sie hatten mitgewirkt an dem Leben, das sie nicht ertragen konnte. (Bd.2) ^ Die Bombardierung LübecksIn der Nacht vom 28./29. März 1942 bombardierten die Engländer Lübeck, dessen Innenstadt fast vollständig zerstört wurde. "Das Kaufmannsviertel unterhalb der Marienkirche war fast vollständig zerstört. Die Türme der Marienkirche standen noch, ausgebrannt. Sankt Petri war eine Ruine. Zwei Drittel der Innenstadt waren durch Flächenbrände vernichtet. (...) Am 7. April meldete die Lübecker Zeitung 280 Tote als amtlich festgestellt. Am 15. April wurden 295 Todesopfer gemeldet." Perverse Volte, die Johnson liefert: "Aus Rostock schrieb Aggie Brüshaver von Oberschülern, die neidisch waren, daß Lübeck auch diesmal als erste in der Reihe stand, nicht Rostock." Noch eine Konsequenz, an die man so nicht gleich denkt: "Lübeck hat danach ruhig schlafen können jede Nacht. Das Rote Kreuz hat dahin seine Paketumschlagstelle gesetzt, und keine Bombe fiel da mehr." (Bd.2) ^ Mensch ärgere dich nichtWenn es regnete, spielte Alexander mit "seinen" Kindern Mensch Ärgere Dich Nicht. Er nannte es aber Pakesi, so wie Cresspahl es aus London mitgebracht hatte, nach dem Hindiwort für 25, Parcheesi; und weil es etwas Britisches war, wurde es auch mit seinen besonderen Regeln gespielt: daß zwei Figuren gleicher Farbe auf einem Feld stehen bleiben dürfen und obendrein eine Barriere bilden; daß eine Figur auf den Ausgangsfeldern aller Farben frei ist ("Home Rule"); daß drei Sechsen zuviel Glück sind und eine Rückkehr nach Hause bedeuten. (Bd.2) ^ BettlerEr ist nicht ein Gammler; er bettelt. Er gehört zu denen, denen ich gebe. Ich sollte nicht geben. (...) Die Vorschrift lautet: Da Caritas, im Kleinen, und Reform, im Großen, nicht Funktionen sind in der Berichtigung oder Veränderung der Gesellschaft, haben sie als Sentimentalität und Verschwendung zu unterbleiben. Gelegentlich wird ihnen gegeben. Schwarze greifen in die Tasche und wollen Solidarität darstellen, oder daß es Gefärbte gibt, die Geld haben wie gewöhnliche Menschen. Rosahäutige Hausfrauen sind imstande, die Gabe nicht nur zu verweigern, sondern sich selbst zu inszenieren als anständige Bürger, die dergleichen gottlob nicht nötig haben und überhaupt mit sauer (ehrlich) erarbeitetem Lohn über die Runden kommen müssen. Manche Herren, wenn sie Büroanzüge und Schlipse tragen, fühlen an den Blicken anderer Fahrgäste, daß sie eher dran wären, und fügen sich dem allgemeinen Urteil. Die Verachtung, die Gegenwehr sein soll, trifft den Nehmenden. Unbefangen ist keiner. Es gibt Blicke hin und her. Sie bedeuten Spott für einen, der sich so leicht ausnehmen läßt; Verachtung für den, der mit einem Vierteldollar angibt, wo zehn Cent der Form Genüge getan hätten; ein Urteil über die schwarze Rasse, die also doch Geld hat. Hinzu kommt das Mißtrauen gegen die Bittenden. Sie sind zu oft zu sehen in den Ubahnen, als hätten sie da ein Amt. Wie sie sich unter der Stadt in den fahrenden Zügen voranarbeiten, es hat etwas Berufsmäßiges. Sie können leben von ihren Einnahmen; manchmal könnte ein Überschuß reichen zum Genuß. Dazu sind sie zu krank, zu kaputt. Sie mögen sich haben fallen lassen aus der Gesellschaft; warum nutzen sie die dürftigen Notvorrichtungen nicht aus? (...) Sind sie genügend ausgewiesen durch den erbärmlichen Entschluß, sich dem Erbarmen Fremder auszuliefern? (Bd.2) ^ Geordneter FreitodIm Juni 1942 wurde Dr. Avenarius Kollmorgen, niedergelassenem Rechtsanwalt in Jerichow, das Leben zuwider, und er gab es auf. (...) In den Nächten hatte Avenarius sich auf seinen Tod vorbereitet. Die meisten Bücher standen in den Regalen nicht mehr mit dem Rücken nach vorn, sondern lagen in kantengleichen Stapeln, zum Verpacken fertig. In denen allen stand das Datum, an dem er sie zum letzten Mal gelesen hatte; er hatte nur zwei Reihen nicht geschafft. In seinem Schreibtisch fanden sich Listen, in denen der gesamte Haushalt inventarisiert war, mit einer Spalte für die künftigen Besitzer, die vollständig ausgefüllt war. (...) Das nicht Verschenkte sollte als Geld an die Universität Erlangen gehen, ebenso die Bibliothek. Zu der Bibliothek gab es eine Kartei. Schriftstücke persönlicher Art hatte Dr. Kollmorgen beseitigt; von sich wollte er nichts hinterlassen als das Geheimnis Avenarius. In der offenen Schreibtischschublade fand Ilse wie angekündigt das Blatt mit den Anweisungen für den Fall seines Todes, von den Gängen zu Dr. Berling und zu Swenson bis zu den Vorschriften für die Beerdigung. Er verabschiedete sich bei einigen Leuten mit altmodischen Drucksachen, aber er brauchte sie nicht, denn es war alles im voraus eingerichtet und bezahlt. "Mitwirkung der Kirche verbeten" stand da in sorgfältig verwickelter Schrift. (Bd.2) ^ Das alteingesessene ZehntelDas Vorurteil der amerikanischen Nation gegen ein alteingesessenes Zehntel ihrer Angehörigen mag unbegreiflich sein, schon daß hier nicht die Psychoanalyse beschäftigt wird; die Gegenstände, die mit Hilfe dieses Vorurteils verteidigt werden, sind handfest. Es geht um Arbeitsplätze als Mittel des Einkommens, um Ausbildung als ein Mittel zu besserem Einkommen, um das Recht auf Rechte als eine Sicherung des Einkommens. Die Sache heißt Rennen der Ratten, und das Handikap einiger Gegner kann den eigenen Gewinnchancen doch dienlich sein. (...) Acht Jahre ist es her, und immer noch stimmen die klassischen Zahlen von John F. Kennedy: "Das Negerkind hat - ungeachtet seiner Begabung, statistisch - halb so viel Aussicht, die Oberschule abzuschließen, wie das weiße Kind, ein Drittel so viel Aussicht, die Universität zu absolvieren, ein Viertel so viel Aussicht, in einem Fachberuf zu arbeiten, und viermal so viel Aussicht, ohne Arbeit zu sein." Das sagte John Kennedy, als er auf einer Wahlreise war. ^ Der SlumDer Slum ist ein Gefängnis, in das die Gesellschaft jene deportiert, die sie selbst verstümmelt hat. Das sind Wohnungen, in denen die Wanzen und Schaben nicht mit der geduldigsten Anstrengung im Zaum gehalten werden können, in denen es beim Kühlschrank nicht auf die Kühlung der Nahrungsmittel ankommt, sondern auf die Funktion des Tresors, den das Ungeziefer nicht knacken kann. (...) Versuchen die Bewohner des Slums einen Streik mit der Miete gegen den Besitzer ihres Hauses, hat er auf seiner Seite die Gerichte. Wenn er es nicht schafft, sie auf die Straße zu setzen, läßt er das Haus sterben. Vor allem auf die Kälte kann er sich verlassen. (...) Sind hartnäckige Mieter geblieben, wird es ihnen von Halbstarken, Rauschgiftsüchtigen, Buntmetalldieben besorgt. Davon sind nicht alle freundlich genug, das Wasserhauptrohr abzustellen, bevor sie die Leitungen abmontieren. Wenn es aus der Decke tropft und die Türen sämtlich eingeschlagen sind, ziehen die Letzten aus, und der Besitz befindet sich in ordnungsgemäßem Zustand. (...) Da dem Gefangenen des Slum ein Ausweg in das lebenswerte Leben versperrt ist, sollte er lange zögern, dem Leben in den Illusionen und Krankheiten des Rauschgiftes zu entgehen? Da die Gesellschaft um dieses Leben einen Zaun errichtet hat, warum die Normen der Gesellschaft einhalten, warum die Fürsorgerin anders behandeln denn als den Überbringer einer Abschlagszahlung, warum nicht die Kinder betteln schicken, warum noch unter Dächern wohnen. Da die Verbindungen mit der Gesellschaft abgebrochen sind, warum nicht die Kabel öffentlicher Telefone herausreißen; warum eine Adresse hinterlassen, wenn man weggeht, sei es unter die Brücken, auf die Bowery, ins Gefängnis oder in den Krieg in Viet Nam. (Bd.2) ^ Lehrer PrrrIm ersten Jahr, als sie die alte deutsche Schrift lernte, war Gesines Lehrer Prrr Hallier, und sie konnte nicht zweifeln, daß sein Unterricht so war wie Schule. Das Lernen fing erst an, nachdem seine Klasse das Hinsetzen und Aufstehen auf einen Schlag gedrillt hatte. Wer nachklappte, kam als erster dran. Er war einer von denen, "die sie nicht genommen hatten". Unter dem Bild Hitlers hatte er ein Brett mit Vase angebracht, und das Beschaffen von frischen Blumen für den Götzen galt als Auszeichnung. (...) Prrr hieß er, weil er ein Kind unterbrach wie man ein Pferd anhält. (Bd.2) ^ KakerlakenWenn die Stadt zugrundeginge, die Schaben würden sie überleben. (...) In Jerichow war eine Schabe ein Werkzeug gewesen. Ich glaubte an ein Versehen und setzte den Schuh auf die erste Schabe, die sich auf dem Fußboden erwischen ließ. Vergeblich, sie war schon verschwunden in einer Ritze, die das bloße Auge nicht vermutet hatte. Das hätte gefährlich ausgehen können. Denn sie können Allergien auslösen, vom Asthma bis zum Hautausschlag, noch im Tode, und es wäre mit dem Wegwerfen von Schuhen und Strümpfen kaum getan gewesen. Sie sind zu schnell für diesen Tod. Der Luftzug, den die Fußbewegung macht, wird von ihren winzigen Härchen in die kraftvollen Beine weggemeldet, ohne Zeitverlust im Gehirn, und bevor der Schuh den Boden erreicht, ist das Biest weggehuscht. (...) Auf den Parkbänken im Riverside Park jenes Sommers 1961, wurde die Deutsche in die Wissenschaft von den Kakerlaken eingeführt. (...) Die meist vorkommende Art hieß Deutsche Schabe. Von der Schabe wurde mit Respekt gesprochen, mit Haß, komischer Verzweiflung, systematischer Sachkenntnis, durchaus wie von jemand Unbesiegbarem. Denn sie fressen alles, vom trockenen Möbelleim bis zur Zündmasse am Zündholz; und mag ihnen ein Gift eine Zeit lang zu schaffen machen, nach wenig Jahren haben sie ihre Abwehrstoffe entwickelt und nehmen als Dessert zu sich, was ihr Verderben hat sein sollen. (Bd.2) ^ Der HinrichtungskellerDer Hinrichtungskeller in den Haftanstalten Dreibergen-Bützow wird heute als Museum gehalten. Das war ein geweißter Keller. Hinter einem Deckenbogen war eine Stahlschiene vor der Rückwand eingezogen. Daran hingen drei Haken. Unter den Haken stehen drei niedrige Hocker. An der Decke laufen zwei Leinen, daran können zwei Vorhänge so gezogen werden, daß drei getrennte Sterbekabinen entstehen. Vor dem Eingangsbogen sind links und rechts je ein dunkler Vorhangschal angebracht. Sie ließen sich so ziehen, daß die Opfer in einen schmalen und finsteren Kanal gingen und glauben konnten, neben ihnen hänge noch Keiner am Haken. (Bd.2) ^ Jerichow geht an die RussenIn der letzten Woche des Juni 1945 gab Cresspahl bekannt, daß die westlichen Alliierten sich nun mit Stalin geeinigt hatten auf den Termin, an dem sie die von ihnen besetzten Gebiete von Mecklenburg, Sachsen-Land, Sachsen-Anhalt und Thüringen räumen und dafür in die westlichen Sektoren von Berlin einziehen würden. Am Sonntag, dem 1. Juli 1945, sollten die Sowjets nach Jerichow kommen. (...) Es hieß, daß es eine Infamie und Treulosigkeit von den Engländern sei, Jerichow den Sowjets zu überlassen! Die mecklenburgische Seele hatte sich bei den Briten schon ein Recht auf Fürsorge eingerichtet. (...) Am Vormittag des 2. Juli zogen die sowjetischen Besatzungstruppen auf der gneezer Straße in Jerichow ein, die Mannschaften in niedrigen klappernden Pferdewagen, die Offiziere in amerikanischen Jeeps. (...) Da zogen sie die vierte Fahne des Jahrhunderts hoch. Die blieb. (Bd.2) ^ Erdbeerfreuden... solche Abende (...), wenn die Erdbeeren reif sind und Saft im Zucker lassen. Sie wurden mit silbernen Gabeln gegessen, am Tisch im Garten, und Hilde häufte der Gesine immer neue Haufen auf den Teller. Das Kind aß so andächtig, ihm ging erst zum Schluß auf, daß alle ihm zugesehen hatten, hilflos von stillem Lachen, ohne Neid. Da glaubte das Kind sich längst nicht mehr beobachtet, verdächtigt, bloßgestellt. Sie konnte mitlachen. Bei Paepckes hatte ein Kind keine Pflichten, keine Beschwernis. (Uwe Johnson: Jahrestage 2) (Bd.2) ^ Wenn Alexander Paepcke reisteWenn Alexander Paepcke reiste, bereitete er die Reise vor. Er suchte die kürzeste Fahrzeit heraus und den günstigsten Anschluß, und von der Haustür an mußte seine Familie sich nach keiner als seiner Uhr richten. Als er im nassen Juni 1942 aufs Fischland fuhr, richtete sich der Zug nach Stralsund nicht nach Alexanders Uhr und kam zu spät an, als daß der nach Ribnitz noch hätte warten können. Alexander war gekränkt über die zwei Stunden Wartens in Stralsund. Zwar bediente er den Krieg nun in der Zivilverwaltung der besetzten französischen Gebiete, aber in der Gestalt einer Zugverspätung erkannte er den Krieg nicht, da es ein Zug in Deutschland war, der ihm das angetan hatte. (Bd.2) ^ De RosnyDe Rosny hatte sich nicht nach oben gedient im Geld, er hatte das Geld nicht geheiratet; seine Eltern hatten es ihm gegeben, ihm allein, und durch des Geldes aromatische, nahrhafte, schützende Schale hatte er geatmet, seit er den eigenen Vornamen kannte, und nicht erst, als er in Singapur das Bankgeschäft zu lernen anfing: aus Langeweile. (...) Andere nannten ihn einen nicht ernsthaften Menschen. Sie meinten nicht seinen Umgang mit Geld. Nein, er führte kein Leben. Die abendlichen Essen, die beseligende Belohnung für einen Tag kämpferischer Konferenz, er langweilte sich dabei, er zeigte es. De Rosny trank nicht harten Alkohol, und hätte religiöse Gründe vorschieben können, und gab Mangel an Interesse zu. Vertraulichkeiten, nichts da! Kennt Einer den Vornamen de Rosnys? Der gab seinen Anzug in die chemische Reinigung, wenn er einen kumpelhaften Schlag auf die Schulter bekommen hatte! In sein Haus ließ er nicht viele Leute, Freunde waren sie darum lange nicht, und sie gaben Erzählungen kaum ab. (Bd.3) ^ Grenzbegradigungen"Am vorigen Dienstag wollten ostdeutsche Grenztruppen bei Wolfsburg 200 westdeutsche Hektar als eigene einzäunen, unter Berufung auf eine Karte von 1873 mit der Grenze zwischen Braunschweig und Preußen, die die Demarkationslinie von 1945 bedeuten sollte. Die Westdeutschen gaben Abweichungen zu ihren Gunsten zu, bestanden aber auf dem Entschluß und Willen der Sowjets von damals. – Auch die Russen können sich irren: sagte der ostdeutsche Oberst. Nach der Erinnerung der Grenzanwohner irrten seine Freunde sich 1945 nicht, es seien denn Uhren aus Gold oder Flaschen voll Schnaps im Handel gewesen; dann entwarfen sie mit den britischen Partnern die Grenze in einer Kneipe, auf einem Bierfilz oder einer Zigarettenschachtel. Heute ist das zum Schießen." Aus den Erläuterungen: "Die DDR hatte im Aller-Knie zwischen Saalsdorf und Bahrdorf verschiedene nicht zusammenhängende Gebiete entlang der in einer Zickzacklinie verlaufenden Zonengrenze beansprucht. Nachdem der Zonengrenzraum durch westdt. Grenzschutz und brit. Truppen verstärkt worden war, ließ die DDR von ihrem Vorhaben ab; vgl. "Braunschweiger Zeitung" vom 13.5.1968. Die NYT vom 22.5.1968 gibt die Erklärung des westdt. Bürgermeisters der betroffenen Gemeinde Bahrendorf wieder, daß wohl keine gewaltsame Landnahme ganz in der Nähe des VW-Werkes bei Wolfsburg beabsichtigt gewesen sei, sondern es sich eher um eine Abschreckungskampagne gehandelt habe." (Bd.3) ^ Flüchtlinge und Vertriebene(Amtlich durfte nicht mehr von "Vertriebenen" die Rede sein, nur von "Umsiedlern".) Wer ein Stück Land wollte aus dem Fonds enteigneten Landes, mußte sich scharf beeilen mit der Winterbestellung. Die Papiere, die K. A. Pontij und Cresspahl jedem Flüchtling in nur drei Monaten zusammengestellt hatten, waren eine Pracht in den Augen ländlicher Kommandanten. (Auch die Bezeichnung "Flüchtling" war im sprachlichen Gebrauch nicht mehr zugelassen.) (Bd.3) ^ Textstreusel
© Uwe Johnson: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2008. ISBN 978-3-518-46059-7 |