Klemperer-Splitter [<<]

Victor Klemperers Tagebücher 1933-45


Judenwitze

In dem Kabaretstückchen, das wir noch mitnahmen, leistete sich einer einen Scherz, der heute als sehr kühn gelten muß u. ihn das Engagement kosten kann. Eine Dame will Dauerwellen onduliert haben. []Bedaure[], sagt der Friseur, []darf ich nicht. – Weswegen? – Sie sind Jüdin, u. einem Juden wird in Deutschland bei Strafe kein Haar gekrümt. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 28.8.1933]


Hitlerrede

Gestern von 13–14 Uhr die Feierstunde. In der dreizehnten Stunde komt Adolf Hitler zu den Arbeitern. Vollkomen die Sprache des Evangeliums. Der Erlöser kommt zu den Armen. Und dazu die Amerika-Aufmachung. Das Sirenengeheul, die Minute des Stillstehens .. Ich war oben bei Dembers – Eva brachte es nicht über sich mitzukomen. In dem kleinen Zimmer saßen handarbeitend Frau Dember, Emita, das wendische Mädchen, eine alte Kinder = und Aushilfsfrau, Frau Mark und ich. Aus Siemensstadt, Maschinenhalle. Man hörte Minutenlang das Pfeifen, Knirschen, Hämmern, dann die Sirene u. das Singen der abgestoppten Räder. Ein höchst geschickter ruhig gesprochener Stimmungsbericht Goebbels, dann über 40 Minuten Hitler. Eine meist heisere, überschrieene, erregte Stimme, weite Passagen im weinerlichen Ton des predigenden Sektierers. Inhalt: Ich kenne keine Intellektuellen, Bürger, Proletarier – nur das Volk. Warum sind Millionen meiner Gegner im Lande geblieben? Die Emigranten sind Spitzbuben wie die Brüder Rasser. Und ein paar Hunderttausend wurzellos Internationaler – Zwischenruf Juden! – wollen Millionenvölker gegeneinanderhetzen. Ich will nur den Frieden, ich bin aus dem niedrigen Volk hochgestiegen, ich will nichts für mich, ich habe noch 3 ½ Jahre Vollmacht u. brauche keine Titel, Ihr sollt um Euretwillen Ja sagen. Usw, ordnungslos, leidenschaftlich, jeder Satz verlogen, aber ich glaube beinahe: unbewußt verlogen. Der Mann ist ein enger Schwärmer. Und er hat nichts gelernt. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 11.11.1933]


Katzengerechte Weihnacht

Wir hatten zu Weihnachten für 20 Pf Tannenzweige auf dem Schirmständer montiert, mit elektrischen Birnchen u. bunten Kugeln. (Ein richtiger Baum weniger leicht transportabel und demontierbar, ist um der Katzenheit willen unangebracht). [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 1.1.1934]


Umgehungskünste

Ich habe der Censur gegenüber schon oft empfunden, wie die Umgehungskünste der Enzyclopaedisten etc. wieder aufleben. Auch ihre Satire lebt wieder auf. Gespräche im Himmel sind beliebt. Das beste: *Hitler zu Moses: [] Mir im Vertrauen können Sies doch sagen, Herr Moses. Nicht wahr, den Dornbusch haben Sie selber angezündet? (Victor Klemperer: Die Tagebücher, 13.1.1934]


Hinterherhinkend

Wenn die Amerikaner in Philosophie u. sozialer Frage machen, habe ich immer den deutlichen Eindruck, daß sie um reichliche 50 Jahre hinter uns zurück sind. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 16.1.1934]


Pageturner

(Hans) Possendorf: Die Yacht Kaikai. Mit solchen wilden Unterhaltungsromanen ist es wie mit schlechtem Alkohol. Man komt nicht los u. liest bis 3 Uhr Nachts. Tags darauf ist man verkatert u. empfindet Leere. Der Anfang, das Thema ist immer spanend. Aber die Innerlichkeit fehlt, u. nachher wickelt sich eine Maschinerie ab. (...) Wiegesagt: die ersten 100 Seiten sind voller Filmspannung u. beinahe ernsthaft erzählt, aber dann geht alles in äußerlichster Räuberromantik unter. Es ist charakteristisch für diese Art Autoren, daß ihnen bei gutem Einfall nach gutem Anfang der Athem ausgeht. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 16.1.1934]


Hausarbeit

Ich selber wache jeden Tag mit Arbeitsabsichten u. normal passabler Frische auf. Dann komt der Kampf mit den Öfen, die Mühe der Wirtschaftsbesorgung, es wird ½ 12, ehe ich mich an den Schreibtisch setzen – könnte; aber um diese Zeit bin ich schon abgekämpft. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 16.1.1934]


Thomas Mann

... brachte als nachträgliches Weihnachtsgeschenk: Jaakob[] von Thomas Mann. Ein neues Buch von Th. Mann – u. nirgends habe ich es angezeigt gesehen. Die Presse darf über diesen anrüchigen liberalistischen Autor nichts mehr bringen. (Liberalistisch ist jetzt ein fast beliebteres Schlagwort als das schon abgelaatschte marxistisch) (...) Und von dieser grandiosen Dichtung ist in keiner Zeitung die Rede, das Buch steht in keinem Schaufenster. Auf ihm lastet der doppelte Fluch von Mann zu sein u. von Israel (statt von einem nordischen Osterhelden) zu handeln. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 16. und 27.1.1934]


Leihbibliotheken

Ich hole jetzt Bücher aus zwei Leihbibliotheken. Leihbibliotheken (ohne Pfand) sind seit etwa ein, zwei Jahren pilzartig aufgegangen. In meiner Jugend gab es einige Leihbibliotheken, dann verschwand die Einrichtung so gut wie gänzlich, lebte nur in Badeorten – und jetzt überall, so häufig wie Chokoladengeschäfte, so häufig wie früher die kleinen Kneipen, selbst in den ärmlichsten Stadtteilen die Leihbibliotheken. Und doch ist der Geist niemals in Deutschland so angefeindet worden wie heute. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 15.2. 1934]


Gewünscht: rascher Zusammebruch

Ich sprach heute in der Landesbibliothek die lammfrome u. bejahrte Bibliothekarin und Pfarrerstochter Roth. Wir schimpften gemeinsam auf Gusti Wieghardt. Aber auch die Rothin: es sei ihr fast recht, daß die Tyrannei täglich wachse. Um so rascher müsse das Ende kommen. Sie sagte auch noch merkwürdigerweise, sie empfinde als Gutes der Lage, daß sich jetzt mehr und offener als früher ernsthaft denkende u rechtlich fühlende Menschen herzlich aneinanderschlössen. Das ist vielleicht reichlich optimistisch, denn überall herrscht doch äußerste Spionen= u. Denunziantenangst; aber es hat mich doch gefreut. [Victor Klemperer: Die Tagebücher,16.2. 1934]


Zeitdiagnose

Kühn gibt nach wie vor dem Régime günstige Zeitdiagnose. Es werde sich vielleicht abändern aber bleiben. Man müsse das auch hoffen, sonst breche das Chaos herein. Er verglich es den Jakobinern, der Herrschaft der kleinen Leute. Er sagte, in 100 Jahren, wenn all die Verlogenheiten und kleinen Übel vergessen sein würde[n], dürfte diese Revolution vielleicht typisch deutsch genannt werden weil sie im Vergleich zur französischen u. russischen so unblutig sei. Das hat mich schwer deprimiert, weil K. doch ein rechtlich empfindender, durchaus reiner Charakter u. ein ernster Historiker ist. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 21.2.1934]


Herführer

Der Witz, man habe Hitler in Haifa ein Denkmal errichtet mit der Inschrift Unserm Herführer [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 13.6.1934]


Dick beledert

Vielleicht nehmen Eva u. ich die Welt zu tragisch. Man müßte sie von der komischen Seite nehmen. Denn die Mehrzahl der Menschen ist so dick beledert, daß sie seelische Schmach nicht recht berührt. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 13.6.1934]


Hinter Masken

Bollert sagte tröstend in Gegenwart des jungen Dr Kästner: Sie glauben nicht, wie wenig N.S. es gibt. Es komen so viele Menschen zu mir. Zuerst weit ausgestreckter Arm, Hitlergruß. Dann tasten sie sich im Gespräch heran. Dann, wenn sie sicher geworden sind, fällt die Maske. Ich selber muß den Arm ausstrecken. Ich sage ‹Heil› – aber ‹H. Hitler› bringe ich nicht über die Lippen. Ich war eben in Süddeutschland. Da hört man sehr selten das Heil Hitler' – meist Grüß Gott!' [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 13.6.1934]


Undeutsche Dächer

Eine drollige Schwierigkeit ergab sich: die Bauvorschriften des dritten Reiches verlangen deutsche Häuser, u. flache Dächer sind undeutsch. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 14.7.1934]


Röhmrevolte

Den zweiten mächtigen Auftrieb gab uns die Röhmrevolte. (Wie komen historische Bezeichnungen zustande? Wieso *Kappputsch?1 Aber Röhmrevolte? Klanglich?) Gar kein Gefühl für die Besiegten, nur die Wonne a) daß man sich gegenseitig auffrißt, b) daß Hitler nun wie ein Mann nach dem ersten schweren Schlaganfall ist. Als die nächsten Tage alles ruhig blieb, war ich freilich deprimiert. Aber dann sagten wir uns doch: dieser Schlag ist nicht zu überwinden. Zumal nun auch die nackte Not der Mißernte bei völligem Staatsbankrott u. Unmöglichkeit ausländischen Nahrungsbezuges vor der Thür steht. – [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 14.7.1934]


Theologen

Schicksal: Mir ist das Baugeld vom Himmel gefallen; dem ältesten Kinde Delekats, des Theologieprofessors, einem 13jährigen Jungen, ist buchstäblich ein Ziegel vom Schuldach auf den Kopf gefallen u. hat ihn totgeschlagen. Delekat schrieb über die Todesanzeige: Der Herr hat gegeben, der Herr hat genomen! Die Theologen haben es gut. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 14.7.1934]


Anreden

Sprache des dritten Reiches: (...) 2) Verordnung für die SA. Die Anrede Mein künftig dem Führer vorbehalten. Alle andern Dienststellen: Stabschef, Sturmführer! etc, senz'altro.5 Ohne Herr ausdrücklich. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 4.9.1934]


Literarischer Fusel

Wenn Intellektuelle Triviales lesen: " Der Schluß solch eines Criminalromans ist immer so leer u. nichtig, daß man sich über die Affektvergeudung an die vorangegangene Lektüre bitterlich ärgert. Und doch: fünf, sechs Wochen ernsthafte Lektüre, u. man greift wieder zum Fusel eines Edgar Wallace." [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 6.9.1934]


Radio (1)

Sprache d. 3. Reichs. H[itler] sagte auch, als er zur Jugend in Nürnberg sprach: Sie singen gemeinsam Lieder. Alles zielt auf Übertäubung des Individuums im Collektivismus. – Ganz allgemein Rolle des Radio beachten! Nicht wie andere technische Errungenschaften: neue Stoffe, neue Philosophie. Sondern: neuer Stil. Gedrucktes verdrängt. Oratorisch, mündlich. Primitiv – auf höherer Stufe!! [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 14.9.1934]


Edna Ferber

Victor Klemperer liest mehr von der ungarisch- amerikanischen Autorin Edna Ferber, die ich gar nicht kannte. Nach dem Das Komödiantenschiff (Show Boat) bezeichnet er Cimarron als noch besser, was 1960 nochmals verfilmt worden ist. Das letzte deutsche Buchausgabe stammt von 1989 aus dem Hause Goldmann. "Ich las in den letzten Wochen vor: Edna Ferber Cimarron. Noch bedeutender, humorvoller als die vorhergelesenen Bände. Der Run auf Oklahoma 1881 u. die Entwicklung, nachdem das Petroleum entdeckt. (...) Welch unendliche Fülle von Gestalten, Situationen, Komik, Tragik, Humor. (...) Eva sagt: Dickens. Fraglos, aber Dickens[,] amerikanisiert u. potenziert. (...) Immer Romantik u. Ironie gegen die Romantik. Immer das bunte, frischeste Draufloserzählen. Keine Wortkunst, weder dekadent, noch primitiv, noch compliciert – Natur!" [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 27.9.1934]


Bergeweise Bücher

Ich gebe des Umzugs halber Bergeweis Bücher in der Landesbibl. ab, die seit Monaten hier lagen, von denen ich das wenigste gelesen habe, u. die ich später neu bestellen muß. Helf er sich. Es wird auch so schon etliche 50 Bücherkisten geben, u. sehr viele davon werden unausgepackt auf den Boden komen, unter das deutsche Dach. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 27.9.1934]


Hitler-Mussolini

... erzählte von H[itlers] Besuch in Venedig bei Mussolini. H. habe eine große deutsche Rede gehalten, M. eisern zugehört u. dann gesagt: Nun wollen wir Tee trinken. Alle Zeitungen hätten das berichtet, u. es sei jetzt geflügeltes Wort in Italien. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 6.10.1934]


Blubo

Jelskis haben als geläufige Abkürzung des öftern gehört u. gelesen: Blubo = Blut u. Boden. In Basel singen die Kinder: Heil, Heil, Heil! – H. hängt am Seil. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 8.10.1934]


Beim Umräumen

Was steht alles auf an alten Lebensphasen, wenn man so räumt, u. welches Gesicht hat heute alles! [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 10.10.1934]


Goebbels

Der Propagandaminister zeichnet immer Dr. Goebbels Er ist der Gebildete in der Regierung, d.h. der Viertelgebildete unter Analphabeten. Merkwürdig verbreitet ist die Meinung von seiner geistigen Potenz; man nennt ihn oft den Kopf der Regierung. Welche Bescheidenheit der Ansprüche. Ein besonders guter neuer Witz: H[itler], der Katholik, habe zwei neue Feiertage creiert: Maria Denunziata,1 u. Mariae Haussuchung.2 – [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 17.10.1934]


Geldsorgen

... die entsetzliche Qual der Geldsorgen. Erschöpfte Reserven, immerfort Nebenausgaben, Handwerkerei, Besuch – jede Mark quält. Die Katzen essen täglich für 1,30 Kalbfleisch. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 7.11.1934]


Keine Abgeschlossenheit

Und heute ist das interessanteste Moment die Unmöglichkeit der Ferne, der Abgeschlossenheit. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 4.12.1934]


Wie weiter?

was soll komen, wenn H[itler] ermordet wird? Es kann sich eben niemand mehr vorstellen, daß ohne Dictatur regiert wird. Und natürlich wäre ja auch eine Dictatur nötig für die Zeit, in der man wieder verfassungsmäßige Regierungsorgane schüfe. Unentwirrbar. Der Glaube an die Dummheit des Volkes greift überall immer weiter um sich. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 30.12.1934]


Dr Ludwig Baum

Heute als unser Kaffeegast der Kaplan Dr. Baum (...) B. ist vollkomen pessimistisch. Die Kirche vermeide Streit, solange sie könne, das sei ihr alles nicht so wichtig, sie meine, das gehe vorüber, u. sie bleibe – wozu sich da Unannehmlichkeiten aussetzen? Ein alter Pfarrer habe ihm neulich gesagt, in einer Versamlung sei ein so komisches Lied gesungen worden, das er noch nie gehört habe, etwas von Horst Wessel – was u. wer sei das eigentlich? In einer Geistlichenversamlung habe der Vorsitzende ruhig erklärt, der gegenwärtige Zustand sei nicht so wichtig – wir haben das dritte Reich erlebt u. werden das vierte erleben. Freilich gehe diese Regierung neuerdings sehr scharf gegen die kathol Kirche vor – Verhaftungen, kein Ende der Konkordatsverhandlungen – vielleicht könne das zu einem entschiedeneren Widerstand der Kirche führen. Er, Baum, glaube es nicht. Er glaube nicht, daß das Ende der Regierung nahe sei, sie habe zuviel Macht, das Volk sei allzu versklavt u. von Lügen idealistisch-nationaler Art betäubt – u. wenn das Ende einmal komme, dann mit vielem Blut. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 3.4.1935]


Zweifel

Einen Abend bei den anständigen Köhlers. Treue Leute. Es gibt auch noch glückliche Simplicitas. Die Mutter Köhler sagte aus tiefer Überzeugung: Es kann nicht mehr lange dauern; der gerechte Gott kann es nicht zulassen. Sie war geradezu entsetzt, als ich erwiderte, er lasse es schon ein bißchen lange zu .. Isakowitz erzählte von dem alten Rabbiner Dr Winter von der hiesigen Gemeinde: der frome Mann zweifle neuerdings ernstlich an Gott, weil er es zulassen konnte, daß er, Winter, der Rabbiner, am Schabbes auf dem Weg zum Tempel nach Haus über einer Bananenschale ausgleiten u. ein Bein brechen durfte. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 31.5.1935]


Zeitungsabo

Ich habe nun doch wieder nach monatelanger Pause eine Ztg. (Dresdener N. N.) abonniert. Mir wird beim Lesen jedesmal übe[l]; aber die Spannung ist jetzt zu groß, man muß wenigstens wissen, was gelogen wird. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 5.10.1935]


Laokoon-Hitler

Karl Wieghardt gestern mit Mutter bei uns. Abschiedsvisite. Er wird in Göttingen studieren. Er wollte eigentlich an die Univ. Berlin. Dort werden nur solche Studenten immatrikuliert, die der NSDAP. mit Mitgliedsnummer unter einer Million angehören. – Es hat einen ungemeinen Eindruck auf mich gemacht, daß ich heute in der Löbtauerstr. das erstemal seit dem Kriege zwei Butterschlangen sah. Sie könnten vielleicht doch Laokoon-Hitler ersticken. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 26.10.1935]


Mysterium Radio

Am 2/XI waren wir Nachmittags bei Wenglers. Es machte mir wieder den ungemeinsten Eindruck, wie sie den Radioapparat anstellten u. von London nach Rom, von Rom nach Moskau usw. übersprangen. Zeit= u. Raumbegriff sind vernichtet. Man muß zum Mystiker werden. Für mich zerstört das Radio jede Religionsform u. gibt gleichzeitig Religion. Gibt sie doppelt: a) daß solch Wunder besteht, b) daß der menschliche Geist es findet, erklärt, benutzt. Aber dieser selbe menschliche Geist läßt sich die Regierung H. gefallen. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 9.11.1935]


Autokauf

[6.3.1926]: "Das Auto ist am 2. März gekauft worden. 850 M – aber monatlich 19 M. Steuer darauf. Opel 32 Ps, 6 Cylinder, 1932 gebaut, ganz offener Wagen. (...) Werde ich fahren können? Wie wird es mit meinen Nerven, wie mit meinem Geld sein? 19 M. Steuern, 33 M. Versicherung monatlich! Das Ganze ein Desperado-Abenteuer. (...) Bei unserer Rundfahrt in Kaufmann Vogels Wagen (dafür macht er das Versicherungsgeschäft) sahen wir einen ungeheuren Garagenbau, ein ganzes Kasemattensystem sozusagen, von der Straße aus kaum bemerkbar an der Arnholdstr. Welch ein Handelsobjekt ist das Auto mit seinem Ringsum geworden! Eine Welt." [23.3.1936] - "Auch an dem Auto selber habe ich immer nur für Minuten reine Freude. Die doppelte Sorge überwiegt. 1) die Kosten. Es hat sich herausgestellt, daß wir nicht 10 sondern 15 l. Benzin auf 100 km brauchen. Also doch übers Ohr gehauen. Steuer Versicherung u. einmalige Reinigung kosten monatlich zusamen schon etwa 66 M. Und ich habe 484 M. Ruhegeld. [2]) die ständige Sorge, als Fahrer kein Unheil anzurichten. [Victor Klemperer: Die Tagebücher]


Außenpolitische Festigung

Martha Wiechmann, neulich bei uns, bisher ganz demokratisch. Jetzt: nichts imponiert mir so wie die Aufrüstung u. der Einmarsch ins Rheinland. Und dann: [] ich habe einen Vortrag über Rußland gehört, das ist doch zu gräßlich, da haben wir es besser. a) Die Schauergeschichten über Rußland glaubt man; b) man kennt nur noch die Alternative Bolschewismus–Nationalsoz., nichts dazwischen. c) man hat im Rausch der Aussenpolitik alles andere vergessen. (...) H[itler] sagte neulich: Ich bin kein Dictator, ich habe die Demokratie nur vereinfacht. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 23.3.1936]


Bund nichtarischer Christen

Was es alles gab! "Reichsverband christlich-deutscher Staatsbürger nichtarischer oder nicht rein arischer Abstammung e. V., der 1933 gegründet wurde. Ab 1935, nach Erlaß der Nürnberger Rassegesetze, wurde zunehmend Druck ausgeübt, die volljüdischen Mitglieder auszuschließen. Im August 1936 kam es bei unveränderter Zusammensetzung durch Verfügung von Reichskulturverwalter Hinkel zu der Namensänderung 'Paulusbund. Vereinigung nichtarischer Christen e. V.'". [Victor Klemperer: Die Tagebücher, Anhang zum 5.4.1936]


Auto fahren (1)

Das Auto beherrscht mich noch immer. Ich fahre im Ganzen passabel. Aber der Wagen quält durch zwei große Schwächen: immer wieder versagt der Anlasser, immer wieder ist bei unvorstellbarem Benzinverbrauch der Tank in unmöglichen Momenten leer. Erfolg: übergroße Kosten, sehr viel Ärger u. Aufregungen, noch kaum eine ganz glatt durchgeführte Fahrt. Bisweilen ist der Wagen zwei Tage lang nicht aus dem Stall zu bekomen. Gestern stolz im Wagen beim Zahnarzt. Auf der Rückfahrt am Bismarckplatz – Benzinschluß, Schieben in die Nähe der Tankstelle, mit Kanne geholt. Das einzige Mal, das ich in wirkliche Gefahr geriet, war auch am Bismarckplatz. Ich kam allein von der Bank, wollte anfahren, ramelte einen leeren DKW vor mir, stieß zurück, vergaß im Schrecken die Winkerstellung u. wäre fast von einem Autobus gepackt worden. Gott, hat der Fahrer geschimpft! – Ich kann mich noch nicht getrauen über 45 km. Geschwindigkeit zu nehmen. – Wir müssen versuchen, den Wagen sobald als möglich gegen einen weniger fresssenden u. versicherungshohen 4 Cyl. abzutauschen. Größte Schwierigkeiten bereitet mir noch immer das Ein- u. Ausfahren hier zu Hause. Immer wieder verbeule ich die Kotflügel, beschädige Thor u. Gartenmäuerchen. – Man muß durch- halten; vielleicht komt das Vergnügen noch. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 24.4.1936]


Auto fahren (2)

Ich fuhr in schneidigstem Bogen in eine schwierige Tankstelle ein und aus ihr heraus; danach noch 7 km auf schlechter Strasse – die Warnungstafel Schlaglöcher! war ganz unnötig, man merkte das auch so – [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 10.5.1936]


Der außenpolitische Befreier

Die Mehrzahl des Volkes ist zufrieden, eine kleine Gruppe nimmt H[itler] als das geringste Übel hin, niemand will ihn wirklich lossein, alle sehen in ihm den aussenpolitischen Befreier, fürchten russische Zustände, wie ein Kind den schwarzen Mann fürchtet, halten es, soweit sie nicht ehrlich berauscht sind, für realpolitisch inopportun, sich um solcher Kleinigkeiten willen, wie der Unterdrückung bürgerlicher Freiheit, der Judenverfolgung, der Fälschung aller wissenschaftlichen Wahrheit, der systematischen Zerstörung aller Sittlichkeit, zu empören. Und alle haben Angst um ihr Brod, ihr Leben, alle sind so entsetzlich feige. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 16.5. 1936]


Auto fahren (3)

Und heute wollen wir nach Rochlitz. Auto, Auto über alles, es hat uns furchtbar gepackt, d'une passion dévorante. (...) durch vielfältiges Verfahren ergab sich ein lehrreicher Zwang zu häufigem Zurückstossen; einmal wäre ich dabei fast im Chausseegraben gelandet. Im übrigen fuhr ich gut und relativ rasch, zwischen 50 und 60, bei strömendem Regen, glatter Strasse, unendlichen Curven und Gebirgschikanen. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 21.5.1936]


Wenden=Sorben

Aber am Nachmittag erschien zu Besuch die letzte und intelligenteste unserer Wendinnen [Sorben], Anna, die jetzt eine Stelle in Bautzen hat und mehrere Jahre nicht hier war, mit ihrem Bruder Tischler. Es ist hübsch, wie diese Mädchen Treue halten. Die Wenden sind alle gut katholisch, und also ist eine tröstliche Gemeinsamkeit der politischen Verzweiflung gegeben. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 2.7.1936]


Stoizismus

Eine Art Stoizismus, zu deutsch Stumpfheit ist über mich gekommen: vielleicht tritt doch irgend eine Wendung ein; und wenn nicht, so geht man eben zugrunde. Wir sind beide 54 und haben ein ganz inhaltreiches Leben gehabt – ob es ein bisschen früher oder später endet, ist schliesslich einerlei, wieviele Menschen kommen schon über die fünfzig? Und Lächerlichkeit oder Schande? Das sind doch Begriffe vergangener Zeit. Wir waren angesehene Leute. Was sind wir jetzt? Und was werden wir in zwei Monaten sein, wenn die Judenschonzeit der Olympiade vorüber ist, [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 16.7.1936]


Adel

Susi H. kam aus dem Golfklub; sie sagt, da sei kaum ein Mitglied, das nicht schon im Gefängnis gesessen habe. Für sie, die Tochter eines Grossindustriellen und einer Adligen, besteht kein Unterschied zwischen Nationalsozialismus und Bolschewismus. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 17.7.1936]


Knatsch und Zank

Lange, das Waschweib, dessen Frau bei Gusti W. reinmacht, berichtete ausführlich, wieviel Böses und wahrhaftig Diffamierendes Gusti über mein Fahren ausgesagt habe, während sie mir ins Gesicht mit der Torgautour doch sehr einverstanden gewesen. *Karl habe gebrochen, so seekrank sei er von meinem holpernden Fahren gewesen, er habe mir mehrfach ins Lenkrad fallen wollen, so böse Fehler hätte ich gemacht, es sei unverantwortlich, wie leichtsinnig der Führerschein ausgegeben werde, usw. Wegen solcher Falschheit habe ich wieder einmal den Verkehr mit Gusti W. eingestellt, nachdem ihr bornierter Kommunismus uns eh schon auf die Nerven gefallen war. – [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 27.7.1936]


Goebbels

... dann eine lange Rede von Goebbels. Ich hörte den giftigsten und verlogensten aller Nazis das erstemal und war doppelt erstaunt über seinen Bass und über die pastorale Gesalbtheit und Herztönigkeit seines Vortrags. Der Visage u. Gesinnung nach hatte ich geglaubt, er müsse hell, schneidig und schnoddrig sprechen. Es muss aber seine gewöhnliche Art sein, in der er vortrug, denn eine vorübergehende Dame sagte zu ihrem Begleiter: Das ist doch Goebbels! [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 30.7.1936]


Warten aufs Geschlachtetwerden?

Der politische Aspekt wechselt beinahe täglich, es wäre ungeheuer interessant, wenn es nicht so trostlos wäre. Um Spanien hat der dritte Napoleon seinen Verzweiflungskrieg begonnen – aber wieweit liegt eine Analogie vor? Ich höre immer wieder, zuletzt vom Lehrer Forbrig: H[itler]. wolle wirklich den Frieden, noch ein bis zwei Jahre, denn vordem seien unsere Rüstungen nicht fertig. Widerum: was in Deutschland jedes Kind weiss, kann doch auch Herrn Léon Blum nicht unbekannt sein. Ist man in Frkr. so dumm, auf das Geschlachtet[e] werden zu warten? Widerum: wieso hat man bisher alles hingenommen? In Frankreich von Deutschland, in England von Italien? Alles ist vollkommen undurchsichtig und dunkel. Wahrscheinlich kennt niemand, auch kein Regierender die tatsächlich vorhandenen Kräfte, Hemmungen und Stimmungen. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 13.8.1936]


Autobahnen

Wir gerieten halb zufällig auf die neue Reichsautobahn Wilsdruf[f]–Dresden, kaum eine Stunde nach ihrer Freigabe. Man sah noch Fahnen und Blumen des Festaktes vom Vormittag, eine Unmenge Wagen schob sich langsam im Besichtigungstempo vorwärts, nur ab und zu probierte man grössere Gesc[h]windigkeiten. Prachtvoll dieser gerade Weg, der aus vier abgesetzten Breiten besteht, aus je zwei überbreiten Einbahnstrassen nebeneinander, ein Rasenstreifen zwischen den beiden Richtungen. Und Brücken für Überquerer. Auf diesen Brücken und an den Rändern drängten sich die Zuschauer. Ein Corso. Und ein herrlicher Blick, wie man gerade auf die Elbe und die Lössnitzhügel in der Abendsonne zufuhr. Wir fuhren die ganze Strecke hin und zurück (zweimal 12 km.), ich wagte ein paar mal 80 km. Geschwindigkeit. Ein grosser Genuss, aber welch ein Luxus, und wieviel Sand in die Augen des Volkes. An hunderten von Bahnübergängen im Strassenniveau geschehen immerfort Unglücksfälle, tausende von wichtigen Verkehrswegen sind im schlimmsten Zustand, überall fehlt es an Radlerwegen, die mehr Unglück verhüten würden als alle Verschärfung der Strafbestimmungen. Dies alles bleibt ungebessert, denn es würde ja nicht in die Augen fallen. Dagegen DIE STRASSEN DES FÜHRERS! [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 4.10.1936]


Tierliebe

Wir kauften einen Sack Kartoffeln und bekamen als Weihnachtsgeschenk einen wunderschönen Hahn, der geschlachtet wurde. Es geht mir immer peinlicher auf die Nerven, dass man Haustiere schlachtet, das Töten überhaupt – ich rette jetzt jede Spinne aus dem Ausguss, ehe ich den Wasserhahn aufdrehe –, aber das ist senile Sentimentalität, und mit schlechtem Gewissen schmeckt mir das Fleisch wie vorher im gewissenlosen Zustand. Aber immer wieder bewundere ich, wie diese bäuerlichen Menschen naiv das Lieben und Schlachten vereinigen. Der kleine Junge schleppt zärtlich eine Henne ins Zimmer, der Vater pfeift zärtlich seinen Tauben, und nachher schneidet er seelenruhig dem Hahn den Hals ab, lässt das Blut des zuckenden Tiers auf den Boden laufen und lässt den kleinen Jungen zusehen. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 26.11.1936]


Deprimiert und Proletarisiert

Ich habe eine Villa und ein Auto, ich habe 492 Mark Pension im Monat, und wir sind ärmer, gehemmter, proletarisierter als in unserer jämmerlichsten Boheme- und Notzeit. Wir essen so schlecht und primitiv als möglich, um Geld und Zeit zu sparen – immer dies Abwaschen, Kochen, Reinigen – ich stehe den halben Tag in der Küche, E. macht die allergröbsten Arbeiten, es ist unsagbar abscheulich. Und kein Sparen am Pfennig hilft, der Bock, das Haus, der Zahnarzt, eine Steuer fressen im Augenblick das Vielfältige des Markbetrages, was man an Pfennigen wirklich quälerisch erübrigt hat. Ich rauche das billigste Cigarillo, 4 Pf. Bisweilen zur weiteren Verbilligung rauche ich Pfeife – sie schmeckt mir gar nicht mehr und erspart Pfennige. Heroische Selbstüberwindung, gar nicht mehr rauchen? Aber ich bin so schon mit Nerven und Stimmung auf dem Hund, und wenn ich noch mehr nach lasse, klappt Eva völlig zusammen, das hab ich schon so oft gemerkt. Ich sehe wirklich keinen Ausweg und lasse alles laufen. Irgendwie mag es sich zum Bessern wenden oder zum Verrecken. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 27.3.1937]


Auto fahren (4)

Der Bock [K. Auto] soll die erneuerten Gliedmaßen nur langsam einspielen, 100 km. nicht über 40[,] 100 nicht über 45, 100 nicht über 50. Das kommt uns wie geschlichen vor, und bei unserem wenigen Fahren (und dem sehr schlechten Wetter) würgen wir endlos daran. (...) Im vorigen Jahr um diese Zeit bedeuteten mir 40 km hohe Fahrt; jetz[t] komme ich mir bei 50 wie gefesselt vor. Meine Sehnsucht: einmal ein paar Wochen weithin durch Deutschland zu fahren, einmal nicht Küche und Haus zu besorgen, einmal nicht an jeden Groschen denken müssen. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 23.3.1937]


Vorlesen

Das Hübscheste am Tag ist das abendliche Vorlesen, wenn – es sind drei Wenns im Spiel: wenn Eva nicht allzu abgespannt ist und einschläft, während ich lese (sie legt sich oft gleich nach dem Essen hin, und kritischer Punkt ist dann die Viertelstunde, in der ich den Ofen besorge); wenn ich nicht so müde bin, dass ich das Gelesene nicht mehr auffasse, und wenn mir die ewig entzündeten Augen nicht allzuweh tun. Aber sehr oft sind schliesslich diese drei Bedingungen doch ganz oder halbwegs erfüllt. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 23.3.1937]


Die Vita schreiben

So ein bißchen Selbstverliebtheit erkennt man schon: "Gehrigs besuchten uns, sie gehen mit der Absicht um, hier draussen zu bauen. Er sagte, er schreibe jetzt an seinen Erinnerungen. Wie *Georg. Wahrscheinlich tut jeder dritte abgesetzte Professor zur Zeit dasselbe. Ich machte zwei divergierende Rückschlüsse auf mich selber. a) was Georg und nun gar was Gehrig kann, werde ich doch auch wohl zustande bringen, also wesshalb meine Angst vor der Vita? b) wo bleibt die Originalität meines Unternehmens? Übrigens werde ich ja wohl doch nie dazu kommen, denn immer wieder fesselt mich meine Arbeit, obwohl so gar keine Hoffnung auf Publikation mehr besteht." [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 15.4.1937]


Alltagsmiseren

Wer schreibt die jämmerlichste Alltagsmisere in seine Memoiren? Ich hatte wohl bis zu meinem vierzigsten Jahr immer wohlgeschnittenes Zeitungspapier auf dem Örtchen. Die Krepprolle war der im Hotel genossene Luxus. Dann gewöhnte ich mich an die Röllchen im eigenen Haus. Ich kann sie nicht mehr entbehren. aber die paar Pfennige, die sie kosten, summieren sich und lasten. Ich rauchte früher Pfeife. Ich gewöhnte mich an Cigarren, dann an Cigarillos. Ich zahlte 6 und 8 Pfennige dafür. Es gibt jetzt keine billigeren Cigarillos als die zu vier (auch die nur in wenigen Geschäften[)], meist ist 5 Pf. der Mindestsatz. Ich mache mir Vorwürfe, das ich nicht zur Pfeife zurückkehre: sie entzündet mir Gaumen und Zunge, sie befriedigt mich nicht; ich treibe mit schlechtem Gewissen den Vier Pfennigluxus. Und so in allem und jeden. Mein zerrissener Hausanzug – und es kommen Leute zu mir und betteln um eine alte Hose! Ich habe ja Villa und Auto. Das Tragikomische wird ein besonderer Abschnitt meiner Vita. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 15.4.1937]


LTI (1)

Klemperer hört hier sprachlich die Flöhe husten: "Ein immer wiederkehrendes Wort: Erleben. Wenn irgend ein Gauleiter oder SS-Führer, irgend einer der kleinen und kleinsten Untergötter spricht, so hört man nicht seine Rede, sondern erlebt sie. Eva sagt mit Recht, das war schon vor dem Nationalsoc. da. Gewiss, es ist in den Strömungen zu finden, die ihn schufen." [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 25.4.1937]


Briefmarken sammeln

... zeigte seine Markenalben, schenkte mir viele Stücke und eine Pincette. Er glaubt durch seine Sammlung einen Vermögenswert zu schaffen, kauft und ordnet systematisch, hilft sich wahrscheinlich damit über leere Abende. Ich sagte nachher herzensroh zu *Eva zum wirklichen Markensammeln müsse man verwitwet sein. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 21.5.1937]


Schlammschlacht

In den Zeitungen spielt heute schon wieder der Kampf gegen die katholische Kirche die grössere Rolle. Welch ein Theater übrigens für einen künftigen Satiriker, wenn sich Nazis und Klosterleute gegenseitig Homosexualität und Unzucht vorwerfen! [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 2.7.1937]


Distanzgefühl

Ein anderes gewiss allgemeines Alterszeichen: Als ich nach Dresden kam, mit 38 Jahren und noch lange Jahre danach distanzierte ich mich innerlich von Kollegen, von sehr vielen andern Menschen ebenso in dem Gefühl: sie sind [a]lt, sie empfinden unmöglich wie du. Jetzt heisst das gleiche Distanzgefühl 100mal: sie sind jung, sie empfinden nicht wie du. Ich glaube, jeder Mensch halbiert ganz instinctiv und naiv die gesamte Menschheit in Alt und Jung und rechnet sich bis zu irgendeinem Moment zur einen, dann zur anderen Hälfte. Ich glaube, dass es überhaupt keine Brücke von der einen zur andern Hälfte gibt. Ich weiss nicht, wann ich herübergewechselt bin. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 20.6.1937]


Im Riesengebirge

Klemperer auf Fahrt im Riesengebirg: "Nachher im Wald der berühmte Wasserfall der Kochel. Das bringen sächsische Schweiz und Rabenauer Grund noch allemal, und die Anschrift: 20 Pf Gebühr für das Schleusenaufziehen beim Wasserfall (übrigens lief er gerade von selber) spielt man so oft gegen die lächerliche sächs. Schweiz aus. Aber der naturgetreuere, völkischere Rübezahl darf sichs ohne Beeinträchtigung seiner Würde erlauben. Grete war wieder im Wagen geblieben, und der Kochelfall hatte das Gute für uns, dass Eva rasch und heimlich eine Erbssuppe mit Wurst verdrücken konnte und wir beide einen Schnaps schmetterten." [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 29.8.1937]


Immer dasselbe

In den vergangenen Tagen war ich so vollkommen heiser, dass es mit Vorlesen gar nicht ging. Da halfen wir uns wiederholt durch Kinobesuch über den Abend. Das interessanteste daran waren die Beiprogramme, der Nürnberger Parteitag und der Besuch Mussolinis – verschiedene Ausschnitte aus alledem vor allem aber Hitlers und Mussolinis gesamte Reden auf dem Maifeld. Sehr amüsant die Mimik und Gesticulation M.s und sein gebrochenes kaum verständliches Deutsch. Ungeheuer die prunkvolle Aufmachung – aber schliesslich ist es immer und immer wieder genau die gleiche Aufmachung[:] militarisierte Masse und Paradeschritt und Kriegsspiel zur Bekräftigung des Friedens und Kranzniederlegungen. Es stumpft ab auf die Dauer – sofern es nicht aufreizt. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 9.10.1937]


Eine Schraube

Erschöpfung und Depression dauern natürlich an (...) irgendeine Befreiung von dem allgemeinen taedium und Gefühl der Nutzlosigkeit aller Dinge ist noch nicht vorhanden. Schade, dass mir zum guten Katholiken eine Schraube fehlt oder eine zuviel gegeben ist[.] [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 12.9.1937]


Alles egal

In den letzten Wochen war und ist die Arbeit besonders verzögert durch *E.s nicht mehr ganz so schlimmen aber genügend elenden Zustand. Ich habe manchmal buchstäblich Tag und Nacht vorgelesen (einmal des Nachts von 2–½ 5), ich lese täglich vormittags an ihrem Bett vor: das nimmt nicht nur die Stunden der Lektüre selber, sondern wirkt darüber hinaus schwer ermüdend und lähmend. Aber ich tu es nicht eigentlich ungern, der Gedanke verlässt mich nicht mehr, dass es vollkommen gleichgültig ist, womit ich den Rest meines Lebens hinbringe: Ich glaube an keine politische Änderung mehr, und ich glaube auch nicht, dass eine Änderung mir Hilfe bringen würde. Weder in meinen Verhältnissen, noch in meinen Gefühlen – Verachtung und Ekel und tiefstes Misstrauen können mich Deutschland gegenüber nie mehr verlassen. Und ich bin doch bis 1933 so überzeugt von meinem Deutschtum gewesen. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 27.10.1937]


Jalna-Saga

Victor Klemperer liest die Jalna-Saga vor; dazu einen Klappentext gefunden: "Ab 1927 entwickelte die kanadische Autorin Mazo de la Roche die Familienchronik der Whiteoaks über vier Generationen, in der sie durch die Schilderung des Lebensstils auf dem Landsitz Jalna in Süd-Ontario ein romantisch-rustikales Kanadabild schuf. Beruhigend durch die Naturschilderungen, spannend durch menschliche Dramen von Liebe, Eifersucht, Eheproblemen und tiefen Spannungen zwischen den Familienmitgliedern fand die Saga zu ihrer Zeit eine treue Leserschaft und hatte einen Publikumserfolg, der sich nur mit den in unseren Tagen überaus beliebten Fernsehserien wie "Dallas" oder "Denver-Clan" vergleichen darf." Weitere Informationen auf einer eigenen Webseite. Klemperer schreibt: "alles ungeheuer lebensvoll, auch grotesk, auch wahrhaftig humoristisch, prachtvolles [C]harakterisieren: der werdende menschliche Künstler, der absolute sonst charakterlose Artist, der kleine Junge, in dem beide Anlagen schon gemischt vorhanden, der Älteste, ganz verantwortungsbewusst, ganz unkünstlerisch, dann ganz Leidenschaft usw., usw. eine ungemeine Fülle – aber im Hintergrund liegt für mich immer ein Stückchen nux vomitiva, weil die deutsche Kritik und Wortgebung immer die Herrlichkeit der Rasse und Sippe betont, dabei ganz zu Unrecht, denn eigentlich hat man es mit einer sehr dekadenten und bestimmt mit einer im Punkte der Sittlichkeit und Geschwisterlichkeit überaus fragwürdigen mehr Sippschaft als Sippe zu tun. Dennoch ein ganz ungemeines Kunstwerk, und ich warte sehnsüchtig auf die weiteren Bände." [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 29.10.1937]


Das Ende des Hauses Alard

"Das Ende des Hauses Alard" von Sheila Kaye-Smith (Frau?) Auch hier grosse Kunst und Brechnuss. Zwei Themen gehen zusammen. Das eine ganz realistisch. Der (nach dem Weltkrieg) zusammenbrechende adlige Grossgrundbesitz. Überschuldungen, äusserste Steuern und Erbschaftssteuern. Wille am alten Prunk festzuhalten bei tatsächlicher Armut und Entbehrung. Der Begriff der 500jährigen Familie als Moloch, dem das Glück der Einzelnen geopfert wird. Auflehnung. Eine Tochter heiratet den Freibauern (rousseauistisch). Ein Sohn wird Techniker. Der Titelerbe glaubt sich zur Geldheirat mit Jüdin (gemässigter Antisemitismus, stärkste Rassebetonung, stärkster Anti- Intellektualismus) verpflichtet und begeht dann Selbs[t]mord am Todestage des Vaters, der noch am Alten festhält, nur eine verkrümmte alte Jungfer hält dem Familienideal Treue. Aber das zweite Thema ist penetrantester, verbohrtester, für mein Gefühl wahnsinniger Katholizismus. Der jüngste Sohn, zuletzt der Titelerbe, tritt in einen Orden, predigt dogmatische Ethik der unsinnigsten Art, harte Religion, Unduldsamkeit, Entsagung, Gebet, Unnatur gegen Toleranz, Verschwommenheit, Suppenreligion des Anglikanismus. George Alard, gallikanischer Geistlicher, wird in seiner Toleranz und Lauheit verächtlich und lächerlich gemacht, bricht in sich zusammen, lässt sterbend den katholischen Amtscollegen holen. Das alles ist mir ebenso unbegreiflich als widerwärtig. Und immer mehr wird mir die Gattung Mensch ein Rätsel. So viel Genialität und so viel Irrsinn zusammengedrängt. Ich wünschte ich hätte im Dix- huitieme gelebt. Aber auch dies Buch unerhört lebendig und oft voller Humor. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 29.10.1937]


Bücherübernahme

Aus dem aufgelösten Haushalt bekamen wir viele Blumen (wie von **Blumenfelds und *Isakowitz), darunter einen ungeheuren Gummibaum. Bücher hätte ich zu hunderten haben können, ich nahm nicht viele, es modert ja bei mir schon so vielerlei, teils in Kisten, teils auch auf den Regalen, da ja mit der Bedienung die gründliche Reinigung fehlt. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 28.12.1937]


Theatertingelei

... war der Besuch der Carlo schon eine Erholung dagegen. Im Rahmen der KDF hat sie mit vier andern Leuten zusammen in den Kleinstädten Sachsens in einem Kinderstück Till Eulenspiegel[] gespielt. Die moderne Wanderschmiere, man fährt im Auto, der Anhänger befördert die Requisiten, man spielt in Turnhallen, Wirtshäusern etc., man gibt sechs verschiedene Rollen, den Magister, die alte Frau, den Esel etc., man hat ungeheizte Garderobe, man bekommt 20 M. für den Spielabend und muss sich dafür beköstigen, man hilft sich gegenseitig beim raschen Umkostümieren (Gregory, um Gotteswillen, Du hast deinen Bauch vergessen! – er war aber schon als plötzlich abgemagerter Wirt auf der Bühne, weil er sich irrtümlich zu früh als König hergerichtet hatte und nur eben noch die Krone wegwerfen konnte.) Theater! [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 28.12.1937]


Mitleid

Ich wollte Cigaretten von dem alten jüdischen Händler Weinstein holen, von dem ich mehrmals berichtete; er war vor vier Wochen gestorben, seine *Frau wohnt schon nicht mehr in der Polierstr. Der Mann ist einem Herzleiden erlegen, mein Mitleid besteht wohl zum grössten Teil aus egoistischen Angstgedanken. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 11.1.1938]


Übersehen

Seit Wochen lese ich Abends vor: [Ferenc] Körmendy: Abschied von gestern. Im Grunde die Tragoedie des in seinem Assimiliationswunsch getäuschten Juden. Dazu eine Elegie auf den Liberalismus. Das Buch ist aus Versehen in den Leihbibliotheken geblieben, aus kaum begreiflichem Versehen, wahrscheinlich durch seine Dicke geschützt – wer ackert tausend Seiten durch? [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 18.1.1934]


Das vierte Reich

Von zwei Seiten, von Berthold Meyerhof aus Berlin, von Frau Lehmann aus Dresden hörte ich das Gleiche, verbürgt und nicht etwa als Witz: Bei Prüfungen in Schulen oder bei Lehrlingen wird die weltanschauliche Fallenfrage[] gestellt: Was kommt nach dem dritten Reich? Die Antwort muss sein: Nichts, es ist das ewige Deutschland. Es ist also in den zwei mir berichteten Fällen vorgekommen, dass die armen Jungen ganz unschuldig antworteten: Das vierte Reich. Beide fielen ohne Berücksichtigung ihrer eigentlichen Leistung glatt durch. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 31.1.1938]


Geschichte

Beim Abschiedsessen bei Frau Schaps sagte neulich der alte Amtsgerichtsrat Morahl, er lese principiell keine Romane, weil sie doch Lügen brächten (wahrhaftig, das sagte ein alter jüdischer Richter und sonst ganz netter Mann im Jahre 1938 mit seelenruhiger Überzeugung!) Ich: in den Romanen sei oft mehr Wahrheit als in der Historie. Protest. Ich: von zweien eines: entweder der Historiker ist nicht persönlich dabei gewesen, dann muss er sich auf Dokumente stützen und weiss also nichts absolut genau, muss subjektiv auslegen. Oder er ist dabei gewesen, dann weiss er erst recht nichts vom objektiven Sachverhalt ...Wie kommt Geschichte zustande? (...) Was weiss ich von selbst erlebter Geschichte? Ich war im Kriege, ich habe die Revolution und das dritte Reich aus allernächster Nähe erlebt – que sais-je? Und wer weiss mehr? Und wer waren die wirklichen Weltbeweger in alledem? Wahrhaftig Hitler und Göbbels? Man könnte fromm werden oder sehr unfromm – denn irgendwas oder irgendwer schiebt das alles, die Menschen selber bilden sich blos[s] ein, selber die Beweger zu sein. Und jeden Tag von neuem und jeden Tag stärker bewegt mich die triviale Antithese: so Ungeheures wird geschaffen, Radio, Flugzeug, Tonfilm, und die irrsinnigste Dummheit, Primitivität und Bestialität sind nicht auszurotten – alles Erfinden läuft auf Mord und Krieg hinaus. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 31.1.1938]


Fragen

Ich frage mich jetzt sooft nach Dingen (z.B. sprachlicher Natur), die mir 50 Jahre selbstverständlich waren. Hauptsache ist das Fragen, viel wichtiger und primärer als das Antworten. Hauptsache für die Tyrannis jeglicher Art ist das Unterdrücken des Fragetriebs. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 10.4.1938]


Bedrückt

Was ich auch arbeite, tue, denke, immer ist der entsetzliche Druck der Situation da. Mir geht so oft ein Vers durch den Kopf, den ich 1 000mal von Vater hörte: Ich wollt, es wäre Schlafenszeit, und alles wär vorbei. Ich habe immer darüber gelacht, denn Vater hing sehr und sehr ängstlich am Leben. Jetzt weiss ich, dass man gleichzeitig sehr und sehr ängstlich am Leben hängen und den Vers mit voller Überzeugung und ganz ehrlich citieren [k]ann. (..) [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 24.8.1938]


Wie man sich täuschen kann

"Der Mann entsetzt: Ich bin 1914 verschüttet worden und muss nun als Landwehrmann wieder heraus. Ist das notwendig gewesen, ist es menschlich? Sie sollten die düstern Gesichter der Truppentransporte sehen – anders als 14. Und haben wir 14 mit Knappheit der Lebensmittel begonnen? Wir müssen unterliegen, es kann nicht wieder vier Jahre dauern." [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 4.9.1939]


Krieg (1)

Eva sagt: Der Krieg wird zugescharrt. Das stimmt in allen Punkten. UND IST EIN FEHLER. Man hat nicht mobilisiert, sondern einzeln aus den Betten geholt. Man gibt keine Verlustlisten aus. Man flaggt nicht, trotzdem in dieser ersten Woche schon Warschau erreicht. Man verschweigt die Westfront. Man lässt die Schlächterläden nach der Strasse zu schliessen: Schlange wird im Hof gestanden. Es soll die Meinung aufrechtgehalten werden: Nur mit Polen Krieg und raschester Sieg. Aber gleichzeitig ständig verschärfte Maßnahmen, die auf langen Krieg deuten. Einkommensteuer auf um 50 % erhöht, Verdunkelung in Permanenz, gestern Strafanwarnung, da die Discipplin des Verdunkelns nachlasse. Gestern trat zu den gesperrten Lebensmitteln das MEHL. Da in den Fischgeschäften immer weniger zu haben, da von Fleisch v[i]elfach auch die Markenmenge nich[t] ganz geliefert wird, so MUSS sich alles der Mehlspeise zuwenden. Es MUSS sich also jeder fragen, wie lange noch das Brod frei bleibe. Und jeder MUSS sich fragen, wie all diese Verordnungen zu der Meinung von kurzem Krieg mit Polen allein stimmen. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 10.9.1939]


Sonderangst

... machte mir Angst um das Häuschen; es seien in den letzten Tagen etliche Eigenheime weggenommen worden. Es hat aber so gar keinen Zweck, irgendeine Sonderangst zu haben; man muss jede Stunde mit Untergang rechnen. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 14.9.1939]


Suggestion

Es ist fast bis zur Unmöglichkeit schwer sich der allgemeinen Suggestion zu entziehen u nicht mit dem Blitzsieg (BLITZSIEG u GEGENSCHLAG für Sprache tertii I notieren!) u der phantastischen Landung in England zu rechnen. Und doch können u können wir nicht glauben, dass England u Frankreich sich vernichten lassen. Heute der erste kleine Ruhepunkt, die erste kleine Dämpfung in den Triumphberichten seit dem 10. Mai: Der Feind hat sich zwischen Namur u Antwerpen zum Kampf gestellt. Hitler ist wie ein Boxer, der in der ersten Runde siegen will und muss; für 12 Runden reicht es nicht aus. Werden England und Frankreich hart genug sein im Nehmen? [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 16.5.1940]


Gehobenes KZ

Enge, Promiscuität, kaum gelichtetes Chaos, ewiges Abwaschen durch Enge aufs äußerste erschwert, ständig[e] auf Einkauf drüben bei Dölzschen. Keine Sammlung, wenige Zeilen Curriculum, kein Vorlesen od. Fürmichlesen. Immer im Nichtigen beschäftigt, jeden Tag das gleiche Elend, die gleichen Gespräche – dabei ungeheure Siege Deutschlands bei rasender Triumphsprache. Gestern traten zahllose Divisionen zu neuen Operationen aus der Abwehrfront an, zur Vernichtung unserer Gegner. Jeder Tag qualvoll. Abends Nervenberuhigung bei Kartenlotterie – morgens der ganze Jammer. Gehobenes KZ. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 6.6.1940]


Schweiz

Morgens sagte das Milchmädchen, die während des Alarms Strassen- und Controlldienst tut: Die englischen Flieger kommen aus der Schweiz, wo sie tanken. Deshalb soll ja jetzt die Schweiz besetzt werden. Das sagt das Mädel natürlich nur, weil es ihr von der Organisation so beigebracht wird. Es wird hier und da von der Besetzung der Schweiz geredet. Ich kann nicht daran glauben – denn welchen Nutzen hätte Deutschland davon?? Es braucht das Land weder zur Offensive gegen das besetzte Frankreich, noch zur Verbindung mit Italien; es kann auch nichts herausholen, denn die [S]chweiz lebt vom Fremdenverkehr, u in einer eroberten Schweiz stünden die Hotels verödet oder dienten wie in Karlsbad dem KDF-Publikum. Auf der andern Seite ist die Schweiz Freiheitssymbol der Welt, es wäre selbst für die Nat.soz. eine Übersteigerung ihres Wahnsinns daran zu tasten. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 23.9.1940]


Kriegsgewinn?

Politisches Gespräch mit dem (heute abgereisten) Kölner *Schuldirector Voß ergab immer: ich halte für notwendig, daß Deutschland klein noch einmal anfängt u. das Abc der Moral u. Kultur u. Humanität neu lernt. Er haßt das Regime wie ich, glaubt aber, es werde von innen her fallen, nachdem der Krieg gewonnen, hält diesen Kriegsgewinn für notwendig, weil sonst Deutschland für immer zerstört sei. (Es spielt bei ihm auch Rancune gegen England aus der Zeit der Rheinlandbesetzung3 mit.) Millionen dürften so denken wie er, u. das stützt Hitler, nur das. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 5.10.1940]


Stimmungsumschwung?

Es verstärkt sich mir aber der Eindruck, dass es dicht vor Zwölf ist. Nur – ob WIR 12 Uhr erleben? Die Volksstimmung s[ch]eint sehr schlecht, täglich berichtet Frau Voss von seltsam bezeichnenden Gesprächen, sie behauptet sogar, man sage weniger Heil Hitler u häufiger Guten Tag. – [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 7.11.1940]


Brot und Kaffee

Das Brod: Vogel hat jetzt eine Verkäuferin. Ich bitte Vogel sen. um ein halbes Brod ohne Marken. Er flüstert: Um Gotteswillen verlangen [S]ie das nie von unserm Fräulein. Die Verkäuferin (an Stelle des zum Arbeitsdienst geholten *Jungen) steht im Nebenraum. *Der Alte sehr laut: Also erst die Marken Nimmt meine Karte u. die Schere, schneidet in der Luft. Gibt sie mir zurück, bringt mir das Brod, flüstert: Sie machen mir sonst den Laden zu. – Der Kaffee: *Evas arische 60 gr. ein ständiger Neid der Frau Voß. Sie erhält 5 gr. geschenkt. Seligkeit. Wir laden zum echten arischen Kaffee Reichenbachs ein. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 26.11.1940]


Diabetes

"Er ist zuckerkrank, und wir tauschen Trockengemüse gegen Kartoffeln ein." [23.4.1942] -- Dagegen will uns der Diabetiker Seliksohn (arische Diabetiker erhalten Gemüsezuweisungen, jüdische nicht) gegen ein Päckchen Trockengemüse eine Tasche Kartoffeln geben. [16.3.1942] -- Zu den Lebensmittelkarten: Vollmilch auch den Kindern unter 6 Jahren entzogen; sier erhalten Magermilch, die über 6 Jahre gar keine Milch (wie die Erwachsenen). – Alle Ausnahmen für Kranke aufgehoben – auch der Diabetiker *Seliksohn erhält kein Fleisch mehr. Das ist unverschleierter Mordwille. [18.10.1942] -- ... danach ein paar Minuten bei Seliksohn, der graugrün u. tief eingefallen aussieht. Für ihn, den Diabetiker, ist die neue Eßordnung kaum etwas anderes als ein Todesurteil. [27.10.1942]


Engpässe

Neueste Verordnung: Juden dürfen nicht Schlange stehn. – Juden haben abzuliefern: Haarschneidemaschinen Haarschneidescheeren, Haarkämme, ungebraucht. Juden werden bei strenger Strafe erinnert, den Stern fest aufgenäht zu tragen, weil angesteckte oder mit Druckknöpfen gehaltene Sterne zeitweilig entfernt werden könnten. Die Kämme sind tröstlich, sie enthüllen äußersten Mangel – man schreckt vor keiner Jämmerlichkeit zurück. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 26.4.1942]


So und so

Du Judensau wirfst ja doch nur Junge, um sie zu Hetzern großzuziehen! Ausspruch der Gestapo zu der hinbestellten 70jährigen Frau Kronheim, wie uns deren Tochter gestern erzählte. (Hinbestellen – auf stundenlange Spaziergänge schicken, sich immer wieder zu immer neuen Beschimpfungen u. Püffen melden lassen, ist die übliche Tortur im Anschluß an die Haussuchung.) Aber gestern auch dies. Auf dem Wasaplatz zwei grauhaarige Damen, etwa 60jährige Lehrerinnen, wie ich sie oft in meinen Vorlesungen u. Vorträgen antraf. Sie bleiben stehn, die eine kommt mit ausgestreckten Hand auf mich zu, ich denke: eine alte Hörerin, u. lüfte den Hut. Ich kenne sie aber doch nicht, u. sie stell sich auch nichtg vor. Sie schüttelt mir nur lächelnd die Hand, sagt: Sie wissen schon, warum! u. geht fort, ehe ich ein Wort finde. Solche Demonstrationen (gefährlich für beide Teile!) soll des öftern stattfinden. Gegenstück zum neulichen: Warum lebst Du noch, Du Lump?! Und dies beides in Deutschland, und mitten im 20. Jahrhundert. – [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 8.5.1942]


Hautierverbot

Sternjuden u. wer jedem der mit ihnen zusamenwohnt, ist mit sofortiger Wirkung das Halten von Haustieren (Hunden, Katzen, Vögeln) verboten, die Tiere dürfen auch nicht in fremde Pflege gegeben werden. Das ist das Todesurteil für Muschel, den wir über 11 Jahre gehabt, u. an dem Eva sehr hängt .. Er soll morgen zum Tierarzt geschafft werden, damit ihm die Angst des Abgeholtwerdens u. gemeinsamer Tötung erspart bleibt .. Welch eine niedrige u. abgefeimte Grausamkeit gegen die paar Juden. Es ist mir um Evas willen sehr bitter zumute. Wir haben uns so oft gesagt: der erhobene Katerschwanz ist unsere Flagge, wir streichen sie nicht, wir behalten die Nasen hoch, wir bringen das Tier durch, u. zum Siegesfest bekomt der Muschel Schnitzel von *Kam (dem feinsten Kalbschlachter hier). Es macht mich beinahe abergläubisch, daß die Flagge nun niedergeht. Das Tier mit seinen mehr als elf Jahren war in letzter Zeit besonders frisch u. jugendlich. Für Eva war es immer ein Halt u. ein Trost. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 15.5.1942]


Verbote

Neue Verodnungen in Judaeos. Der Würger wird immer enger gezogen, die Zermürbung mit immer neuen Chikanen betrieben. Was ist in diesen letzten Jahren alles an Großem u. Kleinem zusammengekommen! Und der kleine Nadelstich ist manchmal quälender als der Keulenschlag. Ich stelle einmal die Verordnungen zusamen: 1) Nach 8 od 9h Abends zuhause sein. Controlle! 2) Aus dem eigenen Haus vertrieben. 3) Radioverbot, Telephonverbot 4) Theater= Kino=, Konzert=; Museumsverbot 5) Verbot Zeitschriften zu abonnieren od. zu kaufen. 6) Verbot zu fahren (dreiphasig: a) Autobusse verboten, nur Vorderperron der Tram erlaubt, b) alles Fahren verboten, außer zur Arbeit c) auch zur Arbeit zu Fuß, sofern man nicht 7 km. entfernt wohnt oder krank ist – aber um ein Krankheitsattest wird schwer gekämpft). Natürlich auch Verbot der Autodroschke. 7) Verbot ‹Mangelware› zu kaufen 8) Verbot Cigarren zu kaufen od. irgendwelch Rauchstoff. 9) Verbot Blumen zu kaufen 10) Entziehung der Milchkarte. 11) Verbot zum Barbier zu gehen. 12) Jede Art Handwerker nur nach Antrag bei der Gemeinde bestellbar. 13) Zwangsablieferung von Schreibmaschinen, 14) von Pelzen u. Wolldecken, 15) von Fahrrädern – zur Arbeit darf geradelt werden (Sonntagsausflug u. Besuch zu Rad verboten), 16) von Liegestühlen, 17) von Hunden, Katzen, Vögeln. 18) Verbot die Bannmeile Dresdens zu verlassen 19) den Bahnhof zu betreten, 20) das Ministeriumsufer, die Parks zu betreten, 21) die Bürgerwiese u die Randstraßen des Großen Gartens (Park- u. Lennéstr. Karcher Allee[)] zu benutzen.[)] Diese letzte Verschärfung seit gestern erst. Auch das Betreten der Markthallen seit vorgestern verboten. 22) Seit dem 19. Sept. der Judenstern. 23) Verbot: Vorräte an Esswaren im Hause zu haben. (Gestapo nimmt auch mit, was auf Marken gekauft ist) 24) Verbot der Leihbibliotheken 25) Durch den Stern sind uns alle Restaurants verschlossen. Und in den Restaurants bekomt man immer noch etwas zu essen, irgendeinen Stam, wenn man zuhaus gar nichts mehr hat. *E. sagt, die Restaurants seien übervoll. 26 Keine Kleiderkarte 27. Keine Fischkarte 28. Keine Sonderzuteilung wie Kaffee, Chokolade, Obst, Condensmilch. 29) Die Sondersteuern. 30) die ständig verengte Freigrenze. Meine: zuerst 600, dann 320, jetzt 185 M. 31: Einkaufsbeschränkung auf eine Stunde (3–4, Sonnabend 12–1) Ich glaube, diese 31 Punkte sind alles. Sie sind aber alle zusammen gar nichts gegen die ständige Gefahr der Haussuchung, der Mißhandlung, des Gefängnisses, Conzentrationslagers u. gewaltsamen Todes. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 2.6.1942]


Immer restriktiver

Bisher durften Juden im Arbeitseinsatz ihre Fahrräder behalten. Neueste Verordnung (4): Fahrräder sind nur zu behalten, wenn der Arbeiter einen längeren Weg als 7 km. hat. Gleichzeitig: wer noch die Tram benutzen darf (Arbeiter jenseits der 7 km-Grenze) darf nicht mehr Zwölferkarten oder Umsteigehefte lösen, sondern nur noch die teureren Einzelbillette. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 26.6.1942]


Reime

Ein freisinniger Jude schrieb mir eine Karte:
"Dem Kammerherren ist jetzt wohl,
Er bleibt zu Hause u. baut Kohl."
Ich antwortete im gleichen Stil:
[‹]Zum Kohl ess' ich den Schweinebraten,
Den Moses Ihnen abgeraten[.›]
[Victor Klemperer: Die Tagebücher, 9.7.1942]


Sittliche Gehirnerweichung

Gestern die Visitentour fortgesetzt. Eva war schon am Vorm. bei Neumanns gewesen. (...) Am Nachm. also zu zweit dort. Die arische Freundin, Frau Arendt, fand sich auch ein, brachte Kuchen mit, es gab echten Tee. Leichenschmaus, sagte ich. Darau f N.'s die trotzig vergnügt waren: Ja u. nein.[] Einerseits seien die Leichen ja selber dabei. Andrerseits führen sie wirklich in ein Jenseits, aus dem bisher noch niemand authentische Nachricht gegeben. Denn keine der erzählten Nachrichten sei mehr als Vermutung. Er schenkte mir ein Gebetbuch mit hebräischem u. jüd deutschem Text. Ich: wie man an diesem Versöhnungstag seinen Feinden vergeben solle? Er: Das verlangt die jüd. Religion nicht. Das betr. Gebet heißt: Versöhnung für alle Israeliten u. für den Fremden in unserer Mitte, also doch nur für den friedlichen Gast unter uns. Feindesliebe fordere das Judentum nirgends. Ich: Feindesliebe ist sittliche Gehirnerweichung. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 21.9.1942]


Zersplitterung

Wie eng sind meine Urteile in meiner Litgesch, weil ich Jahrzehntelang gegen alle nichtfranz. Literatur isoliert war. Enge des Spezialisten, ohne sie hätte ich meine Bücher nicht zustande gebracht. Aber ich sehe doch jetzt, wie einseitig meine Schreiberei war. – Muß ich *Hitler dankbar sein, daß er mir jetzt Gelegenheit gibt mich ausserfachlich zu bilden? [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 13.1.1943]


Sehr bescheidenes Glück

Dazu komt das frei Schweifende meiner Studien u. Arbeitspläne. Nach der langen Gebundenheit ans Fachliche ein Schwelgen, ein Micherweitern, ein gewisses Zurück zur Freiheit des jungen Publizisten (mit dem Unterschied freilich der Igelstellung von der Wagenburg!) Und auch das schwankende Gefühl, ob ich Zeit behalte, ein oder mehrere Bücher aus alledem zu machen, u. was für Bücher, u. in welcher Reihenfolge, bedeutet Spannung u. mehr als geregeltes Pensum. Und selbst das ebenfalls zur Höhe drängende Eßelend erscheint mir manchmal als quälendes Vergnügen: der Hunger ist so groß, daß der erbärmlichste Fraß besser schmeckt als in Friedenszeiten ein gutes Essen zu in seiner Selbstverständlichkeit bei bloß normalem Hunger. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 25.2.1943]


Schamvolle Lektüre

... las ich dieser Tage viel aus einem Reißer vor, der wie ein flacher Kriminalroman erst spannt u. dann einen faden Geschmack im Munde u. ein Gefühl der Beschämtheit hinterläßt. – Scham daß es noch Leute gibt, die so etwas schreiben u. Leute, die so etwas lesen, u. daß ich zu diesen Leuten gehöre. *Hans Dominik, Die Spur des Dschingis Khan. Aber zuende lesen wollen wir diesen 1923 bei Scherl erschienenen Roman aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert doch, trotz der Leere u. Flachheit der u. Abgedroschenheit seiner Liebes- u. kriminellen Partieen, denn als technische u. politische Utopie ist er interessant. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 10.3.1943]


Kurze Glücksgefühle

Ich habe gewiß im Tgb schon öfter betont, daß ich in Minuten der Frische ein wirkliches Glücksgefühl empfinde, weil mir so vieles zu erleben vergönnt ist, weil ich in meiner Ehe beglückt bin, weil ich noch produziere oder doch Produktion vorbereite. Aber dies Glücksgefühl kann sich bei mir niemals in Religion, in naiven Dank an den Schöpfer umsetzen. Hurra ich lebe!, während rings um mich gestorben wird, empfnde ich als ein unsittliches Gefühl. Warum denn gerade ich? [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 30.6.1943]


Medizin

Eva ist vor dem Frühstück fort zur Röntgenaufnahme. Ich bin etwas besorgt: die Schmerzen waren in den letzten Tagen ernsthafter, es kamen Beschwerden hinzu, die mir als anginöse allzu vertraut sind. Andrerseits hat Fetscher E[va']s Herz im Wesentlichen gut gefunden, genau wie Annemarie. Etwas erhöhter Blutdruck (175 statt 160) sei kaum beunruhigend. Einzige Medizin – das ist meine Diagnose – wäre H[itler']s Sturz. – [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 23.8.1943]


Methusalem

Beim großen Säubern der letzten Schichtstunde wird aller Dreck vom Boden auf einen Haufen vor der Schneidemaschine zusamengekehrt; die nächste Schicht mahlt ihn durch, auch das gibt Schlütertee. Ich sagte zu *Garnmann: []so wie wir diesen Dreck zusamenkehren u. in die Maschine stopfen, ebenso stopft Deutschland seinen Menschenrest, die ganz Alten u. die viel zu Jungen in die Kriegsmaschine. Es kann nicht mehr lange dauern, der Witz vom Methusalem, den Gott ausschickt um zu sehen, wie es steht, u. er komt zurück: ich bin geflohen, sie ziehen meinen Jahrgang ein – – der Witz stimt! [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 27.9.1943]


Kätchen

Eva sagt, in Kätchens Schmerz sei viel Convention: man trauert um einen Bruder. Widerum trauert sie wirklich: die Thränen sind echt, die graue Gesichtsfarbe ist es, die Aufregung ist es. Und sie ist wirklich herzleidend, eben hat sie wieder ein Arzt wegen Herzangina u. Herzerweiterung krank geschrieben. Widerum: ihr Geist erscheint mir immer wieder wie eine Schiefertafel: nichts Aufgeschriebenes haftet, in der nächsten Sekunde geht der Schwam einer neuen Impression darüber. Widerum: in den Minuten in denen die üble Aufschrift erscheint, leidet sie doch wirklich. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 26.7.1942]


Gerüchte

Gestern im Abendrundfunk (...) Warnung vor Schwarzsenden, nicht -hören. Landesverrat, Zuchthaus od. Todesstrafe! (...) So ist der Witz verbreitet – man spricht auch von angeklebten Zetteln in Löbtau –: Brauner Wellensittich entflogen. Abzugeben Reichskanzlei. Eben finde ich Tg.notiz (...) Berlin drohe ein Jahr Gefängnis an für Gerüchtverbreitung, selbst wenn man zugleich das Gerücht bezweifle. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 24.5.1941]


Namensänderung

Als neuesten Witz erzählte Stern: H[itler] eifere seinem Liebling Wagner als Componist nach; er habe eine Operntrilogie geschaffen: Der nie gelungene Ring.3 1. Niefried. 2. Die Willkür. 3. Ghettodämmerung. Er erzählte auch die Bitte um Namensänderung. Ich heiße Adolf Scheiße. – []Welche Abänderung beantragen Sie?[] – []Emil Scheiße. – [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 5.5.1943]


Im Closet

Im Closet klatscht sich ein Papierstück am glatten Trichter fest u. ist nicht herunterzuspülen. Zweimal nicht u. erfahrungsgemäß überhaupt nicht, jeder Guß klebt es nur fester an. Ich will zur Closetbürste greifen u. denke: Erst noch einmal spülen; wenn es doch heruntergeht, fällt die *Hitlerei in den nächsten Wochen von innen her. Eins ist so unwahrscheinlich wie das andere. Ich spüle, u. wahrhaftig das Papier sinkt. Und wahrhaftig, ich bin eine halbe Stunde lang zuversichtlicher. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 6.9.1943]


Weiss Ferdl

Klaus erzählte ferner von Weiss Ferdl [Ferdinand Weisheitinger], den wir noch im Film gesehen haben. Er sei in München als Cabarettist seines eignen Lokals längst so berühmt, daß die Regierung nicht wage ihn umzubringen (wie sie es mit anderen getan) – denn das würde glatt zum Aufruhr führen. Er büßte seine Tapferkeit immer nur mit einigen Wochen Gefängnis. Nach dem Freikomen nehme er in leichtester Verschleierung den Witz wieder auf, der zu seiner Verhaftung geführt habe. Beispiel: er sei mit 3 lebenden Schweinen auf die Bühne gekommen, einem Ferkel, einer mittleren u. einer schweren Sau. Er habe gesagt: Das ist die Familie Mann, das Ferkel ist der junge Mann, das mittlere Schwein die Frau Mann, u. die fette Sau Hermann. Tobender Beifall, u. daraufhin wurde der Ferdl geholt. Gleich nach seiner Freilassung trat er wieder mit den 3 Schweinen auf u. rief ins Publikum. Wer ist das? Und das? ... Jubelnde Antwort: []die Familie Mann! .. Der junge Mann, die Frau Mann ... – Na und die fette Sau? ... Völliges Schweigen ... Ach, Ihr meint, ich soll's euch sagen? Ne, ich bin ja eben erst aus Dachau heraus! .. Ein anderer Weiß Ferdl-Witz (...). Er öffnet eine Kiste, hält die darin befindlichen Bilder eines nach dem andern hoch: Hitler, Goehring, Goebbels, Ley usw., tut sie wieder hinein, nimmt die Kiste auf den Rücken u. geht stillschweigend ab. Tobendes Gelächter. Auf der Kiste steht: Nicht stürzen! [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 6.1.1944]


Magie des Technischen

Bernhard Stühler hat noch nie etwas von Gasglühlicht gehört, lacht über das Wort Glühstrumpf, kann sich kein Bild davon machen. Er kennt auch keine Petroleumlampe, nur Elekrizität. Wie anders muß das Weltbild dieser Generation sein! Der Junge ist eben 14 Jahre. Auf der andern Seite muß ihm Radio u. Flugzeug so selbstverständlich sein, wie mir Telephon u. Eisenbahn. Er kennt den Schauder der Bewunderung nicht, den mir diese Dinge einflößen, für ihn sind sie ohne Magie. Widerum muß sich für meine Eltern das Gefühl der Magie mit Eisenbahn u. Telephon verknüpft haben. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 1.2.1944]


Katholizismus

Die protestantische Kirche, den protestant. Geistlichen mißachtet er [Romanfigur Johsts] im allgemeinen. Das sind satte Bürger. Das sieht er mit Simplicissimusaugen. Aber das einfältig starke moralische u. Pflichtgefühl seines Freundes Ratt, dessen Ichopfer erkennt er an. Mehr Sympathie hat er für den Katholizismus, seinen Marienkult, sein heidnisches Wesen. Der Katholizimus ist eigentlich deutscher wie der Protestantismus. Wir Deutschen sind nun mal im Grunde Gefühlspathetiker u. Chaotiker! Sind mehr Sehnsucht nach hundertfältigen Himmeln u. Chören voll schwebender Hallelujajünglinge. Das Leben hier (in München) ist heidnischer ... Die Mutter Gottes! Schlage an dein protestantisches Herz! Hattest du nie Sehnsucht nach der Mutter, der Jungfrau, der Himmelskönigin, der Geliebten? [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 23.5.1944]


Literatursprache

Stil: gespannt zwischen stärkstem Verismus des Alltags u. xxx Gruppenjargons u. stärkstem Expressionismus, der wieder (...) von Pretiosität nicht zu unterscheiden. (Auf den Gräbern lagen rostende Weißblechkränze, in denen der Atem des Windes röchelte) Unter allen Umständen muß persönlich, neu, gefühlsbetont gesprochen werden. Ein keilender Corpsbursche sagt: Unsere Bälle haben Ansehen. Partien werden geschleppt, es könnten einem die Augen übergehen, so dicke Moneten rollen in den Tanzkarten rum ... Hans findet das zum Lachen: Immer diese Sprache, die in den Scharnieren stehender Redensarten rollte. (141/2. – Dabei sind die rollenden Moneten schon expressionistisch!) [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 23.5.1944]


Espenlaub

Gl[aser] war so verstört von Angst, so jämmerlich haltlos – bat mich, ihm nie wieder etwas von ausländischen Berichten zu erzählen – man könnte durch Folter zu Aussagen gezwungen werden, vestigia terrent, er wolle nichts Verbotenes wissen ... Ich sagte ihm, wir stünden sowieso mit anderthalb Füßen im Grabe, wir müßten uns als alte Leute dem Schicksal überlassen ... alles umsonst, er blieb ein unschönes Espenlaub. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 22.7.1944]


Klemperer-Streusel

  • Der Schundroman als Gattung hat immer die gleichen Charakterzüge: Puppen statt Menschen, Sensationen statt Ereignisse, stereotype u. extreme Phrasen statt einfacher oder origineller Sätze. Aber man muß den Schund jeder Epoche kennen. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 21.8.1944]
  • Berger citierte, was schon alt sein soll, mir aber neu war: Wir sind durchs rote Meer gekomen, wir werden auch durch die braune Scheiße kommen! [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 21.8.1944]
  • Es besteht ja in Rom eine andere Auffassung über die Einwirkungsmöglichkeit der Regierung gegenüber der Presse als in Berlin. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 18.8.1944]
  • Simon erzählte, seine Frau sage, Hitler dürfe nicht sterben, man müsse noch Geld mit ihm verdienen, indem man ihn im Käfig durch die Welt führe – Eintritt 1 Dollar, Anspucken 2, In-die Fresse-hauen 3 Dollar. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 23.7.1944]
  • Evas Geburtstag. Meine Hände wieder ganz leer, nicht einmal eine Blume. Dabei Eßnot u. E. durch Wäsche – alles, aber auch alles im Badezimmer gewaschen, im Schlafzimmer aufgehängt – schon seit Tagen überangestrengt. Die Hoffnung auf den nächsten Geburtstag ist nicht mehr recht haltbar, teils Hitlers, teils der Angina wegen. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 12.7.1944]
  • Und immer wieder sage ich mir, auch ich werde nicht überleben, im allertiefsten bin ich auch stumpf hoffnungslos, kann ich mir eine Rückverwandlung zum freien Menschen nicht mehr vorstellen. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 8.7.1944]
  • Im Boardinghouse in New York urteilen die Juden: Deutsche sind immer ruhig u. anständig, wenn sie allein sind ... Italiener sind gefährlich, weil sie noch mehr arbeiten u. noch kleinere Bedürfnisse haben als wir Juden .. Und mit Juden ist nur gut auf dem gleichen Friedhof zu liegen. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 29.5.1944]
  • Der mich neulich so freundlich im Brillenladen bediente, war der Chef Hahn selber. Sein Sohn ist gefallen, wie mir Witkowsky erzählte. Hinc sympathia.1 Es scheint kein besseres Werbemittel gegen Hitler zu geben als den Heldentod der Söhne. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 13.4.1944]
  • Lewinsky am Sonntag: Ich muß ein Buch bei mir [haben], es muß in der Fabrik neben mir liegen; ich lese nicht darin, ich habe keine Zeit dazu – aber ich muß es bei mir fühlen u. sehen, es ist mein Talisman. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 13.4.1944]
  • Das größte soziale Bindemittel ideeller Natur ist immer ein gemeinsames Gebilde der Phantasie. Das wissen diejenigen sehr genau, die aus einer Vielheit von Menschen eine gefügige Einheit herstellen wollen. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 19.3.1944]
  • Zur LTI will ich noch notieren: in den Todesanzeigen ist sonnig selten geworden, nicht ausgestorben; dafür grassiert jetzt lebensfroh. Unter 5 Gefallenen waren immer 4 lebensfroh. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 12.3.1944]
  • Klemperer konstatiert -4°C, was "die Russen freuen dürfte".
  • Berliner (Durchalte)Wunsch untereinander 1943/44: "Bleiben Sie übrig!"
  • Es gibt also Dinge, die sich nicht geändert haben: "Aus Überdruß u. Erschöpfung meldete ich mich gestern Nachmittag krank (zwei Tage darf man ohne Arztzeugnis krank machen." [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 29.1.1944]
  • Frau Steinitz sagte von einem Hingerichteten u. nannte es einen schon alten Witz, er sei zu den *Himmlerschen Heerscharen einberufen worden. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 25.1.1944]
  • Weil Dresden bisher immer vor Bombenangriffen verschont blieb: "... als neuesten Witz den neuen Angstnamen Dresden: Zitterstadt im Wartegau." [Victor Klemperer: Die Tagebücher, S. 17.12.1943]
  • Statt Heil Hitler sage man jetzt Ahoi (Adolf Hitler ohne Italien). [Victor Klemperer: Die Tagebücher, S. 13.9.1943]
  • Arbeiten, mich in Arbeit betrinken! [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 29.11.1942]
  • Mit Oblomoff werden wir heute fertig. Große Klassik – penetrant russisch. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 22.4.1941]
  • Ich bin allem Gelesenen u. Gehörten gegenüber wie das Rindvieh. Erst fress' ich in mich hinein. Nach einer Weile – meist am nächsten Morgen beim Aufwachen – komt es wieder hoch, u. nun beim zweitenmal verdaue ich's richtig. So [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 15.4.1943]
  • Es ist das Gute am Übermaß der Sorgen, daß man gegen sie, jedenfalls gegen jede, die nicht unmittelbar drängt, erstaunlich abstumpft. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 4.3.1943]
  • Was war das für ein großer Athemzug in den 20er Jahren! [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 25.2.1943]
  • Bei allem Elend fühle ich [mich] manchmal, ja oft durchaus glücklich. Das Elend selber mit seiner steten Todesgefahr wirkt wie eine fortgesetzte Sensation. Man lebt im Abenteuerlichen. Dazu kommt jetzt die ungeheure Spannung. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 25.2.1943]
  • Ihre Bibliothek mußten H[irschels] abgeben, freiwillig – wir könnten Sie ja auch einsperren .. Zurückbehalten werden durften nur Bücher jüd. Autoren u. Herausgeber. Auf diese Weise wurden einige Klassikerausgaben gerettet. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 27.10.1942]
  • Schönes Futur II: "Wenn ich an die Zeit denke, wo die Hitlerei ein Ende genomen haben wird..." [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 24.10.1942]
  • Über Bücherschicksale, ausleihen, erben von Büchern, muß in das Cur. ein besonderer Abschnitt. Die jüngste Reichsverordnung lautet: Verbot des Bücherkaufs für alle besternten Juden. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 12.10.1942]
  • Bei Hirschels ging das Gespräch noch um den Selbstmord überhaupt. Frau H. vertrat: wir in unserer Lage dürfen nicht, es ist Fahnenflucht. Sie verurteilte Frau Pick. Theegespräche! [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 30.8.1942]
  • Neulich träumte ich doch, ich sollte in einer Gefängniszelle erhängt werden. Hinrichtungsträume habe ich als ganz junger Mensch gehabt. Seitdem nicht mehr. Damals war es wohl die Pubertät; jetzt ist es die Gestapo. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 20.8.1942]
  • Studieren, als wäre ich des Morgen ganz gewiß! Es ist die einzige Möglichkeit den Kopf oben zu behalten. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 19.8.1942]
  • Es fällt mir alles ein, was ich entbehre u. vielleicht nie wieder haben werde. Abstinenz macht schmutzig. Ob sie sich auf Zucker oder Kino, Tabak oder Frauen, Brod oder Auto bezieht. Man ist von dem Entbehrten immer in schmutziger Begehrlichkeit besessen. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 16.8.1946]
  • Bei allem tritt mir jetzt als deutsches Grundvitium die Romantik u. der Stolz auf die Romantik hervor (auf den Instinkt, die Naturverbundenheit, das Gewachsene ..) Das ist sozusagen ihr Jagdschein. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 14.8.1942]
  • Als neuester Witz wurde erzählt: KdF (Kraft durch Freude) heiße jetzt: Kann dauernd fressen, B. d. M. (Bund deutscher Mädel): bin dauernd müde. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 19.7.1942]
  • Die Frau ist ein Nichts geworden u. spielt nach schweren Mißhandlungen u. nun von Theresienstadt bedroht, mit Veronalgedanken. (Ich sagte, Veronal seien jetzt jüdische Drops) [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 19.7.1942]
  • Klemperer zitiert die 10 Kleine Meckerlein.
  • Er erhält einen Orden nicht, den er erhalten müßte. Bethmann sagt ihm: Es ist bei Ihrer Form des Kampfes gegen die Linke nicht möglich sie zu dekorieren ... [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 9.7.1942]
  • Ich unterscheide zwischen: I Unterhaltungslectüre, II. Bildungslectüre u. III. Lektüre zur unmittelbaren Vorbereitung eigener Produktion. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 8.7.1942]
  • Es hat keinen Zweck über die nächste Minute u. nächste Kartoffel hinaus zu denken. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 8.7.1942]
  • Er gibt – u. darin gehen wir zusamen – dem Zionismus viel Schuld; viel Schuld auch dem ungehinderten Zustrom des bloß geldsüchtigen Ostjudentums. (Ich sagte, ich würde ein Bildungsexamen vor die Einwanderung setzen). [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 5.7.1942]
  • (Die jüdische Leichenwäscherei hat Frau Voß erzählt, Fr habe sich erhängt. – Aber wie weit stimmt in diesem Bericht das sich, u. wenn es stimt, drückt es [k]eine freiwillige Handlung aus. Man erzählte, es werde den Gefangenen ein Strick in die Zelle gelegt.) [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 1.7.1942]
  • Wenn einer ein Staatsbegräbnis kriegt, haben sie ihn immer selber umgebracht. Das notiere ich noch schnell, ehe die Blätter in Sicherheit (?) gehen. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 24.6.1942]
  • Sie (Frankfurter Zeitung) ist genauso nationalsozialistisch orientiert wie die andern Blätter, aber sie wahrt eine gewisse Höhe des Stils – sie ist auch ein bißchen bedächtiger im Rosafärben. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 21.6.1942]
  • Mit Studienlektüre bin ich für eine Weile versehen. Für den schlimmsten Fall liegt der ‹Wilhelm Meister› bereit. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 14.6.1942]
  • Ich habe so stark das Gefühl durch das Abschneiden der Bücherentleihung in den nächsten Höllenkreis hinabbefördert zu sein. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 12.6.1942]
  • Eva Klemperer wird während einer Gestapodurchsuchung als "artvergessenes Weib" beschimpft.
  • Was gehen mir für Wünsche durch den Kopf? Nicht Angst haben vor jedem Klingeln! Eine Schreibmaschine. Meine Manuscripte u. Tagebücher im Hause haben. Bibliotheksbenutzung. Essen! Kino. Auto. – Der vorige Krieg war eine so anständige Angelegenheit. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 8.5.1942]
  • Heroische Geste des Ehepaares, das jahrelang zugunsten ihres Katers auf Fleisch verzichtet.
  • Beklemmend zu lesen (Klemperer) ist die allmählich Einschränkung des Bewegungs- und Aktionsradius der Juden. Beinhae wöchentlich neue Verordnungen, d.h. meiste Verbote. Ausgangssperren, mit der Straßenbahn: erst nur in einem bestimmten Teil, dann nur noch fr den Arbeitsweg, dann nur, wenn der Arbeitsweg länger als 5 km entfernt ist... "Neueste Verordnung: Juden dürfen nicht Schlange stehn." Schreibmaschinen mußten abgegeben werden. Lebensmittel dürfen nur in bestimmten Läden geholt werden.
  • Eine Krankenschwester *Annemaries brauchte eine Klemmnadel zum Feststecken ihrer Haube. Gewicht also 1 gr. Sie mußte sich für diesen Einkauf einen Eisenschein beschaffen. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 19.4.1942]
  • Schade nur daß der Rabbi im eigenen Hause u. bei sich selber ohne Wirkung ist! [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 19.4.1942]
  • L.T.I. Paul Kreidl sagt mit Recht: wenn im Bericht Helden, heldenhaft, heldenmütig auftaucht, so klingt das immer wie Nachruf (heldenmütiger Widerstand in Afrika). [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 25.12.1941]
  • "Nazicke" [22.12.1941]
  • Ich leide wieder unter dem scheußlichen Gefühl, mich auf das Schlafengehen zu freuen u. vor dem Aufwachen zu fürchten. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 20.2.1941]
  • Abwandlung des Weltkriegswitzes. Frage nach der Dauer des Krieges. Antwort 1917/18: Bis die Offiziere Mannschaftsessen bekomen. Antwort heute: Bis *G. in *Gbls Hosen hineingeht. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 20.2.1941]
  • "Die Besichtigungsfahrt zum zerstörten London. – Wir sind da. – Noch nicht, das ist Bremen." [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 20.2.1941]
  • "Wer wird gerettet, wenn Hitler, Goebbels und Göring ins Wasser fallen? - Deutschland"! [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 20.2.1941]
  • Frau Voß hat eine besondere Gabe, unterwegs Leute aus dem Volk zum Sprechen zu bringen. Vielleicht weil Einfalt sich zu Einfalt gesellt. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 2.11.1940]
  • Einmal bei Feders. Gute Leute – aber wären sie nicht als Juden betroffen, würden sie Nazis sein. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 23.6.1940]
  • Man spielt "Gottes Segen bei Cohn!", ein Kartenspiel, auch Kartenlotto genannt. Jemand 'ne Ahnung, was das ist?
  • Die Pogrome im Nov 38 haben, glaube ich, weniger Eindruck auf das Volk gemacht als der Abstrich der Tafel Chokolade zu Weihnachten. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 31.2.1939]
  • Sprache: Euphemismus Abgerahmte Frischmilch für Magermilch. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 11.2.1940]
  • ... machte mir Angst um das Häuschen; es seien in den letzten Tagen etliche Eigenheime weggenommen worden. Es hat aber so gar keinen Zweck, irgendeine Sonderangst zu haben; man muss jede Stunde mit Untergang rechnen.[Victor Klemperer: Die Tagebücher, 14.9.1939]
  • Existenzknopf = ironische Bezeichnung für das NSDAP-Parteiabzeichen. [Victor Klemperer: Die Tagebücher]
  • Wie man sich täuschen kann: "Der Mann entsetzt: Ich bin 1914 verschüttet worden und muss nun als Landwehrmann wieder heraus. Ist das notwendig gewesen, ist es menschlich? Sie sollten die düstern Gesichter der Truppentransporte sehen – anders als 14. Und haben wir 14 mit Knappheit der Lebensmittel begonnen? Wir müssen unterliegen, es kann nicht wieder vier Jahre dauern." [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 4.9.1939]
  • Für mich kam der WWII bisher immer aus heiterem Himmel, was rational gesehen gar nicht möglich sein konnte. Und Klemperer klärt mich folgerichtig auf - über die Maßnahmen vor dem 1.9.1939: Einführung der Lebensmittelkarten, Verdunklungsübungen, Nachrichten von Truppenbewegungen, die Mutßmaßungen in der Bevölkerung, ob und wie sich England und Frankreich in der "Polensache" verhalten werden.
  • Diesen allerdings verstehe ich nicht: "Ich wünsche einen Anzugstoff, in den die Motten kommen. –? – Na ja, in die üblichen Stoffe kommen jetzt Holzwürmer." [Victor Klemperer: Die Tagebücher, S. 12.6.1938]
  • In Süddeutschland passt keine Gasmaske, die Gesichter sind zu lang. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, S. 12.6.1938]
  • Inzwischen kennt man K. literarische Vorlieben. Mit experimenteller oder artifizieller Literatur kann er wenig anfangen. Er favorisiert breit angelegte, epische, historische Bücher. Beispielsweise ist er sogar - was hier pars pro toto erwähnt sein soll, von M. Mitchell "Vom Winde verweht äußerst angetan.
  • Klemperers Orthografie ist mir ein Rätsel. Ein solcher Hochintellektuelle und eine solche verquere Rechtschreibung. Ob sie allein mit Macken zu vereinbaren ist, wie es bei manch ingeniösen Menschen vorkommen? Meist schreibt er Wörter mit Doppelkonsonant nur mit einem, z.B. "bekomt". Im Gegenzug dazu begegnete mir eben ein "Gesammtbild". Oder so etwas: "Abendbrod", "totmüde".
  • Schöne Wendung: "einer Reise tagezählend entgegensehen."
  • Ein merkwürdiges Gefühl des Bekannten, wenn Victor Klemperers Aufzeichungen bestimmte Details aus dem Alltag im 3. Reich streifen. Ich wuchs 23 Jahre lang in der DDR auf; und mir kommen beispielsweise die Lobhudelungen der Presse unter Hitler merkwürdig vertraut vor, wie man sich beispielsweise der Rekorde bei den 1.-Mai-Aufmärschen brüstete. Eine Diktator folgt augenscheinlich bestimmten Gesetzen, die diese Ähnlichkeiten erzeugen.
  • Man las Friedrich Spielhagen (Freigeboren), Klaus Gustav Hollaender (Martin Kressanders Paradies), Archibald Joseph Cronin und sehr viel Pearl Buck. - Immer wieder Notate zur Sprache des Dritten Reiches, für das spätere Buch. Zum zweiten Mal bekrittelt: "etwas aufziehen". Was uns heutigen ganz normal erscheint, war damals neu.
  • Das war jetzt auf Anhieb nicht erkennbar, daß beim Roman "Vater" von Elizabeth Russel eigentlich Elizabeth von Arnim gemeint ist.
  • Wunderbar - damals hieß das nicht Kopiershop, sondern "Pausanstalt".
  • Dann kam für Eva im Ratskeller von Spremberg statt des erhofften Aals ein schlechter Frass, und dann, als wir beide sehr erfrischungsbedürftig waren, in Kottbus eine degoutanteste Kaffeelurke. So sind wir sehr ver- [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 18.6.1936]
  • "Abspannung" antonym zu "Anspannung" - bisher auch nicht wahrgenommen.
  • In ein Buch gehört nichts Aktuelles. Alles was für den Tag berechnet ist, verliert auch seine Wirkung mit dem Tag. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 13.2.1935]
  • Geringere Bindung an die Dauer des Lebens. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 31.12.1935]
  • "Ich fuhr in schneidigstem Bogen in eine schwierige Tankstelle ein und aus ihr heraus; danach noch 7 km auf schlechter Strasse – die Warnungstafel Schlaglöcher! war ganz unnötig, man merkte das auch so." [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 10.5.1936] -- Da braucht man sein Jammern, mit der geistigen Arbeit nicht voranzukommen, nicht mehr ernst zu nehmen, wenn er seine Zeit mit dem aufwendigen Betrieb eines Autos verklempert, äh, verplempert.
  • Wieder ein Wort gelernt: dafke (jiddisch) = nun gerade.
  • H[itler] sagte neulich: Ich bin kein Dictator, ich habe die Demokratie nur vereinfacht. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 23.3.1936]
  • Nächster unbekannte Name: Ricardo Güiraldes. Klemperer liest sein bekanntestes Buch Das Buch vom Gaucho Sombra.
  • Das entspricht auch meiner Meinung: "Jetzt erleichtert, da wir Gas hineinlegen ließen. Die elektrischen Kochapparate, für die man so viel wirbt, u. auf die wir hereinfielen, sind Volksbetrug: zu teuer u. zu langsam im Kleinbetrieb." [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 30.5.1935]
  • Schon wieder ein nie gehörter Name: Erik Reger. K. las seinen Erstling "Union der festen Hand". Nehme ich aber auch nicht in meine Wunschliste auf...
  • "Picknick in Peking", ein weiteres gelobtes Buch von einer gewissen Ann Bridge hier nur 1mal, nämlich 1934 erschienen. Kommt demnach eher nicht auf meine Liste.
  • Mit Ivan Olbracht wieder ein Name, den ich noch nie gehört habe. K. lobt Der Räuber Nikola Schuhaj. Bemerkenswerte Gattungsbezeichnung "Romanballade".
  • Vielleicht bringt er mich gar dazu, doch einmal Hemingway zu lesen. VK las gerade "In einem anderen Land" und nennt ihn als einen der "bedeutendsten Kriegsromane".
  • 1934 hat man die Farbe der Postautos und der Briefkästen auf ROT geändert. - Und der 9. November war (1934) der Trauertag der Gefallenen der NSDAP.
  • "jdn. bevatern" las ich auch nicht allzu häufig.
  • Sprache d. 3. Reichs. *H. sagte auch, als er zur Jugend in Nürnberg sprach: Sie singen gemeinsam Lieder. Alles zielt auf Übertäubung des Individuums im Collektivismus. – Ganz allgemein Rolle des Radio Radio beachten! Nicht wie andere technische Errungenschaften: neue Stoffe, neue Philosophie. Sondern: neuer Stil. Gedrucktes verdrängt. Oratorisch, mündlich. Primitiv – auf höherer Stufe!! [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 14.9.1934]
  • Fiese Erfindung damals, die Reichsfluchtsteuer. 25% ihres Vermögens mußten die Juden, die Deutschland verließen, zahlen.

Quelle und © - Victor Klemperer: Die Tagebücher 1933-1945. Kommentierte Gesamtausgabe. Hrsg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Christian Löser. Berlin: Directmedia Publishhing, 2007. 1 CD-ROM. ISBN: 978-3-89853-550-2 - [Digitale Bibliothek; Band 150]


[Nach oben]  [FAB]  [Specials]  [Startseite]