Unbehaust in dieser Welt (1) [>>]

Vom Leiden an der Welt und am Menschen [^^] [^]


Themenstreusel: Unbehaustsein
Der eine Fehler
Seelische Ermattung
Immer armseligere Inhalte
Aufgabe und Rückzug
Weltenlauf
Eine Grenze aus Spinnweben
Des Menschen Sehnsucht
Die Qual der Wahl
Ein beschränktes Leben
In Finnland. Aber NUR in Finnland?
Herabgesetzte Kulturfähigkeit
Die Qual der Wahl
Esoterischer Airbag
Treibgut
Kurzer Lebenslauf
Sich durch die Welt dilettieren
Durchs Leben driften
Früher oder später - alle
Nur eine Zellanhäufung
Logische Idee des Selbstmordes
Rundum verdächtig
Stimulation
Unvollkommene Kommunikation
Julien Green: Heimat
Jeder Morgen eine Heimsuchung
Ein schwieriges Leben
Trostlosigkeit
Durchs Feuer gegangen
Ja was eigentlich?
Die kleinen Schikanen
Diskrepanz
Gestaltloser Experimentator
Eschatologische Schadenfreude
Sehnsüchte
Eine mittelauropäische Krankheit
Zu hungrig für diese Welt
Kalt beiseite stehen
Randrolle des Menschen


Der eine Fehler

Ich erinnere mich, welche Angst ich auf einmal gehabt habe, sie könnte sich in meiner Anwesenheit fragen, wann ihr der eine Fehler unterlaufen war, der eine ganze Existenz zum Kippen bringt, könnte von den Möglichkeiten sprechen, die sie gehabt hätte, wenn sie ihm nie begegnet wäre, mich hat der Schreck gepackt, der mich immer packt, wenn Ältere ihre Jugend auseinanderdividieren, wenn sie nach dem einen Fehler suchen, als würde es den einen Fehler geben, und sie wären vom Altwerden und vom Sterben verschont worden, wenn sie nur alles richtig gemacht hätte. (Norbert Gstrein: Die englischen Jahre) ^


Seelische Ermattung

Eine seelische Ermattung befiel mich, eine Erkenntnis, daß mein Leben, mit dreiundfünfzig, und von nun an, eine Frage des Sorgens geworden war, der Überwachung meines Körpers wie bei einem Invaliden mit fast erloschenem Geist, den nur noch Injektionen und Infusionen eines geschäftstüchtigen Pflegeheims am Leben halten - und daß es in Wahrheit schon immer so gewesen war, daß die Flammen von Ehrgeiz und Begierde, die mir in meinen jüngeren Jahren den Weg erleuchtet und meinem Leben die Dramatik eines Romans oder eines symbolbefrachteten Traums verliehen hatten, nur chemische Manipulation gewesen waren, Illusionen, mit denen das Fleisch und sein filterndes Gehirn mich immer weiter gelockt hatten. (John Updike: Das Gottesprogramm. Rogers Version) ^


Immer armseligere Inhalte

Als ich mit Vernas Drink und einem weiteren Glas Wein für mich zurückkam, hatte sich das junge Volk dicht um den Tisch gekauert und tuschelte in einer Sprache, die mir fremd war. Jugend: der Gebirgskamm, der sie in einem weit von dem unseren entfernten Tal isoliert, wird um so steiler, so scheint mir, je skrupelloser der Kapitalismus sie als eigenständigen Markt ausbeutet, ihr immer neue Welten des Konsums vorgaukelt, von Videospielen und Skistiefeln mit Hintereingang bis zu den Millionen Bits von pseudomusikalischem Gewimmer, die der Laserstrahl in die kompakten Silberscheiben stichelt. Immer neue Techniken der Information, immer armseligere Inhalte. (John Updike: Das Gottesprogramm. Rogers Version) ^


Aufgabe und Rückzug

"Zweimal habe ich leiden müssen, weil ich einem anderen Menschen mein Vertrauen geschenkt habe. Ich will kein drittes Mal leiden. Ein weiser Mann ist derjenige, der sein Herz bei dessen natürlicher Aufgabe, Blut durch den Körper zu pumpen, nicht stört. Ich habe draußen in der Welt und daheim meine Erfahrungen gesammelt, und ich habe genug gelernt, um die Täuschungen des Lebens zu durchschauen. In den Augen anderer Menschen mögen sie sich als Wirklichkeit darstellen, aber meinen Augen haben sie sich schon vor Jahren enthüllt. In dieser Welt kümmere ich mich nur noch um essen, trinken, schlafen und sterben. Alles andere ist überflüssig, und ich habe es aufgegeben." (Wilkie Collins: Das Geheimnis des Myrtenzimmers) ^


Weltenlauf

Und unter dem ganzen Wahn vom kosmopolitischen Planeten, mit seinen Imperien und seiner Agentur Reuter, geht das wirkliche Leben der Menschen weiter, das sich um diesen Baum oder jenen Tempel, um diese Ernte oder jenes Trinklied dreht, absolut unverstanden, absolut unangetastet. Vielleicht mit einem amüsierten Lächeln sieht dieses Leben aus seiner grandiosen Beschränktheit zu, wie die Motorwagenzivilisation ihren triumphalen Lauf nimmt, wie sie die Zeit überholt, den Raum auffrißt, alles und nichts gewahrt, weiterdonnert und am Ende das Sonnensystem erobert, nur um festzustellen, daß die Sonne berlinert und die Sterne Spießer sind. (Gilbert Keith Chesterton: Ketzer. Ein Plädoyer gegen die Gleichgültigkeit) ^


Eine Grenze aus Spinnweben

... daß dieses ich will leben aus Spinnweben geflochten war. Es brauchte nur wenig, so unendlich wenig, um sich auf der anderen Seite der Grenze wiederzufinden, hinter der alles seinen Sinn verlor: die Liebe, die Überzeugung, der Glaube, die Geschichte. Das ganze Geheimnis des menschlichen Lebens beruhte darin, daß das Leben sich in unmittelbarer Nähe, ja in direktem Kontakt zu jener Grenze abspielte, daß es nicht durch Kilometer, sondern durch einen Millimeter, von ihr getrennt war. (Milan Kundera: Das Buch vom Lachen und Vergessen, S. 277)


Des Menschen Sehnsucht

Ich betone es nochmals: Idylle und für alle, denn alle Menschen sehnen sich seit Urzeiten nach der Idylle, nach diesem Garten, in dem die Nachtigallen singen, nach diesem Areal der Harmonie, in dem sich die Welt nicht fremd gegen den Menschen, nicht ein Mensch gegen den andern richtet, sondern wo alle Menschen aus einem einzigen Stoff geschaffen sind und das Feuer, das am Himmel glüht, das gleiche ist, das in den Seelen der Menschen brennt. Alle sind dort eine Note in einer wunderbaren Bachschen Fuge, und wer dies nicht sein will, bleibt ein schwarzes Pünktchen, überflüssig und bar jeder Bedeutung, das man nur zu packen braucht, um es zwischen den Fingern zu zerquetschen wie einen Fisch. (Milan Kundera: Das Buch vom Lachen und Vergessen, S. 16)


Die Qual der Wahl

Es fiel ihr allmählich schwer, Entscheidungen zu treffen. Es gab zu viele Sorten Katzenfutter, zu viele Formen, Größen und Marken von Kugelschreibern; Arten und Verpackungen von Shampoo; Tomatenbüchseninhalte - ganz, gestückelt, Soße oder Mark, Strumpfhosen und Strümpfe in zahllosen Farbtönen, mit eingearbeitetem Miederhöschen oder Glitzereffekt, durchsichtig oder blickdicht in Dutzenden von Geweben, der Zwickel oder die Zehen verstärkt oder nicht, klein, mittel, normal oder Sondergröße, Zahnpastamarken, Formen und Härtegrade von Zahnbürsten; Bettwäsche mit Fadendichte 180 bis 320, hundert Farben, geblümt, gestreift, getupft, mit Comic-Figuren, in Leinen, Damast, ägyptischer Baumwolle, Satin, kariert, mit Stickumrandung oder Monogramm, Flanell; zu viele Zuchtapfelsorten; alkoholfreie Getränke in fingerhut- bis kanistergroßen Behältern und Säfte und Wasser aus unzähligen naturreinen Quellen, und die Läden selbst, surreal, hell erleuchtet, wie geklont in schicken Einkaufszentren, Ursache langwierigen Auswählens, bei dem man letztlich doch keine Wahl hatte. (Annie Proulx: Das grüne Akkordeon, S. 626)


Ein beschränktes Leben

Sein Wirklichkeitssinn schien ins Wanken zu geraten, seine Zuversicht schien beschädigt oder zerstört zu sein. Mit manchen Schicksalsschlägen geht eine Beschränkung einher, eine räumliche Absonderung wie im Leben eines Schrankenwärters, eine Phase, in der man sein Leben mit einem Minimum an Energie und Wahrnehmungsvermögen lebt oder erträgt und fast alles auf der Welt so rasch an einem vorbeizieht wie die Fahrgäste in einem Schnellzug. Ein solchews Leben hat auch seine Vorteile - Patiencen und Sternschnuppenwünsche -, aber es ist ein Leben ohne Freundschaft, Gemeinschaft, Liebe oder auch nur die begründete Hoffnung auf einen Ausweg. (John Cheever: Die Geschichte der Wapshots, S. 307)


Herabgesetzte Kulturfähigkeit

Nun ist es für alle offenbar, daß die Selbstvernichtung der Kultur im Gange ist. Auch was von ihr noch steht, ist nicht mehr sicher. Es hält noch aufrecht, weil es nicht dem zerstörenden Drucke ausgesetzt war, dem das andere Opfer fiel. Aber es ist ebenfalls auf Geröll gebaut. Der nächste Bergrutsch kann es mitnehmen... Die Kulturfähigkeit des modernen Menschen ist herabgesetzt, weil die Verhältnisse, in die er hineingestellt ist, ihn verkleinern und psychisch schädigen. (Albert Schweitzer)


Die Qual der Wahl

Der "Run auf die Offerten der Welt" ist nicht zu gewinnen. Wo unendlich viel vorstellbar und verfügbar ist, wird jede Entscheidung für eine Möglichkeit zur teuren Absage an eine andere. Jede Besetzung gegenwärtiger Zeit erscheint als Fehlbesetzung, jeder Zugriff ein Mißgriff. Da das wirkliche Leben stets anderswo verlockender sprudelt, wird Gegenwart definiert durch das, was ihr abgeht. Leben verkommt zum Defizitgeschäft. (Michael Baeriswyl: Chillout. Wege in eine neue Zeitkultur, S. 58)


Esoterischer Airbag

Das Prinzip Langsamkeit bremst nicht den Tempowahn, sondern mildert als esoterischer Airbag bestenfalls den Aufschlag. Aber während die einen sich ekstatischen Langsamkeitswonnen hingeben, im Entschleunigungsrausch delirieren oder sich in der Kunst verzögerter Orgasmen üben, bleiben die wirklich Langsamen, die Kinder und die Alten, die Behinderten und die Kranken, die Mühseligen und die Beladenen weiterhin behindert, unbeweglich und ausgegrenzt draußen vor der Tür, geht der Raubbau an Regenwäldern, Wiesen, Böden und Ackerflächen in unvermindertem Tempo weiter, beschleunigt sich das Artensterben und steigen die Emissionen, der Ressourcen. und Naturverbrauch weiter an. (Michael Baeriswyl: Chillout. Wege in eine neue Zeitkultur, S. 15)


Treibgut

Alles in allem: ich klage nicht. Wenn ich mir auch keinen Begriff davon gemacht habe, die meiste Zeit war ich: glücklich. Abgesehen von den Rissen - ich weiß nicht, kann man sagen: in der Zeit? -, wenn es plötzlich unerträglich wurde, weder Leben noch Tod, sondern etwas Drittes, wofür der Mensch nicht gemacht ist, wenn die Flutwelle des Ekels, der Furcht sich über einen ergießt und einen fortreißt, noch nicht einmal in den Schmerz, noch nicht einmal das, sondern ins Nichts, Nichts, Nichts, bis es irgendwann, wie Wasser, langsamer wird und mit einem idyllischen Plätschern vergeht, und ich, Treibgut, auf dem Ufer übrig bleibe. (Terezia Mora: Alle Tage, S. 404)


Kurzer Lebenslauf

Als er ein Streichholz anriß, brach der Schwefelkopf ab und flog brennend durch die Luft. "Hast du eigentlich schon mal über das Ende nachgedacht? Ich meine, über den Tod, über Selbstmord zum Beispiel? Oder wie möchtest du mal sterben?" "O Gott. Frag mich was Netteres", murmelte ich. "Möglichst schnell. Und du?" Er zündete die Kerze an. "Ach, keine Ahnung. Weiß ja nicht mal, wie ich leben möchte." "Was muß man da wissen? Das Leben lebt sich von allein." "Ah ja? So siehst du aus. Guck dir doch meine Alten an. Oder deine. Wenn das das Leben ist - gute Nacht. Und wir sind auch bald soweit. Im nächsten Jahr mach ich meine Gesellenprüfung. Dann den Führerschein, Klasse drei. Dann kaufe ich mir ein Auto, auf Raten. Dann kommt die große Liebe oder so'n Stuß, und schließlich quäken die Babys, und man ist endgültig erwachsen. Man braucht ein größeres Auto, und die Frau will eine Tiefkühltruhe und einen Zimmerspringbrunnen, auch alles auf Raten. Vor lauter Verzweiflung werde ich Meister, und wir bauen uns ein Haus, obwohl wir uns eigentlich schon nicht mehr ausstehen können. Und wenn es abbezahhlt ist, kriegen wir Krebs und kacken in die neuen Betten. Und das wars, oder was? Dann lieber mit Karacho vor'n Baum". (Ralf Rothmann: Milch und Kohle, S. 112/13)


Sich durch die Welt dilettieren

Stärker als zu jeder anderen Zeit belastet das Leben heute jeden noch so kleinen Schritt durch einen Überbau des Wissens, der Anweisungen, Empfehlungen, der psychologischen Deutungen und Erklärungen. Für jeden Bereich gibt es eine Kompetenz, eine Zuständigkeit. Dadurch werden alle auf fast allen Gebieten zu Laien und dilettieren sich durch die Welt, auch die ihrer Gefühle. (Roger Willemsen: Deutschlandreise, S. 12)


Früher oder später - alle

"Ich mußte zugeben, daß es tatsächlich schwieriger ist, sein Leben angemessen verstreichen zu lassen, als ich angenommen hatte. Ohne es zugeben zu wollen, hatte ich immer auf ein Später gehofft. (...) Ich habe nicht im großen Stil versagt, ich habe nur begriffen, daß wir alle scheitern, irgendwann, und sei es an dem Versuch, das zu wahren, was wir unter Würde verstehen. Was nichts anderes bedeutet, als daß man, wenn der Körper in die Grauzone von jung und alt gerät, am besten unsichtbar bleibt. Würde", der Abteilungsleiter lachte kurz auf, "mit Würde ist so etwas wie Peter O'Toole gemeint, in einem See angelnd, mit einem Kaschmirmorgenmantel am Leib. Und dabei enden doch alle betrunken in Kegelgruppen oder inkontinent mit vertrotteltem Blick. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 51)


Durchs Leben driften

Ich schlich durch mein Leben, dem es auffallend an Harmonie gebrach, und füllte meine Tage, wie mir schien, mit Unsinnigkeiten. Es war neu, daß ich die kleine Melancholie, die oft bei mir zu Besuch war, einem klaren Ursprung zuordnen konnte. Der bedauernswerte Zufall, der Menschen geschaffen hat, ohne sie mit einer klaren Aufgabe auszustatten, war ohne jemanden, den man gerne berühren wollte, schwer zu ertragen. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 102)


Nur eine Zellanhäufung

... daß sie nicht mehr waren als eine Zellanhäufung, die aus Versehen ein Mensch geworden war, der nicht damit zurechtkam, daß er denken konnte und fühlen. Es ist alles Zufall. Nichts hat man sich verdient, gutes Benehmen garantiert kein langes Leben, es gibt weder Gerechtigkeit noch Vernunft, es gibt keine göttliche Weltordnung oder was auch immer wir herbeisehnen, um uns nicht ausgeliefert zu fühlen. Es kann alles vorbei sein in der nächsten Sekunde, oder noch schlimmer: Es kann alles genauso weitergehen. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 80)


Logische Idee des Selbstmordes

Die Intensität, mit der er sich in diesem Augenblick der Zwecklosigkeit des Lebens, der Eitelkeit allen Bemühens bewußt wurde, rief in ihm sogar eine lustvolle Exaltation hervor. Warum wollen? Was hoffen? Kein Menschendasein ist ernst zu nehmen. Nichts, absolut nichts ist der Mühe wert - sobald man den Tod begreift! Diesmal fühlte er sich im Innersten berührt. Kein Ehrgeiz mehr, keine Herrschsucht, kein Verlangen, irgend etwas zu verwirklichen. Er konnte sich nicht denken, daß er jemals von dieser Angst genesen, je wieder Ruhe finden würde, er hatte nicht einmal mehr die Bereitschaft in sich, zu glauben, daß, wenn das Leben auch kurz ist, der Mensch gleichwohl manchmal Zeit findet, ein wenig von sich vor der Vernichtung zu schützen, daß ihm zuweilen gewährt wird, etwas von seinem Traum über die Flut zu erheben, die ihn hinwegreißt, damit etwas von ihm noch in der Höhe schwebt, wenn er selber hinabgestürzt ist. Mit raschen, kurzen Schritten ging er vor sich hin, in der starren Haltung eines Menschen, der flieht und etwas Zerbrechliches an seine Brust gedrückt trägt. Ach, allem entrinnen können! Nicht nur der Gesellschaft und ihre Bindungen, nicht nur der Familie, der Freundschaft und der Liebe, nicht nur sich selbst, der Tyrannei des Atavismus und der Gewohnheit, sondern auch seinem geheimsten Wesen, dem absurden Lebensinstinkt, der noch der Existenz des elendsten menschlichen Wracks anhaftet. Von neuem suchte ihn in ihrer abstraktesten Form die so logische Idee des Selbstmordes heim, des freiwilligen und völligen Verschwinden. (Roger Martin DuGard: Die Thibaults, S. 634)


Rundum verdächtig

Und wenn wir mir einem Flugzeug fliegen wollen, werden wir schnell gewahr, daß nicht nur die Stille abgeschafft wurde, sondern auch die Unschuldsvermutung. Jeder ist ständig verdächtig, am Flughafen müssen wir uns deshalb befummeln lassen. Unsere Zahnpasta kommt in einem durchsichtigen Beutel, den Gürtel müssen wir abnehmen, und wenn wir einen Schnurrbart haben, fahren die Sachen gleich zwei Mal durch das Röntgengerät. (Jan Weiler: Drachensaat, S. 96)


Stimulation

Wir ersticken in würdeloser Internetpornographie, die bereits für jedes Kind zugänglich ist, mehr noch: Wir alle werden laufend sexuell stimuliert wie Tiere, deren Samen man zur künstlichen Befruchtung abmelken will. Doch niemand tut etwas dagegen, weil alle mit stumpfer Masturbation beschäftigt sind. Ständig werden wir mit Schlüsselreizen gequält, schlimmer noch: Wir werden betäubt. Kinder wachsen mit der Vorstellung auf, daß jeder immer Sex haben will und haben muß, aber fortpflanzen wollen sich die Leute nicht mehr, weil ihnen die Kinder zu teuer geworden sind und weil ihre eigene Kindheit dann vorüber wäre. (Jan Weiler: Drachensaat, S. 94)


Unvollkommene Kommunikation

Ich war zu jung, um zu begreifen, daß es den meisten von uns niemals wirklich gelingt, die Schranken niederzureißen, die uns vom Rest der Menschheit trennen. Sicher, es gibt vielfältige Begegnungen, und ständig werden Worte und Gedanken ausgetauscht, doch wer auch nur ein klein wenig nachdenklich und empfindsam ist, muß feststellen, wie unvollkommen die Kommunikation zwischen den Menschen ist. So viel bleibt unausgesprochen, so wenig wird gesagt. Wenn wir bereit sind zu sprechen und etwas von unserem Inneleben preiszugeben, wer ist in der Stimmung, uns zuzuhören? (Julien Green: Erinnerungen an glückliche Tage, S. 250)


Julien Green: Heimat

Danton hat einmal gesagt, man könne seine Heimat nicht an den Schuhsohlen mit sich nehmen, und er wollte damit wohl ausdrücken, daß ein Mensch, der aus seinem Land fortgeht, alles zurückläßt, was aus ihm einen Franzosen, einen Deutschen oder einen Amerikaner macht. Ich frage mich, wie wahr oder falsch das ist. Was ein Mensch mit sich nimmt, ist sein Land zu einem bestimmten Zeitpunkt seiner Geschichte. Aber die Welt, die er verlassen hat, entwickelt sich weiter und verändert sich, während die, die er mitgenommen hat und sozusagen in seinem Herzen trägt, bleibt, was sie gewesen ist, heilig, aber irgendwie erstarrt. Besitzt der Verbannte Energie, Phantasie und Widerstandskraft, dann nimmt sein Land, das ihm zu einer inneren Heimat geworden ist, eine ganz eigene Entwicklung. (Julien Green: Erinnerungen an glückliche Tage, S. 33)


Jeder Morgen eine Heimsuchung

Aufzuwachen ist jeden Morgen eine Heimsuchung. Der Schlaf ist eine vorübergehende Betäubung, er heilt nichts. Nie wache ich mehr ausgeruht auf. Ich beginne den Tag mit dem Gefühl, verbraucht zu sein. Wenn ich, gezwungen von meiner Blase, das Bett verlasse und vor der Toilettenschüssel stehe, stelle ich fest, daß ich wieder nicht im Schlaf gestorben bin, was doch die beste Lösung wäre. (Remco Campert: Das Herz aus Seide, S. 12)


Ein schwieriges Leben

Ein Mensch von meiner Art, der im Grunde an den Wert des Menschenlebens nicht glauben kann, dem aber auch die gewohnten Auswege der Naiven, in den Selbstmord und in den Wahnsinn, verbaut und unmöglich sind, der also eigens von der Natur dazu erfunden zu sein scheint, sich und den anderen an seinem Beispiel die Unsinnigkeit und Aussichtsloigkeit dessen zu erweisen, was die Natur unternahm, als sie sich auf das Experiment "Mensch" einließ, ein solcher Mensch hat natürlich ein etwas schwieriges Leben und fühlt daher von Zeit zu Zeit das Bedürfnis, ein andres Register zu ziehen und dies oder jenes an seinem Leben zu verändern, damit es vielleicht etwas erträglicher und hübscher werde. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 13: Betrachtungen und Berichte. 1899-1926, S. 28)


Trostlosigkeit

Trostlosigkeit, das ist das prägende Merkmal unserer Zeit, alles ist so niederschmetternd, so hart und mühsam, immer nur Probleme, einen Job zu finden, ihn behalten und einen neuen finden, wenn man ihn verliert, die brutalen Auseinandersetzungen zwischen Eheleuten, die Unnachgiebigkeit der Frauen, die nur auf unseren Schwächen herumhacken und uns zu verstehen geben, daß wir unreife und angeknackste Jammerklappen sind. (Laurent Quintreau: Und morgen bin ich dran. Das Meeting, S. 63)


Durchs Feuer gegangen

Scheint es doch keineswegs von einem freien Entschluß abzuhängen, ob man die Richtung seines Lebens ändert oder nicht. Die Seligkeit, einmal für eine Idee und für die Menschheit gelitten zu haben, bestimmt unsere Entschlüsse auch lang noch, nachdem der Zweifel uns hellsichtig gemacht hat, wissend und hoffnungslos. Man ist durch ein Feuer gegangen und bleibt gezeichnet für den Rest seines Lebens. (Joseph Roth: Der stumme Prophet, S. 132)


Ja was eigentlich?

Warum bin ich eigentlich nicht ein bißchen dankbar? Ich habe keinen Krieg miterleben müssen, ich habe nie gehungert, ich habe nie Gewalt kennengelernt, ich habe einen von mir geschätzten Beruf, ich liebe zwei Frauen, von denen die eine jetzt in eindeutiger Weise um mich herumschwirrt, aber warum leide ich fast immer an inneren idiosynkratischen Hysterien, das heißt, warum brauche ich gar keine wirkliche Not, um mich fast immer in Not zu befinden? Mir fehlt eigentlich nur... ja, was eigentlich? (Wilhelm Genazino: Die Liebesblödigkeit, S. 127)


Die kleinen Schikanen

Dann lief ich hinunter zu meinem Fahrrad. Es war natürlich platt. Ich pumpte es auf und war sofort wieder verschwitzt. Das Duschen hätte ich mir schenken können. Ich schwang mich in den Sattel, aber noch bevor ich das Hoftor erreicht hatte, war das Fahrrad schon wieder platt. Was war das bloß für eine absichtsvolle Institution, die die Religionen da immer vorausetzten? War das wirklich wünschenswert, daß so jemand existierte - ein Gott, der seine Befriedigung darin fand, uns mit alltäglichen Schikanen in den Wahnsinn zu treiben? Für Weltfrieden und Gerechtigkeit blieb da natürlich keine Zeit mehr, weil: wir sind ja damit beschäftigt, Glassplitter und kleine spitze Steine in die Fahrradschläuche von sowieso schon völlig verzweifelten Leuten zu drücken. (Karen Duve: Taxi, S. 278)


Gestaltloser Experimentator

Johannas heidnische Schicksalsgläubigkeit ließ sie hinter jedem Anflug von Glück ein drohendes Unheil wittern. Das Schicksal stellte sie sich vor als einen gestaltlosen Experimentator, der manisch Jahrhundert um Jahrhundert, Jahrtausend um Jahrtausend Fallhöhen bestimmte und ihre Wirkung abmaß. Es hob so ein Menschlein in einer der Glücksphären, ließ es von da fallen, registrierte neugierig das Bersten, Splittern und Krachen, zählte die Toten, Scheintoten, Schwer- und Leichtverletzten, griff sich wahllos ein paar Überlebende, die einer zweiten Prozedur unterzogen werden sollten, und ließ die anderen laufen. (Monika Maron: Ach Glück, S. 102)


Eschatologische Schadenfreude

Die Paläontologen sprechen von 200.00 Jahren, in denen sich der Mensch fast gleichbleibend auf einem primitiven, nicht unbedingt paradiesischen, aber archaischen Status erhalten hat. Jetzt scheint sich die Geschichte zu überschlagen, der Fortschritt schlägt Purzelbäume. Ich stamme aus einem Elternhaus, in dem die 'laudatio temporis acti' und die Gegenwartsschelte an der Tagesordnung waren. Ich habe meinen Vater wegen seines ausgeprägten Alterspessimismus und seiner vielen Prophezeiungen, Unken- und Cassandrarufe nicht immer geliebt. Freilich sehe ich inzwischen, daß mich diese Stimmung und eine gewisse eschatologische Schadenfreude mehr und mehr einholen. Möglicherweise klage ich inzwischen wie er - nur eine Spur anmutiger und ästhetischer. (Alois Brandstetter: Kleine Menschenkunde, S. 116)


Diskrepanz

Anfangs dachte sie noch kurz an die Fete zurück, Gespräche, Bilder, und begann sich dann zum sounsovielten Mal zu fragen, ob ihr Leben im Grunde nicht ziemlich farb- und charakterlos war, ein schwacher Abglanz von etwas, das ganz sicherlich in ihrem Herzen, offenbar aber nicht in der Realität existierte. Wie soll ich leben? (Margriet de Moor: Sturmflut, S. 51)


Datenkehrricht

Auch das Internet, das schnellsten Zugriff auf entfernt gespeicherte Informationen verspricht, kann unübersehbare Mengen Zeit schlucken, und zwar gerade dann, wenn es so genutzt wird, wie es der Jargon empfiehlt, nämlich "surfend". Nur durch striktes Verfolgen begrenzter Ziele und scheuklappenartiges Ignorieren von allem, was irgend vom eigenen Weg abliegt", hat Christoph Türcke richtig erkannt, "kann man mit dem neuen Medium effektiv arbeiten - also wenn man seine Möglichkeitsfülle nicht nutzt." Die Cyber-Zivilisation mit der gewaltig angewachsenen Zahl seiner Teilnehmer und Website-Inhaber hat aus dem Internet das gemacht, was auch die gewöhnliche Konsumentenzivilisation aus Terrains macht, die ihr in die Hände fallen: eine ausgedehnte, mit Datenkehrricht aller Art vollgeschüttete weltumspannenden und zuverlässigen elektronischen Katalog. (Lothar Baier: Keine Zeit. 18 Versuche über die Beschleunigung, S. 60)


Zeitsärge

Der Anblick meines ersten, immer noch betriebsfähigen, mit nicht vom Monopolisten Microsoft stammenden System arbeitenden PC ruft mir den schönen Moment in Erinnerung, da es noch allerhand Gründe gab, an die effektive Zeitersparnis zu glauben. Später erworbene Maschinen, vor allem ein auch noch schwarzgefärbter, mit Pentium-Prozessor und allerlei Multimedia-Schnickschnack ausgestatteter Laptop, kommen mir wie Zeitsärge vor, sobald ich an die Stunden denke, die darin begraben wurden. Begraben bei zeitraubenden Versuchen, abgestürzte Programme wieder zu starten, begraben beim Konfigurieren der Peripheriegeräte, begraben beim Umlernen auf ein anderen System. Auch in der Vernetzung lauert ein gieriger Zeitfresser. Zu der Zeit, die beim Redigieren eines Manuskriptes verbracht werden muß, kommt häufig noch die Zeit dazu, die das zuweilen umständliche Konvertieren der in der Mailbox angekommenen, manchmal mit Hilfe exotischer Programme geschriebenen jeweiligen Dateien verbraucht. (Lothar Baier: Keine Zeit. 18 Versuche über die Beschleunigung, S. 60)


Unverhältnismäßig

Die Programme verstopfen die Festplatten mit immer mehr Extradateien und pflastern die Bildschirme mit ihren Knöpfchen und Menüleisten zu, und kein Programm zeigt einen Ausweg aus der Spirale. Immer locken noch mehr Befehle, immer kauft man einen ganzen Baumarkt, auch wenn es nur die Gartenlaube zu streichen gilt. (Michael Esser)


Hilflosigkeit

Wenn es zutrifft, daß der Mensch schon seit Tausenden von Jahren weiß, was nötig ist, um frei zu werden und sein Leben zu kontrollieren, warum gab es in dieser Richtung keine weiteren Fortschritte? Warum sind wir ebenso hilflos oder noch hilfloser als unsere Vorfahren angesichts des Chaos, das unserem Glück im Weg steht? (Mihaly Csikszentmihaly: Flow. Das Geheimnis des Glücks, S. 38)


Ein Haus voller Tretminen

Es scheint, daß jedes Mal, wenn eine drohende Gefahr gebannt wird, eine neue und kompliziertere am Horizont auftaucht. Sobald wir eine neue Substanz erfinden, beginnen ihre Nebenwirkungen unsere Umwelt zu vergiften. Im Verlauf unserer Geschichte stellten sich Waffen, die erfunden wurden, um Sicherheit zu garantieren, immer wieder als Bedrohung heraus, die eventuell ihre Erfinder vernichten werden. Wenn eine Krankheit eingedämmt ist, flammt eine neue auf, und wenn eine Zeitlang die Sterblichkeit reduziert wird, droht uns Überbevölkerung. Die Apokalypse ist nie in weiter Ferne. Die Erde ist vielleicht unsere Heimat, aber sie ist ein Haus voller Tretminen, die jeden Moment zu explodieren drohen. (Mihaly Csikszentmihaly: Flow. Das Geheimnis des Glücks, S. 22)


Schutzschilde

Ich werde die These aufstellen, daß das wichtigste Hindernis für Glückserfahrung damit zusammenhängt, daß das Universum, trotz der Mythen, die die Menschheit entwickelte, um sich zu beruhigen, nicht geschaffen wurde, um unsere Bedürfnisse zu erfüllen. Frustration ist ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens. Und immer wenn unsere Bedürfnisse vorübergehend erfüllt werden, beginnen wir sogleich, neue zu entwickeln. Diese chronische Unzufriedenheit ist das zweite Hindernis auf dem Weg zum Glück. Um diese Hindernisse zu bewältigen, entwickelt jede Kultur irgendwann schützende Methoden - Religionen, Philosophien, Künste und Tröstungen -, die uns bei der Abschirmung vor dem Chaos helfen. Sie helfen uns, zu glauben, daß wir beherrschen, was vor sich geht, und geben uns Gründe, mit unserem Los zufrieden zu sein. Aber diese Schutzschilde wirken nur eine Zeitlang: Nach ein paar Jahrhunderten, manchmal nach nur einigen Jahrzehnten, nutzt sich eine Religion oder ein Glaube ab, und im Vergleich zu früher haben sie heute nicht mehr diesen Wert.(Mihaly Csikszentmihaly: Flow. Das Geheimnis des Glücks, S. 21)


Man lebt nicht einmal einmal

Über keine Krankheit werden so viele Witze gemacht wie über die Krankheit mit dem Namen Alzheimer. Die nackte Angst. Eine Krankheit, die zunehmend alle Erinnerungsspuren löscht und damit das Material, aus dem wir unser Ich zwanghaft und willkürlich zugleich immer wieder erstehen lassen. Eine Krankheit, die vor dem Tod schon das, was wir unser Ich nennen, vernichtet. Wandelnde Hüllen. Ganz nah an der Idee des Gespenstes. Und wir, die mit den "normalen" Erinnerungsverlusten? Haben wir wirklich gelebt? Ja, natürlich. Natürlich? Schon ist Trost geboten: Selbst wenn wir uns an nichts mehr erinnern könnten - es gibt ja schließlich Zeugen. Unsere Eltern, unsere Geschwister, unsere Freunde aus dem Sandkastenleben, unsere Freunde und Feinde aus dem Schulleben, unsere Freunde und Feinde aus dem Studienleben, unsere Freunde und Feinde und Bekannten und Kollegen aus den Berufsleben, unsere Freunde und Feinde aus dem Privatleben, unsere Freunde aus den schlechten Zeiten. Begleitung aus vielen (zu vielen?) aufeinanderfolgenden und parallel laufenden Leben, die doch nur eines sind und, wenn wir Karl Kraus glauben, nicht einmal das. ("Man lebt nicht einmal einmal.") Wenig Vorhänge, aber viel Publikum hat so ein Leben. Es ist jedoch ein unkonzentriertes Publikum, das rein und raus geht, das oft schon vor der Pause die Veranstaltung verläßt. Man kann nur hoffen, daß zum Schluß noch einer da sitzt. Er muß ja nicht applaudieren. (Silvia Bovenschen: Älter werden, S. 32f.)


Genügend Schlupflöcher

... als eine Schriftstellerin - auch nicht mehr die Jüngste -, sich in die Gentechnologiedebatte einmischend, behauptete, daß es doch die schadhaften Unvollkommenheiten seien, die Defekte, die das Humanum auszeichneten. Erst im Leid komme der Mensch zu sich. Ja, was denkt sie sich denn da, in ihrer Sorge um das Genügen des Leids? Für den Schmerz war seit Hiob noch immer gesorgt. Geht Pest, kommt Aids. Was immer auf den biotechnologischen Baustellen der Menschheitsumgestaltung zu unserem Schaden oder unserem Nutzen erdacht und gemacht werden kann, fürs Leid wird es immer genügend Schlupflöcher geben. (Silvia Bovenschen: Älter werden)


Einsamkeit

Einsamkeit: daß man, älter geworden, allein ist mit seinen Erinnerungen; (...) daß die Jugenderinnerungen für die jetzt Jugendlichen klingt wie eine Erzählung aus dem Dreißigjährigen Krieg. (Silvia Bovenschen: Älter werden, S. 38)


Kriegserleben

"Heinrich war 1918 ein rabiater Kriegsgegner. Inzwischen hat er alles vergessen, was ihn dazu machte, und der Krieg ist für ihn wieder ein frischfröhliches Abenteuer geworden." Er steckt das Zwanzigmarkstück in die Westentasche. "Alles wird zum Abenteuer, was man überlebt. Das ist so zum Kotzen! Und je schrecklicher es war, um so abenteuerlicher wird es in der Erinnerung. Wirklich über den Krieg könnten nur die Toten urteilen; sie allein haben ihn ganz erlebt." (Erich Maria Remarque: Der schwarze Obelisk, S. 242)


Überdruß

Es heißt, der Überdruß sei eine Krankheit der Trägen. Diese Plage der Seele aber ist subtiler: Sie sucht all jene heim, die dafür anfällig sind, verschont weniger die Arbeitsamen als die wirklich Untätigen. Nichts ist schlimmer als der Gegensatz zwischen dem natürlichen Glanz des inneren Lebens und dem Schmutz der Alltäglichkeit des Lebens. Der Überdruß wiegt schwerer, wenn es keine Entschuldigung für die Trägheit gibt. Überdruß ist nicht etwa der krankhafte Ärger über mangelndes Tun, sondern das sehr viel krankhaftere Gefühl, dass es sich nicht lohnt, auch nur irgend etwas zu tun. (Ferdinand Pessoa: Das Buch der Unruhe, No. 445)


Exaltationen

Er ging den Weg, den er gehen musste, und wenn er irre ging, so geschah es, weil es für etliche einen richtigen Weg überhaupt nicht gibt. […] Er sah sich zerfressen von Ironie und Geist, verödet und gelähmt von Erkenntnis, halb aufgerieben von den Fiebern und Frösten des Schaffens, haltlos und unter Gewissensnöten zwischen krassen Extremen, raffiniert, verarmt, erschöpft von kalten und künstlich erlesenen Exaltationen, verwirrt, verwüstet, krank. (Thomas Mann: Tonio Kröger)


Gewöhnlichkeit und Langeweile

Ich stelle keine hohen Ansprüche; der Gedanke, nur ein Mensch zu sein, drückt mich tief zu Boden; aber ich habe mich mit meinem Los abgefunden. Weißt du, was meine größte Sorge ist? Wie man die Langeweile totschlagen könnte! Wer der Menschheit diesen Dienst erweisen würde, der wäre erst der eigentliche Drachentöter. Die Gewöhnlichkeit und die Langeweile! - sie sind etwas so Raffiniertes und Schreckliches, wie es die Heiden in ihrer ganzen ungehobelten Mythologie nicht erfinden konnten! Beide ähneln sich sehr, denn beide sind häßlich, platt und farblos, wenn sie auch viele Gestalten annehmen und beide geben solche Begriffe vom Leben, daß man Ekel vor ihm empfindet, sobald man nur einen Fuß hineingesetzt hat. Außerdem sind sie unzertrennlich - ein scheußliches Paar; aber die meisten Leute sehen es gar nicht. (Eugène Fromentin: Dominique, S. 232)


Solche Stunden

"Es gibt Stunden - da möchte ich so gern sterben", sagte unten Johanna, das Gesicht ruhig an seine Knie gelehnt. "Noch nie habe ich das jemandem erzählt, aber dir erzähle ich es. Oft ist mir so zumute, daß ich lieber sterben möchte als alles, alles andre. Nur die Hand nicht mehr rühren müssen... Was lohnt es sich denn, für irgend etwas im Leben zu kämpfen, wenn doch nicht irgend etwas am Leben mißraten ist in solchen Stunden. Solche Gedanken sollte man natürlich abwehren mit ganzer Kraft. Aber kann ich denn dafür, wenn sie manchmal kommen, wie die große dunkle Welle, und alles wird von ihr dunkel?" (Klaus Mann: Flucht in den Norden, S. 227)


Geringer Wunsch

"Ist diese Welt schon so geartet, daß man gleich etwas ganz Tolles will, wenn man ein bißchen - ein Zeitlang wenigstens - mit dem Menschen bleiben möchte, zu dem man gehört? Ist der kleine Anspruch auf Glück denn schon ein tolles Verbrechen in dieser Welt?" fragte Ragnar sehr zornig, wobei er mitten auf der Straße stehenblieb - auf dieser grauen, dreckigen Straße in der nördlichsten Stadt Europas. "Merde alors!" rief er grollend. "Mehr weiß ich da nicht zu sagen. Eine enorme Schweinerei wäre das, und eine höchst miserable Welt." (Klaus Mann: Flucht in den Norden, S. 323)


Verwandlung

"Man bekommt Übung in der Verwandlung von Schmerzen." Sie lachte geheimnisvoll. "Du machst ein ganz erstauntes Gesicht, kleine Johanna." Dabei berührte sie mit weißschimmernden Fingern Johannas kindliche Stirn. "Aber das ist alles so einfach... Ich glaube nur nicht - wie soll ich sagen? - ich glaube nur nicht an eine so große Verschwendung. Irgendwo muß doch alles aufbewahrt werden, auch der Schmerz; es muß Wert und Kraft daraus werden, hier oder drüben, wenn das ein Unterschied ist - auch aus dem Schmerz; Doch, doch", sagte sie und nickte freudig, "es muß Glanz aus ihm werden." (Klaus Mann: Flucht in den Norden, S.152)


'Ne Art Klassenkampf

Sie setzt sich auf eine Bank gegenüber einer großen Kastanie und spricht mit dem Baum: Wat is bloß los mit den Menschen. Warum lebense denn nich. Jeder will das sein, was er nich is, oder den haben, den er nich kriegt. Man hat ihnen was wegjenommen, und nun wollnses gerne wiederhabn. Aber was. Irgendwas, wat ick nich wissen kann, weil icks nie hatte, weilse mich nich jeborn habn, sondern einfach uff die Welt jekotzt. Ick denk mir dit so: Eines Tages wurde meiner Mutter schlecht, so schlecht, daß se kotzen mußte. Und wat se ausjekotzt hat, war ick, janz kleen zuerst, viel kleener als andere. Und aus gerechter Empörung über die janze Sauerei bin ick denn so groß jeworden. Und kämpfe nu sone Art Klassenkampf. (Monika Maron: Das Mißverständnis. Vier Erzählungen und ein Stück)


Angst vor dem Ende

Manchmal glaubte sie, es läge in ihrem Wesen ein Mangel, der sie hinderte, Glück oder Freude ebenso stark zu empfinden wie Schmerz. Aber war es nicht ein Mangel, den sie mit fast allen Menschen, die sie kannte, teilte, ein Mangel also in der menschlichen Natur oder in der Art zu leben, wie sie üblich war. Oder was hatte es mit dem Glück auf sich, daß es als Existenzbeweis nicht taugte. Einmal, wußte sie, hatte das Glück von ihr Besitz ergriffen wie später die Trauer, einmal nur. Und selbst für dieses eine Mal war sie nicht sicher, ob nicht in der Erinnerung das Maß für einmaliges Glück von dem anschließenden Schmerz bestimmt wurde, der dem Glücklichsein gefolgt war wie eine überdimensionale Nachgeburt dem Kind. Seitdem blieb jedes Glücksgefühl verbunden mit dem Wissen um seine Endlichkeit, schlimmer: mit dem panischen Warten auf sein Ende. Die Trauer blieb, der Verlust war nicht umkehrbar, das Leid gehörte ihr, unteilbar und abhängig. (Monika Maron: Das Mißverständnis. Vier Erzählungen und ein Stück, S. 36f.)


Freiheit

Frei zu kaufen, was wir wollen, zu fahren, wohin wir wollen, zu sagen, was wir wollen. Aber was ist das für eine Freiheit, die jeder passiv hinzunehmen scheint? Was ist das für eine Freiheit, die jeden angesichts von Hungersnöten, Kriegen, Naturzerstörung und aufdringlicher Profitgier sagen läßt: Da kann man nichts machen...? Oh, eine seltsame Freiheit ist das. Wir sind frei, uns mehr oder weniger schnell in der ausgeschilderten Richtung zu bewegen! Wir sind frei zu entscheiden, mit welcher Soße wir verspeist werden wollen! Wir sind frei, die Marke der Matratze und die Farbe der Bettwäsche zu wählen, aber wir müssen jede Nacht den Lärm der Autos, Flugzeuge und Sirenen ertragen! Wir sind frei, ein ganzes Jahr lang in einer widerlichen Fabrik zu schuften, um vierzehn Tage zwanzigtausend Kilometer weit weg unter Palmen verbringen zu dürfen, weil zu Hause der Wald gelb ist, der Fluß nach faulen Eiern stinkt und die Vögel sich auf und davonmachen! (Henri-Frederic Blanc: Im Reich des Schlafes, S. 163)


Vorsicht geboten

Seine einzigen Freuden im Leben hatte er, wenn er das Leben vergaß. Wenn er voll war wie eine Strandhaubitze oder schlief wie ein Klotz. Er fühlte sich allem gegenüber fremd wie ein Außerirdischer. Dabei hatte er reichlich Liebe zu geben, aber diese Liebe schleuderte man ihm wieder ins Gesicht. Tatsächlich liebte er zu sehr, deshalb wurde er ungesellig und einsam. Er mußte sich vorsehen. (Henri-Frederic Blanc: Im Reich des Schlafes, S. 43)


Einsamkeit

Er begann an seine Einsamkeit zu denken. Seine angeblich geliebte, selbst gewählte Einsamkeit, die sich, langsam, aber sicher, im Laufe der Jahre bei ihm eingenistet hatte. Die Freunde hatten sich zurückgezogen, sich in ihren trüben, nur durch das Fernsehen erleuchteten kleinen Existenzen eingerichtet. Stolz auf ihre Kinder und ihre Autors, befriedigt von einem Leben mit dem einzigen Credo bald ist Wochenende, bald ist Urlaub, bald kommt der Ruhestand, träumten sie davon, sich inmitten einer Welt, mit der es bergab ging, eine grüne Insel ganz für sich allein zu schaffen. (Henri-Frederic Blanc: Im Reich des Schlafes, S. 42)


Nur ein Spielball

Mich ekelte vor meiner Erschöpfung und Blässe, dem Aufgefressensein von einem Beruf, der mich zerstörte, mir die Knochen auflöste, mich in ein Figürchen auf einer Spieluhr verwandelte, das zu zwei oder drei immer gleichen Bewegungen, zum Rhythmus zögerlichen, schematischen Geklingels verdammt war. (Antonio Lobo Antunes: Einblick in die Hölle, S. 155)


Die Hölle

Die Hölle, dachte er, das sind die Lehrbücher der Psychiatrie, die Hölle ist die Erfindung der Verrücktheit durch die Ärzte, die Hölle ist diese Dummheit der Tabletten, diese Unfähigkeit zu lieben, dieses Fehlen von Hoffnung, dieser japanische Armreif, der den Rheumatismus der Seele mit einer Kapsel zur Nacht beschwört, einer Trinkampulle zum Frühstück, und das vollkommene Unverständnis für die Bitterkeit und das Delirium. (Antonio Lobo Antunes: Einblick in die Hölle, S. 60)


Sonnenuntergang

"Sonnenuntergang ist eine traurige Stunde", sagte sie schließlich. "Wenn ich das Ende eines Tages erlebe - irgendeines Tages -, habe ich immer das Gefühl, es ist das Ende einer ganzen Epoche. Und der Herbst! Er könnte ebensogut das Ende von allem sein", sagte er. "Darum hasse ich die kalten Länder und liebe die warmen, wo es keinen Winter gibt; wenn es dort Nacht wird, hat man das Gefühl, das Leben öffne seinen Kelch, statt ihn zu schließen. (Paul Bowles: Himmel über der Wüste, S. 86)


Ein Kieselstein

Das Leben ist seltsam. Es warnt einen nicht. Alles mischt sich, untrennbar, und verhängnisvolle Augenblicke folgen auf gnadenreiche, einfach nur so. Der Mensch ist einer jener kleinen Kieselsteine, die auf der Straße tagelang am selben Fleck liegen, bis irgendein Landstreicher sich mit dem Fuß wegstößt oder in die Luft schießt. Was kann der Kieselstein schon tun? (Philippe Claudel: Die grauen Seelen, S. 153)


Am meisten

"Verzeihen Sie die Zudringlichkeit - was an dieser merkwürdigen Welt, erstaunt Sie am meisten?" "Am meisten", sagte Blurtmehl, als hätten er gar nicht nachdenken müssen, hätte die Antwort auf eine so überraschende Frage immer in sich gehabt, "am meisten überrascht mich die Geduld der Armen." (Heinrich Böll: Fürsorgliche Belagerung, S. 92)


Tiefer und tiefer

Wie gut und glücklich hätte ich sein können, wenn ich den Weg gegangen wäre, den mir mein heller Verstand, mein kindliches, tiefes Gefühl beim Eintritt ins Leben zeigten! Ich habe mehr als einmal versucht, aus dem Schmutz, in dem ich lebte, auf einen lichten Weg zu gelangen. Ich sagte mir: ich will alle Willenskraft, die in mir ist, einsetzen - und vermochte es nicht. Wenn ich mit allein war, wurde mir angst und bang vor mir selber. Wenn ich mit anderen zusammen war, vergaß ich 'unwillkürlich' meine Überzeugungen, hörte die innere Stimme nicht mehr und sank tiefer und tiefer. (Lew Tolstoj: Aufzeichnungen eines Marqueurs)


Fallen

Ich bin nicht entehrt, nicht unglücklich, ich habe kein Verbrechen begangen. Aber ich habe Schlimmeres getan: ich habe meine Gefühle, meinen Verstand, meine Jugend gemordet. Ich bin in ein schmutziges Netz verstrickt, aus dem ich mich nicht losmachen und an das ich mich nicht gewöhnen kann. Ich sinke unaufhörlich, ich fühle, wie ich falle, aber ich kann es nicht aufhalten. (Lew Tolstoj: Aufzeichnungen eines Marqueurs)


Die Welt satt haben

"Da sehe ich wirklich keine Schwierigkeit", sagte O'key. "Die Welt des Alltags befriedigt die wenigsten Menschen. Sie müssen einen Ausweg suchen, um sie zu verlassen. Welcher Weg ist bequemer als der des Rausches? Wer macht denn heutzutage die besten Geschäfte? Außer den Waffen- und Munitionsfabrikanten natürlich. Die Lieferanten von Betäubungsmitteln, seien sie nun Kokainschieber oder Schnapsbrenner. Und glauben Sie nicht, Kommissar, daß wir auch die vielen Sekten in die Kategorie der Rauschmittel einreihen können? Denken Sie an die Christian Science, an die Theosophie. Ihre Gründer sind alle schwerreiche Leute geworden. Wir haben die Vernunft satt, der Verstand hat uns Bauchgrimmen gemacht. Wir wollen aus unserer Welt heraus." (Friedrich Glauser: Der Tee der drei alten Damen, S. 155)


Wo?

Ich entsetzte mich, als ich sah, welch ein unergründlicher Abgrund mich von dem trennte, was ich sein wollte und sein konnte. In meiner Phantasie tauchten Hoffnungen, Träume und Gedanken aus meiner Jugend auf. Wo sind jene lichten Gedanken über das Leben, über die Ewigkeit, über Gott, die meine Seele mit so viel Kraft und Klarheit erfüllten? Wo ist die gegenstandslose Macht der Liebe, die mein Herz mit beseligender Glut erwärmte? Wo ist die Hoffnung auf Entwicklung, das Empfinden für alles Schöne, die Liebe zu den Angehörigen, zu den Nächsten, zur Arbeit, zum Ruhm? Wo ist das Pflichtgefühl? (Lew Tolstoj: Aufzeichnungen eines Marqueurs)


Der süßeste Duft

Vielleicht kennen Sie Ortens wunderschönes Gedicht über ein Kind, das im Mutterleib glücklich war und seine Geburt als schrecklichen Tid erlebt, einen Tod voller Licht und entsetzlicher Gesichter, so daß es zurückkehren möchte, zurück in die Mutter hinein, zurück in den süßesten aller Düfte. Im unerwachsenen Mann bleibt diese Sehnsucht nach der Sicherheit und Einheit jenes Universums, das er in der Mutter mit sich selbst ganz ausfüllte, noch lange bestehen, und es bleibt auch die Angst (oder die Wut) angesichts der erwachsenen Welt der Relativität, in der er sich verliert wie ein Tropfen in einem Meer der Fremdheit. Darum sind junge Menschen leidenschaftliche Monisten, Botschafter des Absoluten; darum basteln sich Lyriker aus Venen ein privates Universum. (Milan Kundera: Das Leben ist anderswo, S. 259)


Bestandsaufnahme

Traurig, weil ich keine Kinder hatte. An manchen Tagen sage ich mir, daß eine Frau, die niemals einen kleinen Jungen in den Schlaf wiegte, ihre Arme umsonst bekommen hat. Für jemanden, der schläft, Ruhe, Wärme und Geborgenheit zu sein, ein Zufluchtsort in der eisigen Nacht dieser Welt... Wenn mir an unseren Lebensumständen etwas angst machen würde, dann wäre es diese schreckliche Vereinsamung, in der wir uns alle befinden. Es ist nahezu unmöglich, miteinander zu sprechen, sobald man den materiellen Bereich verläßt und sich einer höheren Region zuwendet. Manchmal scheint mir, nur das Schweigen kann bestimmte Dinge ausdrücken. (Julien Green: Varuna, S. 285)


Zukunftsaussichten

Das Leben verrinnt, und die Stunden gehen nicht weiter, Langsam bringt uns das Nichtstun um, doch wir wissen nicht, wann wir tot sind. Damals, als ich mein Buch schrieb, mein einziges Buch, denn die anderen... also gut, damals, als ich schrieb, glaubte ich zu leben, aber ich sog bereits die tödliche Luft ein, die allmählich den Rhythmus unseres Atems und unserer Pulsschläge herabsetzt. Wir sollte einem da allein der Wunsch zu existieren nicht vergeblich erscheinen? Noch fünfzehn oder dreißig Jahre lang schlechte Mahlzeiten verdauen, enttäuschende Briefe erhalten, dieselben Spaziergänge mit immer größeren, durch rheumatische Beschwerden raffiniert gesteigerten Schwierigkeiten machen, nein, daran will ich mich nicht festklammern. (Julien Green: Varuna, S. 256)


Eigengewicht

23. Juni 1984: Erster Sommertag. Die Luft ist schwer, riecht nach Blei. Schwer gehe ich auch, schreibe, lese. Aber noch gehe ich, schreibe, lese. Nietzsche sagt: "Was mich nicht umbringt, macht mich stärker", aber das ist nicht sicher. Manchmal wird man nur schwächer von etwas, das einen nicht umbringt. Doch die alltägliche Kraftprobe des Existierens, Denkens und Bewußtseins gibt irgendwie Eigengewicht, wenn auch nur für Augenblicke. (Sandor Marai: Tagebücher 1984-1989)


Vergänglich

Ich bin in einer völlig überdrehten Verfassung. Heute morgen hat mich der banale Gedanke vergiftet, daß die Dinge vergänglich sind. (Margriet de Moor: Der Virtuose, S. 84)


Unbedingter Lebenswille

Dennoch liebt sie die Welt, weil sie so roh und unverwüstlich ist, und sie weiß, daß auch andere Menschen sie lieben müssen, Arme ebenso wie Reiche, auch wenn sich niemand näher zu den Gründen äußert. Wieso kämpfen wir sonst so um unser Leben, egal wie hinfällig und leidend wir sind? Selbst wenn wir noch geschwächter sind als Richard; selbst wenn wir ausgezehrt sind, voller Schwären, das Bettzeug besudeln; dennoch wollen wir unbedingt weiterleben. Es muß etwas mit all dem hier zu tun haben, denkt sie. (Michael Cunnigham: Die Stunden, S. 20)


Wünsche

Jeder Mensch bedauert, nicht auch ein anderes Leben als das eine, einzige, leben zu können; auch Sie würden gerne alle Ihre nicht verwirklichten Möglichkeiten durchleben, alle Ihre möglichen Leben. (Ach, unerreichbarer Xaver!) Unser Roman ist wie Sie. Auch er wünscht sich sehr, andere Romane zu sein, jene, die er hätte werden können, aber nicht war. (Milan Kundera: Das Leben ist anderswo, S. 319)


Nach Luft schnappend

Man kann krank sein, sein Leben lang eine Arbeit ohne Neigung verrichten, aber man muß sich als Mensch fühlen dürfen. Dafür ist nur eines nötig - eine Atmossphäre von Menschlichkeit, einfach wie die Arithmetik. Niemand kann dieses Gefühl aus sich selbst heraus entwickeln, es wird von den anderen, von unseren Nächsten hervorgebracht. Wir bemerken nicht, wie sich dieses Jahrhunderte währende Wahre, manchmal verliert: unseren Nächsten Nächster zu sein. Was ist das für ein Unsinn: Liebe deinen Nächsten! Biblisches Gewäsch und Idealismus. Wenn der Mensch nicht die Nähe seiner Nächsten spürt, dann schnappt er, wie hoch er intellektuell auch immer steht, wie ideologisch gefestigt er auch ist, dann schnappt er nach Luft - aus Mangel an Sauerstoff, und seine Seele krümmt sich vor Schmerz. (Juri Trifonow: Zwischenbilanz, S. 14)


Tröstliche plötzliche Helle

Daß das Leben schwer zu leben ist, hatte ich auch früher schon zuzeiten dunkel empfunden. Nun hatte ich neue Ursache zu grübeln. Bis heute ist mir das Gefühl des Widerspruchs nie mehr verlorengegangen, das in jener Erkenntis wurzelt. Denn mein Leben ist arm und mühsam gewesen und scheint doch andern, und manchmal mir selber, reich und herrlich. Mir erscheint das Menschenleben wie eine tiefe, traurige Nacht, die nicht zu ertragen wäre, wenn nicht da und dort Blitze flammten, deren plötzliche Helle so tröstlich und wunderbar ist, daß ihre Sekunden die Jahre des Dunkels auslöschen und rechtfertigen können. (Hermann Hesse: Gertrud, S. 124)


In Trauer gehüllt

Der Krieg, der Tod seines jüngeren Sohnes, das Unglück seines älteren - das er doch fühlen müßte -, Sorgen, Schulden und die Beschwerden des Alters hatten ihm nur eine Trauer umgelegt, wie eine Kleidung, wie einen Mantel, den man sich anzieht, weil es draußen kalt ist, nicht weil man selbst friert. Und wie es Menschen gibt, denen ein Klimawechsel gar nichts bedeutet und denen es im Winter ebenso heiß ist wie im Sommer, nur daß sie der allgemeinen Sitte zufolge im Winter einen Pelz tragen und im Sommer ohne Weste gehen, so mochte es Menschen geben, die einen gedankenlosen Frohsinn in ihrem Leib trugen wie die Eigentemperatur und die sich nur in eine kalte Luftschicht von Trauer hüllten, wenn ihnen etwas Trauriges zustieß. (Joseph Roth: Zipper und sein Vater, S. 525)


Unbekanntes Stückchen

Hinter diesem Aberglaube lag ihr Heimweh, von dem sie selbst nicht wußte, das frierende Stückchen Seele, das der Mensch nicht kennt, wenn es im Zimmer warm ist, das verborgene bißchen Armseligkeit, das man niemanden sehen läßt und selbst nicht sieht, wenn man reich ist, die zitternde Sehnsucht, die erst in den letzten Stunden des Lebens zu singen beginnt. (Joseph Roth: Zipper und sein Vater, S. 518)


Immer ist es anders

"Wir sind im Leben gescheitert, Kleiner!" "Ich glaube, daß dem so ist... Aber alle Welt scheitert mehr oder weniger. Das Leben, das man mit Phantasie geplant hat, scheitert nämlich immer an der Wirklichkeit. Man sagt: 'Ich will so sein, weil es herrlich ist, so zu sein.' Und niemals ist man so, man ist dauernd in der Klemme, wie der arme Marques zu sagen pflegte. Manchmal geht es besser, aber immer ist es anders. (Jose Maria Eca de Queiroz: Die Maias, S. 812)


Eine elende Pilgerfahrt

Behüt dich Gott, Welt! dann mich verdreußt deine Konversation. Das Leben, so du uns gibst, ist eine elende Pilgerfahrt, ein unbeständiges, unwisses, hartes, rauhes, hinflüchtiges und unreines Leben, voll Armseligkeit und Irrtum, welches viel mehr ein Tod als ein Leben zu nennen, in welchem wir all Augenblick sterben durch viel Gebrechen der Unbeständigkeit und durch mancherlei Weg des Tods. Du läßt dich der Bitterkeit des Todes, mit deren du umgehen und durchsalzen bist, nicht genügen, sondern betreugst noch darzu die meiste mit deinem Schmeicheln, Anreizung und falschen Verheißungen; du gibst aus dem guldenen Kelch, den du in deiner Hand hast, Bitterkeit und Falschheit zu trinken und machst sie blind, taub, toll, voll und sinnlos. Ach! wie wohl denen, die deine Gemeinschaft ausschlagen, deine schnelle, augenblicklich hinfahrende Freud verachten, dein Gesellschaft verwerfen und nicht mit einer solchen arglistigen, verlornen Betriegerin zugrund gehen. Dann du machest aus uns einen finstern Abgrund, ein elendes Erdreich, ein Kind des Zorns, ein stinkendes Aas, ein unreines Geschirr in der Mistgrub, ein Geschirr der Verwesung voller Gestank und Greuel; dann wann du uns lang mit Schmeicheln, Liebkosen, Dräuen, Schlagen, Plagen, Martern und Peinigen umgezogen und gequälet hast, so überantwortest du den ausgemergelten Körper dem Grab und setzest die Seel in eine ungewisse Schanz. Dann obwohl nichts Gewissers ist als der Tod, so ist doch der Mensch nicht versichert, wie, wann und wo er sterben und (weclhes das erbärmlichste ist) wo seine Seel hinfahren und wie es derselben ergehen wird. (Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch, S. 492)


So viel Widerwärtigkeit

Ach Gott! wie ist das menschliche Leben so viel Mühe und Widerwärtigkeit! Kaum hat ein Unglück aufgehört, so stecken wir schon in einem andern. Mich verwundert nicht, daß der heidnische Philosoph Timon zu Athen viel Galgen aufrichtete, daran sich die Menschen selber aufknüpfen und also ihrem elenden Leben durch eine kurze Grausamkeit ein Ende machen sollten. (Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch, S. 40)


Der eine, der andere

Adieu Welt! dann bei dir ist nichts Beständiges. Die hohe Türn werden vom Blitz erschlagen, die Mühlen vom Wasser hinweggeführt; das Holz wird von den Würmen, das Korn von Mäusen, die Früchten von Raupen und die Kleider von Schaben gefressen; das Viehe verdirbt vor Alter und der arme Mensch vor Krankheit. Der eine hat den Grind, der ander den Krebs, der dritte den Wolf, der vierte die Franzosen, der fünfte das Podagram, der sechste die Gicht, der siebente die Wassersucht, der achte den Stein, der neunte das Gries, der zehente die Lungensucht, der eilfte das Fieber, der zwölfte den Aussatz, der dreizehente das Hinfallen und der vierzehente die Torheit! In dir, o Welt, tut nicht einer, was der ander tut: dann wann einer weinet, so lacht der ander; einer seufzet, der ander ist fröhlich; einer fastet, der ander reutet, der ander gehet; einer redt, der ander schweiget; einer spielet, der ander arbeitet; und wann der eine geboren wird, so stirbt der ander. (Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch, S. 491)


Immer nur bergab

Freddy fing an: "Andauernd kommen Leute zu mir, deren Zähne nicht mehr zu retten sind, mit Vereiterungen, die sie nicht mehr wahrhaben wollen und sich als Neuralgie erklärt haben. Die Schmerzen müssen grauenhaft gewesen sein. Monatelang sind sie damit herumgelaufen, außerstande, zu kauen oder nur die Kiefer zusammenzubeißen, weil sie sich unterbewußt dagegen sträubten, einen Zahn zu verlieren. Einen Zahn zu verlieren bedeutet Tod für die Leute; es ist ein klassisches Kastrationssymbol. Lieber einen Schwanz, der weh tut, als überhaupt keinen. Sie haben tödliche Angst vor mir, denn von mir könnten sie ja die Wahrheit erfahren. Wenn sie ihre Zahnprothesen eingesetzt kriegen, sage ich ihnen, daß sie besser aussehen als je zuvor, und sie fallen mir nahezu um den Hals, so sehr glauben sie es. Aber alles ist Bockmist. Nie wieder kriegt man sein altes Lächeln hin, wenn man die Zähne verloren hat. Ihr könnt euch ausrechnen, wieviel Süßholz da erst ein Krebsdoktor raspeln muß! Lieber Gott, in dem einen Jahr, als ich Medizin studierte, sind mir Skelette begegnet, die davon redeten, daß es immer mehr bergauf mit ihnen gehe. Ich habe Frauen gesehen, die keine Gesichter mehr hatten, aber sich die Haare aufdrehten. Die groteske Wahrheit ist, es gibt kein Bergauf, und niemand schert sich einen feuchten Dreck darum. Man wird geboren, um sich auf der Matratze vernaschen zu lassen, und dann zu sterben, und je früher, desto besser. Carol, du hast recht, wenn du sagst, was für eine ausgeklügelte Maschinerie wir sind, wenn wir geboren werden; das Dumme ist bloß, daß wir uns nur in einer Richtung bewegen: bergab." (John Updike: Ehepaar, S. 252)


Betraft werden alle

"Wir werden alle bestraft, ganz gleich, was wir tun. Das ist eine Lebensregel: die Menschen werden bestraft. Sie werden bestraft, weil sie gut sind, sie werden bestraft, weil sie schlecht sind. Ein Mann aus unserem Büro, der sein ganzes Leben lang Vitamintabletten genommen hat, ist vor zwei Wochen tot im Fahrstuhl zusammengesackt. Um ihn herum lauter gesunde Säufer. Die Menschen werden sogar bestraft, wenn sie gar nichts tun. Nonnen kriegen Gebärmutterkrebs, weil sie nicht vögeln. (John Updike: Ehepaar, S. 144)


Dünnhäutig

Seit jenem Unfall hatte die Welt eine schlüpfrige Oberfläche für Piet; er stand auf der Haut der Dinge, in der Haltung eines Mannes, der eine frisch gefrorende Eisdecke prüft: den Kopf schräg dem verräterischen Knacken zugeneigt, das Rückgrat gekrümmt, um sich leichter zu machen. (John Updike: Ehepaar, S. 25)


Ermüdung

Wer Anlagen dazu hat und seine Sensibilität wie einen Seismographen den Erschütterungen des Lebens aussetzt, erfährt früher oder später jenes Gefühl von Ermüdung, das es ihm immer schwerer macht, seinem Dasein lebenswerte Aspekte abzugewinnen. Man hat alle Horizonte, die die Hoffnung uns vorgaukelt, umschritten und bemerkt nun, daß man im Kreise geht und daß diese Kreise, da man der Hoffnung nicht mehr vertrauen kann, immer enger werden, und zuletzt kann es vorkommen, daß jedes Interesse am Leben, da es in seinen Wiederholungen schal geworden ist, erlischt. (Hartmut Lange: Tagebuch eines Melancholikers, S. 46)


Belanglos und haltlos

Die stille, unerlösbare Verzweiflung resultiert aus Gründen der Erkenntnis. Die Erschütterung, deren Beben niemals ganz aufhört, entsteht aus jener existentiellen Verunsicherung, aus jenem Moment, in dem wir entdecken, daß unsere Existenz belanglos und zufällig ist wie der tägliche Wetterwechsel. Und nun erst beginnt die Kunst zu leben. Wer einmal den natürlichen Dingen, die uns umgeben, vertraut hat und sich darin geborgen fühlte, muß erschrecken, wenn er erfährt, wie regellos und gleichgültig sie in Wirklichkeit sind. Und wer nun in der menschlichen Gesellschaft Halt sucht und entdecken muß, daß auch hier die Gleichgültigkeit und Regelosigkeit der natürlichen Dinge fortdauert und durch Sublimation gesteigert wird, der muß alles vergessen oder er ist unrettbar verloren. (Hartmut Lange: Tagebuch eines Melancholikers, S. 40)


Was mitunter hilft

Zwischen Schmerzen und Verzweiflung und würgendem Lebensekel immer wieder für einen heiligen Augenblick auf die Frage nach dem Sinn dieses so schwer erträglichen Lebens ein Ja zu hören, werde es auch im nächsten Augenblick schon wieder von der trüben Flut überspült, das genügt uns. (Hermann Hesse: Kurgast)


Eine Stunde hie und da

"Wir führen unser Leben, verrichten unsere Tätigkeiten, und dann schlafen wir — so einfach und so gewöhnlich ist das. Ein paar springen aus dem Fenster, ertränken sich oder nehmen Tabletten; ein paar mehr sterben bei Unfällen; und die meisten von uns, die breite Masse, werden langsam von irgendeiner Krankheit verzehrt oder, wenn wir großes Glück haben, vom Zahn der Zeit. Und es gibt nur diesen einen Trost: eine Stunde hie und da, in der es uns wider alle Wahrscheinlichkeit und Erwartung so vorkommt, als schäume unser Leben über und schenke uns alles, was wir uns je vorgestellt haben, obgleich jeder (...) weiß, daß auf diese Stunden unausweichlich andere folgen werden, die weitaus dunkler sind und schwerer." (Michael Cunningham, Die Stunden, S. 217)


Überall unsicher

Bei Sibylle Berg geht es mitunter recht heftig zu: "... geht Karla zu Bett, der sicherste Platz, den es gibt, denkt der Mensch, raucht eine, verbrennt, das war wohl nichts. Der sicherste Platz ist bei Mutter im Bauch, der Hure, der Säuferin, die dich nicht liebt, die fickt mit ungewaschenen Kerlen, die dich haßt, bevor dein Kopf aus ihrer Fotze kriecht." (Sibylle Berg: Amerika, S. 63)


Alles ungeheuer kompliziert

"Es kommt mir alles so ungeheuer kompliziert und verworren vor. Man kann zu keinerlei Entscheidung gelangen; man ist immer weniger imstande, Urteile zu fällen. Geht Ihnen das auch so? Und dann weiß man nie, was jemand empfindet. Wir tappen alle im Dunkeln. Wir versuchen zwar, uns zurechtzufinden, doch gibt es etwas Lächerlicheres als die Meinung eines Menschen über einen anderen Menschen? Man meint, man wisse Bescheid; doch man weiß in Wirklichkeit nicht Bescheid." (Virginia Woolf: Die Fahrt hinaus, S. 256)


Fremd sein

Wenn ich mich unter den Menschen umsehe, die ich im Laufe meines Lebens kennengelernt habe: Lehrer, Freunde, Mädchen, Zufallsbekanntschaften, treue alte Gefährten, Verwandte, dann wird mir klar, daß ich keinen einzigen von ihnen, ich sage keinen einzigen, nicht einmal meine ehemalige Frau und auch nicht meine Geliebte, wirklich gekannt habe. (Lars Gustafsson: Der Tod eines Bienenzüchters, S. 158)


Darunter der Schmerz

Er konnte sich an seinen Schmerz nicht gewöhnen, er war etwas gänzlich Neues für ihn. Es war ihm zuvor niemals in den Sinn gekommen, daß unter jeder Handlung, unter dem Leben jedes einzelnen Tages der Schmerz liegt, ruhig zwar, doch sprungbereit; er hatte das Gefühl, das Leiden geradezu sehen zu können, wie es, einem Feuer gleich, über die Ränder allen Tuns hinaufleckte und das Leben von Männern und Frauen aufzehrte. (Virginia Woolf: Die Fahrt hinaus, S. 405)


Ausschuss produziert?

Meine neurotischen Eltern haben in mir einen Menschen produziert, der zwar körperlich nicht schwach genug war, um gleich nach der Geburt zu sterben, der aber durch das neurotische Milieu, in dem er aufgewachsen ist, seelisch so zertrümmert wurde, daß er zu einem Dasein, das man menschlich nennen könnte, nicht mehr fähig war. (Fritz Zorn: Mars, S. 174)


Nicht glücklich

Wenn man es im Leben nur zu "noch allerlei" gebracht hat, dann hat man zu wenig erreicht und das Leben nicht bestanden. Auf die Frage, was denn die Menschen vor allem erreichen wollen, denke ich mir, daß das erste Ziel der Menschen doch das Glück ist. Unter dem Glück stelle ich mir einen Zustand vor, der daraus besteht, daß die Tatsache des Existierens für den Menschen gar keine Qual bedeutet, daß man gerne lebt und einem das Leben sogar Freude macht. Diesen Zustand kenne ich nicht und habe ihn nie gekannt. Die Fähigkeit, glücklich zu sein, ist in mir zerstört. Das ist wohl das eigentliche Kennzeichnen der Neurose: neurotisch ist, wer nicht glücklich sein kann. (Fritz Zorn: Mars, S. 172)


Schwierigkeiten

Ich hatte ja zeit meines Lebens davon gefaselt, daß ich "Schwierigkeiten mit der Liebe" hätte, ohne mir einzugestehen, daß ich dies hätte so formulieren müssen, daß ich aus Mangel an Liebe zugrunde ging und starb. Wenn jemand den Hungertod gestorben ist, sagt man ja auch nicht, er habe am Schluß seines Lebens "Schwierigkeiten mit der Ernährung" gehabt, sondern man sagt, daß er verhungert sei. Wenn ich von mir gesagt habe, daß ich "Schwierigkeiten mit der Liebe" hätte, so war das etwa so zutreffend ausgedrückt, wie wenn ich von jemandem gesagt hätte, er habe "Schwierigkeiten mit seiner Form" gehabt, nachdem er unter eine Dampfwalze gekommen was. (Fritz Zorn: Mars, S. 149)


Sehnsüchte

Wer sich sehnen will, hat ja so viele Möglichkeiten. Es gibt Sehnsucht nach jemandem, der weggegangen ist und vielleicht zurückkehrt. Dann gibt es Sehnsucht nach jemandem, der schon zurückgekehrt, aber nicht mehr derselbe ist, doch am allerschlimmsten ist es, sich nach jemandem zu sehnen, der schlicht und einfach tot ist und nie mehr zurückkehrt. Das ist genau die Sehnsucht, die ich nach deiner Mutter hab, Sejde, solche Sehnsüchte sind noch nicht mal Vorübung für die Auferstehung der Toten. Es sind Gefühle, die aus sich selbst heraus kommen und in sich selbst zurückkehren, und sie wuchern wie ein Krebs in der Seele. Nur in einem ähneln sie einander, all die Sorten von Sehnsucht, für die es keine Nahrung gibt, die sie sättigt, und kein Getränk, das sie trunken macht, und kein Heilmittel, das sie aufhalten könnte, und auch keine Gründe, weil sie nämlich kein brauchen. Was soll ich dir sagen, Sejde, vielleicht wirst du dies einmal verstehen, vielleicht auch nie, aber eins mußt du über diese Sehnsüchte wissen, auch wenn du's nicht verstehst, und zwar, daß die Sehnsüchte keine Gründe brauchen. (Meir Shalev: Judiths Liebe, S. 156)


Der Knochenmann

Bei jeder Fußball-WM denkst du dir, schon wieder vier Jahre vorbei, das Leben ist nur ein Huscher, du kaufst dir ein Radio, dann einen Fernseher, dann einen Video. Und dann bestellst du dir ein Faxgerät, und der Faxmonteur läutet bei dir an der Tür, und du machst auf, und es ist nicht der Faxmonteur, sondern der Knochenmann holt dich ab. Ist es nicht so, wenn wir uns ehrlich sind? Aber nicht trübsinnig werden. (Wolf Haas: Der Knochenmann)


Geprägt

Sein Gesicht sieht aus, als hätte ihm das Leben verächtlich lachend mit voller Faust hineingeschlagen... Übrigens ist es sehr möglich, daß er, ohne schwere Schicksalsschläge erlebt zu haben, einfach dem Dasein selbst nicht gewachsen ist, und die leidende Unterlegenheit und Blödigkeit seiner Erscheinung macht den peinvollen Eindruck, als hätte die Natur ihm das Maß vom Gleichgewicht, Kraft und Rückgrat versagt, das hinlänglich wäre, mit erhobenem Kopfe zu existieren. (Thomas Mann: Tobias Mindernickel)


Minderwertigkeitskomplexe

Von mir kann man überhaupt nichts anderes sagen: überflüssig und nichts weiter. Ein außeretatmäßiger Mensch - das ist alles. Mit meinem Erscheinen hatte die Natur offenbar nicht gerechnet, und sie behandelte mich darum wie einen unerwarteten und ungebetenen Gast. (...) Ein Heim zu finden, mir wenigstens für eine gewisse Zeit ein Nest zu bauen und das Vergnügen alltäglicher Verhältnisse und Gewohnheiten zu kosten - dieses Glück war mir, dem überflüssigen, jeder Erinnerung an ein Familienleben baren Menschen bis dahin nicht zuteil geworden. (Iwan Turgenjew: Drei Begegnungen, Erzählungen, S. 95 /102)


Einer unter allen

Der einzelne ist immer stärker als der Begriff, aber er muß nur er selbst bleiben, sein eigener Wille. Er muß nur wissen, daß er Mensch ist und es bleiben will, dann sind diese Worte um ihn, mit denen man die Leute jetzt chloroformiert, dann sind: Vaterland, Pflicht, Heldentum bloß Phrasen, die nach Blut stinken, nach warmem, lebendigen Menschenblut. (Stefan Zweig: Buchmendel. Erzählungen, S. 164)


Eine Tyrannei

Wird nicht auch die mit dem schwächsten Denkvermögen ausgestattete Kreatur in dem verletzt, was ihr das Teuerste ist, wenn sie auf Anordnung eines anderns Willens als des ihren etwas erfüllt, das sie auch von sich getan hätte? Die schlimmste unter allen Tyranneien ist die, die der Seele beständig das Verdienstliche an ihren Handlungen und Gedanken entzieht: man dankt dann ab, ohne regiert zu haben. Das sanfteste Wort, das sich aussprechen, das lieblichste Gefühl, das sich ausdrücken läßt, ersterben, wenn wir glauben, sie seien uns befohlen worden. (Honore de Balzac: Eine doppelte Familie)


Skepsis

Natürlich gibt es welche, die behaupten, daß die Welt gar nicht so herrlich ist, wie ich in meinen Diskussionen immer voraussetze, und daß ihr ein entschlossener Schlag mit dem Scheuerhader nur guttäte. Das Leben ist lausig, sagen sie. Die eine Hälfte des Tages schuften wir uns, die anderen langweilen wir uns zu Tode. Wie kann man an so etwas hängen? (Gert Hofmann: Tolstois Kopf. Erzählungen, S. 43)


Ein Klumpen Trauer

Ich glaube, man fängt an, alles richtig zu machen, wenn man gut sein will. Und ich glaube, ich mache alles falsch, wenn ich immer nur will, daß andere gut sein sollen zu mir. Ich will geliebt werden, alle wollen geliebt werden, auf tausend Menschen, die geliebt werden wollen, kommt vielleicht einer, der lieben will. Vater unser... mein Herz ist ein Klumpen Trauer. (Irmgard Keun: Nach Mitternacht, S. 121)


Katastrophal

Eine Katastrophe kommt selten allein. Am liebsten überfallen sie einen im Gruppenverband. Sie trommeln sich gegenseitig zusammen und kündigen einander an: Ein Unglück ist der Hiobsbote des nächsten. Über Nacht schießen sie alle gleichzeitig wie Pilze aus dem Boden, um schon am nächsten Morgen ihren Schirm leer schütteln. So hinterläßt jede Katastrophe ihre Spuren in Gestalt ganzer Serien neuer Katastrophen. Sie bilden eine einzige große Familie, weitverzeigt, aber mit festem Zusammenhalt: eine Mafia giftiger Schwämme... ein Hexenring, der sich wie eine Schlinge immer enger um einen zusammenzieht... (A.Th.F. van der Heijden: Fallende Eltern, S. 9)


Kontrolliert

Mich beschleicht eine Erkenntnis; Leute, die dümmer sind als man selbst, haben am Ende das Sagen. Schaut euch doch nur an, wie's läuft. Ich will ja nicht behaupten, daß ich ein Genie bin oder so, aber diese Vollspasten kontrollieren jede meiner Bewegungen. So langsam glaube ich, daß nur die Dummen sicher sind in dieser Welt, die mit der Herde trotten, ohne immer über alles nachzudenken. Ich dagegen muß mir über den kleinsten Scheiß Gedanken machen. Schaut mich doch nur an. (DBC Pierre: Jesus, von Texas, S. 100)


Montrös

Für Nihal war es im Grunde unverständlich, warum die Menschen sich auf einen Betrieb einließen, der in keinem Verhältnis stand zu dem einfachen Zweck, auf der Kruste des Planeten, erwärmt von der Sonne, da zu sein und zu leben. Weil er sich nicht vorstellen konnte, daß dazu die monströsen Aktivitäten nötig waren, die er beobachtete, kam er zu dem Schluß, die Menschen seien verrückt geworden. (Gerhard Amanshauser: Schloß mit späten Gästen, S.13)


Hart und gnadenlos

Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass die Welt hart und gnadenlos ist. Und ich habe nur die schlechteste, übelste, grimmigste Vorstellung von ihr. Der große Trick besteht darin, sich einigermaßen unversehrt durch diesen Albtraum zu mogeln. Und sich dabei ein bisschen Spaß und Würde zu bewahren. Das Gesamtphänomen ist allerdings unglaublich grausam: Wir werden geboren, um ausgelöscht zu werden. Manche versuchen, diese Erkenntnis durch die Religion unter den Teppich zu kehren. Sie glauben, es gibt einen Gott, einen Papst, einen Pfarrer, der die Sache schon regeln wird. Wissen Sie, dass 80 Prozent der Amerikaner an Engel glauben? Das gibt uns eine Vorstellung davon, wie groß die Angst sein muss. Ich finde, wir sollten lieber sehenden Auges durchs Leben gehen. Und uns darüber im Klaren sein, dass es ein mörderischer, darwinistischer Albtraum ist, gegen den wir völlig allein ankämpfen müssen. (Woody Allen)


Furcht vor Fußtritten

Warum, fragte ich mich, liegt über diesem Land immer eine Friedhofsruhe, auch wenn die Maschinen Tag und Nacht stampfen und die Kapellen unablässig den Frohsinn pauken, und warum haben diese Leute kein besseres Gefühl für den Tod, wenn sie schon kein gutes Gefühl für das Leben haben? Wer das Leben genießt, hat vor dem Tod keine Angst, aber diese Menschen scheinen das Leben nicht zu genießen, geduckt gehen sie einher, in ständiger Erwartung von Fußtritten und Peitschenhieben, von Furcht getrieben, die Lichter könnten ausgeknipst, die Spielzeuge fortgenommen, die Fabriken, von denen sie doch beherrscht werden, wieder in Schutt und Asche fallen. (Jörg Fauser: Mann und Maus. Erzählungen, S. 111)


Die menschliche Dummheit

Ich empfinde gegen die Dummheit meiner Epoche Hassfluten, die mich ersticken. Es steigt mir Sch.. in den Mund, wie bei einem eingeklemmten Bruch. Aber ich will sie behalten, sie eindicken und daraus einen Brei machen, mit dem ich das neunzehnte Jahrhundert beschmieren werde, wie man die indischen Pagoden mit Kuhfladen vergoldet… Die menschliche Dummheit macht mich im Augenblick so fertig, dass ich mir wie eine Fliege vorkomme, die den Himalaja auf dem Rücken trägt. Ich werde versuchen, mein Gift in meinem Buch auszukotzen. (Flaubert an Goncourt, 9. Oktober 1877)


Zwischen Demut und Ekel

Mein Dünkel besteht aus einem fast permanenten Zusammenstoß von Demut und Ekel. Beide Kräfte sind ungefähr gleich stark. Einserseits mahnt mich die Demut: Gerade die idiotischsten Geschichten deiner Mitmenschen sollst du dir anhören! Und gleichzeitig stichelt der Ekel gegen mich: Wenn du jetzt nicht fliehst, gehst du in den Ausdünstungen deiner Mitmenschen unter! Das Gemeine ist, die Zusammenstöße lassen es nie zu einem Ergebnis kommen. Sie wiederholen sich immer nur. (Wilhelm Genazino: Ein Regenschirm für diesen Tag, S. 80)


Jeder mit seinem Schicksal

Existenzielle Dialektik des Göttlichen und Menschlichen" inmitten hochintellektueller Erörterungen plötzlich auf eine Stelle gestoßen, die mich in ihrer Schlichtheit erschüttert: 'Es gibt einsame Menschen, die stolz ihre Leiden tragen, ohne sich nach außen mitzuteilen. Daher muß man immer denken, daß andere leiden und unglücklich sein können, ohne daß wir etwas davon spüren. Man sollte jeden Menschen wie einen Sterbenden behandeln.' (Luise Rinser: Kriegsspielzeug. Tagebuch 1972- 1978, S. 23)


Allgemeines Grundleiden

Man wird von so sonderbaren Leiden befallen. Einfach, weil man Mensch ist, aus keinem anderen Grund. Ehe man's sich versieht, ist man eines schönen Tages genauso wie die anderen Menschen, die man kennengelernt hat, mit all diesen besonderen menschlichen Übeln, genauso ein Gefäß für Launen, Eitelkelkeiten, Unbesonnenheiten und dergleichen. Wer will das alles, wer hat etwas davon. Diese Dinge machen sich an der Stelle breit, wo des Menschen Seele sein sollte. (Saul Bellow: Der Regenkönig, S. 81)


Alleinsein

Da können sich die klugen Leute noch so viel die Köpfe zerbrechen, wie man das Leben auf Erden besser einrichtet und alle ein bißchen glücklicher macht - auch mit dem neuen Glück und dem leichteren Leben werden die Kinder ihre verstorbenen Eltern beweinen, werden Mädchen Tränen vergießen, weil dem Liebsten eine andere gefällt, wird es so unsinnige, plötzliche Todesfälle geben wie diesen. Schlimm ist, im Unglück allein zu sein. Wenn erst das Alleinsein für immer aus der Welt verschwindet, wird sich manches Unheil verhüten lassen, und das unvermeidliche Unglück wird leichter zu tragen sein. (Wladimir Tendrjakow: Der Schuß)


Neue Geist-Räume

Lernen wir nur unter äußerstem Druck die Liebe? Geschieht die Mutation des Menschengeschlechts nur durch Katastrophen? Warum erschrecke ich bei dem Gedanken, daß Katastrophen notwendig sind? Weil ich ein Bild sehe: in wenigen Jahren vielleicht sitzen die paar Überlebenden so beisammen in Höhlen unter den radiumverseuchten Trümmern der alten Welt. Nicht erschrecken: die Überlebenden leben. Sie lernen die Liebe. Äußerste Not als die große Chance für die Evolution. Man muß in die Ferne denken dürfen. Ins Grenzenlose. In neue Geist-Räume muß man sich vorwagen, damit man den Schmerz des Augenblicks erträgt. (Luise Rinser: Winterfrühling. 1979-1982, S. 100)


Unsichtbare Zügel

In der Wohnung ist alles schon schwierig genug, aber sobald man sie verläßt, nimmt die Sinnlosigkeit - und das ist nicht einmal das gehörige Wort - die furchtbarsten Ausmaße an. - Trotzdem sei er am späten Morgen ausgegangen, um Notvorrat zu kaufen. Schon vor der Haustür habe er gedacht: Auf welchen Stern bin ich gefallen? Wie schaffe ich den Gang durch die tosende Unübersichtlichkeit? Er habe sich bemüht, ein vollwertiger Mitmensch zu sein und sich wie alle anderen im Laufschritt zu bewegen, doch unsichtbare Zügel hätten ihn gebremst. (Markus Werner: Festland, S. 32f.)


Rauschendes Blut

Du, fragte ich, hast du mit der Außenwelt immer so Mühe gehabt? - Er bleibt stehen und überlegte. Im Tiefschlaf eigentlich nicht, sagte er, im Tiefschlaf habe ich dazugehört, da bin ich ein rühriger Bestandteil und Katzenmusikant gewesen, jetzt aber ist es so still, daß ich schon das rhythmisch rauschende Blut in den Ohren als etwas lärmig empfinde, verstehst du? (Markus Werner: Festland, S. 33)


Inmitten dieser Katastrophe

Liebe Zwatt, du weißt genauso gut wie ich, wie es in der Welt aussieht. Unsere Städte werden immer unwohnlicher, die Freiheiten, von denen das vorige Jahrhundert träumte, immer utopischer, immer ideengeschichtlicher; nicht einmal eine so einfache Sache wie die parlamentarische Demokratie hat noch die geringste Bedeutung für den Menschen, die von ihren Entscheidungen betroffen sind. Unerbittlich verschlingt ein immer blinderer, immer mechanistischerer Kapitalismus einen Lebensbereich nach dem anderen. Diese schreckliche Maschine rast davon wie ein Lastzug, dessen Fahrer eingeschlafen ist, wobei der Druck aufs Gaspedal sich ständig verstärkt. Inmitten dieser Katastrophe leben wir im Grunde genommen ganz zufrieden, solange unsere fundamentalen Bedürfnisse nach Zärtlichkeit, nach Vertrauen nach jemand, der uns zuhört, befriedigt werden. Wie würden viel schlechter in einer utopischen Gesellschaft leben, wenn es dort niemand gäbe, der uns liebt. Ist es also so, liebe Zwatt, daß der wahre Zustand, das Paradies oder die Hölle, letztlich etwas sind, worüber wir selbst bestimmen? Und welch ein Zynismus ist es doch, eine solche Frage zu stellen! (Lars Gustafsson: Sigismund. Aus den Erinnerungen eines polnischen Barockfürsten, S. 141)


Im Exil

"... die Existenz ist immer extrem und die Anstrengung zu existieren an sich schon größenwahnsinnig ... eine wirkliche Kunst aber ist es", sagte Moro, "sich hundertprozentig von den Menschen abzuschließen und gleichzeitig ebenso hundertprozentig in ihnen aufzugehen. ... aber die ganze Menschheit lebt ja", sagte er, "schon die längste Zeit vollkommen im Exil, sie hat sich auf die genialste Weise aus der Natur hinauskomplimentiert, hinausbugsiert ..." [Thomas Bernhard: Ungenach, S. 17]


Phrasen ohne Wert

Stets kommt eine Altersstufe, auf der das Leben nichts weiter ist als eine in einem gewissen Lieblingsmilieu ausgeübte Gewohnheit. Dann besteht das Glück in der Bestätigung unserer dem Wirklichen angepaßten Fähigkeiten. Außer diesen beiden Regeln ist alles falsch. Meine Grundsätze haben sich geändert wie die des Menschen; mit jedem Breitengrad habe ich sie wandeln müssen. Was Europa bewundert, bestraft Asien. Was in Paris als ein Laster gilt, wird zu etwas Notwendigem, wenn man die Azoren hinter sich hat. Nichts hienieden ist unverbrüchlich; es gibt lediglich Konventionen, die entsprechend dem Klima wechseln. Für den, der sich gezwungenermaßen allen sozialen Gußformen hat einfügen müssen, sind die Konventionen und die Moralsysteme nur noch Phrasen ohne jeden Wert. Es verbleibt uns bloß das einzige wahre Gefühl, das die Natur unserem Innern verliehen hat: der Instinkt der Selbsterhaltung. In unseren europäischen Gesellschaften führt dieser Instinkt die Bezeichnung "persönliches Interesse". (Honore de Balzac: Gobseck) ^


Sehnsüchte

Und doch bleibt nur ein Ort, wenn du den gesamten Horizont abgehofft hast, ein Ort auf der Welt aller Sehnsucht wert, kein Haus in der Heide, kein noch so guter Garten und nicht die Freiheit, sondern allein das Ganz Andere Gesicht. Ein Mal so angesehen werden, daß sich alle Schmutzreste von der Seele lösen. Ein Mal den guten Blick, den zivilisierenden, der uns einen kleinen Innenhof mit Frieden erfüllte! Oh, muß man sich aber gut ansehen, muß sich geduldig in den Augen liegen, um die Gewißheit zu gewinnen, daß man wahrlich nicht Angst voreinander zu haben braucht. Da genügt nicht nur ein Stich mit den Augen oder ein klägliches Streifen - das vermehrt ja nur die bösen Strahlen der Welt! - oder ein ungezügeltes den eigenen Worten Zuhören der Augen... Die Liebe wartet aufs Augenlicht. Wenn Augenlicht scheint, bist du glücklich. Da mögen wir noch so oft die nassen Bäuche aufeinander klatschen, mit den Leibern fuhrwerken und zappeln wie die Bisamratte, wir kommen der Sache doch niemals näher als mit den Augen, die sich nicht vereinigen lassen... (Botho Strauß: Rumor) ^


Eine mittelauropäische Krankheit

Sie haben eine Krankheit, die leider Mode ist und der man jeden Tag bei intelligenteren Menschen begegnet. Die Ärzte wissen natürlich nichts davon. Es ist mit moral insanity verwandt und könnte auch Individualismus oder eingebildete Einsamkeit genannt werden. Die modernen Bücher sind voll davon. Es hat sich bei Ihnen die Einbildung eingeschlichen, Sie seien vereinsamt, kein Mensch gehe Sie etwas an und kein Mensch verstehe Sie. Ist es nicht so?" "Ungefähr, ja", gab ich verwundert zurück. "Sehen Sie. Für den, der die Krankheit einmal hat, genügen ein paar Enttäuschungen, um ihn glauben zu machen, es gebe zwischen ihm und anderen Menschen überhaupt keine Beziehungen, höchstens Mißverständnisse, und es wandle eigentlich jeder Mensch in absoluter Einsamkeit, könne sich den anderen nie recht verständlich machen und nichts mit ihnen teilen und gemeinsam haben. Es kommt auch vor, daß solche Kranke hochmütig werden und alle anderen Gesunden, die einander noch verstehen und lieben können, für Herdenvieh halten. Wenn diese Krankheit allgemein würde, müßte die Menschheit aussterben. Aber sie ist nur in Mitteleuropa und nur in den höheren Ständen zu treffen. Bei jungen Leuten ist sie heilbar, sie gehört sogar schon zu den unumgänglichen Entwicklungskrankheiten der Jugend. (Hermann Hesse: Gertrud) ^


Zu hungrig für diese Welt

Du bist für diese einfache, bequeme, mit so wenigem zufriedene Welt von heute viel zu anspruchsvoll und hungrig, sie speit dich aus, du hast für sie eine Dimension zuviel. Wer heute leben und seines Lebens froh werden will, der darf kein Mensch sein wie du und ich. Wer statt Geduld Musik, statt Vergnügen Freude, statt Geld Seele, statt Betrieb echte Arbeit, statt Spielerei echte Leidenschaft verlangt, für den ist diese hübsche Welt hier keine Heimat. (Hermann Hesse: Der Steppenwolf) ^


Kalt beiseite stehen

Die Ichstarken werden täglich stärker. Die, denen sie folgen dürfen, Geniegeschmeiß, gefräßige Wracks, sprechen sie Größe um Größe zu, weil ja niemand eines unsicheren Wackelkopfes Diener sein mag. Mich Normbruder dagegen lassen sie hübsch beiseits stehen. Unter meinen kurzsichtigen Pupillen kann keiner sein Strahlbad nehmen. Wenn ich spreche, denken die Leute gern an etwas anderes... Ach ja, durchschau nur, durchschau die ganze lächerliche Szenerie, wie deine Freunde sich verwickeln und alle anderen auch. Es ist nur das Durchschauen so vollkommen unnütz! Solange du selbst überhaupt nirgendwo drinsteckst und ewig kalt beiseite stehst, da hast du leicht durchschauen und sehnst dich doch nach der kleinsten Träne einer Hingabe, die wenigstens ein Rändchen Trübung ins Auge brächte. (Botho Strauß: Rumor) ^


Randrolle des Menschen

Wenn der Mensch (...) die Wahrheit, diese Wahrheit seiner Biosphäre annähme, dann müßte er aus dem tausendjährigen Schlaf aller Ideologien und Religionen endlich erwachen und seine totale Verlassenheit, sein totales Außenseitertum erkennen. Er muß wissen, daß er seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen. (Botho Strauß: Rumor) ^


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