Unbehaust in dieser Welt (2) [<<]

Vom Leiden an der Welt und am Menschen [^^] [^]


Themenstreusel: Unbehaustsein
Bilanz eines Lebens
Wachsende Geschwindigkeit
Ein bedeutsames Leben
Im Rudel ekelhaft
Im maroden Zustand
Arktische Einsamkeit
Die hundert Formen der Schwerkraft
Verdammungswürdige Melancholiker
Acedia
Herumtrudeln
Wenige geglückte Umarmungen
Ein schwaches Glied in der Kette
Die Vorstellung vom ewigen Nichtsein
Die Überstülpten
Leichte Lösungen
Hypochonder
Einschillingfortsetzungen
Zerzauste Männer
Pädagogisches Leiden
Kino als Trost
Vorsätzliche Geburt
In der Einöde des Realen
Einsam zu Weihnachten
Unter dem Joch des Lichtes
Leben ist Katastrophe
Gefangen in der Biologie
Depression
Ein anhaltend falsches Leben
Fast ein freudiger Zorn
Wie eine Maschine
Zerrinnendes Glück
Der Sinn des Lebens
Midlife-Krise
Übel vor Qual
Unsinnige Anforderungen
Fortwährend scheppern
Das Grauen der Natur
Das Neue Jahr
Der grausame Schöpfer
Wege finden und gehen
Nach welchem Schlüssel
Das Greuelthema vom Tag
Hunde
An den Absender zurück
Wenn man Tränen schreiben könnte
Anklage
Keine Art zu leben
Ich bin zu dumm
Solche Tage
Der nächste Impuls
Angestiftet zum Widerstand
Schwarze Schraffur
Mit sich konfrontiert
Lärmbelästigung
Automaten
Kein goldener Mittelweg
Unvollkommener Abguß
Rundgehen
Du sollst nicht lieben
Alles immer richtig
Kommunikationsunmöglichkeit
Geld=Terrorgesellschaft
Fernsehschutt
Das Ende der Absonderung
Periode menschlicher Vereinzelung
Einfach vorwärts gehen
Ein aufreibender Widerspruch
Der Druck des Alltags
Schwerinvalide
Kultur der Schnelle
Bestrafungen
Die Unmöglichkeit des Glücks
Das wirkliche Leben?
Eine bröckelige Angelegenheit
Die Welt stinkt
Die Sinnfrage
Die Welt spuckt Tod
Wo liegt die Wahrheit?
Ein wirklicher Protest
Über Sibirien
Vom bloßen Dasein erschöpft
Ein dunkler Knödel
Vom Fallen
Schwer zu finden
Eine miefige Zeit
Die Summe der Übel
Handys
Hoffnung und Grenzen
Konzentrationsmangel
Das Leben nicht ganz so spüren
Nicht wieder gutzumachen
Ein dickes Fell
Schleichende Schmerzen
Die Zweifel des Künstlers
In der Einzelzelle
Geklärt wird nichts
Die Weihnachtspest
Die Sucht nach dem Neuen
Allseits enttäuschend


Bilanz eines Lebens

Ihm kam der Gedanke, daß das, was ihm bisher noch als vollkommen unmöglich erschienen war: er hätte so gelebt, wie er nicht hätte leben sollen - daß das die Wahrheit sei. Ihm kam der Gedanke, daß die von ihm kaum bemerkten Neigungen, sich gegen das zu wehren, was von den Hochgestellten des Lebens für gut gehalten wurde, jene kaum merkbaren Neigungen, die er stets sofort unterdrückt hatte, wirklich berechtigt waren und daß alles andere nichts war: sein Dienst, seine Lebensgestaltung, seine Familie, die Interessen der Gesellschaft und des Dienstes - alles das war vielleicht nichts, nichts. Er versuchte wohl noch, es vor sich selber in Schutz zu nehmen, doch plötzlich fühlte er die Schwäche alles dessen, was er in Schutz nehmen wollte, Da war überhaupt nichts in Schutz zu nehmen. 'Und wenn das wirklich so ist', sagte er zu sich, 'und ich aus dem Leben gehe mit dem Bewußtsein, alles verdorben zu haben, was mir gegeben wurde, und ich es nicht mehr gutmachen kann, was dann?' Er legte sich auf den Rücken und begann von neuem sein ganzes Leben durchzugehen. Als er am Morgen den Diener sah, dann seine Frau, dann die Tochter, dann den Doktor, da war jede ihrer Bewegungen, jedes ihrer Worte ihm eine Bestätigung der furchtbaren Wahrheit, die sich ihm in der Nacht enthüllt hatte. Er sah in ihnen sich selber, alles das, wofür er gelebt hatte, und er sah klar, daß das gar nichts, daß das alles ein furchtbarer, ein ungeheurer Betrug war, der Leben und Tod verdeckte. (Lew Tolstoj: Sämtliche Erzählungen, Band 4)  ^


Wachsende Geschwindigkeit

Das Leben hatte mehr Gutes, und darum war auch mehr Leben da. Eins war mit dem anderen verschmolzen. 'Wie die Qualen immer ärger und ärger wurden, so wurde auch das Leben immer ärger und ärger', dachte er. Nur ein lichter Punkt war da: weit zurück, zu Beginn des Lebens, und dann wurde es immer schwärzer und schwärzer und ging schneller und schneller. 'Im umgekehrten Verhältnis zum Quadrat der Entfernung vom Tode', dachte Iwan Iljitsch. Und dieses Bild des Steines, der mit wachsender Geschwindigkeit fällt, verließ ihn nicht mehr. Das Leben, eine Reihe immer wachsender Leiden, fliegt immer schneller dem Ende zu, diesem furchtbarsten aller Leiden. (Lew Tolstoj: Sämtliche Erzählungen, Band 4) ^


Ein bedeutsames Leben

Seit etwa vierzehn Tagen litt ich wieder an einem Drang, von dem ich nicht wusste, ob er mich irgendwann ins Unglück stürzen würde: Ich wollte endlich ein bedeutsames Leben führen. Ich ahnte, dass die menschliche Bedeutsamkeit in zahllosen Einzelheiten des wirklichen Lebens aufbewahrt war und dass es an den Menschen lag, diese Bedeutsamkeit in ihr Leben einzubauen. (...) ... dass mich nur ein bedeutsames Leben vor der Vernutzung im Alltag bewahrt, in deren Anfängen ich mich bereits verheddert habe. (Wilhelm Genazino: Außer uns spricht niemand über uns)  ^


Im Rudel ekelhaft

Mit zunehmendem Alter habe ich mich immer mehr gestört an der Welt, die mich umgab. Es mangelt mir an Weisheit. Die Altersmilde wollte und wollte sich nicht einstellen. Lange Jahre hatte ich gedacht, es gelte, alles Frustrierende, was das Menschenleben mit sich bringt, einfach nicht besonders ernst zu nehmen. Das war meine Lösung. Die einzige Antwort auf die Frage, wie das Leben auszuhalten sei. Leider merkte ich irgendwann, dass diese Antwort mich nicht mehr befriedigte, dass ich es nicht schaffte, humorvoll zu bleiben. Aus Ironie wurde Sarkasmus, und ehe ich mich versah, war ich ein alter Zyniker. Ein Zyniker im Herzen zumindest, denn ich versuchte, meine Mitmenschen nach Möglichkeit zu verschonen. (...) Ich erwartete nicht, dass der Mensch sich ändern würde. Meine Erfahrungen machten mir den Menschen im Rudel ekelhaft. Noch schmerzhafter war aber die Erkenntnis, dass mir auch einzelne Menschen meistens zuwider waren. (Frederic Zwicker: Hier können Sie im Kreis gehen)  ^


Im maroden Zustand

Aber ich muß mich bloß in meiner vermüllten Küche umschauen, dann weiß ich wieder, was für ein depressiver Sack ich bin. Schlecht rasiert obendrein. Und keine Frau, die einigermaßen ihre Tassen im Schrank hat, würde sich mir in dem vermufften Zustand, in den ich geraten bin, nähern wollen. Vermutlich rieche ich sogar streng. Seit zwei Tagen habe ich darauf verzichtet, mich zu duschen. Und das im Sommer. Früher duldete ich kein Staubkorn und kein Haar auf meiner Anzugjacke, jetzt ist mir mein Äußeres ziemlich egal. Körperlich und geistig war ich noch nie in einem derart maroden Zustand. (Sibylle Lewitscharoff: Das Pfingstwunder) ^


Arktische Einsamkeit

Abends gegen acht Uhr erlitt ich einen starken Anfall von Depression. (...) Es begann wie immer mit einer Blutleere im Kopf, mit Herzgeflatter und einer Auskältung aller Glieder. Der Tod atmete eisig meinen Nacken an. Mir war, als ob sich ein unausdenkbar- unabwendbares Unglück von allen Seiten heranwälze. Nein, ich, dieses Zimmer, dieses Haus, dieses ergrauende Land vor dem Fenster, wir alle schienen vielmehr mit der donnernden Geschwindigkeit eines Schienenautos mitten hineinzufahren in dieses harrende Unglück, das nebelhaft und doch unbeweglich auf seiner Stelle thronte wie vom Beginn der Schöpfung her. Ich warf mich aufs Bett, um von diesem Unentrinnbaren, dem wir entgegensausten, nichts mehr zu wissen. Erst als es ganz finster geworden war, zersprang die Klammer um meinen Kopf. Nichts blieb übrig als das fadschmeckende Bewusstsein von der arktischen Einsamkeit meines ganzen bisherigen Lebens, eines somit heillos verpfuschten Lebens. Ich schlich mich feige aus dem Zimmer. Ich musste lebendige Wesen sehen, die Bichlers, Teta, die Hunde ... (Franz Werfel: Der veruntreute Himmel. Die Geschichte einer Magd)  ^


Die hundert Formen der Schwerkraft

Schmach über uns, die wir immer und überall nur die Bedingt- und Gebundenheiten des Menschen zu seiner ausschließenden Erklärung heranziehen, die wir mit superklugem Augenzwinkern uns zu den hundert Formen der Schwerkraft bekennen, denen wir unterworfen sind, die wir in selbstmörderischer Schadenfreude uns in den polypenhaften Determinismus vergafft haben, der die Brust der Menschheit umklammert und dem Naturlauf gemäß ewig umklammern wird! Fast möchte man meinen, wir täten das, nicht um uns ein wenig Luft zu verschaffen, sondern um im dumpfen Ingrimm des Plebejers die göttliche Größe und Freiheit unserer Seele zu verraten. (Franz Werfel: Der veruntreute Himmel. Die Geschichte einer Magd)  ^


Verdammungswürdige Melancholiker

...aktive Wüteriche und träge Depressive, wie wir heute sagen würden, büßen im selben Trübgewässer. Was mir einleuchtet, denn beide seelischen Verfassungen, der sich nach außen beißende, um sich schlagende Zorn wie der im Inneren an sich selbst herumkauende Verdruß, sind zwei Seiten derselben Medaille. Den nobilitierten Weltschmerz der Neuzeit als Ausweis und Adel der feinsinnigen Seele kannte Dante noch nicht, er kannte nur die verdammungewürdigen Melancholiker, und ich stimme mit ihm darin überein. Ich kann die Depressiven auch nicht verputzen. Sie sind willenlos, Spielball trüber Launen, ersticken an sich selbst und wollen jeden, der mit ihnen in Kontakt kommt, gleich mit ersticken. Sie beneiden und verachten die Tatkräftigen, wenden den Zehrpfennig ihres Kleinmuts um und um. (Sibylle Lewitscharoff: Das Pfingstwunder)  ^


Acedia

Die 'acedia' galt den Kirchenvätern als Todsünde wider den Heiligen Geist; gegen die geistentzündende, herzerhebende Macht der christlichen Botschaft steht das Kleinmutswesen des an sich selbst zweifelnden Grüblers, der zu nichts anderem mehr imstande ist, als eine fruchtlose, öde Innenschau zu betreiben. Melancholie ist eine schwere Sünde, die andere nebelhafte Unlustsünden nach sich zieht, etwa Mutlosigkeit oder Antriebsarmut, wie wir heute sagen würden. Wer in ihren Sog gerät, erleidet eine sumpfhafte Daseinsverdüsterung. Ein Melancholiker läßt die Menschen in seiner Umgebung mit leiden, hat nur noch sich selbst im Visier und vernachlässigt seine Pflichten. Ich bezeichne solche Menschen gern als Schwermutsleichen, die im Sumpf ihres Inneren herumwaten. Weil ich seit kurzem selbst zu solchem Verhalten neige, hasse ich andere Melancholiker mit besonderer Inbrunst. (...) Bei Dante werden diese kleinlichen Bröselkandidaten des eigenen Ego mit einer radikalen Jenseitsverdüsterung gestraft. Sie schlucken Schlamm, saufen im Schlamm ab, blubbern noch ein bißchen vor sich hin. (Sibylle Lewitscharoff: Das Pfingstwunder) ^


Herumtrudeln

Mein Grundübel ist die Lauheit, die Unentschlossenheit. Nicht wirklich zum Guten tendierend, aber auch nicht zum Bösen. Die Strafe führt entsprechend Schwächliches im Gepäck. Ich treibe mich demnach in den leichteren Abteilungen der Hölle herum oder, besser: trudele herum. Jetzt schon. Nicht erst nach dem Tod. Obwohl ich manchmal nicht mehr recht weiß, ob ich noch am Leben bin. Vielleicht ja. Vielleicht nein. Anwesend abwesend. Vielleicht bilde ich mir lediglich ein, noch nicht tot zu sein. Und andere Menschen erleben mich nur scheinbar, geben mir scheinbar zu verstehen, ich weilte unter ihnen. (Sibylle Lewitscharoff: Das Pfingstwunder)  ^


Wenige geglückte Umarmungen

Die Umarmung der überbordenden Großmutter, ich umfangen von Fleisch und dem merkwürdigen süßen Geruch, den sehr dicke Menschen manchmal an sich haben, sie hielt mich immer zu lange, als ob sie abwarten wollte, wie lang ich es ertrug, und wenn ich mich nicht bewegte, konnte ich es eine Weile schaffen, bis die Luft knapp und heiß wurde und ich anfing zu zappeln. Meine Mutter dagegen: ihre Hände kühl, kräftige Umarmungen, knapp und herzlich, aber immer zu kurz, ich wollte mehr und länger und war doch schon wieder entlassen. Die Umarmung meiner Lehrerin, lang schon in Gedanken vorweggenommen, ich wollte von ihr umarmt werden, unbedingt. Im Landschulheim ging sie durch die Schlafräume, lachend, etwas wehte hinter ihr her, ein Schal vielleicht oder ein Duft, sie zog an Decken und strich über Köpfe, ich setzte mich im Bett etwas auf und streckte ihr, weil es schon dunkel war und mich niemand beobachtete, die Arme entgegen wie ein kleines Kind. Sie beugte sich über mich und schloss mich in die Arme, aber zugleich schlug die Brille, die sie an einer Kette um den Hals trug, mir ins Gesicht, und mit einer ungeschickten Bewegung wich ich aus, wodurch die Umarmung missglückte, und ich sank heiß vor Scham, weil ich alles verdorben hatte, wieder in mein Kopfkissen. Wenige geglückte Umarmungen in meinem Leben, eine schwierige Geste... (Annette Pehnt: Briefe an Charley)  ^


Ein schwaches Glied in der Kette

Du hast dich nicht darüber gewundert, dich als weltfremd zu empfinden, sondern über die Tatsache gestaunt, dass die Welt ein Wesen hervorgebracht hatte, welches in ihr wie in der Fremde lebte. Bringen Pflanzen sich um? Sterben Tiere an Hoffnungslosigkeit? Nein, sie funktionieren oder verschwinden. Vielleicht warst du ein schwaches Glied in der Kette, eine Zufallserscheinung der Evolution. Eine kurzzeitige Anomalie, die nicht dazu bestimmt war, noch einmal aufzutreten. (Edouard Leve: Selbstmord) ^


Die Vorstellung vom ewigen Nichtsein

Wie war diese Angst? Ist sie bei anderen Leuten anders? Ich weiß es nicht. Plötzlicher, steigender Schrecken, der einen kalt erwischt; aufwallendes Verlangen zu schreien, was die Hausordnung (wie üblich) verbietet, so daß man mit offenem Mund in zitternder Panik daliegt; vollkommene Wachheit, die erst nach einer Stunde oder so nachläßt; und das alles als Hintergrund für und Symptom der zentralen, halb- visuellen, halb-intellektuellen Vorstellung des Nichtseins. Das Bild endlos zurückweichender Sterne, das sich das Unterbewußtsein - tumb und banal, wie es ist - wahrscheinlich vom Anfang der Universal Pictures Filme geholt hat; das Gefühl absoluten Alleinseins im eigenen pyjama-umhüllten, bebenden Körper; sich inne werden, daß die ZEIT (immer in großen Lettern) ohne einen weitergeht bis in alle Ewigkeit; und das quälende Gefühl, in diesem Zustand gefangenzusitzen, in den man von einem oder mehreren Unbekannten hineingelockt worden ist. (Julian Barnes: Metroland)  ^


Die Überstülpten

Doch das Leben ist verrückt, und ich möchte der Letzte sein, der alldem nachträglich einen Plan, einen tieferen Sinn überstülpt. Das tun schon andere. Man überstülpt uns tagtäglich. Wir sind am Ende immer die Überstülpten. Das ist keine Paranoia. Wie wahrscheinlich war es denn, daß Tamara ausgerechnet jemanden wie mich traf? Manchmal gerät selbst das rationalste Denken ins Wanken, und man erwägt die Vorstellung, daß der Himmel sich allerlei derbe Späße mit uns Irdischen erlaubt. Vielleicht wissen wir eines Tages mehr. (Helmut Krausser: Alles ist gut) ^


Leichte Lösungen

Alice ertappte sich bei der Überlegung, ob man das Leben lieber ernst oder leicht nehmen sollte. Oder war das ein falscher Gegensatz, nur eine andere Art von Hochmut? Wie ihr schien, nahm Jane das Leben leicht, bis es dann schiefging und sie nach ernsten Lösungen wie Gott suchte. Da nahm man das Leben lieber ernst und suchte nach leichten Lösungen. Spott, zum Beispiel; oder Selbstmord. Warum klammerten sich die Leute so an das Leben, dieses Geschenk, um das sie nicht gebeten hatten? In Alices Weltverständnis war jedes Leben ein Fehlschlag und Janes Gemeinplatz, man könne aus Fehlschlägen Kunst machen, nichts als ein wolkiges Hirngespinst. Jeder, der ein bisschen Ahnung von Kunst hatte, wusste, dass Kunst nie das bewirkte, was ihr Urheber sich erträumt hatte. Die Kunst musste immer versagen, und somit war der Künstler, statt etwas vor der Katastrophe des Lebens zu retten, zu zweifachem Scheitern verdammt. (Julian Barnes: Unbefugtes Betreten)  ^


Hypochonder

Er konnte krank sein, wenn er wollte oder wenn er sich vor der Krankheit fürchtete. Denn noch teurer als das Leben seiner Kinder, war ihm sein eigenes Leben. In stillen, nächtlichen Stunden hörte er den Tod galoppieren. Mit fürchterlichen Schreckbildern bedrohte ihn die Phantasie. Wenn der Herr Perlefter rheumatische Schmerzen im Bein hatte, erlebte er schon eine Amputation, sah er eine Krücke, einen Rollstuhl, einen Operationstisch und scharfe Messer. (Joseph Roth: Perlefter. Fragmente und Feuilletons aus dem Nachlaß)  ^


Einschillingfortsetzungen

In früheren Zeiten wurden große Ziele durch große Werke erreicht. Wenn es Mißstände abzuschaffen galt, machten sich die Reformer mit feierlicher Würde und mühsamen Argumenten an ihre schwere Aufgabe. Ein Zeitalter war damit beschäftigt, einen Übelstand nachzuweisen, und foliantenweise wurden philosophische Untersuchungen darüber gedruckt, die zu schreiben ein Leben und die zu lesen eine Ewigkeit in Anspruch nahm. Heutzutage gehen wir leichteren Schritts voran, und es geht auch schneller. "Ridiculum acri / Fortius et melius magnas plerumque secat res." Man merkt: Lächerlichmachen wirkt glaubhafter als Argument, imaginäre Qualen rühren stärker als wirklicher Kummer, und Fortsetzungsromane überzeugen immer noch, wenn gelehrte Quartbände schon nichts mehr ausrichten. Falls die Welt ins Lot gebracht werden sollte, dann wird es nur durch Einschillingfortsetzungen gelingen. (Anthony Trollope: Septimus Harding, Vorsteher des Spitals zu Barchester)


Zerzauste Männer

Hier stehen wir zwei von allen Wettern zerzauste Männer, der eine zu Land und zur See, im Kriege und in den Wäldern gehärtet und gehämmert und jeder Gefahr, welche die Materie dem Menschen droht, lachend (...) und doch – beide wie schwach und schwankend, wie hinfällig und nichtig in all ihrem Tun und Urteilen, in all ihrem Wollen und Vollbringen. Wohin wir uns wenden, stoßen wir gegen die Mauern, welche die dunkeln Hände gegen uns errichten. Vergeblich mühen wir uns in Zorn und Angst, knirschend und atmend ab und stemmen uns wider die Mächte, die unser spotten. Wir ringen nach Atem, Licht und Luft, und es gelingt uns auch wohl, von der Höhe eines Trümmerhaufens einen Blick in die Weite zu werfen und die Welt im goldenen Lichte der Schönheit und des Friedens liegen zu sehen. Dann dünken wir uns groß und gewaltig, rufen Sieg und merken nicht, wie hinter unserm Rücken die schwarzen Wälle während unseres eitlen kurzen Triumphes höher emporstiegen und wie wir nun da die Nacht haben, wo uns vor einer Stunde noch der helle Tag leuchtete. Wir riefen Sieg von der Höhe eines Trümmerhaufens, und aus den Spalten und Ritzen zu unsern Füßen klingt ein höhnisches Lachen: in unsern Triumph hinein wächst es auch vor uns wieder auf: Hinab, hinab, nieder in die Tiefe zu neuer vergeblicher Arbeit, zur Rechten oder zur Linken, bis in den Tod keuchend und ringend! (Wilhelm Raabe: Abu Telfan)


Pädagogisches Leiden

Wenn sich Kathrin an ihre Kindheit erinnerte, sah sie ihren Vater stets wütend oder mürrisch. Sie hatten niemals zusammen gelacht. Bis heute hielt Kron seine schlechte Laune für etwas Besonderes. Am liebsten pflegte er sie in aller Öffentlichkeit. Seiner Meinung nach plagte ihn kein alltäglicher Frust, sondern ein höherer Weltschmerz, der auf speziellen Kenntnissen über die Schlechtigkeit der Menschen beruhte. Kron glaubte, die Leute als Einziger so zu sehen, wie sie wirklich waren. Daraus folgte ein Leiden am Sein, das er seiner Umwelt präsentierte wie eine Trophäe. Da die Menschen sein Elend verursachten, sollten sie gefälligst auch hineinblicken wie in einen Spiegel. Mit anderen Worten, Krons schlechte Laune hatte pädagogische Qualität. (Juli Zeh: Unterleuten)


Kino als Trost

Leise, von einer eiernden Kassette arg verzerrt, erklang Musik, und ich erkannte die Melodie eines uralten Schlagers. Er stammt aus einer Filmrevue, wie man sie einst in den Studios des östlichen Stadtrands drehte, in jener fernen Epoche, als Kriegsterror und Mangel das Publikum zu allen Tageszeiten in die Kinos trieben. Ich selbst kann mich noch dunkel einer Großtante entsinnen, die, obschon vom jahrzehntelangen Wohlstand unförmig geworden, erneut hungrig und hohlwangig dreinzuschauen vermochte, wenn einer dieser Filme im Sonntagsnachmittagsprogramm des Fernsehens lief. (Georg Klein: Barbar Rosa)


Vorsätzliche Geburt

Diese Frau hat mir immer erzählt, sie wolle nur mein Bestes, und auf die Welt gebracht hat sie mich dann doch. Also, wenn man mal überlegt, wie viele Krimiserien oder Gefängnisse, Ermittlungen und Strafprozesse wegen Mord es gibt – aber wegen Geburt hat meines Wissens noch nie jemand vor Gericht gestanden. Weder wegen vorsätzlicher Geburt noch wegen fahrlässiger oder billigend in Kauf genommener Geburt und schon gar nicht wegen Aufhetzung zur Geburt! Und man muss ja auch bedenken, dass die Verbrechensopfer in dem Fall alle minderjährig sind! (David Grossman: Kommt ein Pferd in die Bar)


In der Einöde des Realen

Es kann keine Zivilisation geben, weil wir in der Einöde des REALEN leben. Unsere gesamte Erfahrung wird durch ein System vermittelt, dessen Tyrannei eben darin besteht, dass niemand es mehr kontrollieren will. Die Tyrannei besteht in der Abwesenheit des Tyrannen! Wir haben seit Benthams als Panoptikum angelegtem Gefängnis einen katastrophalen Fortschritt zu verzeichnen: Wir brauchen nicht mehr die Beaufsichtigung durch DEN ANDEREN, wir sind Gefangene unseres eigenen starren Blickes! (Edward St Aubyn: Der beste Roman des Jahres)


Einsam zu Weihnachten

Frau Hellwig lehnte an der Theke und rauchte. Es war still wie in einer Kapelle, aber warm und hell, und die aufsteigende Wärme drehte den Adventskranz unter der Decke. Auf dem Zapfhahn stand ein grellgrünes Christbäumchen, eine dieser handhohen, mit glitzerndem künstlichem Schnee bestreuten Papiertannen, die Fernfahrer auf dem Armaturenbrett befestigen. Die sieben Gäste saßen an sieben Tischen, jeder für sich allein, jeder eingeschlossen in seinen Kreis einer besonderen Einsamkeit, die keines anderen Menschen Einsamkeit vergleichbar war, weil seine Geschichte mit keiner anderen zu vergleichen war, die besondere, besonders schmerzliche Geschichte seiner Niederlagen und verlorenen Illusionen. (Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand)


Unter dem Joch des Lichtes

Finden Sie nicht auch, daß Licht übertrieben materialistisch ist und jedes Mysterium abtötet? Das Kind mag die Finsternis nicht, aber es braucht sie um einzuschlafen. Die Ratten werden verrückt, wenn man sie der Dunkelheit beraubt. Leider leben wir heutzutage unter dem Joch des Lichtes: Vergötterte Sonne, Scheinwerfer, allgegenwärtiges Neonlicht, das die Haut austrocknet und die Dinge verfälscht - wir erleiden die Tyrannei des Sichtbaren, den Despotismus der Helligkeit! (Henri-Frederic Blanc: Teufelei)


Leben ist Katastrophe

Niemand wird mir jemals, jemals einreden können, das Leben sei ein fantastisches, lohnendes Geschenk. Denn dies ist die Wahrheit: Leben ist Katastrophe. Die Grundtatsache des Daseins - des Umhergehens auf der Suche nach Nahrung und Freunden und all dessen, was wir sonst noch tun - ist Katastrophe. Vergesst all diesen "Unsere kleine Stadt"-Unsinn, den man sich erzählt: das Wunder eines neugeborenen Kindes, die Freude an einer einzelnen Blüte, dieses Leben-du-bist-unfassbar-wundervoll etc. Für mich gilt - und das werde ich stur wiederholen, bis ich sterbe, bis ich auf mein undankbares, nihilistisches Gesicht falle und zu schwach bin, um es noch einmal zu sagen: besser nie geboren als geboren in diese Kloake. In diese Jauchegrube mit ihren Krankenhausbetten, Särgen und gebrochenen Herzen. Keine Erlösung, keine Berufung, kein "Neustart", (...) kein Weg voran außer Alter und Verlust, kein Weg hinaus außer dem Tod. (..) Hat es denn irgendeinen Sinn zu wissen, dass es für uns alle ein böses Ende nimmt, selbst für die Glücklichsten, und dass wir schließlich alles verlieren, was wichtig ist - und doch auch zu wissen, dass es trotz alledem, und so grausam die Karten in diesem Spiel auch verteilt sein mögen, möglich ist, es mit einer Art Freude zu spielen? (Donna Tartt: Der Distelfink)

Gefangen in der Biologie

Für Menschen - gefangen in der Biologie - gab es keine Gnade: Wir lebten eine Weile, machten ein bisschen herum und starben dann, verrotteten in der Erde wie Abfall. Die Zeit zerstörte uns alle nur zu bald. Aber etwas Unsterbliches zu zerstören oder zu verlieren - Bande zu zerreißen, die stärker waren als das Zeitliche -, das war eine metaphysische Entkopplung ganz eigener Art, eine verblüffende neue Variante der Verzweiflung. (Donna Tartt: Der Distelfink)


Depression

Aber Depression traf es gar nicht. Es war ein freier Fall der Trauer und Abscheu weit jenseits alles Persönlichen: ein widerwärtiger, triefender Ekel über die ganze Menschheit und alles menschliche Streben von Anbeginn der Zeit. Die sich krümmende Widerlichkeit der biologischen Ordnung. Alter, Krankheit, Tod. Kein Entkommen für niemanden. Selbst die Schönen waren wie weiche Früchte kurz vor dem Verderben. Und trotzdem vögelten die Leute irgendwie immer weiter, setzten Kinder in die Welt, produzierten frisches Futter fürs Grab, brachten immer neue Wesen hervor, die leiden mussten, als ob es in irgendeiner Weise erlösend, gut oder sogar moralisch bewundernswert wäre, dass man weitere unschuldige Geschöpfe in dieses Spiel zerrte, in dem man nur verlieren konnte. Zappelnde Babys und schwerfällige, selbstzufriedene, Hormon-benebelte Mütter. Oh, ist er nicht süß? Aaahh. Kinder, die schreiend auf Spielplätzen herumrannten ohne eine Ahnung, welche zukünftigen Höllen sie erwarteten: langweilige Jobs, ruinöse Hypotheken, unglückliche Ehen, Haarausfall, künstliche Hüftgelenke, einsame Tassen Kaffee in einem leeren Haus und Kolostomiebeutel im Krankenhaus. Die meisten Menschen wirkten zufrieden mit der dünnen dekorativen Glasur und dem kunstvollen Bühnenlicht, die die grundlegende Scheußlichkeit des menschlichen Seins manchmal ein bisschen mysteriöser oder weniger abstoßend erscheinen ließen. (Donna Tartt: Der Distelfink)


Ein anhaltend falsches Leben

Bei starkem Regen empfand ich die allgemeine Ratlosigkeit als angenehm. Schon seit längerer Zeit machte es mir kaum noch etwas aus, den anderen Menschen immer mehr zu ähneln. (...) Weil es gerade regnete, konnte ich mir leichter als sonst eingestehen, dass ich als Überwinder bisher nur wenig Erfolg hatte. Während des Herumstehens im Regen gelang mir das Gefühl meiner momentweisen Abtrennung von der Welt. Dabei konnte ich mir die harmlose Freude am stillen Herumtrödeln nicht länger leisten. Ich musste den Schlingerkurs meiner Existenz endgültig beenden. Gegen die Ödnisse der Tage ging ich rücksichtslos vor, aber wie beendete man das Schwanken einer Biografie? Ich ahnte, dass ein anhaltend falsches Leben im Handumdrehen in ein Schicksal umschlagen konnte. Mein Innenleben war nicht so großartig, dass ich vor ihm keine Angst hätte haben müssen. Sonjas Vorwürfe klangen immer noch in mir nach. Du hast keine Zukunft, du hast keinen Halt, du hast nicht einmal eine Gegenwart, du hast nichts. Die Wucht dieser Litanei traf mich etwa zweimal in der Woche. (Wilhelm Genazino: Bei Regen im Saal)


Fast ein freudiger Zorn

Philip dachte an die unzähligen Millionen Menschen, für die das Leben nur eine endlose Arbeit ist, nicht schön, nicht hässlich, sondern einfach hinzunehmen wie die Jahreszeiten. Ein ohnmächtiger Zorn ergriff ihn, weil alles so sinn- und zwecklos schien. Er konnte sich nicht damit aussöhnen, dass das Leben keinen Sinn hatte, und doch überzeugten ihn seine Erfahrungen und seine Gedanken immer mehr, dass es so war. Aber der Zorn, der ihn ergriff, war fast ein freudiger Zorn. Das Leben verlor seinen Schrecken, wenn es sinnlos war, und er stellte sich ihm mit einem seltsamen Gefühl der Macht. (W. Somerset Maugham: Der Menschen Hörigkeit)


Wie eine Maschine

Er handelte, als wäre er eine Maschine, die von zwei Kräften angetrieben wird: seiner Umwelt und seiner Persönlichkeit; sein Verstand war wie ein Zuschauer, der die Ereignisse beobachtete, aber nicht die Macht hatte einzuschreiten: wie jene Götter des Epikur, die die Taten der Menschen von den himmlischen Höhen aus sehen, aber keine Macht haben, auch nur den kleinsten Teil dessen, was geschieht, zu verändern. (W. Somerset Maugham: Der Menschen Hörigkeit)


Zerrinnendes Glück

Das Leben der Menschen, begriff ich, verschlechterte sich zusehends, je älter man wurde. Man kam auf die Welt mit Babyhänden und Babyfüßchen und kannte nichts als unendliches Glück, und dann ließ das Glück allmählich nach, im gleichen Maß, in dem Hände und Füße wuchsen. Ab der Teenagerzeit begann das Glück einem durch die Finger zu rinnen und gewann dabei immer mehr an Masse. Es war, als führte die Erkenntnis, dass man es verlieren konnte, dazu, dass es noch schwerer zu halten war, egal wie groß die Füße und die Hände waren. (Matt Haig: Ich und die Menschen)


Der Sinn des Lebens

Um mich wie ein Mensch zu verhalten, musste ich die Menschen verstehen, also stellte ich ihr die weitreichendste Frage, die mir einfiel. "Was, denken Sie, ist der Sinn des Lebens? Haben Sie ihn gefunden?" "Ha! Der Sinn des Lebens. Der Sinn des Lebens. Es gibt keinen. Die Menschen suchen nach allgemeinen Werten und Sinn in einer Welt, die so etwas nicht nur nicht bietet, sondern die dem Menschen gegenüber auch vollkommen gleichgültig ist. Das ist jetzt nicht wirklich Schopenhauer. Das ist eher Kierkegaard via Camus. Meine Linie. Das Problem ist, wenn man Philosophie studiert und aufhört, an einen Sinn zu glauben, fängt man an, Medikamente zu brauchen." (Matt Haig: Ich und die Menschen)


Midlife-Krise

Er hatte jene Phase in seinem Leben erreicht, in der sich ihm mit wachsender Dringlichkeit eine Frage von solch überwältigender Einfachheit stellte, dass er nicht wusste, wie er darauf reagieren sollte. Er begann sich nämlich zu fragen, ob sein Leben lebenswert sei, ob es das je gewesen war. Alle Menschen, vermutete er, stellten sich zu dem ein oder anderen Zeitpunkt gewiss diese Frage, doch hätte er gern gewusst, ob sie sich ihnen mit solch unpersönlicher Wucht aufdrängte wie ihm. Die Frage ging mit einer Trauer einher, einer unbestimmten Trauer, die (so nahm er an) nur wenig mit ihm selbst oder seinem besonderen Los zu tun hatte; ja, er war sich nicht einmal sicher, ob sie sich ihm aus dem unmittelbar gegebenen, offensichtlichen Anlass stellte, also den kürzlichen Veränderungen in seinem eigenen Leben. Sie rührte, glaubte er, eher aus der Anhäufung seiner Jahre her, aus der Verdichtung von Zufall und Umstand sowie aus dem, was er darunter zu verstehen gelernt hatte. Er fand ein ebenso grimmiges wie ironisches Vergnügen an der Möglichkeit, ihn habe jenes bisschen Bildung, das er sich erworben haben mochte, zu folgender Einsicht geführt: Letzten Endes war alles, selbst das Studium, das ihm dieses Wissen ermöglichte, sinnlos und vergeblich und gerann zu einem unabänderlichen Nichts. (John Williams: Stoner)


Übel vor Qual

Es gab sonst niemanden, der sich um sie kümmerte. Er hatte es so gewollt, und nun war es so. Seine Welt hatte sich wieder um ihn geschlossen, er war mit Handschellen und Ketten an sie gefesselt. Er fühlte sich wie ein Mann, der nach einem Eisenbahnunglück plötzlich das Bewusstsein wiedererlangt und merkt, dass er von einem schweren Gewicht zu Boden gedrückt wird. Langsam, aber unaufhaltsam strömte die Wirklichkeit in ihn zurück, und ihm war übel vor Qual. (Edith Wharton: Ein altes Haus am Hudson River)


Unsinnige Anforderungen

Der Mensch fließt doch meist durch sein Leben, bis er auf einen anderen Menschen trifft, der ihm mit unsinnigen Anforderungen den Weg verstellt: beiseitezutreten, zu arbeiten, nicht zu rauchen, leise zu sein, die Tür nicht zu schlagen, zu beten, sich zu verhüllen, den Müll zu trennen, so etwas, und das erzeugt ein Gefühl des Widerwillens. Soll man das artikulieren? Meist verfügt man doch über gute Laune oder schlechte; die Gefühle sind Zufriedenheit oder Unzufriedenheit. Im zweiten Fall versucht man, als von der Freundlichkeit des Geburtsortes beschenkter Westeuropäer, die Unzufriedenheit zu beseitigen, indem man den Ort oder das Personal ändert, das einem Unwohlsein bereitet. Oder man liest ein paar Tage keine Zeitung und sieht kein Fernsehen, denn der Zustand der Welt kann einem schon unangenehme Gefühle bereiten, die man dann mit seinem Partner besprechen will. (Sibylle Berg: Wie halte ich das nur alles aus?)


Fortwährend scheppern

Strammstehen hieß die Devise, zu jeder Stunde, strammstehen für Wichtiges oder irgendeinen Murks, auf daß alles fortwährend schepperte und funktionierte; unverwüstlich, smart sollte ein jeder neuerdings sein, sonst hire and fire, Job haben, Job weg, wie in den USA; die Menschheit schien seit den Kriegen nicht mehr aus den Lauf- und Schützengräben herausgekommen zu sein, sich selbst laden, sich selbst abfeuern, Existenz als Tretmine und Knallkörper, nicht schön - häßlich, abgeschmackt, gehetzter Radau statt gepflegten Umgangs miteinander und nicht zuletzt mit sich selbst. Budapester Gulaschträume hatten sich wohl erledigt. Ein Jammer. Der Mensch lebte nicht mehr, er wurde gelebt. Niederträchtig. Dagegen müßte eine Revolution aufflammen, die Revolte mit dem Motto: Ich bin ich, ich gehe einen Schritt langsamer, ich lege mich ins Bett und zwar gerade, weil es hellerlichter Tag ist und ich flitzen soll! Ich bin mein Aufstand. Gegen das, was ihr, die ihr euch als entscheidend aufspielt, von mir wollt. Ich will mich und meine tiefe, tiefe Pause. (Hans Pleschinski: Königsallee)


Das Grauen der Natur

"Eine Wiese ist ein einziges Feld des Leidens. Jede Sekunde stirbt in diesem schönen Grün irgendein Geschöpf, Ameisen fressen lebendige Regenwürmer auf, und in der Höhe kreisen die Vögel und halten Ausschau nach Hasen oder Mäusen. Siehst du die schwarze Katze dort, wie sie reglos im Gras lauert? Sie wartet nur darauf, daß sich ihr eine Gelegenheit zum Töten bietet. Diese naive Verherrlichung der Natur ist mir zuwider. Glaubst du etwa, eine Hirschkuh packte im Rachen eines Tigers ein kleineres Entsetzen als dich, wenn du darin wärst? Die Menschen haben sich ausgedacht, daß ein Tier nicht die gleiche Leidensfähigkeit hat wie der Mensch, weil sie sonst den Gedanken nicht ertragen könnten, von einer Natur umgeben zu sein, die Grauen und nichts als Grauen ist." (Milan Kundera: Die Unsterblichkeit)


Das Neue Jahr

Ich hatte bei einem alten Freund Silvester gefeiert und mich vollaufen lassen wie fünfhundert Säue. Zu meiner Rechtfertigung muß ich sagen, daß ich mich keineswegs aus Freude betrunken hatte. Sich über einen solchen Quatsch wie das neue Jahr zu freuen ist meiner Meinung nach dumm und der menschlichen Vernunft unwürdig. Das neue Jahr ist genauso Dreck wie das alte, nur mit dem Unterschied: das alte Jahr war schlechte und das neue Jahr wird noch schlechter sein... meiner Meinung nach soll man sich zum Jahresbeginn nicht freuen, sondern leiden, weinen und Selbstmordversuche machen. Man darf nicht vergessen - je neuer das Land, desto näher der Tod, desto größer die Glatze, desto tiefer die Falten, desto älter die Frau, desto zahlreicher die Kinder, desto weniger Geld. (Anton Cechov: Gespräch eines Betrunkenen mit einem nüchternen Teufel. Erzählungen)


Der grausame Schöpfer

Ich habe nie viel vom Leben erwartet. Am liebsten hätte ich mein Dorf nie verlassen. Unsere Berge, Wälder und Flüsse hätten mir genügt. Allzu gern hätte ich mich vom Geschrei der Welt ferngehalten, aber um mich herum lebten Völker, die beschlossen hatten, sich gegenseitig zu vernichten. Ganze Länder sind untergegangen und jetzt nur noch Namen in den Geschichtsbüchern. Sie sind übereinander hergefallen, haben geplündert, vergewaltigt und zerstört. Und nicht immer hat die Gerechtigkeit die Niedertracht besiegt. Warum musste gerade ich wie viele meiner Zeitgenossen dieses Kreuz tragen, das zu schwer ist für meine schmalen Schultern, warum musste ich einen Leidensweg gehen, den ich nicht selbst gewählt hatte? Wer hat meine bescheidene Ruhe gestört, meine graue Existenz ans Licht gezerrt? War es Gott? Dann sollte er, falls es ihn wirklich gibt, lieber in Deckung gehen. Er sollte sich schön ducken. Mag sein, dass es stimmt, was der Pfarrer Peiper uns früher gelehrt hat, dass viele Menschen Gottes nicht würdig sind, aber heute weiß ich, dass auch Gott der meisten von uns nicht würdig ist; denn die Menschen sind grausam miteinander, aber er ist der Schöpfer: Er hat den Menschen die Grausamkeit beigebracht. (Philippe Claudel: Brodecks Bericht)


Wege finden und gehen

"Ich bin hiergeblieben", sagt er, "weil sich beruflich die Möglichkeit ergeben hat und weil es sich für eine relativ kurze Zeit richtig angefühlt hat, diesen Bruch zu vollziehen. Ihnen stößt etwas zu, und statt sich dagegen zu stemmen, geben Sie der Veränderung nach, folgen ihr noch ein Stück weiter, als Sie gezwungen worden sind. Letztlich ein Versuch, die Hoheit über das Geschehen zurückzugewinnen, weil Sie am Ende an einem Punkt landen, zu dem Sie aus freien Stücken gelangt sind. Das Maß Ihrer Freiheit sozusagen. Es fragt sich aber, wie lange Sie sich nähren können von dem guten Gefühl, Ihr Schicksal selbst bestimmt zu haben. Oder anders gefragt: Wie lange ist die Halbwertszeit von Stolz?" (Stephan Thome: Grenzgang)


Nach welchem Schlüssel

... stellt man sich die Frage, wie das Schicksal eigentlich die Opfer auswählt. Nach welchem Schlüssel. Gerecht, ungerecht. Warum überlebt man einen Flugzeugabsturz oder ein Fährunglück. Warum verpasst einer aus irgendwelchen Gründen das Schiff, das untergehen wird. Zu spät am Hafen, obwohl er sonst immer überall zu früh hinkommt. Und ein anderer, der nicht selten Züge, Flugzeuge und Fähren verpasst, ist ausnahmsweise mal pünktlich am Check-in. Hat der eine im Leben nur Pech und der andere nicht. Als säße Gott im Himmel mit einer riesigen Fliegenklatsche. Habe sich ein Menschlein ausgesucht unter Milliarden. Ein Schlag. Das Menschlein aber, nicht richtig getroffen, nur Krebs, krabbelt weiter. Gott schleicht ihm nach mit erhobener Klatsche. Patsch. Noch immer lebt der Mensch. Gott ärgert sich. Patsch, patsch, patsch. Hier ein Infektiönchen, dort eine Metastase, bis der Mensch endlich tot ist. (Ursula Fricker: Außer sich)


Das Greuelthema vom Tag

"Ich halte diese Erleichterung beim Aufwachen für völlig fehl am Platz", sagte ich. "Erleichtert, weil alles beim alten ist... Gerade darin, daß alles beim alten ist, besteht ja das Greuliche. 'Sei froh, daß es nur ein Traum war.' Blödsinn. Laß uns dochmal über den Alptraum sprechen, der uns auch nach dem Aufwachen noch ins Genick bläst... den ganzen Tag über... den Kragen hochzustellen bringt nichts... Mir ist das klare Wachs lieber, das neben meiner toten Liebsten herunterfließt. Das Eigelb von meinem Frühstück, das tropft geradewegs aus der Hölle... Verglichen mit dem Greueltraum vom Tag ist der nächtliche Alptraum eine blasse Geschichte, die man sich erzählt, um die Zeit des Schlafens rumzubringen. Die Natur hat die Bewußtlosigkeit für den Menschen erfunden, damit er einem unerträglichen Schmerz entrinnt. Genauso hat sie den Alptraum zusammengebastelt, um unsere Aufmerksamkeit ein wenig von dem knallharten realistischen Traum abzulenken, der das Wachsein für uns ist... einem, der sich im Gegensatz zu der Amateurbühne nachts echter Messer und echten Bluts bedient... Und so wie Bewußtlosigkeit keinen Schutz vor dem Tod bietet, kann der Alptraum nichts gegen die Wirklichkeit ausrichten. (A.F.Th. van der Heijden: Unterm Pflaster der Sumpf)


Hunde

Hunde sind doch von uns gezüchtet worden, in mühevoller Arbeit von Generation zu Generation. Aber was hatte die langsame Heranzüchtung der Spezies Hund eigentlich für einen Zweck? Bewachung von Grundstücksgrenzen und Schafherden, Spielgefährte des Menschen, na ja ... Herausgekommen ist diese seltsame Liebesmaschine, die ihren Herrn anhimmelt ... Vielleicht war’s auch so gedacht, ein Tier zu schaffen, mit dem man kommunizieren kann. Einen sentimentalen Gefährten, der die Einsamkeit der eigenen Spezies weniger vollkommen, weniger lückenlos und absolut erscheinen lässt. (Clemens J. Setz: Indigo)


An den Absender zurück

Sie war einer jener unglücklichen Menschen, die das Geschenk des Lebens, um das sie nicht gebeten haben, gerne an den Absender zurückgesandt hätten. Ihr war die Vergänglichkeit klar, und das Wissen darum war ihr keine Befreiung. Sie konnte, je älter sie wurde, immer weniger verstehen, warum man gegen seine Müdigkeit ankämpfen soll. Schmerzen überstehen, einen Krebs bekämpfen, verlorene Liebe überleben, sich gesund halten und fit, sich bilden und zu einem gütigen Menschen entwickeln, wenn man doch schon bald unter der Erde liegt, von allen vergessen. (Sibylle Berg: Vielen Dank für das Leben)


Wenn man Tränen schreiben könnte

Und Kleist sagte: "Wenn ich vergessen könnte, daß diese Welt nichts, aber auch gar nichts auf meine Person hält, ich würde jetzt Gründe finden, um nachdenklich zu sein." Und: "Denken Sie nur, diese unendliche Fortdauer! Millionen von Zeiträumen, jedweder ein Leben, und für jedweden eine Erscheinung wie diese Welt. Ich hatte nie etwas mit ihr zu schaffen. Ja, wenn man Tränen schreiben könnte... (Hartmut Lange: Die Waldsteinsonate. Novellen, S. 80)


Anklage

Er forderte Gott auf, ohne Ausflüchte zu sagen, warum er ein Leben, das sinnlos genannt werden mußte, überhaupt zuließ, und warum er ihn, ja immer nur ihn, der wie kein anderer darum bemüht gewesen war, dem Himmel ähnlich zu sein, gehindert hatte, die kleinste Seligkeit einen kurzen Augenblick lang zu egreifen und bei sich zu behalten. (Hartmut Lange: Die Waldsteinsonate. Novellen, S. 75)


Keine Art zu leben

Er entschuldigte sich für seine unangemessene Gereiztheit. Er wäre nun, versicherte er, vollkommen von der Unmöglichkeit seiner Existenz überzeugt, besonders aber davon, daß das Alleinsein keine Art zu leben genannt werden könne, und daher hätte er jetzt, nachdem er so vermessen gewesen sei, das Unmögliche doch wieder einmal zu wagen, den Wunsch nach angemehmer Gesellschaft. (Hartmut Lange: Die Waldsteinsonate. Novellen, S. 31)


Ich bin zu dumm

Ich bin zu dumm, um die Welt zu verstehen, und ein Tag wirft mich dem andern wie einen Ball zu. (...) Alles, was mir das Frölen und der Ritter in der Jugend an Weltkenntnis und Verständnis und Feinheit beigebracht haben, geht unter und verloren in dem Tumult um mich her. Alles ist ganz anders, als ich es mir einbildete, und alle Augenblicke hüpfe ich mit dem Schienbein in beiden Fäusten wie wahnsinnig im Kreis herum, weil ich mich mit dem Knie an irgendeinem unbekannten Gegenstand gestoßen habe. (Wilhelm Raabe: Der Schüdderump)


Solche Tage

Ein jeglicher hat solche Tage, an welchen ihn alle Illusionen verlassen, an welchen der Pomp, die Pracht und das Vergnügen seines Daseins stückweise von ihm abfallen, Tage, an welchen er zwar nicht minder sich täuschen läßt, jedoch nicht durch den lachenden Schein und das behagliche Blendwerk, durch welches für gewöhnlich gütige Götter seinen Pfad bunt machen und verkürzen. (Wilhelm Raabe: Der Schüdderump)


Der nächste Impuls

Zurzeit befand er sich indes in einem Schwebezustand zwischen Fanatismus und absoluter Indifferenz, und in welche Richtung es gehen würde, lag nur noch am nächsten Impuls. Das Leben war ihm in diesem Sommer so sauer geworden, daß er jeden Regentag schadenfroh begrüßt hatte und es relativ angenehm fand, wenn jetzt das eine oder andere welke Blatt über die Sandwege raschelte. (August Strindberg: Das Rote Zimmer, S. 297)


Angestiftet zum Widerstand

"Warum", so fragte ich mich, "hat uns die Natur so gewollt? Wenn sie uns mit den gleichen Gefühlen ausgestattet hätte wie die meisten Menschen, hätte sie uns viel Leid erspart; zum Beispiel hätte sie aus mir das gemacht, was ich überhaupt nicht bin, ein soziales Wesen, fähig das natürliche Glück seiner Umwelt zu empfinden. Aber die Natur gibt sich manchmal anarchistisch. Könnte man nicht sagen, daß sie bestimmte Individuen auswählt, um sie zum Widerstand anzustiften? Nicht etwa zum Widerstand gegen sie selbst, wie man behauptet hat, sondern zum Widerstand gegen die Moral, und das ist etwas ganz anderes." (Julien Green: Der Übeltäter, S. 156)


Schwarze Schraffur

... so sehr bin ich am Abend heimgesucht worden von den grauenvollsten, manchmal Stunden um Stunden anhaltenden und immer weiter sich steigernden Angstzuständen. Es nutzte mir offenbar wenig, daß ich die Quellen meiner Verstörung entdeckt hatte, mich selber, über all die vergangenen Jahre hinweg, mit größter Deutlichkeit sehen konnte als das von seinem vertrauten Leben von einem Tag auf den anderen abgesonderte Kind: die Vernunft kam nicht an gegen das seit jeher von mir unterdrückte und jetzt gewaltsam aus mir hervorbrechende Gefühl des Verstoßen- und Ausgelöschtseins. Inmitten der einfachsten Verrichtungen, beim Schnüren der Schubänder, beim Abwaschen des Teegeschirrs oder beim Warten auf das Sieden des Wassers im Kessel, überfiel mich diese schreckliche Angst. In kürzester Frist trocknete die Zunge und der Gaumen mir aus, so als läge ich seit Tagen schon in der Wüste, mußte ich schneller und schneller um Atem ringen, begann mein Herz zu flattern und zu klopfen bis unter den Hals, brach mir der kalte Schweiß aus am ganzen Leib, sogar auf dem Rücken meiner zitternden Hand, und war alles, was ich anblickte, verschleiert von einer schwarzen Schraffur. (W. G. Sebald: Austerlitz, S. 326)


Mit sich konfrontiert

Ich neige nicht zur wohligen Selbstbetrachtung, schaue auch nicht länger als nötig in den Spiegel. Ich will von mir nicht allzuviel wissen und sehen. Jeder Friseurbesuch und jeder Kleiderkauf ist mir unangenehm. Nichts gegen Friseusen und eine anregende Kopfwäsche, und auch nichts gegen eine neue Hose. Aber daß man beim Friseur vor einen Spiegel gesetzt wird, um sich fortlaufend anzustarren, ist eine Nötigung. (Hans- Ulrich Treichel: Anatolin, S. 59)


Lärmbelästigung

Durch meine Geräuschempfindlichkeit lebe ich in einer Art Dauerlärmangst. Früher waren Samstag und Sonntage ruhige Tage. Die Autos blieben zwei Tage am Straßenrand stehen, umhergrölende Fußballfans gab es noch nicht, offene Fenster mit dröhnender Popmusik auch nicht. Heute ist das Wochenende außerdem die Zeit der rasenden Heimwerker. Überall heulen Bohrmaschinen, Schleifmaschinen, Fräsmaschinen und Hochdruckreiniger auf. Das gewöhnliche Unglück tritt ein, wenn ein Mann und eine Maschine zueinanderfinden. Mann + Motor = Lärm. (Wilhelm Genazino: Mittelmäßiges Heimweh)


Automaten

Ich betrachte Reisende, die sich an den neuen Ticket- Automaten versuchen und dabei scheitern. In meiner Jugend brauchten die Menschen noch ihr ganzes Leben, um sich alt vorzukommen. Heute genügt die Auswechslung einiger Logos und Automaten, und die Menschen, selbst die jungen, fühlen sich überrumpelt, ausgesondert oder gar kaltgestellt. Eine undeutliche Empörung gegen Übervorteilung und Überforderung treibt die unwillig gewordenen Automatenbenutzer umher, ein bißchen verdutzt, weil sie nicht wissen, ob ihnen Ressentiment gegen die Automaten zusteht oder nicht. (Wilhelm Genazino: Mittelmäßiges Heimweh)


Kein goldener Mittelweg

... wurde der Gedanke, es sei dem Menschen im Grunde unmöglich, wirklich in einen Zustand der Ordnung zu geraten, zur Faszination, nein, Obsession für ihn. Das machte ihm angst, mehr noch als damals, als er bis zum Hals im Chaos versunken gewesen war. Dieses Unvermögen des Menschen, seine Angelegenheiten ordnungsgemäß zu regeln, war vielleicht eine vom Schöpfer, oder wie hieß dieser Lumpenhund noch gleich, absichtlich eingeführte Metapher für die Endlichkeit des Lebens. Im unzureichenden Archiv des Daseins, in dessen unvollständigen Ordnern, verriet sich diese Endlichkeit. Vielleicht war aber auch gar kein schöpferischer Lumpenhund im Spiel, vielleicht sorgte der Mensch unbewußt, aus instinktiver Selbsterhaltung, für eine Art Reserve an Unordnung, um sich gegen den Glauben an ein "ewiges Leben" auf Erden zur Wehr zu setzen. Diesen Spielraum an Ungeordnetheit nannte Albert für sich: die Ungehorsamkeit des Täglichen Lebens, die, so notwendig sie auch erscheinen mochte, einen Menschen ganz schön aus der Bahn zu werfen, ihm die Laune zu verderben und ihm, da schon geringe Unordnung zu komplettem Chaos führen konnte, sogar einen Schubs an den Rand der Verzweiflung und des Selbstmords zu geben vermochte. Wo lag hier das Geheimnis, der goldene Mittelweg? (A.F.Th.van der Heijden: Der Gerichtshof der Barmherzigkeit, S. 91)


Unvollkommener Abguß

Demiurg... hab immer geglaubt, das wär ein Chirurg, der mit seinem Studium erst halb fertig ist. Gott hat diesen ganzen verdammten Krempel, den wir die Welt nennen, schließlich auch als eine Art unvollkommenen Abguß von etwas viel Schönerem gemacht... von etwas viel Idealerem, das Ihm zur Verfügung stand. Während wir uns, so gut es eben geht, mit diesem Abguß begnügen mußten... ohne das Original jemals zu Gesicht bekommen zu haben. Das liegt bei Gott im Tresor, und der goldene Schlüssel hängt Ihm an einer Kette um den Hals. (...) Ich meine nur, es wird Zeit, sich an Gott zu rächen, daß er den Bauplan für unsere Welt hat verschwinden lassen. (A.F.Th.van der Heijden: Der Gerichtshof der Barmherzigkeit, S. 40)


Rundgehen

Jedes Hirn ist wie ein Zirkus, wo ewig ein armes, eingeschlossenes Pferd im Kreise geht. Wie immer wir uns anstrengen, Abweichungen zu suchen, Haken zu schlagen, die Grenze ist nahe und gleichmäßig gerundet, ohne unvorhersehbare Ausbuchtungen und ohne Tür ins Unbekannte. Man muß rundgehen, immer rundgehen in den gleichen Ideen, den gleichen Freuden, den gleichen Scherzen, den gleichen Gewohnheiten, dem gleichen Glauben, dem gleichen Ekel. (Guy de Maupassant: Novellen 1875-1881, S. 278)


Du sollst nicht lieben

Lieben, ohne geliebt zu werden, das dürfte es nicht geben. (...) Wenn die Schöpfung je daran interessiert gewesen sein sollte, die Erde, das Menschenleben auf dieser Erde erträglich zu machen, dann fehlte in den Anweisungen, die der Herr durch Moses den Menschen gegeben hat, die wichtigste. Du sollst nicht lieben. Das ist das Gebot Nummer 1. Wahrscheinlich war Moses, als er den 2244 Meter hohen Gesetzgebungsberg erstiegen hatte, zu erschöpft und kriegte das erste Gebot, das der Herr erließ, gar nicht mit. Ein tragisches Versäumnis und nicht wiedergutzumachen. Wenn Moses dieses Gebot mitgebracht hätte vom Sinai, hätte der Menschheit nichts gefehlt außer der Tragödie. Der Ursprung jeder Tragödie ist immer die Liebe gewesen. Und so leicht wäre es gewesen, auszukommen ohne Liebe! Zur Fortpflanzung war sie noch nie nötig. Wozu also Liebe? Daß wir merken, wir leben nicht mehr im Paradies. Daß kein menschliches Leben ohne Leiden bleibe. Keins. Der Herr war klug genug. Ich bin ein eifersüchtiges Gott, hat er dazu gesagt. (Martin Walser: Ein liebender Mann, S. 70)


Alles immer richtig

Wie schnell ist die Erde, gerade eben noch unermeßlich groß und reich, zu einer hypertrophen Fußgängerzone mit ein bißchen Meer dazwischen geworden. Wenn heute einer in Zürich die Ellbogen anwinkelt, fällt in Somalia einer um. Jedes Vorurteil muß nun der Prüfung des sorgfältig bedachten Urteils standhalten. Es gibt keine "Neger" mehr, sowieso nicht. Es gibt nicht einmal mehr Ostfriesen, über die man Witze reißen könnte, weil sofort eine Selbsthilfegruppe echt Betroffener aus Westerholt oder Dornum den Witzeerzähler in Stücke fetzt. Raucher werden von Nichtrauchern erschlagen, Musikalische von Unmuskalischen, Unsichere von Sicheren. Es gibt keinen Raum mehr für das Falsche. Alles muß richtig sein, immer, gnadenlos. (Urs Widmer: Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück, S. 265)


Kommunikationsunmöglichkeit

Man kann Löcher in die Kerkermauern zu schlagen versuchen, die Ohren auf die Steine legen - was geht dort draußen vor? -, Kisten und Tische besteigen und durch Luken spähen: Dennoch erfährt man nie mit der wünschbaren Präzision, wie die Welten der andern aussehen. Ob sie auch Höllen sind, ähnliche, andere. Die Kommunikation ist ein Irrsinn, den wir nur aushalten, indem wir ihn ignorieren. Wir tun so, als seien die von uns gebrauchten Wörter für alle deckungsgleich, während sie doch eher Schrotkugeln gleichen, die wir in den riesigen Himmel der Kommmunikation schießen, in der Hoffnung, einmal doch den Albatros des Verstandenwerdens zu treffen, oder wenigstens eine Taube des Halbwegsverstehens. (Urs Widmer: Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück, S. 148)


Geld=Terrorgesellschaft

Unsere Ängste hingegen haben oft und nicht ohne Gründe mit den sozialen Bedingungen zu tun, in denen das Schicksal uns zu leben zwingt. Mit Geld eben. Die Geldgesellschaft ist, unausweichlich, eine Terrorgesellschaft. Die einen üben den Terror aus, zu ihrem Gewinn, die andern erleiden ihn. Wo Geld ist, ist auch Macht, und wo Macht ist, wird sie auch ausgeübt. Heute muß man keinen mehr ausschicken, das Fürchten zu lernen, wie im Märchen. Glitschig nasse Fische, die schlimmstmögliche Angst von damals, beeindrucken uns nicht mehr. Heute werden wir Tag für Tag mit Informationen überschüttet, die uns das Fürchten so sehr lehren könnten, daß es im Gegenteil ein Wunder ist, daß wir das, was wir wissen, in der Regel relativ unbeschadet aushalten. Daß uns die Erkenntnis der Menge des Entsetzens auf dieser Erde nicht längst zerfetzt hat. Denn nähmen wir an all dem Schrecken wirklich und angemessen teil, wir überlebten ihn keinen Tag. Die Gemetzelten, die Erschlagenen, die Verhungernden, die Verblutenden. Millionen und Abermillionen Ermordete. (Urs Widmer: Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück, S. 18)


Fernsehschutt

Fernsehkrimi. Ein Reicher stellt dem Liebhaber seiner Frau eine Falle, erschießt dann aber den Falschen. Wie fast jeden Abend ärgere ich mich, daß ich es nicht fertigbringe, aus einem noch so albernen oder langweiligen Krimi auszusteigen, wieder frage ich mich, wo der ganze Fernsehschutt der Jahrzehnte in mir eigentlich abgelagert sein mag, oder was ich alles hätte tun können, anstatt vor der Röhre zu sitzen, mein Zugeständnis an den Zeitgeist. (Christa Wolf: Ein Tag im Jahr. 1960-2000, S. 488)


Das Ende der Absonderung

Allenthalben beginnt heutzutage der Verstand der Menschen nicht mehr einzusehen, daß die wahre Sicherstellung der Person nicht in ihrer einsamen persönlichen Anstrengung besteht, sondern im allgemeinen Zusammenspiel der Menschen als ein Ganzes. Aber es wird doch unbedingt so geschehen, daß auch für diese schreckliche Vereinsamung die Frist ablaufen wird, und alle werden dann auf einmal begreifen, wie unnatürlich es war, sich von einander abzusondern. (Fedor M. Dostoevskij: Die Brüder Karamasow)


Periode menschlicher Vereinzelung

"Um die Welt zu ändern, sie neu zu gestalten, müssen zuvor die Menschen sich selbst psychisch umstellen und eine andere Richtung einschlagen. Bevor man nicht innerlich zum Bruder eines jeden geworden ist, kann kein Brudertum zur Herrschaft gelangen. Niemals werden die Menschen mit Hilfe einer Wissenschaft oder um eines Vorteils willen durch äußere Hilfsmittel es fertigbringen, ihr Eigentum und ihre Rechte so untereinander zu verteilen, daß niemand zu kurz komme und sich nicht gekränkt fühle. Immer wird es jedem zu wenig scheinen und immer wird man einander vernichten. Sie fragen, wann sich das verwirklichen wird? Es wird sich verwirklichen, aber zuerst muß sich die Periode der menschlichen Vereinzelung vollenden." - "Was für einer Vereinzelung, die jetzt überall herrscht, und namentlich in unserem Jahrhundert, die aber noch nicht ganz abgeschlossen ist, deren Frist noch nicht abgelaufen ist. Denn jetzt strebt doch ein jeder nur danach, seine Person möglichst abszusondern, ein jeder möchte in sich selber die ganze Fülle des Lebens erfahren, dabei aber ist das Ergebnis all seiner Anstrengungen, statt der Fülle des Lebens, nur vollständiger Selbstmord, denn statt die volle Entfaltung des eigenen Wesens zu erlangen, verfallen sie nur vollkommener Vereinzelung. (Fedor M. Dostoevskij: Die Brüder Karamasow)


Einfach vorwärts gehen

Wir gehen einfach vor uns hin und hoffen, daß uns etwas widerfährt. Da das Glück nun mal nicht zu uns kommt, müssen wir ihm entgegengehen. Was bleibt Unglücklichen wie uns anderes übrig, als voranzugehen in der Hoffnung, daß uns etwas Neues passiert? Wir gehen, solange die Kräfte reichen, bis wir nicht mehr können, und dann wird man weitersehen, uns kann ja nichts Schlimmeres mehr passieren. Sind wir denn nicht das Mittelmäßige, das Kranke, das Schwache dieser Welt? (Emmanuel Bove: Schuld)


Ein aufreibender Widerspruch

Gerade mit dieser Sehnsucht des Erwachsenen treiben die Profiteure der Gesellschaft ein Doppelspiel, kein Wunder, daß die Sehnsucht dann zu großer Wut wird. Einerseits verbieten sie ihm, seine Wünsche auch nur andeutungsweise auszuleben: innerhalb eines Produktionsprozesses ist wenig Platz für Allmachts- Sehnsüchte. Andrerseits funktioniert, in einer bösartigen Ironie, das Leistungsprinzip gerade dadurch, daß es dem einzelnen die Hoffnung vormacht, er könne doch vielleicht einmal der größte sein. Die Gesellschaft lockt den einzelnen, mit voller Kraft in ein Leistungsrennen einzusteigen, in dem dann nur der eine Chance hat, der seine persönlichen Wünsche aufgibt. Es ist ein aufreibender Widerspruch. Verzweifelt geht er schließlich der Werbung auf den Leim, die in derselben Wunde wühlt. Er gibt sich mit den Symbolen seiner Wünsche von früher zufrieden, statt mit den erfüllten Wünschen selber. Er raucht die Zigarette, die einen Hauch von Freiheit verspricht. In den Industriegesellschaften lassen sich die Phantasien von früher am schlechtesten ausleben. (Urs Widmer: Das Normale und die Sehnsucht)


Der Druck des Alltags

Es gibt verschiedene Motive, etwas zu tun. Zum Beispiel, wir arbeiten, um eine Struktur in die Spanne Zeit zu bringen, die wir haben. Doch die Arbeit, die heute die Arbeit der meisten ist und die man die entfremdete nennt, ist wohl ein besonders untaugliches Mittel, der Zeit und dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Sie treibt im Gegenteil ihre Opfer dem Tod direkt in die Arme. Immer weiter entfernt sich der, der sich mit seiner Tätigkeit nicht identifizieren kann, von sich selber. Am Schluß ist nur noch die Hülle übrig, die man die sterbliche nennt, die lebendige Person, die drin war, hat sich längst verflüchtigt. Sie ist vom Druck des Alltags verflüchtigt worden, die Hülle dann wird eine Weile noch gelebt. (Urs Widmer: Das Normale und die Sehnsucht)


Schwerinvalide

"Wenn es Hermann Arbogast Brenner auch fernliegt, den geneigten Leser im Rahmen dieser Aufzeichnungen mit dem Schicksal Depressionsgeplagter zu verdüstern, o ja, diese Lektion habe ich begriffen, daß es eine Taktlosigkeit ist, von seinen gesammelten Leiden zu reden und die Unheilbar Gesunden im Ernst des Lebensgenusses zu behindern, so muß er doch auf eine Eigentümlichkeit im Existenzvollzug dieser Schwerinvaliden hinweisen, nämlich darauf, daß unsereins gezwungen ist, in drei, vier Monaten das zu vollbringen, wozu psychisch Stabile, von den Göttern Verwöhnte ein ganzes Jahr lang Zeit haben." (Gerrit Bartels: Runtergeraucht. Hermann Burgers unvollendet gebliebenes Romanwerk 'Brenner')


Kultur der Schnelle

Eine Kultur ist das, die die Vergangenheit nicht kennt und sich heimtückisch weigert, die Zukunft zu planen, die weder die Alten achtet noch die Jungen hegt. Sie exportiert Pubertäres: Fast food, schnelle Wagen, schnelles Gerede, schnelles Geld, den schnellen Krieg. Die kindische und unreife westliche Kultur hätte niemals das Kamasutra hervorbringen können, hätte nie einen Gedanken darauf verschwendet, wie der Punkt des Orgasmus über Stunden verlängert werden kann. (Jay Griffiths: Slow Motion. Lob der Langsamkeit)


Bestrafungen

Mama hat neuerdings immer den alten Awwakum auf dem Nachttisch liegen. Hin und wieder bringt sie den Satz an: "Kommt Zeit, kommt Leid. Nicht nachlassen sollt ihr zu leiden." Sie habe diese Worte irgendwann einmal gelesen und sich gemerkt, ohne sie eigentlich verstanden zu haben, sagte sie heute. "Jetzt kommt mir ihr Sinn ganz einfach vor: Bestraft werden gar nicht die Sünden, bestraft wird das Glück. Alles hat seinen Preis. Glück wird mit Leid bezahlt, Liebe mit Geburtswehen, die Geburt mit dem Tod." (Michail Schischkin: Venushaar)


Die Unmöglichkeit des Glücks

Ich war nicht nur von dem legitimen Ekel erfüllt, der jeden halbwegs normalen Mann beim Anblick eines Babys überkommt; und ich war nicht nur zutiefst davon überzeugt, daß ein Kind so etwas wie ein lüsterner Zwerg mit angeborener Grausamkeit ist, der sogleich die schlimmsten Züge seiner Gattung zum Ausdruck bringt und von dem sich die Haustiere in weiser Vorsicht abwenden. Nein, hinzu kam noch ein tief in mir verankertes Entsetzen, ein wahres Entsetzen vor dem endlosen Leidensweg, den das Dasein der Menschen darstellt. Der Säugling ist das einzige Lebewesen, das seine Gegenwart unmittelbar nach der Geburt durch unablässige Schmerzensschreie zum Ausdruck bringt, und zwar weil er leidet, weil er auf unerträgliche Weise leidet. Vielleicht liegt es am Verlust des Haarkleids, der die Haut für Temperaturschwankungen so empfindlich macht, ohne daß dadurch der Schutz vor Parasiten gewährleistet ist; oder vielleicht ist eine anormale nervöse Empfind- lichkeit daran schuld, ein Konstruktionsfehler sozusagen. Jeder unparteiische Beobachter kann nur bestätigen, daß der Mensch nicht glücklich sein kann, er absolut nicht für das Glück geschaffen ist und ihn daher kein anderes Los erwarten kann, als Unglück zu verbreiten, indem er das Dasein seiner Mitmenschen ebenso unerträglich macht wie sein eigenes - seine ersten Opfer sind im allgemeinen die Eltern. (Michel Houellebecq: Die Möglichkeit einer Insel)



Das wirkliche Leben?

"Aber", so sagte Kringelein, "wo ist das wirkliche Leben? Ich habe es noch nicht erwischt. Ich war im Kasino, ich sitze hier mitten im teuersten Hotel, aber es ist immer noch nicht richtig. Ich habe immer den Verdacht, das richtige, das wirkliche, das eigentliche Leben spielt sich ganz woanders ab, das sieht ganz anders aus. Wenn man nicht dazugehört, dann ist es gar nicht so leicht, hineinzukommen, verstehen Sie?" "Ja, wie stellen Sie sich das mit dem Leben vor!" erwiderte darauf Doktor Otternschlag. "Gibt es das Leben überhaupt, wie Sie sich es vorstellen? Das Eigentliche geschieht immer woanders. Wenn man jung ist, denkt man: Später. Später denkt man: Früher war es das Leben. Wenn man hier ist, denkt man, dann denkt man, es ist dort, in Indien, in Amerika, am Popoketepetl oder sonstwo. Aber wenn man dort ist, dann hat sich das Leben gerade weggeschlichen und wartet ganz still hier, hier, von wo man davon gerannt ist. Mit dem Leben geht es, wie es dem Schmetterlingsjäger mit dem Schwalbenschwanz geht. Wenn man ihn gefangen hat, sind die Farben abgegangen und die Flügel lädiert." (Vicki Baum: Menschen im Hotel, S. 50)


Eine bröckelige Angelegenheit

Er war auf eine grauenhafte Weise allein, leer und vom Leben abgeschnitten. Zuweilen, wenn er mit sich sprach, teilte er sich dies ganz laut mit. "Grauenhaft ist es. Kein Leben. Gar kein Leben. Aber wo ist es? Nichts geschieht. Es geht nichts vor. Langweilig. Alt. Tot. Grauenhaft." Die Dinge standen um ihn herum wie Attrappen. Was er zur Hand nahm, zerrann zu Staub. Die Welt war eine bröckelige Angelegenheit, nicht zu fassen, nicht zu halten. Man fiel von Leere zu Leere. Man trug einen Sack voll Finsternis in sich herum. Dieser Doktor Otternschlag wohnt in der tiefsten Einsamkeit, obwohl die Erde voll ist von Seinesgleichen... (Vicki Baum: Menschen im Hotel, S. 12)


Die Welt stinkt

NATHAN: Harry hat Recht, Tom. So schlimm ist das alles gar nicht.
TOM: Doch, ist es. Es ist höchstens sogar noch schlimmer.
HARRY: Definiere bitte 'es'. Ich weiß überhaupt nicht mehr, wovon wir eigentlich reden.
TOM: Von der Welt. Dem großen schwarzen Loch, das wir Welt nennen.
HARRY: Ah, die Welt. Ja, natürlich. Selbstverständlich. Die Welt stinkt. Das weiß jeder. Aber wir tun unser Bestes, uns von ihr fern zu halten, oder?
TOM: Stimmt nicht. Wir stecken mittendrin, ob es uns gefällt oder nicht. Die Welt ist überall um uns herum, und jedes Mal, wenn ich den Kopf hebe und mir das genau ansehe, befällt mich Ekel. Trauer und Ekel. Man sollte meinen, der Zweite Weltkrieg hätte wenigstens für ein paar hundert Jahre Ruhe gesorgt. Aber wir zerfleischen uns immer noch. Wir hassen uns immer noch sehr wie eh und je.
(Paul Auster: Die Brooklyn-Revue, S. 117)


Die Sinnfrage

Was immer als "Sinn des Lebens" gilt, ist eine Ausnahme, eine Utopie. So tiefgründig Philosophen aller Zeiten auf die Frage zu antworten versuchten: sie sagten im Grunde nichts weiter als: Ich hoffe, daß... So hofft auch der einzelne Mensch, daß sein Leben einen Sinn habe, das heißt, daß es zu einem Ziel führe über alle Teil-Ziele hinaus. Wenn ich anfange zu fragen, ob mein Leben Sinn habe, so kann ich natürlich für mich antworten, es habe Sinn. Sobald ich aber weiterfrage, ob denn Leben überhaupt Sinn habe, so falle ich ins Nichts. Ich weiß rein gar nichts. Wenn ich aber arbeite und liebe, kurzum: lebe, so erfahre ich den Sinn. Wer verliebt ist, wer in einer schöpferischen Lebensphase arbeitet, wer ein Werk aufbaut, dem stellt sich die Sinnfrage nicht. Sie stellt sich nur in Krisenzeiten: Was für einen Sinn hat denn das alles? Wozu tu ich das? Wozu lebe ich denn? (Luise Rinser: Wachsender Mond. 1985-1988, S. 12)


Die Welt spuckt Tod

Dan stand draußen vor dem Apartment seiner Tochter, auf der rußigen gefliesten Terrasse, von der er den ersten Turm hatte kollabieren sehen. In den sechs Monaten seither waren die Meldungen dazu angetan gewesen, seine Erkenntnis zu erhärten. Eine wahnsinnige Frau stand in Texas vor Gericht, weil sie sytsmatisch ihre fünf Kinder ertränkt hatte. Katholische Priester hatten, wie offenbar wurde, ihre noch kindlichen Schutzbefohlenen in einem Ausmaß sexuell belästigt, das größer war, als man sich je vorgestellt hatte oder als bereits eingestanden war. Fast jede Woche ermordeten irgendwo in den Vereinigten Staaten wütende oder verzweifelte oder amoklaufende Väter ihre Frauen oder Exfrauen und ihre Kinder und brachten sich dann in einem inadäquaten Wiedergutmachungsversuch selber um. In der Zwischenzeit war in Afghanistan der Krieg ausgebrochen und hatte den üblichen Zoll an sinnlosen Toden gefordert - kollidierende Helikopter, verirrte Bomben, falsche Informationen, ein tödliches Durcheinander, ohne die biblische Erhabenheit der Rache oder des Selbstopfers. Die führenden Köpfe des Bösen entkamen; die Feinde, die sich ergeben hatten, wirkten erschöpft und verwirrt - klägliche kleine Fische. Sie beschwerten sich über das Klima auf Cuba und das Versagen ihrer Gefangenenwärter, sie mit sympathisierenden Mullahs zu versorgen. Sie bestanden - und andere halfen ihnen in schrillen Tönen dabei - auf ihren internationalen gesetzmäßigen Rechten. Religiöse Gemetzel fanden in Indien und Israel statt, Feuer, Fluten und Epidemien anderso. Die Welt taumelte weiter und spuckte Tod und Schmerzfunken aus wie eine entgleiste Lokomotive. (John Updike: Die Tränen meines Vaters, S. 140)


Wo liegt die Wahrheit?

Die Tora ist bestimmt ein großes Buch und die Propheten waren göttliche Männer und selbst Jesus von Nazareth kann man nicht einfach abtun. Aber all das genügt dem modernen Menschen nicht. Er hungert nach etwas anderem, nach mehr. Was ist Stalin? Und was ist selbst so ein Mörder wie Hitler? Falsche Propheten. Da noch niemand im Himmel gewesen ist und Gott nicht auf die Erde kommt und von Generation zu Generation weiter schweigt, wie kann man wissen, wo die Wahrheit liegt? (Isaac Bashevis Singer: Verloren in Amerika, S. 367)


Ein wirklicher Protest

Jedes Geschichtsbuch war die Geschichte von Mord, Folterung und Ungerechtigkeit, jede Zeitung war in Blut und Schande getränkt. Die beiden pessimistischsten Philosophen, die ich gelesen hatte, Schopenhauer und von Hartmann, verurteilten beide den Selbstmord, aber in jenem Augenblick fühlte ich, daß es nur einen wirklichen Protest gegen die Schrecken des Lebens gäbe, und das wäre, dieses Geschenk Gottes an Ihn zurückzuschleudern. Es war durchaus denkbar, daß ich mich damals umgebracht hätte, wäre ich im Besitz von Gift oder einer Pistole gewesen. (Isaac Bashevis Singer: Verloren in Amerika, S. 57)


Über Sibirien

Wie viele tausend Kilometer habe ich nun schon überflogen, ohne eine Spur von einem Menschen zu sehen? So wie ich die Übervölkerung des Planeten fürchte, kann ich mich über einen solchen Anblick nur freuen. Die Landschaft ist von einer herrlichen Eintönigkeit; diese ewig unbewohnten Hügel sind das tröstliche Bild, das sich denken läßt. Hier könnte man wieder an die Apokalypse glauben: Wie gut die Erde ohne uns auskommen kann! Wie still und edel sie sein wird, wenn wir erst verschwunden sind! (Amelie Nothomb: Attentat, S. 155)


Vom bloßen Dasein erschöpft

Die Welt war voll von Leuten, die ihren Weg wußten, die einen hierhin, die andern dorthin. Wo, in diesem System aus Sorgen und Freuden, war mein Platz? Ich empfand mich als das reichste und zugleich nutzloseste der Wesen. Wie war es nur möglich, daß Menschen bereit waren, zum Beispiel stundenlang die leeren Säle des Luxembourg zu bewachen, oder im Senat vor sich hin zu dösen, oder in einem Ladenkontor Rechnungen zu schreiben? Was besagte diese Ordnung, die das Leben abtötete? Denn allein die Tatsache "Leben" ist bedrückend, und man gewöhnt sich daran wohl nur, indem man sich mit idiotischen Beschäftigungen überhäuft. Ich aber war von meinem bloßen Dasein erschöpft. (Julien Green: Der andere Schlaf, S. 79)


Ein dunkler Knödel

Ihre Verfassung, mochte sie sein wie immer, war der Düsterkeit unvermögend; während doch viele Menschen, wenn der Weg nur etwas abschüssig und glitschig zu werden beginnt - ganz genau besehen neigt er alltäglich dazu - eine Art warnenden Gewissensdruck schon im voraus und sozusagen auf Vorschuß empfinden für noch gar nicht begangene Verfehlungen: was niemals jemand an ihnen gehindert hat. Aber man hat es doch gewußt. Das Üble liegt nur als ein dunkler Knödel noch anonym im Menschen, und ungewiß bleibt, welche Formen und Namen er annehmen werde. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Vom Fallen

Nicht alle, welche die Fallsucht haben, sind medizinisch Epileptiker; das gilt auch für jenen Herrn Diplom-Ingenieur Riedener aus Troppau. Mehr als das: nur das Fallen ist eigentlich normal: als wehte es die Menschen schräg durch's Gesichtsfeld wie die Blätter. Der Fall ist meistens sanft. Mancher vermeint, er brauche nur einen Zug an den imaginären Hebeln seines Willens zu tun, und der leise Fall würde angehalten. Aber es macht ihn keineswegs, diesen Zug. Warum soll er abends nicht an seinen Stammtisch gehen? Freilich, er kann längst nicht mehr einschlafen, ohne vorher zu trinken. Eines Tages mischt sich dann die Leber in's innere Gespräch. Es gibt indessen gleichwohl solche, die nicht fallen, die nie gefallen sind, die auch keine internen Gespräche führen. (...) Es gibt welche, die immer unten gesessen sind, auf dem festen Grunde, dem Felsgrunde. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Schwer zu finden

'Ein Faible für abstrakte Ideen ist bei Menschen unter zwanzig verbreitet. Das verliert sich. Leser zu finden ist nicht schwierig, das werden auch Sie erfahren; es ist geradezu gefährlich einfach, Anhänger zu begeistern; doch jemandenden zu finden, dem man persönlich verbunden ist und der sich auch nur einen Deut um das schert, was man tut, das ist extrem schwer.' (Sybille Bedford: Ein trügerischer Sommer)


Eine miefige Zeit

... daß es das Vorrecht der Alternden sei, die neue Zeit mit ihren neuen Übeln als weit verfehlter zu empfinden als die entschwundene. Ich könnte weiter sagen, es stehe im Ermessen jedes einzelnen, die Übel zu bewerten, wie er wolle, da ihre Größe nicht mit dem Metermaß zu eruieren sei. (...) einig sind wir uns nur in der Beurteilung einer miefigen Zeit und darin, daß wir ihren Untergang begrüßen. (Markus Werner: Am Hang)


Die Summe der Übel

Ich fragte ihn sanft, ob er wirklich den Eindruck habe, in einer verdorbeneren Zeit zu leben als vor fünfundzwanzig oder dreißig Jahren. Er habe bereits erwähnt, antwortete Loos, daß sich der Tränenblick zurück verbiete. Jede Zeit sei auf ihre eigene und neue Art verdorben, wobei es allerdings Epochen gebe, die den Ehrgeiz hätten, die anderen an Schwachsinn oder Niedertracht zu überbieten. Grundsätzlich aber betrachte er Geschichte durchaus nicht als Verfallsgeschichte, das heiße als Prozeß zum immer Verfehlteren hin, freilich auch nicht als Heilsgeschichte, in deren Verlauf sich alles zum Besseren wende, vielmehr verstehe er historische Entwicklung als hektischen Austauschprozeß. Schwinde ein Übel von gestern, so werde es heute durch ein neuartiges sofort ersetzt. Es sei wie mit der Maul- und Klauenseuche: kaum scheine sie ausgestorben, beginne der Rinderwahnsinn. So laufe alles, und die Summe der Übel bleibe sich ungefähr gleich, und zwar auf hohem Niveau trostlos, nur setzten sie sich heute rascher und flächendeckender durch dank der globalen Kanonaden, so daß innerhalb weniger Wochen fast jedes Kind mit einem Gameboy spiele und fast jede Frau sich praktisch über Nacht in eine phosphoreszierende Radlerhose stürze beziehungsweise, sobald ein anderes Diktat erfolge, in Dreiviertelleggings mit Raubkatzendruck. (Markus Werner: Am Hang, S. 31f.)


Handys

Wie kommen Sie auf die Idee, daß ich die Welt aufgrund der Handys hasse? (...) Ich habe vor einigen Jahren, als der besagte Aufschwung begann, das Handy als Alptraum empfunden, als lästigte Erscheinungsart des Exhibitionismus. (...) habe meinen Aberwillen mit vielen Menschen, die ich schätze, geteilt. (...) Kritik allerdings empfiehlt sich jetzt nicht mehr, es denn , man wolle sich den Ruf einhandeln, ein unelastischer Geist zu sein. (...) Ursprünglich wollte ich sagen, daß mich das Handy abstöß, weil es die Liquidierung des Privaten und Intimen betreibt und nebenbei den Weltlärmpegel erhöht. (Markus Werner: Am Hang)


Hoffnung und Grenzen

Früher glaubte ich, Hoffnung sei Das was jeder bitter= nötig habe wie zum Weitermachen die Atemluft - heute weiß ich, Hoffnung ist wie Flöhe: das Letzte was jeder brauchen kann. Wer mit Flöhen sich niederlegt, so hätte Opa Henry gesagt, der steht mit Hunden wieder auf. Und hat wie der Luetiker restzeitlebens Was zum Erinnern -, So=lange, bis das-Alter=selbst so tragisch geworden ist, daß Nichts mehr an Tragik solch alt-Sein überträfe, u Nichts das für ein Mehr Weiter in diesem Leben noch Taten Opfer Schmerzen rechtfertigen könnte. Und Die Frage Sind alle Mühen Anstrengungen Auflehungen gegen Den Tod irgendwann nicht ?schlimmer als der Tod - die Frage der Kinder u der Verzweifelten - sie zieht mit dem Blaklicht ihrer Berechtigung auch die Schatten aus dem vorüberziehenden Menschengrau-- (Reinhard Jirgl: Die Stille, S. 161)


Konzentrationsmangel

"... meine stumme Verzweiflung, wenn die Tage mir auseinanderlaufen. (...) Es ist doch etwas daran, daß eine Frau in 'Künsten und Wissenschaften', wenn sie Kinder hat, nicht leisten KANN, was einem Mann mit gleichen Anlagen zu leisten möglich ist. Einhäufig durchdachtes Kapitel, das einen bitteren Bodensatz hinterläßt, der Gerd rasend macht. Aber die Kinder werden größer, und einmal MUSS doch wieder Konzentration in mein Leben kommen - wenn ich sie dann nicht schon verlernt habe." (Christa Wolf: Ein Tag im Jahr, 1961)


Das Leben nicht ganz so spüren

Ich bin, wie wir alle, in ein Netz verheddert, das mich gegen die kleinen Schmerzen der Existenz absichert, mich aber gleichzeitig daran hindert, eigene kraftvolle Abwehrbewegungen gegen die großen zu machen. Denn diese großen Schmerzen (bumm! schnauf! aus!) sind so gewaltig, daß wir uns, um sie zu vergessen, geradezu begeistert über die kleinen aufregen (Ausländer, Inländer, Schwiegermutter). - Auch der unaufhaltsame Triumph Dudens hat mit dieser Abwehr zu tun. Wir 'wollen' tadellos normiert schreiben, um das Leben, das in jeder Sprache steckt, nicht allzu deutlich spüren zu müssen. Duden ist das konservative Prinzip an sich geworden. Neben ihm hat nur noch die Straßenverkehrsordnung ein ähnlich perfekt geknüpftes Netz über uns geworfen und hält Energien von uns potentiellen Aufrührern auf niederster Ebene gefangen. (Urs Widmer: Auf, auf, ihr Hirten. Die Kuh haut ab, S. 51)


Nicht wieder gutzumachen

Während ich die Briefe zum Briefkasten gebracht habe, ist mir aufgefallen: Immer scheinen die unzumutbaren Forderungen sich auf Versäumnisse in ungelebten Lebenszonen zu beziehen, die nicht ohne weiteres durch nachgelebtes Leben auffüllbar sind. Vorbei ist vorbei: Je älter wir werden, desto mehr lernen wir die Unerbittlichkeit der Zeit respektieren und fürchten. Man kann sich das Hirn zermartern nach Rechtfertigungen für Ungetanes, der Art: Aber ich habe stattdessen doch - gearbeitet, geschrieben. Es nützt ja nichts. Das Versäumnis wird als Schuld eingeklagt und ist nicht wiedergutzumachen. (Christa Wolf: Störfall, S. 97)


Ein dickes Fell

Zum Selbsterhaltungstrieb des Menschen, einer bewußt- unbewußten natürlichen Regung, die ihm hilft, die tödliche Gefahr zu vermeiden, zu umgehen, sich gegen sie zu wehren, gehört auch die Fähigkeit, die unerträgliche Wahrheit nicht wahrzuhaben, die Augen vor ihr zu verschließen. Unsere Welt, unser Jahrhundert ist uns unerträglich geworden; wir nehmen sie nur in dem uns erträglichen Maße wahr, wissend, daß das volle Maß einen jeden von uns unfähig machen würde, in dieser Welt weiterzuleben, das heißt, weiter zu hoffen und zu arbeiten. Wir wissen von einem Kontinent hungernder Kinder, von politischem Mord und Terror, von einer Kriegsvorbereitung, die die Grenzen menschlicher Vernunft überschritt und sich seit Hiroshima scheinbar nach der von Menschen unbeeinflußbaren Logistik von Alpträumen potenziert. Wäre die Welt beständig vor unserem Auge, wir wären nicht fähig, ein Gedicht zu lesen oder auch nur gelassen einen Kaffee zu trinken. Der Selbsterhaltungstireb bewahrt uns davor, diese Welt wirklich aushalten zu müssen, indem er unsere Sinne mit einem dicken Fell versieht. Eine nützliche zweite Haut, die uns vor dem schützt, was uns zu diesem Leben unfähig machen würde, und ein gefährliches Fell, denn es erlaubt uns, Unerträglichkeiten zu ertragen und damit das Leben insgesamt zu gefährden. (Christoph Hein: Öffentlich arbeiten. Essais und Gespräche, S. 50)


Schleichende Schmerzen

O Unheil, das sich plötzlich zugesellt
Der Erdenlust! Es mischt sich Bitterkeit
Am Ende stets in Freude dieser Welt!
Schmerz ist das Ende jeder Fröhlichkeit.
Drum rat ich dir zu deiner Sicherheit:
In froher Zeit bedenke, Schmerzen schleichen
Stets hinter dir, die sicher dich erreichen.
(Geoffrey Chaucer: Canterbury-Erzählungen, S. 188)


Die Zweifel des Künstlers

Glaubst du nicht, lieber Leser, daß das, was aus dem höhern Reich der Liebe in unsre Brust hinabgekommen, sich uns zuerst offenbaren müsse im hoffnungslosen Schmerz? - Das sind die Zweifel, die in des Künstlers Gemüt stürmen. - Er schaut das Ideal und fühlt die Ohnmacht, es zu erfassen, es entflieht, meint er, unwiederbringlich. - Aber dann kommt ihm wieder ein göttlicher Mut, er kämpft und ringt, und die Verzweiflung löst sich auf in süßes Sehnen, das ihn stärkt und antreibt, immer nachzustreben der Geliebten, die er immer näher und näher erblickt, ohne sie jemals zu erreichen. (E.T.A Hoffmann: Die Serapionsbrüder, S. 193)


Mit sich allein

Jeder Mensch hat mit sich zu tun. Was besitzt man, wenn man eine Frau besitzt? Nichts. Man kann keinen Menschen besitzen. Man besitzt nur sich selbst. Auch wenn ich liebe, überschreite ich diese Grenze nicht. Auch die Liebe ist mein Werk. Ich kann mir kein Leben borgen. Man lebt nicht weiter in seinen Kindern. Man lebt nur sich. Jeder muß allein fertig werden mit seinem Leben. Menschen, die Angst davor haben, allein zu sein, haben Angst vor sich selbst. Ihnen graust vor ihrer inneren Leere. Erleben kann man nur aktiv. Je größer der Erlebnisverschleiß, desto kleiner der Mensch. Jeder muß allein dieses ungeheuere Loch ausfüllen, das entstanden ist, als wir Gott begruben. Es war schwer, ihn zu töten. Aber die Kraft aufzubringen, sich an seine Stelle zu setzen, ist ungleich schwerer. Wer nicht stark genug ist, das Leck zu stopfen, dessen Kahn säuft ab. (Irmtraud Morgner: Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura, S. 115)


In der Einzelzelle

Meine Mitmenschen sind mir völlig fremd; das heißt, daß ich nur vermuten kann, was sie denken und fühlen. Jeder von uns ist ein Gefangener seines eigenen Ichs und kann sich von seiner Einzelzelle aus nur durch verabredete Zeichen und Symbole mit den anderen Gefangenen verständigen, denen es ebenso ergeht. Es ist klar, daß diese Zeichensprache zu Mißverständnissen führen muß, und es ist erwiesen, daß einmal begangene Fehler sich im Rahmen unseres kurzen Erdenwallens nur sehr schwer gutmachen lassen. (W. Somerset Maugham: Vor der Party. Erzählungen, S. 7)


Geklärt wird nichts

Trotzdem kann Isidor es nicht lassen, das ihn umgebende Leben ständig nach Wert und Würde abzufragen. Dahinter steht ein philosophisches Privatprogramm, das ungefähr so lautet: Wahrheit und Lüge, Ehrlichkeit und Heuchelei, Moral und Egoismus sind unlösbar miteinander verklumpt; wir reiben uns zwischen spirituellen Sehnsüchten und unspirituellen Tatsachen auf; und geklärt wird nichts, nicht mal im letzten Augenblick. Die Zeit geht über alles hinweg und löscht das Bewußtsein aus, bevor auch nur die Fragen richtig gestellt wurden. (Petra Morsbach: Gottesdiener, S. 38)


Die Weihnachtspest

Festbeleuchtungsfanatiker wetteifern miteinander, die Fassaden und Vorgärten ihrer Vorortbehausungen mit kompliziert verschlungenen, bunten Blinklichterketten und zappelnden Weihnachtsikonen zu schmücken, so daß es immer wieder zu Kollisionen gaffender Autofahrer kommt. (...) Woher kommt diese schleichende Weihnachtspest? In meiner Kinderzeit waren der erste und der zweite Weihnachtsfeiertag, der englische Boxing Day, arbeitsfrei, danach ging das Leben wieder seinen gewohnten Gang, aber jetzt mündet Weihnachten direkt in die noch sinnloseren Festivitäten zu Silvester und Neujahr, so daß man - und mit einem das ganze Land - mindestens zehn Tage lahmgelegt ist, mit schwerem Kopf von zu reichlichem Essen, mit leerer Geldbörse nach den Ausgaben für unsinnige Geschenke, gelangweilt und genervt von lästigen Angehörigen und quengelnden Kindern, mit denen man zu Hause eingesperrt ist, und mit viereckigen Augen vom Dauerkonsum alter Filme im Fernsehen. Für einen längeren Zwangsurlaub sind diese Wochen, in denen besonders trostloses Wetter herrscht und die Tage am kürzesten sind, denkbar ungeeignet. Mein Held ist Scrooge - der unbußfertige Scrooge aus dem ersten Teil der 'Weihnachtsgeschichte' von Dickens. "Pah, dummes Zeug!" Wie recht er hatte! Und was für ein Jammer, daß er sich danach geläutert hat. (David Lodge: Wie bitte? S. 186)


Die Sucht nach dem Neuen

Es gibt in der Öffentlichkeit eine von den Medien kompromisslos unterstützte Gier nach neuen Stilrichtungen in der Mode, beim Essen, in der Innenausstattung, bei Elektronikspielereien, bei allem, was sich denken läßt. Künstler, die sich seit Beginn der Moderne dem Ziel verschrieben haben, Neues zu schaffen, aber dabei ihr Tempo selbst bestimmen wollten, werden überrollt von den rasanten Veränderungen in der Populärkultur und mühten sich ab, um auf Papier und Leinwand ihre Spuren zu hinterlassen oder dreidimensionale Gegenstände zu schaffen, auf die bisher noch niemand verfallen ist. (David Lodge: Wie bitte? S. 148)


Allseits enttäuschend

Meine Eltern gehörten zu der Art von Eltern, die immer leise unzufrieden wirkten mit allem, was man so tat, als würde man sie in kleinen Dingen permanent enttäuschen. Ich glaube, deshalb ist meine Schwester auch weggezogen, in den Norden hoch., Andererseits konnte ich den Standpunkt meiner Eltern nachvollziehen. Ich war tatsächlich etwas enttäuschend. Ich war auch für mich etwas etwas enttäuschend. Ich hab ja bereits versucht zu erklären, daß ich bei Leuten, die ich mochte, nicht richtig locker sein konnte, daß ich sie nicht dazu bringen konnte, meine Vorzüge zu sehen. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, war mein Leben die meiste Zeit so. Ich habe andere Leute nicht dazu bringen können, daß sie sehen, was an mir ist. (Julian Barnes: Darüber reden, S. 53)


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