Vom weisen Leben (1)

Erfahrungen, Mutmaßungen und Ratschläge [^^] [^]


Themenstreusel: Weise leben
Waffe im Kampfe der Verwirrungen
Mäßige, nützliche Arbeit
Entschiedenheit
Leben wir unauffällig
Das Notizbuch
Kein Kernlein nährenden Korns
Ein Samenkorn ausstreuen
Gelehrte und Weise
Im eigenen Metier
Lebenswissen
Weise und Narren
Weiterentwicklung
Geschichten abschließen
>Zivilisierung
Die einen und die anderen
Die Augen schärfen
Vom Glück
Annäherung
Vorrat an Gemeinsamkeit
Auf alles gefaßt
Ein weißer Schatten
Nur eine Entscheidung
Verzeihen können
Zwei Arten
Unvoreingenommenheit bewahren
Maß halten
Das Ideal
Überflüssige Sorgen
In den Kreislauf zurück
Funktion des Geldes
Demut
Auf Normalmaß zurück
Nicht-Wissen
Bis zum Höhepunkt führen
Das Leben aushalten
Thoreau: Walden (1)
Thoreau: Walden (2)
Thoreau: Walden (3)
Augenblicken wahren Lebens
Angewiesen auf die Guten
Wider besseren Wissens
Gewicht abwerfen
Gesunde Reue
Das Minimum
Überflüssiges abschütteln
Verbindung mit der wirklichen Welt
Erkenntnisse
Das Leben!
Aufmunterung
Beispielwirkung
Nichtstun
Alte Freundschaften
Mit eigenen Zielen
Energie in neue Ziele
Unerwartete Gelegenheiten erkennen
Die Magie des Waldes
Späte Erkenntnisse
Der Gott des Lachens
Mißtrauen gegen uns selbst
Der wohlige Halbschlaf
Leben lassen
Bäume und Brückenpfeiler
Relationen
Voraussicht
Geruhsame Weltverachtung
Das allerbeste Los
Das Heute gelten lassen
Das Glück und die Schwalben
Wichtig ist, wie sehr
Wir Glückspilze
Der Zweck von Utopien
Wesen des Schmerzes
Den Schöpfungsplan fröhlich durchkreuzen
Sich beeilen mit seinen Plänen
Pappeln, Kaviar und Gedichte
Highlights
Worst-Case-Szenario
Eine bittere Süße
Das Leben erzählen
Allumfassende Gelassenheit
Kalte Revolution
Vorsorge und Vorauswissen
Duldsamkeit
Mit ganzer Seele
Kleine und starke Charaktere
Frühzeitige Aufklärung
Kindliches Gelächter
Liebe und Geld
Wirkliche Taten
Mangelndes Vorausdenken
Die große Maschine
Pläne und Gelegenheiten
Sich einen Sinn zurechtzimmern
Rührend alberne Lebensplanung
Glück kommt durch Liebe
Ein jeder Tag
Übersättigung an Glück
Möglichkeiten des Wachstums
Intensiv leben
Entscheidungen beibehalten
Alleinsein


Waffe im Kampfe der Verwirrungen

Wissen kann man es ja nicht, was die nächste Stunde bringen wird, und nur die Narren pflegen das ganz genau vorauszusagen; aber für diesen gefesteten, hellen, heiteren Menschen brachte sie nichts, was er nicht im Guten wie im Schlimmen mit in seine Rechnung gezogen hatte, und das ist immer viel und bedeutet im Bösen wie im Guten die Hauptsache und Hauptwaffe im bitteren Kampfe der Verwirrungen dieses verzwickten Daseins auf der Erde. (Wilhelm Raabe: Alte Nester)  ^


Mäßige, nützliche Arbeit

Bei allen denen, welchen ein wenig Behaglichkeit der Existenz gegönnt ist, bei allen denen, wo das Uebermaß des Unglücks nicht jede geistige und moralische Entwickelung im Keime schon erstickt, ist auch das gefühlte, reine, anerkannte Glück in seinem Urzustande schon vorhanden; und wenn sich aus dem Schooß des Elends und der Plagen schon poetische Stimmen vernehmen ließen, wer kann da sagen, daß die Arbeit der Hände die Thätigkeit des Geistes lähme? Wenn ich auch eingestehen muß, daß allzu angestrengte Arbeit und ein tiefes Elend dies traurige Resultat herbeiführen können, so ist damit nicht ausgesprochen, daß mäßige, nützliche Arbeit nur schlechte Arbeiter und schlechte Poeten hervorbringen würde. Der, welcher aus dem Gefühl für Poesie edle Genüsse schöpft, ist ein wahrer Poet, und wenn er auch sein Leben lang nicht einen einzigen Vers gedichtet hätte. (George Sand: Das Teufelsmoor) ^


Entschiedenheit

Er war der beharrlichste Mensch, den ich je gekannt habe. Beharrlich, du machst dir keine Vorstellung! Mit einem Willen, der auf der Stelle seine Entscheidungen trifft. Mein Bruder suchte nie. Er wählte für sein Leben aus dem aus, was um ihn herum vorhanden war, und zweifelte dabei keine Sekunde, dass es das Richtige war. Inzwischen sehe ich ein, wie klug das ist. Wer sucht, wird nicht finden, egal, was man behauptet, sondern immer ein Hin-und-her- Flatterer mit plötzlich auftauchenden bösen, übellaunigen Stimmungen bleiben. Rogier entschied sich wie sein Vater für die französische Romankunst und Essayistik, Bücher, mit denen unser Haus, das bis ans Ende seiner Tage zu bewohnen er ohnehin vorhatte, von oben bis unten angefüllt war. Zimmer, Flure, Dachboden, Bücher genug für ein Leben als reicher und autonomer Mensch. (Margriet de Moor: Mélodie d'amour) ^


Leben wir unauffällig

Noch etwas teilte er mit Jérôme, was bei einem jungen Mann selten zu finden ist: einen leicht spöttischen, aber nicht boshaften Blick auf Leute, die hin- und herrennen und sich Stress machen und Intrigen spinnen, die hungrig sind nach Macht und Einfluss auf ihre Umgebung. Die Ehrgeizigen, die kleinen Chefs, die Niezufriedenen. Jérôme und er gehörten eher zu denen, die ihre Arbeit gut machten, die aber, sobald die Arbeit erledigt und das Geld eingegangen war, gemütlich davon profitierten, statt sich noch mehr aufzuhalsen, um noch mehr Geld zu scheffeln. Sie besaßen nicht nur alles, was man braucht, um mit seinem Leben zufrieden zu sein – nicht jeder hat dieses Glück –, sondern auch und vor allem die Klugheit, sich damit zu bescheiden, zu lieben, was sie besaßen, und nicht nach mehr zu schielen. Die Gabe, sich dem Leben ohne schlechtes Gewissen und ohne Hast hinzugeben, im Schatten eines Banyans ein träges, humoriges Gespräch zu führen und dabei schlückchenweise sein Bier zu schlürfen. Ein Garten will schließlich gepflegt sein. Carpe diem. Um glücklich zu sein, leben wir unauffällig. (Emmanuel Carrere: Alles ist wahr)  ^


Das Notizbuch

Eins von den Dingen, die sich ändern würden, wenn man mal Draußen im Leben stünde, war die Art der Notizbücher. Man würde nicht mehr aufschreiben, was man nicht gerne tat, oder was man gerne getan hätte, aber nicht getan hatte, oder was man in Zukunft zu tun gedachte; statt dessen würde man aufschreiben, was man tatsächlich tat. Und da man nur tun würde, was man auch tun wollte, würde sich das Buch der Taten so lesen wie jetzt das Buch der Träume, bloß mit einem atemberaubenden Tempuswechsel. (Julian Barnes: Metroland)  ^


Kein Kernlein nährenden Korns

Jeder Mensch erlebt in seinem Bildungsgang eine Zeit, wo er zu der Überzeugung kommt, dass Neid Unwissenheit ist; dass Nachäffen Selbstmord ist; dass er sich selbst so hinnehmen muss, wie er ist, gehe es wie es wolle; dass, wenngleich die Welt voll des Guten ist, kein Kernlein nährenden Korns ihm zufallen wird, ohne dass er das Fleckchen Erde, das ihm zugeteilt wurde, in mühevoller Arbeit bestellt. Die Macht, die ihm innewohnt, ist etwas Neues in der Natur; niemand als er weiß, was er zu tun imstande ist, und auch er weiß es nicht, bevor er es versucht hat. (Ralph Waldo Emerson: Self- Reliance) ^


Ein Samenkorn ausstreuen

Der beste, scharfsinnigste Schachspieler kann nur einige kleine Züge voraussehen; von einem französischen Schachspieler, der zehn Schachzüge vorausberechnen konnte, berichtete man wie von einem Weltwunder. Wieviele Schachzüge des Lebens aber sind uns denn bekannt? Und wieviel ist unbekannt! Indem Sie Ihr Samenkorn oder Ihr Almosen ausstreuen, Ihre Tat vollbringen, geben Sie, in welcher Form es auch sei, einen Teil Ihrer Persönlichkeit hin und nehmen einen Teil der anderen Persönlichkeit in sich auf; in dieser Wechselbeziehung stehen Sie beide zueinander. Schenken Sie dieser Tatsache nur ein wenig Aufmerksamkeit und sie werden durch die unerwartetsten Entdeckungen belohnt werden. (Fedor M. Dostoevskij: Der Idiot) ^


Gelehrte und Weise

Der Weise weiß vielleicht weniger, aber von diesem wenigen macht er mehr Gebrauch; bei ihm verwandelt sich alles in Nahrung; er liest des andern Gedanken, um sie zu eignen zu machen. Der Gelehrte webt bloß in der Studierstube; er glänzt am meisten, wenn er allein ist, er ist mein Licht, das unter dem Scheffel leuchtet; draußen in der Welt verblasset sein Schein. Der Weise ist überall nützlich, er wärmt in der Nähe und leuchtet in der Ferne. (Jean Paul: Tagebuch meiner Arbeiten, September 1781) ^


Im eigenen Metier

Jeder hält den für weise, der weit in der Wissenschaft gekommen ist, die er selbst liebt; allein den hält er nur für gelehrt, der da viel weiß, wo wir nichts wissen. Jeder erteilt der Wissenschaft, die er vorzüglich betreibt, einen Wert vor den andern - jeder hält seine Art von Kenntnissen für unentbehrlich, für unschätzbar. Deswegen findet jeder Gelehrte in der Welt; allein nicht viel Weise: weil die Anzahl der Menschen, die sich mit unsrer Lieblingswissenschaft abgeben, geringer ist als die, welche die übrigen Kenntnisse bearbeiten. (Jean Paul: Tagebuch meiner Arbeiten, August 1781) ^


Lebenswissen

Nun gibt es aber noch eine andere Art von Wissen, das zu gewähren nicht in der Macht der Gelehrsamkeit steht und das sich bloß durch den Verkehr mit Menschen erwerben läßt. So nötig ist dieses für das Verständnis menschlicher Charaktere, daß niemand in diesem Punkte unwissender ist als jene gelehrten Pedanten, die ihr Leben ausschließlich auf Universitäten und zwischen Büchern verbrachten; denn so vortrefflich auch die menschliche Natur bereits von Schriftstellern beschrieben worden sein mag, das echte praktische System kann lediglich in der Welt erlernt werden. (Henry Fielding: Tom Jones) ^


Weise und Narren

Der Narr kennt seine Unwissenheit nicht; aber andre kennen sie. Er kennt nur seine Wissenschaft, die andre an ihm nicht finden. Der Weise hingegen findet überall Grenzen seines Verstandes, die andre nicht bemerken; weil sie sie noch nicht erreicht haben. Er weiß am besten, wie wenig er kann. Er kennt am besten den grenzenlosen Umfang des Reichs der Wahrheiten, um sein kleines Terrain, das er darinnen in Besitz hat, für nichts zu achten: welches aber andre für groß ausschreien, weil ihres unendlích kleiner ist. Der Dummkopf dünkt sich viel zu wissen, weil er das nicht kennt, was er nicht weiß - und der Weise glaubt wenig zu wissen, weil er das kennt, was er nicht weiß. Der Dummkopf gibt ungern oder gar nicht nach, weil er selbst wenig dachte, und deswegen selten zu irren glaubte. Der Weise hingegen nicht. (Jean Paul: übungen im Denken, Dezember 1780) ^


Weiterentwicklung

"Ich unterwerfe die Dinge einem praktischen Test. Wenn mich etwas weiterentwickelt, wenn es mich auf eine höhere Position in der Hohen Schule des Lebens hebt, dann bleibe ich dran. Wenn das nicht der Fall ist, versuche ich, einen neuen Ansatz zu finden, der mich weiterbringt. Die Grundidee ist einfach, in seinem Leben immer der eigenen Idealvorstellung nachzueifern. Probiere jede Theorie aus, die dich verbessern könnte. Mein Leben besteht aus einer Reihe von Praktiken, die mich in die richtige Richtung weiterentwickeln, und nicht weiter. Der Rest... weg damit, ich habe keine Zeit dafür." (Andrew Jackson: Das Buch des Lebens. Eine Reise zu den ältesten der Welt) ^


Geschichten abschließen

Die Geschichten, die das Leben schreibt, wollen ihr Ende, und solange eine Geschichte nicht ihr Ende hat, blockiert sie alle, die an ihr beteiligt sind. Das Ende muß kein Happy-End sein. Die Guten müssen nicht belohnt und die Bösen nicht bestraft werden. Aber die Schicksalsfäden dürfen nicht lose herumhängen. Sie müssen in den Teppich der Geschichte gewoben werden. Erst wenn sie es sind, können wir die Geschichte hinter uns lassen. Erst dann sind wir frei für Neues. (Bernhard Schlink: Selbs Mord) ^


Zivilisierung

Infolge der Verschiedenartigkeit von Klima, Energie, Geschmack und Alter ist eine Gleichheit unter den Menschen physisch unmöglich. Aber ein kultivierter Mensch kann diese Ungleichheit unschädlich machen, so wie er das schon mit Sümpfen und Bären gemacht hat. Ein Gelehrter hat es doch erreicht, daß bei ihm eine Katze, eine Maus, ein Falke und ein Spatz vom selben Teller fraßen, und man muß hoffen, daß die Erziehung bei den Menschen das gleich erreichen wird. (Anton Cechov: Drei Jahre. Mein Leben) ^


Die einen und die anderen

"Talentierte, reich begabte Naturen", sagte die Dolzikova, "wissen, wie sie zu leben haben, und gehen ihren eigenen Weg, doch die mittelmäßigen, wie zum Beispiel ich, wissen nichts und können nichts, ihnen bleibt nichts anderes übrig, als eine ernst zu nehmende gesellschaftliche Strömung zu finden und sich von ihr davontragen zu lassen." (Anton Cechov: Drei Jahre. Mein Leben)  ^


Die Augen schärfen

Unsere Augen müssen wir schärfen, um endlich die Fäden zu sehen, welche zwischen den Einzelheiten laufen. Zum Entstehen von Stimmungen ist eine gewisse Müdigkeit der Sinne und der Gedanken notwendig. Wenn wir stets völlig wach wären, oder wenn wir uns gar zu jener idealen Wachheit emporringen könnten, so gäbe es jene wallenden Schleier nicht, welche sich vor die Deutlichkeit der Dinge legen und uns die Töne unserer Stimmungen bringen. (Arthur Schnitzler: Spaziergang) ^


Vom Glück

Alles, was uns Freude machen soll, ist an Zeit und Umstände gebunden, und was uns heute noch beglückt, ist morgen wertlos. Innstetten empfand das tief, und so gewiß ihm an Ehren- und Gunstbezeigungen von oberster Stelle her lag, wenigstens gelegen hatte, so gewiß stand ihm jetzt fest, es käme bei dem glänzenden Schein der Dinge nicht viel heraus, und das, was man "das Glück" nenne, wenn's überhaupt existiere, sei was anderes als dieser Schein. "Das Glück, wenn mir recht ist, liegt in zweierlei: darin, daß man ganz da steht, wo man hingehört (aber welcher Beamte kann das von sich sagen), und zum zweiten und besten in einem behaglichen Abwickeln des ganz Alltäglichen, also darin, daß man ausgeschlafen hat und daß einen die neuen Stiefel nicht drücken. Wenn einem die 720 Minuten eines zwölfstündigen Tages ohne besonderen ärger vergehen, so läßt sich von einem glücklichen Tage sprechen. (Theodor Fontane, Effie Briest) ^


Annäherung

Nichts bringt Menschen einander näher (sei es auch nur scheinbar und trügerisch) als das Verständnis für die Trauer und Melancholie des anderen; diese Atmosphäre stiller Anteilnahme, die alle Bedenken und Hemmungen einschläfert und einer zarten wie einer vulgären, einer gebildeten wie einer einfachen Seele verständlich ist, ist eine sehr einfache und dennoch sehr seltene Art der Annäherung. (Milan Kundera: Der Scherz) ^


Vorrat an Gemeinsamkeit

Ein Alleinsein würde kommen, gegen das wir einen Vorrat an Gemeinsamkeit anlegen wollten. Wer kann sich andauernd auf der Tagesseite der Erde halten? Wie soll man es sich versagen, wenigstens im Geiste an jene Orte zurückzukehren, die, jetzt verödet, einst jenen sehr flüchtigen Stoff zu binden wußten, für den Glück ein Verlegensheitsname ist. (Christa Wolf: Sommerstück) ^


Auf alles gefaßt

Denn es ist nicht die Trägheit allein, welche macht, dass die menschlichen Verhältnisse sich so unsäglich eintönig wiederholen, es ist die Scheu vor irgendeinem neuen, nicht absehbaren Erlebnis, dem man sich nicht gewachsen glaubt. Aber nur wer auf alles gefasst ist, wer nichts, auch das Rätselhafteste nicht; ausschließt, wird die Beziehung zu einem anderen als etwas Lebendiges leben und wird selbst sein eigenes Dasein ausschöpfen. (Rainer Maria Rilke)  ^


Ein weißer Schatten

Das war Sylvios liebste Beschäftigung: etwas in Gedanken so verlaufen zu lassen, wie es in Wirklichkeit nie verlief. Alles befriedigender verlaufen zu lassen, dazu schrieb er die Wirklichkeit um. Er ertrug Wirklichkeit überhaupt nur noch, wenn er sie schreibend beantwortet hatte. Nicht, daß diese Welt nicht schön wäre, sie ist nur unerträglich. Man mußte sie, um sie erträglich zu machen, zwingen, einen weißen Schatten zu werfen. Das ging, wenn überhaupt, nur schriftlich. (Martin Walser: Ohne einander) ^


Nur eine Entscheidung

Das Wichtigste bei der Liebe, daß sie eine Frage der Entscheidung ist. Das habe ich dir schon einmal gesagt, und ich sag's dir wieder: Man muß einfach beschließen - jetzt ist es Liebe. Genau so. Das ist jetzt Liebe. Alles, was ich höre und rieche und sehe und denke - das ist jetzt Liebe. Schau her, Naomi, und schnuppere und faß an und schmecke und hör gut, gut zu. Was jetzt geschieht, das ist Liebe. Das ist jetzt Liebe. (Meir Shalev: Judiths Liebe) ^


Verzeihen können

Es ist schwieriger, Leib und Seele unter einen Hut zu bringen, als Mann und Frau. Von dieser Ehe kann man sich nicht mal scheiden lassen. Nur umbringen kann man sich, aber was nützt das? Leib und Seele müssen fähig sein, gemeinsam aufzuwachen, gemeinsam zu altern, dann sind sie wie zwei arme alte Vögel im selben Käfig, die beide keine rechte Kraft mehr in den Flügeln haben. Der Körper ist schon schwach und hinfällig, die Seele reuig und vergeßlich, und voreinander fliehen können sie auch nicht. Nun, was bleibt, ist nur verzeihen können. Das ist die Weisheit, die bestehen bleibt, nachdem all die anderen Weisheiten am Ende sind: verzeihen können. Wenn nicht einem andern Menschen, dann wenigstens sich selbst verzeihen." (Meir Shalev: Judiths Liebe) ^


Zwei Arten

Aber es gibt eine Weisheit, die feierlich aussieht und der Freude spottet, und dann gibt es auch wiederum eine tiefere Weisheit, die sich dazu herbeiläßt, fröhlich zu sein, sooft die Gelegenheit dazu sich bietet, und sich am häufigsten unbedeutender Anlässe zur Freude bedient - denn wenn wir auf begründete Anlässe warten wollen, können wir überhaupt nur recht selten vergnügt sein. (Nathaniel Hawthorne: Der Marmorfaun) ^


Unvoreingenommenheit bewahren

Hans kann immer noch lernen, was Hänschen nicht gelernt hat, wenn er nur lernen will. Keiner kann uns daran hindern, unser Verhalten zu ändern, außer wir selbst. Für gewöhnlich wird das Alter vorgeschoben. Der uralte Vorwand, man sei zu alt, um etwas zu ändern, wird immer von denen vorgeschoben, die schon in jungen Jahren festgefahren waren. Mit anderen Worten, die ablehnende Haltung gegenüber Veränderungen – nicht das Alter – gerät mit der Fähigkeit zur Veränderung in Konflikt. Das Alter ist für einen unvoreingenommenen und fantasievollen Erwachsenen kein Hinderungsgrund, neue Wertmaßstäbe und Verhaltensweisen zu entwickeln. (Ernie J. Zelinski: Die Kunst, mühelos zu leben) ^


Maß halten

Nur weil uns ein gewisses Maß an Arbeit gut tut, folgt daraus nicht automatisch, dass doppelt so viel Arbeit doppelt gut tut. Ab einem gewissen Punkt greift das Gesetz des abnehmenden Ertragszuwachses: zusätzliche Arbeitsstunden bringen immer weniger. Und es geht bergab. Wir kommen schließlich an einen Punkt, an dem, wie ich es nenne, das »Gesetz des zunehmenden Schadens« wirkt. Jede zusätzliche Arbeit vermindert nun die Lebensfreude und führt zu den unerfreulichen Begleiterscheinungen seelischer und körperlicher Erschöpfung. (Ernie J. Zelinski: Die Kunst, mühelos zu leben) ^


Das Ideal

Für erfolgreiche Menschen ist eine persönliche Aufgabe oder ein individuelles Lebensziel eine Hauptquelle ihres Glücks. Wenn es Ihnen morgens schwer fällt, aus dem Bett zu kommen, haben Sie Ihre persönliche Aufgabe noch nicht gefunden. Ein wichtiges Lebensziel belebt. Man springt morgens aus dem Bett und kann es gar nicht erwarten loszulegen, egal ob es draußen regnet oder schneit oder die Sonne scheint. Die persönliche Aufgabe ist eine Berufung, die aus der Seele kommt; sie ist Sinn und Zweck des Daseins und der Grund, warum man überhaupt auf der Welt ist. (...) Viele Menschen, die unglücklich sind, haben ihre Lebensaufgabe noch nicht gefunden. Entweder, weil sie nicht danach gesucht haben oder weil sie nicht wissen, wie man das macht. (Ernie J. Zelinski: Die Kunst, mühelos zu leben) ^


Überflüssige Sorgen

40 Prozent aller Sorgen drehen sich um Ereignisse, die nie eintreffen. 30 Prozent aller Sorgen drehen sich um Ereignisse, die schon längst Vergangenheit sind. 22 Prozent aller Sorgen drehen sich um triviale Dinge. 4 Prozent aller Sorgen drehen sich um Dinge, die nicht zu ändern sind. 4 Prozent aller Sorgen drehen sich um Dinge, die man ändern könnte. 96 Prozent aller Sorgen beziehen sich also auf Dinge, auf die wir keinen Einfluss haben und sind damit reine Zeitverschwendung. Noch viel überflüssiger ist es aber, sich Sorgen über Dinge zu machen, auf die man Einfluss hat, gerade weil man etwas tun kann. Langer Rede kurzer Sinn: 100 Prozent aller Sorgen sind überflüssig. (Ernie J. Zelinski: Die Kunst, mühelos zu leben) ^


In den Kreislauf zurück

Ich glaube, etwas loszulassen kann mindestens so erregend sein wie es erobert zu haben, glaube, daß höchste Befriedigung in einer Sache nicht darin besteht, sie zu beherrschen, sondern sie, nachdem man sie endlich beherrscht hat, weiterzugeben, zurück in den Kreislauf der Zeit. Das Gönnerische dabei ist nicht aus eitlem Stolz gespeist, nicht aus der Beleidigung durch den zu erwartenden Tod, sondern aus tiefstem Einverständnis mit dem Prinzip der Vergänglichkeit, die alles, was entstanden ist, entwertet, einer Zukunft zuliebe, die sich erst beweisen muß, und sich beweisen wird. Schon weil sie keine andere Wahl hat. (Helmut Krausser: UC)  ^


Funktion des Geldes

über Geld spreche ich ungern, jeder hat sein eigenes Quantum, das ihn sorgenfrei macht. Glücklich macht Geld nicht. Es erhöht die Mobilität, und man sollte sich darum kümmern, solange fehlendes Geld die eigenen Verhältnisse beengt. Aber geistige Ellbogenfreiheit ist meist schon bei einem weit geringeren Einkommen gegeben, als die Gier einem einflüstert. Leben Sie nicht für Geld. Das Geld soll Sie leben lassen. Wer sich über Geld definiert, verdient vielleicht Millionen, aber genauso millionenfaches Mitleid. Was im Leben zählt, ist umfassende Bildung, der passende Partner, Flexibilität und nie versiegende Neugier. (Helmut Krausser: UC) ^


Demut

Demut ist die sanfteste Art, metaphysischer Not zu begegnen. Hier gesteht der einzelne seine Nichtigkeit ein, behält aber die Möglichkeit, dieser Nichtigkeit weiterhin zu widersprechen. Nur daß diesem Widerspruch nun alle Illusion, aber nicht die Würde genommen ist. Demut ist keine Unterwerfung, sondern jenes einsichtige Selbstgefühl, in dem der einzelne seine Nichtigkeit weiß und doch außerstande ist, sich vor diesem Wissen zu erniedrigen. (Hartmut Lange: Tagebuch eines Melancholikers) ^


Auf Normalmaß zurück

"Der außerordentlich dilettantische Wahlspruch der 70er Jahre: Kein Mensch ist wie der andere, ein fataler Irrtum. Es ist eher ernüchternd zu sehen, wie wir alle einander gleichen, in unseren kleinen Träumen und Sehnsüchten, in unseren Ideen und dem Aussehen, wenn wir das akzeptierten, uns als Teilchen eines großen Ganzen begriffen, mit einer sehr begrenzten Haltbarkeitsdauer, könnten wir erleichtert aufatmen, dankbar sein irgendeinen Menschen zum Teilen der Nichtigkeit zu finden, ein Dach eine Deck eine Buch, wir könnten uns gestatten uns nicht zu wichtig zu nehmen, und die Welt wäre ein erfreulicherer Ort." (Sibylle Berg). ^


Nicht-Wissen

Heute Nacht wachte ich plötzlich auf und dachte: Teilhard sagt, was den Menschen zum Menschen mache und ihn von allen übrigen Geschöpfen unterscheide, sei: der Mensch weiß, daß er weiß. Ich sage aber, daß es atwas anderes gibt, was noch viel eigentümlicher ist und noch viel deutlicher für die ungeheuerliche Sonderstellung des Menschen in der gesamten Schöpfung spricht: der Mensch weiß, daß er beinahe nichts weiß. Das heißt nämlich, daß er weiß: es gibt ein Universum an "Wissen", das ihm nicht (noch nicht) zugänglich ist. Dieses Wissen vom Nicht- Wissen oder Noch-nicht-Wissen ist das umfassendste Wissen, das es gibt. (Luise Rinser: Baustelle. Eine Art Tagebuch) ^


Bis zum Höhepunkt führen

"Erst am letzten Tag seines Lebens kann man sagen, ob man glücklich gewesen ist", meinte er. "Vorher muß man sein Schiff so gut steuern, wie man es vermag. Folge deinem Weg, Elia, das ist alles." "Der mich nirgendwo hinführt", murmelte Elia und dachte ganz fest an Maria. "Das ist etwas anderes. Das ist nicht das gleiche, und wenn du dafür keine Abhilfe schaffst, machst du dich schuldig." "Schuldig woran? Verdammt bin ich, ja?" "Schuldig", sprach Don Salvatore weiter, "daß du dein Leben nicht bis zu dem Höhepunkt geführt hast, den es hätte erreichen können. Vergiß das Glück, vergiß das Schicksal. Und gibt dir einen Ruck, Elia. Reiß dich zusammen, und geh bis zum Ende, denn bis heute hast du doch nicht geleistet. (Laurent Gaude: Die Sonne der Scorta)  ^


Das Leben aushalten

Ja, wir mühen uns, jeder nach seinen Kräften. Sie mit den Ihren, ich mit den meinen; Gott, wie wir uns mühen! Aber das führt uns alle spät oder früh zum sichern Tod. Der einzige, der nicht daran denkt, ist der muntere Tor. Er hält sich für überlegen, wenn er es vergißt. Aber wohin führt es, wenn wir daran denken? Zum Tode. Und wenn wir es vergessen? Zum Tode. Nun also-? Dann hat einer also eine törichte Freude mehr - die ein anderer ihm nicht neidet. Der Doktor dachte nach und sagte: Er hat die Freude, das Leben auszuhalten. Das ist nicht so töricht. (Knut Hamsun: Das letzte Kapitel) ^


Thoreau: Walden (1)

Das meiste von dem, was meine Mitmenschen für gut halten, halte ich im Grunde meines Herzens für schlecht, und wenn ich etwas im Leben bereue, dann wohl am ehesten meinen guten Lebenswandel. Von welchem Teufel war ich besessen, mich so gut zu betragen? Du magst so weise reden, wie du kannst, alter Mann, du, der der siebzig Jahre lebte, und nicht ohne Ehren; ich aber folge einer unwiderstehlichen Stimme, die mich fortlockt von alledem. Eine Generation läßt die andere zurück wie gestrandete Schiffe. Ich finde, wir können ruhig viel mehr Vertrauen haben und die Sorge um uns selbst in dem Maße aufgeben, als wir sie ehrlich anderen zuwenden. Die Natur paßt sich unserer Schwäche ebenso an wie unserer Stärke. Die ständige Anstrengung und Angst mancher Menschen ist fast eine unheilbare Krankheit geworden. Wir sind geneigt, die Wichtigkeit unserer Arbeit zu überschätzen. Und doch: wie vieles ist ohne unser Zutun geschehen? Und wenn wir krank geworden wären? Wie vorsichtig sind wir doch! Wo es sich nur vermeiden läßt, sind wir entschlossen, ohne Vertrauen auszukommen. Den ganzen Tag auf der Hut, sprechen wir abends nur unwillig unsere Gebete und überlassen uns dem Ungewissen. So unbedingt und ausschließlich hängen wir an dem Leben, das wir führen, halten es hoch und verschließen uns jeder Möglichkeit einer änderung. Das ist der einzige Weg, sagen wir. (Henry David Thoreau: Walden oder Leben in den Wäldern) ^


Thoreau: Walden (2)

überlegen wir doch einmal, welchen Dingen unsere Sorgen und ängste vorwiegend gelten, und ob es überhaupt notwendig ist, sich Sorgen zu machen oder sich zumindest vorzusehen. Es wäre kein schlechter Gedanke, mitten in unserer Zivilisation ein einfaches Grenzerleben zu führen, nur um zu erfahren, was die notwendigsten Lebensbedürfnisse eigentlich sind und welche Methoden es gibt, sie zu befriedigen. (Henry David Thoreau: Walden oder Leben in den Wäldern) ^


Thoreau: Walden (3)

Die Mehrzahl der Menschen bringt ihr Schicksal in stiller Verzweiflung hin. Was wir Resignation nennen, ist nichts anderes als chronische Verzweiflung. Aus der hoffnungslosen Stadt geht man aufs hoffnungslose Land und sucht Trost an der Schönheit von Nerz und Bisamratte. Eine stereotype, wenn auch unbewußte Form der Verzweiflung ist sogar unter dem verborgen, was man allgemein als Spiele und Unterhaltungen bezeichnet. Sie haben nichts von einem Spiel an sich, denn das kommt erst nach der Arbeit. Ein charakteristisches Merkmal der Weisheit jedoch ist es, nichts aus Verzweiflung zu tun. Wenn wir bedenken, was - nach den Worten des Katechismus - das höchste Gebot des Menschen ist und was der wahre Lebenszweck, die notwendigen Lebensbedürfnisse sind, dann scheint es, als hätten die Menschen sich absichtlich für die allgemein übliche Lebensweise entschieden, weil sie diese jeder anderen vorziehen. Indes sind sie ehrlich davon überzeugt, keine andere Wahl zu haben. Freilich, wache und gesunde Naturen sind sich noch dessen bewußt, daß die Sonne einmal rein aufging. Es ist jedoch nie zu spät, unsere Vorurteile aufzugeben. Auf keine Art des Denkens oder Handelns, wie alt sie auch sei, kann man sich verlassen, ohne sie vorher erprobt zu haben. Was heute alle Welt als wahr anpreist oder stillschweigend dafür gelten läßt, kann morgen falsch sein, sich in Rauch auflösen, den mancher für eine Wolke hielt, die fruchtbaren Regen über seine Felder bringen würde. (Henry David Thoreau: Walden oder Leben in den Wäldern) ^


Augenblicken wahren Lebens

Das Dunkel, die trostlose Finsternis, das ist der schreckliche Kreislauf des täglichen Lebens. Wozu steht man am Morgen auf, ißt, trinkt, legt sich abermals wieder hin? Das Kind, der Wilde, der gesunde junge Mensch, das Tier leidet unter diesem Kreislauf gleichgültiger Dinge und Tätigkeiten nicht. Wer nicht am Denken leidet, den freut das Aufstehen am Morgen und das Essen und Trinken, der findet Genüge darin und will es nicht anders. Wem aber diese Selbstverständlichkeit verlorenging, der sucht im Lauf der Tage begierig und wachsam nach den Augenblicken wahren Lebens, deren Aufblitzen beglückt und das Gefühl der Zeit samt allen Gedanken an Sinn und Ziel des Ganzen auslöscht. (Hermann Hesse: Gertrud) ^


Angewiesen auf die Guten

Mit welch einer blinden Selbstverständlichkeit handeln nicht die Guten! Wie sehr sticht nicht ihre schlafwandlerische Sicherheit ab von unserer Unsicherheit, unserem Mißtrauen! Wie geduldig und langsam wächst nicht das Bild des neuen Menschen, das liebevolle, das allein unsere Bedingungen ändern kann! Wann werden wir lernen, wie blindlings wir darauf angewiesen sind, auch mitten im Sturm, daß einige das Gute wollen? (Lars Gustafsson: Herr Gustafsson persönlich) ^


Wider besseren Wissens

Raul legte sich auf seine Matratze und fand, wie an jedem Abend, nicht in den Schlaf. So unruhige Gedanken, Panik, sobald das Licht gelöscht, kamen sie, füllten den Raum, hockten sich auf seine Brust. Die Zeit, die ihm davonlief, bald schon wurde er vierzig, das Leben vorbei und jeder Tag vertan. Und wider besseren Wissens schwor Raul sich, den morgigen Tag zu nutzen, doch wenigstens zu versuchen, etwas Vernünftiges zu machen. (Sibylle Berg: Amerika) ^


Gewicht abwerfen

Wenn man alles Gewicht abwerfen will, das auf der Seele lastet, nachdem man versucht hat, seine Pflicht zu tun, oder wenn man geduldig ertragen mußte, daß andere ihre Pflicht einem selbst gegenüber erfüllt haben, so kenne ich keinen sichereren Weg, als alleine hinauszugehen - entweder am Tagesanfang, wenn die Erde noch unberührt ist und nur Gott überall ist, oder am Abend. Dann herrscht das Schweigen bis hin zu den Sternen, und zu ihnen hinaufschauend erkennt man die Armseligkeit des vergangenen Tages, die Wertlosigkeit der Dinge, um die man sich gemüht hat, und die Torheit, ärgerlich, ruhelos und angstvoll gewesen zu sein. Was bedeuten nachlässige, hastige Bett-Gebete, die eilig in einer Atmossphäre von Wolldecken gesprochen wurden, verglichen mit der tiefen Demut von der Erhabenheit des Himmels? (Elizabeth von Arnim: Elizabeth auf Rügen. Ein Reiseroman) ^


Gesunde Reue

Ich glaube, wir verschwenden viel zuviel Zeit mit Reue. Die gesunde Einstellung, die einzig vernünftige, einem Fehler oder einer begangenen Sünde gegenüber, ist sicherlich die, seine moralischen Schultern kräftig zu schütteln. Wie können wir das Leben ertragen, wenn wir dauernd in Sümpfe bitterer und oft ungerechtfertigter Selbstbeschuldigung fallen? Allmorgendlich kehrt das Licht wieder und damit auch die Möglichkeit, uns zu bessern. (Elizabeth von Arnim: Elizabeth auf Rügen. Ein Reiseroman) ^


Das Minimum

Wenn ich auch kein Glück in der Lotterie des Lebens hatte, so halte ich mich dennoch nicht für unglücklich. Ich schulde keinem Menschen auch nur einen Pfennig, habe noch immer ein sauberes Hemd anzuziehen, kann mir ein Hammelkotelett leisten und mein Nachtlager bezahlen. Bei meinem Tode werde ich noch soviel Wertsachen hinterlassen, daß die Bestattungskosten davon beglichen werden können." (Tobias G. Smollet: Humphry Clinkers denkwürdige Reise) ^


Überflüssiges abschütteln

Er erinnerte sich daran, gelesen zu haben, daß Charlie Chaplin von der Notwendigkeit gesprochen habe, nach Beendigung eines Films den Baum zu schütteln, damit die überflüssigen Zweige, die überflüssigen Blätter, die überflüssigen Früchte herunterfielen und schließlich nur noch die sozusagen wesentliche Nacktheit zurückblieb, und daran, daß sich dieser Gedanke seither in ihm tief eingenistet hatte und ihn zwang, ständig sein Leben zu überdenken, die Bücher, die er geschaffen hatte oder vorhatte zu schaffen, die Pläne, die ständig widersprüchlich und heftig in seinem Kopf brodelten, die Menschen, die ihn aufsuchten, damit er mit ihnen die schwierigen Wasser der Analyse durchschiffte. (Antonio Lobo Antunes: Einblick in die Hölle) ^


Verbindung mit der wirklichen Welt

"Meiner Ansicht nach müßten Sie mit Ihrer Einsamkeit brechen. Sie ist eine schlechte Ratgeberin. Sie brauchten jemand, damit Sie sich nicht in Ihrem eigenen Denken verirren. Selbst richtige Gedanken können uns zerstören, wenn wir nur eine Mauer vor uns haben. Ganz allein recht zu haben ist Wahnsinn. Wie Kierkegaard sagte, die Tür des Glücks geht nicht nach innen auf. Sie brauchen etwas, das Sie wieder mit der wirklichen Welt verbindet." (Henri-Frederic Blanc: Im Reich des Schlafes) ^


Erkenntnisse

Seit einem halben Jahr durchwachst du die Nächte, verzehrst dich vor Unrast, führst ein Leben wie ein Kleriker, der schon Gelübde angelegt hat, wie ein Benediktiner, der Wissenschaftsbäder nimmt, um sein Fleisch abzutöten - und was hast du mit alledem erreicht? (...) Jeder Mißerfolg beweist immerhin das eine: daß man verkehrte Mittel angewendet hat. (...) Es ist genug, daß das Leben ohnedies alle Tage ein wenig auf unsern Tod hinarbeitet - Herrgott, wir wollen ihm doch nicht noch helfen, schneller als nötig mit uns fertig zu werden! (Eugène Fromentin: Dominique) ^


Das Leben!

Ich möchte Ihnen ein Heilmittel empfehlen, das für jedes übel in Betracht kommt, auch für Leiden der Selbstbeobachtung, die ich aus eigener Erfahrung zu wenig kenne. Ich meine einfach eine Art von geistiger Hygiene: gute, richtige Gedanken, vernünftige Anschauungen, Zuneigungen, die nicht den Boden der Wirklichkeit verlassen - mit einem Wort: die weise Ausnützung aller Kräfte und Tatmöglichkeiten unseres Lebens. Das Leben - glauben Sie mir! - das Leben ist die große Antithese und das große Heilmittel für alle Leiden, die einem Irrtum entspringen. Tun Sie nur erst einmal einen Schritt ins Leben - wohlverstanden ins wirkliche Leben; erkennen Sie es in seinen Gesetzen, Notwendigkeiten, Härten, mit all seinen Pflichten und Fesseln, Plagen und Mühen, seinen wahren Schmerzen und seinen Freuden - dann werden Sie alsbald auch sehen, wie wohltuend gesund es ist, wie schön und stark und fruchtbar gerade in seiner Gebundenheit an feste Regeln und Ordnungen; und an dem Tag, an dem Ihnen das aufgegangen ist, werden Sie wissen, daß alles übrige Künstelei ist, daß sich keine Dichtung ersinnen läßt, die größer ist als das wirkliche Leben, daß seine Höhe von keiner Begeisterung überflogen werden können, daß seine Grenzen weit genug sind für jede Phantasie, daß es die gierigsten Herzen zu sättigen und die anspruchsvollsten zu entzücken vermag. (Eugène Fromentin: Dominique) ^


Aufmunterung

Was ich bezwecke - begreifst du das nicht? - ist, dich aus deinem Bau hervorzulocken, du Ritter von der traurigen Gestalt, du Märtyrer des gebrochenen Herzens. Du bildest dir ein, daß die Erde Trauer trägt, alle Schönheit sich schwarz verschleiert hat, alle Menschen in Tränen zerfließen und Hoffnung, Freude, glückliche Erfüllung von Wünschen abgeschafft sind - bloß weil dir das Schicksal zeitweilig einmal härter zusetzt. Schau dich doch ein wenig um und halte dich zu den vielen Leuten, die glücklich sind oder es zu sein glauben. (Eugène Fromentin: Dominique) ^


Beispielwirkung

Es ist ein Allgemeinplatz, aber nichtsdestoweniger wahr, daß Beispiele stärker auf das Gemüt wirken als Regeln; und wenn dies schon für das Hassenswerte und Tadelnswerte gilt, dann um so mehr noch für das Liebeswürdige und Lobenswerte. Hier packt uns mächtig der Wetteifer und regt uns unwiderstehlich zur Nachahmung an. Ein guter Mensch ist daher ein ständiges Muster all seiner Bekannten und in diesem engen Kreise von weit größerem Nutzen als ein gutes Buch. (Henry Fielding: Joseph Andrews Abenteuer) ^


Nichtstun

"Warum denkst du nicht daran, selbst zu schreiben? Sowohl jetzt wie auch künftig werden dir deine Verhältnisse erlauben, dich ganz dieser Kunst zu widmen." Hussain zuckte verächtlich mit den Schultern. "Ich soll schreiben, damit andere Leute etwas zu lesen haben? Warum nicht umgekehrt?" "Welche der beiden Möglichkeiten ist wohl großartiger?" "Frag mich nicht nach Großartigkeit, sondern lieber nach dem, was Glück bedeutet. Ich halte Arbeit für den Fluch der Menschheit, und zwar nicht, weil ich faul bin. Nein, keinesfalls. Aber ich meine, daß man beim Arbeiten Zeit verschwendet, die Persönlichkeit in Fesseln legt und das pralle Leben versäumt. Ein glückliches Leben ist fröhlicher Müßiggang." Kamals Blick verriet, daß er den Freund nicht ganz ernst nahm. "Ich weiß nicht, wozu ein Leben ohne Arbeit gut sein sollte. Eine Stunde Nichtstun ist schwerer herumzubringen als ein Jahr voller Arbeit." "Das ist ja das Unglück! Was du sagst, trifft genau zu. Denke nicht, daß ich es jetzt schon schaffe, nichts zu tun. Leider nicht. Bis jetzt verplempere ich meine Zeit noch nicht sogenannten nützlichen, in Wirklichkeit aber nichtssagenden Dingen. Da bleibt nur zu hoffen, daß ich mir eines Tages meine Vorstellung vom glücklichen Leben erfülle und es fertigbringe, einzig dem Müßiggang zu frönen." (Nagib Machfus: Palast der Sehnsucht) ^


Alte Freundschaften

Glück: Gute, langwährende Ehen, alte Freundschaften beglücken vermutlich durch einen Erinnerungsaustausch, der beständig durch die Filter aller hinzukommenden Erfahrung hindurchgetrieben, erneuert und lebendig gehalten wurde bis zu dem Punkt, an dem ihr Witz und ihre Wahrheit nicht mehr im Anspruch auf eine allgemeine Geltung, sondern in den Akten dieser vertrauten Verständigung selbst liegt. (Kundera hat darüber klug geschrieben.) (Silvia Bovenschen: älter werden) ^


Mit eigenen Zielen

Es gibt keinen Zweifel, daß es notwendig ist, für äußere Ziele zu arbeiten und unmittelbare Belohnungen aufzuschieben, um insbesondere in einer komplexen Gesellschaft zu überleben. Aber man braucht dazu nicht in eine Marionette verwandelt zu werden, die von sozialen Kontrollen geführt wird. Die Lösung besteht darin, allmählich von den gesellschaftlichen Vorteilen unabhängig zu werden und zu lernen, wie man sie durch Belohnungen ersetzt, die man selbst in der Hand hat. Das bedeutet nicht, jedes Ziel aufzugeben, das die Gesellschaft bietet, sondern eher, eine Reihe eigener Ziele zusätzlich oder anstelle derjenigen zu entwickeln, mit denen andere versuchen, uns zu bestechen. (Mihaly Csikszentmihaly: Flow. Das Geheimnis des Glücks) ^


Energie in neue Ziele

Nach einem erfreulichen Ereignis wissen wir, daß wir uns verändert haben, daß das Selbst gewachsen ist: In gewisser Hinsicht sind wir selbst dadurch komplexer geworden. (...) ... wächst das Selbst lediglich aufgrund angenehmer Erfahrungen nicht. Um Komplexität zu erreichen, muß man psychische Energie in neue Ziele investieren, die eine relative Herausforderung darstellen. (Mihaly Csikszentmihaly: Flow. Das Geheimnis des Glücks) ^


Unerwartete Gelegenheiten erkennen

Fast jede Lebenssituation bietet einem Möglichkeiten zum Wachstum. (...) Doch um diese Transformation zu bewältigen, muß man bereit sein, unerwartete Gelegenheiten zu erkennen. Die meisten Menschen laufen aufgrund ihrer genetischen Programmierung und gesellschaftlichen Konditionierung auf so starren Bahnen, daß sie sämtliche Chancen ignorieren, einen anderen Kurs einzuschlagen. (Mihaly Csikszentmihaly: Flow. Das Geheimnis des Glücks) ^


Die Magie des Waldes

Wann immer sie konnte, unternahm sie einen Spaziergang in den Wald. Aus ihrer Sicht war der Wald etwas Magisches: ein Lebewesen, in dem man herumlaufen konnte. Er brachte alle Fragen zum Schweigen. Um etwas über den Sinn des Lebens, die Bedeutung des Todes oder die Ursache des Seins zu erfahren, genügte es, in die Hocke zu gehen und den Waldboden in Augenschein zu nehmen. Wer einen Ameisenstaat bei der Besiedelung eines Baumstumpfs beobachtete; wer sah, wie Grashalme auf einem Felsblock wuchsen; wer Pilze kannte, die in Grüppchen beisammenstanden wie dünnbeinige Partygäste und gemeinsam einen fauligen Ast verdauten – der wusste, dass die Antwort auf alle Fragen "Stoffwechsel" lautete. (Juli Zeh: Unterleuten) ^


Späte Erkenntnisse

Ihr Vater hatte sichtlich nichts mehr mit dem Mann gemein, den sie gekannt hatte. Eine neue Art, das Leben zu betrachten, war an die Stelle der früheren getreten. An die Stelle des alten war ein neuer Mensch getreten. Doch wie es in solchen Fällen gewöhnlich geschieht, hatte er sich nicht nur verändert, weil er kurz vor Schluss gemerkt hatte, dass das Leben schön sei und dass er es noch genießen wollte, bevor es zu spät war, sondern auch in seiner Einstellung zur Vergangenheit, zu den seit seiner Jugend angehäuften Fehlern. Jede seiner Gesten sagte dies. Selbst seine Stimme war anders. Dr. Salmand strahlte jetzt jene Bedachtsamkeit aus, am Leben zu bleiben, die je nach der Eigenart des Menschen mehr oder weniger sichtbar ist. Bei ihm war nur die völlige Unfähigkeit zu sehen, sich irgendeiner Gefahr auszusetzen, nur das in sein Gesicht geschriebene Gefühl, dass der Mann, der er war, nichts mehr mit dem von gestern zu tun hatte, dass das Leben, so wie er es heute begriff, das einzige war, das er hätte führen sollen. (Emmanuel Bove: Colette Salmand) ^


Der Gott des Lachens

Ich wundere mich über Ihre Verwunderung. Lachen Sie ein bißchen, das lüftet das Gehirn durch! Ein Philosoph ohne Humor ist wie Roquefort ohne Wein. Der Verfall unserer Sitten hat an dem Tag begonnen, als der Gott des Lachens aus dem Tempel der Wahrheit verbannt wurde. Die Ironie ist eine Eigenschaft des Heiligen Geistes. Man wird komisch geboren und stirbt als Narr, was dazwischen abläuft, hat ebensoviel von einem Zirkus wie vom Karneval. (Henri-Frederic Blanc: Teufelei) ^


Mißtrauen gegen uns selbst

Unschuld, Harmlosigkeit(en) können sich in der Tat mitunter selber belügen. Lassen wir dies nie außer Betracht. Die besten Absichten bedürfen unerschrockener Kontrollierung. Vergessen wir keinen Augenblick, daß wir Mechanismen sind, Bestandteile eines uns in vieler Hinsicht total rätselhaften, göttlichen Gefüges. Hiebei ist nicht nötig zu verzagen. Aber ich halte es gegenüber allem dem, was geschehen ist, für schicklicher und klüger, für vorteilhafter, für ansprechender, hie und da den Glauben, das Vertrauen zu uns zu verlieren, das deswegen noch nicht stirbt. Vertrauen und Mißtrauen bilden gern in den Aufge[we]ckten eine Identität. Es ist zu raten, daß wir zugeben, wir könnten uns irren in dem Erfassen unseres eigenen sowohl wie des Gesichtes dessen, was uns umgibt. (Robert Walser: Der kleine Tierpark) ^


Der wohlige Halbschlaf

In wohligem Halbschlaf liege ich im Bett, Schon um sechs Uhr greife ich im ersten leichten Erwachen nach dem kleinen Transistorradio, das neben meinem Kopfkissen steht, und schalte es ein. Es werden gerade Nachrichten gesendet, ich bin noch nicht in der Lage, die einzelnen Worte zu unterscheiden und schlummere wieder ein, so daß sich die Sätze der Sprecher in Träume verwandeln. Das ist die schönste Phase des Schlafs und der herrlichste Moment des Tages: dank des Radios genieße ich mein wiederholtes Einschlummern und Aufwachen, diese wunderbare Schaukel zwischen Wachsein und Schlaf, die für sich schon ausreicht, um die Geburt in diese Welt nicht zu bedauern. (Milan Kundera: Die Unsterblichkeit)


Leben lassen

Wieviel würde die Gesellschaft und in der Folge die menschliche Natur selbst, die von dem höchsten Grade der Verschönerung, deren sie fähig ist, noch so weit entfernt scheint, durch die Erfüllung dieses Wunsches gewinnen, wenn alle Leute von Genie und Talenten, alle Gelehrte, alle Schriftsteller, wenigstens alle gute, ohne Eifersucht und niedrige Privatabsichten in einem tugendhaften und freundschaftlichen Wetteifer auf ihrer gemeinschaftlichen Laufbahn neben einander fortliefen, einander allezeit Gerechtigkeit widerfahren ließen, jedes neu aufkeimende Talent mit Vergnügen willkommen hießen, und anstatt es zu schrecken und niederzuschlagen, es auf alle mögliche Weise aufzumuntern bedacht wären. (Wieland: Musarion)


Bäume und Brückenpfeiler

Meint nicht fast jeder, schon mal fast gestorben zu sein? Das ist keine exklusive Erfahrung, im Gegenteil, es scheint zum Erfahrungsschatz eines jeden Erwachsenen oder Halberwachsenen zu gehören, mindestens einmal schon um ein Haar gestorben zu sein. Ist das vielleicht ein Zeichen des Erwachsenseins? Und es stimmt ja, meistens jedenfalls. Fast ein jeder ist schon beinahe überfahren worden, beinahe ertrunken, in einer großen Welle am Strand, in einem Fluß, beinahe wäre das Flugzeug, in dem er saß, abgestürzt oder mit einem anderen kollidiert. Selbst zu Friedenszeiten ist Leben im Rückblick bloß Überleben - ein Wunder, daß all die Menschen rings um einen herum noch da sind, beinah wären sie alle schon gestorben. Fast jeder hat so eine Geschichte zu erzählen, und viele halten es für ein großes Glück, überlebt zu haben, bis zu diesem Satz, jetzt, hier. Einmal über die Straße, ohne nach links und rechts zu schauen, einmal beim Fensterputzen nicht aufgepaßt, einmal im Auto die Augen zugemacht, für ein paar Sekunden, und es ist vorbei, Bäume oder Brückenpfeiler stehen überall. (David Wagner: Leben)


Relationen

Man müsste es ausknipsen können, das Mit-sich-selbst-leiden. Wäre man doch nur ein Lichtschalter, eine simple technische Apparatur. Gelenkt von klaren Befehlen, an oder aus. Die Stimmen, ein Tribunal in meinem Kopf von Leuten, die es alle besser wissen. Ich schweige und denke, ich will es versuchen. Ich wende den Kopf und sehe die Relationen: Da sind schon wieder Bomben explodiert, in einem Einkaufszentrum in Bagdad, und haben zwanzig Menschen in den Tod gerissen, Frauen und Kinder. Einfach so. Das sind die Relationen. Täglich irgendwo explodierende Bomben. Krieg. Stell dich also nicht so an! (Ursula Fricker: Außer sich)


Voraussicht

Wissen kann man es ja nicht, was die nächste Stunde bringen wird, und nur die Narren pflegen das ganz genau vorauszusagen; aber für diesen gefesteten, hellen, heiteren Menschen brachte sie nichts, was er nicht im Guten wie im Schlimmen mit in seine Rechnung gezogen hatte, und das ist immer viel und bedeutet im Bösen wie im Guten die Hauptsache und Hauptwaffe im bitteren Kampfe der Verwirrungen dieses verzwickten Daseins auf der Erde. (Wilhelm Raabe: Alte Nester)


Geruhsame Weltverachtung

"Darf ich dir einen Rat geben, einen Rat fürs Leben, den die Erfahrung mich gelehrt hat? Wenn du verhindern willst, was dir als Fanatiker blüht, nämlich, innerlich ausgebrannt zu sein, dann stell dich schleunigst mal auf einen neuen Standpunkt; übe dich darin, die Welt aus der Vogelperspektive zu betrachten, und du wirst sehen, wie klein und unwichtig einem alles vorkommt; geh davon aus, daß die Sache insgesamt ein feuchter Kehricht ist, die Menschen, Unrat sind, Eierschalen, Möhrenstängel, Kohlblätter, Überbleibsel, und du wirst nie wieder überrumpelt sein, verlierst nie mehr eine Illusion, stattdessen wirst du sehr viel Freude haben, wenn du einen hübschen Charakterzug bemerkst, eine gute Tat; leg dir, kurzum, ein bißchen geruhsame Weltverachtung zu - brauchst keine Angst zu haben, daß du dann herzlos wirst." (August Strindberg: Das Rote Zimmer, S. 327)


Das allerbeste Los

"Deine selige Mutter, Hennig", sagte sie, "war doch die Glücklichste auf dem Lauenhofe. Ich habe viel darüber nachgedacht und weiß es ganz bestimmt. Sie hat es recht sauer gehabt, ihr Leben durch; aber ihre Sorgen waren mit all ihren Freuden so fest verbunden, daß sie sie gar nicht voneinander unterscheiden konnte. Wenn ihr etwas mißlang, so geriet sie nur in größere Arbeit und Munterkeit, und das war ihre Lust vom Morgen bis spät in die Nacht. Und sie ist immer in ihrem Reich und Kreise geblieben und hat immer Bescheid gewußt in allen ihren Pflichten und Rechten, und damit allein schon hat sie das allerbeste Los gezogen. (Wilhelm Raabe: Der Schüdderump)


Das Heute gelten lassen

... so war er doch zu verständig und billig, um nicht einzusehen, daß die Welt sich doch nicht ganz seit dem Untergang des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation zum Schlechten verändert habe. Trotz aller Sehnsucht nach verlorenen bessern Zuständen konnte er auch den gegenwärtigen Tag gelten lassen und hielt es unter seiner Würde, die Gegenwart durch jenen bekannten, mehr oder weniger geschickt und feierlich verhängten Standesegoismus hinter das Licht zu führen. Er konnte sich immer noch an der Lebendigkeit, der Bewegung des Tages freuen, und wo er ihn nicht mehr verstand, da suchte er den Widerspruch lieber im stillen zu verdauen, als daß er sich mit seiner harmlosen Umgebung in einen zwecklosen und unfruchtbaren Kampf darüber eingelassen hätte. (Wilhelm Raabe: Der Schüdderump)


Das Glück und die Schwalben

Ich betrachte die Schwalben, die in unglaublicher Höhe ihre Runden drehen. Ihre sirrende Zufriedenheit am Himmel ist so großartig, daß man auf der Erde in ein neidisches Geheul ausbrechen möchte. Mit der Daseinsfreude einer einzigen Schwalbe würde ich wochenlang hochgestimmt leben können. Das Glück ist für Augenblicke da, wenn die Schwermut nach draußen flieht und den Körper endlich in Ruhe läßt. (Wilhelm Genazino: Mittelmäßiges Heimweh)


Wichtig ist, wie sehr

Am nächsten Tag konnte er dem Grafen ohne Verklausulierung sagen, daß das Fräulein von Levetzow jetzt alles in ihm besetzt halte, keines seiner ehedem so vielfältig gepflegten Interessen habe überlebt. Übrig geblieben sei das Interesse für Ulrike Levetzow. Dem Grafen könne er es sagen, weil er es ohnehin wisse. Der Graf drückte ihm die Hand und sagte: Was uns interessiert, belebt uns. Und je mehr es uns interessiert, desto mehr belebt es uns. Gleichgültig, wofür jemand sich interessiere, wichtig sei doch allein, wie sehr. (Martin Walser: Ein liebender Mann, S. 141)


Wir Glückspilze

Ja, es ist nicht ausgeschlossen, daß wir die sind, die das Beste, Höchste und Tollste erleben, zu dem die Menschheit fähig ist. Gerade wir sind die Gewinner einer Lotterie, die seit sechshunderttausend Jahren gespielt wird, Generation um Generation. Sind wir nicht Glückspilze? Es gibt Menschen seit dem Diluvium, und es wird, wenn die Götter es so wollen, noch ein paar tausend Jahre lang Menschen geben. Und just wir erleben so was! Wir, die wir trotz unserm unfaßbaren Glück zuweilen denken, in einer schier unerträglich harten Welt zu leben. (Urs Widmer: Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück, S. 110)


Der Zweck von Utopien

Utopien sind nicht dazu da, auf der Stelle Wirklichkeit zu werden. Jetzt und sofort genau so. Sie dienen aber durchaus dazu, auch fernliegende Möglichkeiten und Hoffnungen einmal zu bedenken. Damit wir dann, im wirklichen Leben, in jene Richtung gehen können, sei der Weg noch so mühselig und seien die Schritte noch so klein. Immerhin gehen wir dann nicht in die Gegenrichtung. (Urs Widmer: Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück, S. 85)


Wesen des Schmerzes

Aber der Schmerz von innen hat seine Funktion, er bricht als Tatsache des Lebens selbst wie die Lust aus den Widersprüchen der Entwicklung, und er bringt Informationen, die Lust nie brächte, Warnung und Mahnung, daß da etwas krank sei, ein Nerv eingeklemmt, ein Muskel entzündet, Zellen einseitig ernährt, der Blutkreislauf unterbrochen, ein Gelenk von Versteifung bedroht. Das Wesen des Schmerzes ist Erregung von Unlust, verständlich, daß man ihn hemmen will, doch wer sich ihm ganz zu entziehen versucht, beraubt sich eines lebenserhaltenden Sinnes und - um speziell von der Kunstwahrheit zu sprechen - der lebenserneuernden Macht der Katharsis. Lust und Schmerz sind unabdingbar, die ganze Wahrheit unsres Werdens zu fassen, an die wir uns ja nur annähern können, eben darum braucht Wahrheit Jeden, so wie ein Jeder Wahrheit braucht. (Franz Fühmann an Klaus Höpke, 20.11.1977)


Sich beeilen mit seinen Plänen

Inzwischen sei die moderne Medizin viel, viel weiter, schon allernächster Zeit werde sie das menschliche Leben praktisch ins Unendliche verlängern können. Die Aussicht ließ die Warinskaja erschaudern: "Greisin auf Ewigkeit, das wäre mir was!" Großes Gelächter. Nur Leonid Michailowitsch saß schweigend auf dem Diwan, ich setzte mich zu ihm und fragte, was er darüber denke. "Ich denke darüber, daß Skrjabin an einem Furunkel gestorben ist, für die Blutvergiftung durfte er sich beim Barbier bedanken, er hatte noch viel vor und ist nicht dazu gekommen." - "Soll das heißen, man geht besser nicht mehr zum Friseur?" - "Nein, das soll heißen, man sollte sich beeilen mit dem, was man vorhat." (Michail Schischkin: Venushaar)


Pappeln, Kaviar und Gedichte

Das Leben. - Oh Mann, nerv nicht rum. Nichts will ich, nichts. Laßt mich in Ruhe. Sucht euch einen Gott, dafür sind sie entwickelt, fragt ihn, er wird euch antworten, wenn ihr fest genug an ihn glaubt. Aber verschont mich mit eurem Gezeter und Gejammer, seid froh, daß ich da bin, und haltet die Fresse. Ich hatte nicht mit dieser Renitenz gerechnet, als ich euch entwickelt habe. Ich war besoffen. O.k., ich war besoffen, ihr seid mir so rausgerutscht. Ein bißchen zuviel Hirn hat verheerende Folgen. Macht quengeln, macht jammern und denken, ihr seid mehr als das andere Zeug, das ich herausgebracht habe. Es ist ein Irrtum, hört ihr, ein Irrtum. Bitte seid einfach ruhig, schaut euch Pappeln an und eßt lecker Kaviar, freut euch, daß ihr Gedichte aufsagen könnt, wenn ihr spazierengeht, aber begreift, daß ihr keine Antwort bekommen werdet von mir. (Sibylle Berg: Amerika)


Highlights

Ich saß im Zug, als ich mich in der Kantine gesund und ausgewogen ernähren sollte, mutmaßlich beim freitäglichen Fischgericht (nein, ich bin nicht katholisch, auch nicht das andere, eher Agnostiker - aber den Freitag-ist-Fischtag-Brauch meiner christlichen Ahnen hatte ich mir zu eigen gemacht. Echte Könner ziehen sich ohnehin die Highlights aus allen Religionen. (Stephan Bartels: Der Kilo-Killer. Ein Jahr im Schlankheitswahn, S. 57)


Worst-Case-Szenario

Ob ich selbst auch so ein Worst-case-Szenario habe? Selbstverständlich – ich empfehle Ihnen in diesem Buch nichts, was nicht bei mir selbst erprobte Praxis wäre. Ich habe beschlossen, dass es mir zur Not gelingen müsste, unter folgenden Minimalbedingungen mein Leben einigermaßen zufrieden zu leben: Eine Plattenbau- Einraumwohnung, eine warme Mahlzeit pro Tag (ich bin – derzeit sage ich: leider – ein guter "Futterverwerter"), ein Laptop mit Internetanschluss und eine Dauerkarte für eine gute öffentliche Bibliothek. Ich hoffe, dass es in Deutschland noch sehr lange möglich sein wird, sich solche Minimalbedingungen zu schaffen. (Dietmar Hansch: Erfolgreich gegen Depression und Angst)


Eine bittere Süße

Für gar nicht so wenige tiefsinnige Intellektuelle war und ist eine gewisse Depressivität durchaus ein persönliches Qualitätssiegel. So wie wir alle Herzklopfen für eine angemessene Reaktion des Körpers auf einen 200-m-Sprint halten, so sehen sie in Depressivität eine angemessene Reaktion der Psyche auf die vielen negativen Entwicklungen in unserer Welt und Gesellschaft. Wenn man in dieser Weise depressive Phasen als einen notwendigen und ehrenvollen Teil des eigenen Schicksals sieht, wird man viel weniger darunter leiden, ja manchmal wird man der Melancholie sogar eine bittere Süße abgewinnen und sich darin genießen können. (Dietmar Hansch: Erfolgreich gegen Depression und Angst)


Das Leben erzählen

Früher erzählte ich gerne. Ich erlebte ja auch einiges auf meinen Reisen. Ich konnte meine Freunde und Bekannten stundenlang mit meinen Geschichten unterhalten, und was mich selbst dabei am meisten entzückte, war, wie sich das Leben, das ich führte, bloß durch das Erzählen verbesserte. Ereignisse, die mich in Wahrheit hochgradig irritiert hatten, wurden, wenn ich sie berichtete, komisch, schrill, erheiternd. Was mich in Wirklichkeit gelangweilt hatte, wurde, nur geringfügig ausgeschmückt, zu einem spannenden Abenteuer, Zufälle erschienen bedeutsam, Banalitäten wurden lehrreich. Mein Leben, so austauschbar und ermüdend es auch war, bekam, wenn ich es erzählte, etwas Reiches und Buntes, geradezu Beneidenswertes, an das ich manchmal sogar selbst glaubte. So war ich mit meinem Leben einigermaßen zufrieden. (Robert Menasse: Ich kann jeder sagen, S. 128)


Allumfassende Gelassenheit

Jetzt, in diesem Moment, schließen unzählige Menschen zum letzten Mal die Lider, und gleichzeitig schlagen unzählige andere sie zum ersten Mal auf, und sieht man einmal ab von allem Persönlichen, könnte man den Eindruck gewinnen, das ganze Dasein, das leidige Werden und Vergehen, sei nichts als ein Blinzeln oder Augenzwinkern auf dem Grund einer allumfassenden Gelassenheit. Wäre das ein Trost? (Ralf Rothmann: Feuer brennt nicht, S. 8)


Kalte Revolution

Jedes Individuum sei in der Lage, in sich selbst eine Art 'kalte Revolution' zu verursachen, schreibt Michel Houellebecq, indem es einen Augenblick die Flut informativer Werbung an sich vorbeiziehen läßt. "Es reicht aus, einen Schritt zur Seite zu treten. [...] Es reicht aus, eine Ruhepause einzulegen, das Radio auszustellen, den Fernseher auszumachen; nichts mehr zu kaufen, nichts mehr kaufen zu wollen. Es reicht aus, nicht mehr mitzumachen [...]. Es reicht im wahrsten Sinne des Wortes aus, für einige Sekunden reglos zu werden." (Ilma Rakusa: Langsamer! Gegen Atemlosigkeit, Akzeleration und andere Zumutungen, S. 54)


Vorsorge und Vorauswissen

Ist die vorsorgliche Darmspiegelung (als typisches Beispiel für die regierende Vorsorge-Gesinnung), ist das Weiterschieben von Glückgütern an die nächste Generation eigentlich durchweg vernünftig? Niemand bestreitet, daß mit einer solchen Einstellung eine Einbuße an auch noch möglichen Lebensjahren einhergehen kann. Allenfalls halblaut aber ist von dem möglichen Gewinn die Rede: davon, daß ein Leben abseits von Vorsorge und Magerquark auch Vorzüge hat. Dem erhobenen Zeigefinger der Reformhaus-Kunden und den Posaunen der Gesundheitsindustrie sollte man die Meinung einer bisher eingeschüchterten Minderheit entgegenstellen, von der sich nicht ausschließen läßt, daß sie die Mehrheit ist. Wer leidet, geht zum Arzt - keine Debatte. Wer nicht leidet, hat jedoch zwei Möglichkeiten: Entweder er läßt sich durchleuchten, anstechen und auf Diät reduzieren, in der Hoffnung, künftiges Leiden dadurch zu vermeiden, zu lindern oder hinauszuschieben. Oder aber er will nicht zu lange im Voraus wissen und nicht zu genau erfahren, wann und woran er sterben wird, falls er dieses tut und jenes läßt. Ihm schaudert vor dem unfrohen Dasein, das zwangsläufig die Folge ist, wenn man jede Stunde des Lebens in den Dienst der möglichst langen Vermeidung des Todes stellt.

Versündigt sich denn einer an irgendjemandem, wenn er versucht, halbwegs unbeschwert in den Tag hineinzuleben? An seinem Lebenspartner nicht, falls er sich mit ihm einig ist - an seinen Kindern nicht, falls sie nicht mehr auf ihn angewiesen sind, Umgekehrt: Je länger er sich im Greisenalter etabliert, desto häßlicher ist das Bild, das er den Hinterbleibenden hinterläßt; desto wahrscheinlicher behelligt er sie mit der Pflicht, sich um ein Wrack zu kümmern. Versündigt er sich an der Gesellschaft? An der schon gar nicht. Den so genannten Generationenvertrag in der Rentenversicherung erfüllt keiner besser als der, der eine Woche nach Eintritt des Rentenalters aus der Rente fällt; und der Solidargemeinschaft der Krankenversicherung kann - fromme Reden hin oder her - ein Mitglied nur umso willkommener sein, je früher es stirbt: Sich nicht durch siebzehn Operationen in seine Neunziger hinaufzuquälen, spart Hunderttausende.

Da also Gottes Ratschluß unerforschlich, die Gesellschaft mit jedem nicht allzu späten Tod zufrieden und die Trauer der Familie oft vermutlich von Erleichterung durchsetzt ist, sollte man jedem seine private Entscheidung gönnen. Zu solcher Güterabwägung wären vernünftigerweise noch ein paar Gründe heranzuziehen, die im harmonischen Chor der Ärzte, der Apotheker, der Hypochonder kaum vernehmbar sind. Zum Ersten: Vorsorge und Früherkennung leisten in ziemlich vielen Fällen unbestritten nicht etwa einen Beitrag zur Lebensverlängerung - sie vermehren nur die Zahl der Jahre, in denen wir wissen, wann wir woran sterben müssen; eine grauenvolle Einbuße an Lebensqualität. Könnte es nicht einen Grad des Bescheidwissen über die eigene Zukunft geben, der das Leben unerträglich macht? Wie dringend ist, sich die Prognose aller künftigen Scheußlichkeiten zum täglichen Begleiter zu nehmen - und dies in einer Zeit, in der die Verheißung künftiger Freuden immer weniger offene Ohren findet? (Wolf Schneider: Glück. Eine etwas andere Gebrauchsanweisung)


Duldsamkeit

Unter denjenigen Vorteilen, welche mir meine letzte Reise gebracht, stehet wohl die Duldsamkeit oben an, die ich, mehr als jemals, für den einzelnen Menschen empfinde. Wenn man mehrere Hunderte näher, Tausende ferne betrachtet, so muß man sich gestehen, daß am Ende jeder genug zu tun hat, sich einen Zustand einzuleiten, zu erhalten und zu fördern, man kann Niemand meistern, wie er dabei zu Werke gehen soll, denn am Ende bleibt es ihm doch allein überlassen, wie er sich im Unglück helfen und im Glück finden kann. In diesen Betrachtungen bin ich dieses Mal sehr glücklich durch die Welt gekommen, indem ich von Niemand etwas weiter verlangte, als was er geben konnte und wollte, ihm weiter nichts anbot, als was ihm gemäß war, und mit großer Heiterkeit nahm und gab, was Tag und Umstände brachten; und so hab ich Niemanden in seiner Lebensweise irre gemaxht. Überzeugung, Sitte, Gewohnheit, Liebhaberei, Religion, alles erschien mir durchaus den Personen gemäß, die sich gegen mich äußerten, und so habe ich es auch in Ansehung des Geschmackes gefunden. (Goethe, in: Ida Cermak: Ich klage nicht. Begegnungen mit der Krankheit in Selbstzeugnissen schöpferischer Menschen, S. 307)


Mit ganzer Seele

"Als Kind hatte ich Tagträume von 5 bis 10 Millionen" (tatsächlich war Thomas Wolfe in seiner Jugend als Zeitungsjunge zwar nicht in Not, aber doch in Armut), "die ich für Dampfjachten, Automobile, große Landgüter und dergleichen Großtuereien hinauswarf. Jetzt weiß ich, daß man auf diese Weise nicht glücklich wird; der einzige Weg, den ich kenne, ist, die Sache herauszufinden, die man mit ganzer Seele zu tun wünscht, und wie ein Verdammter an ihr arbeiten. Vielleicht werde ich auch so niemals glücklich, aber wenn ich nichts täte, würde ich in einem halben Jahr reif für das Irrenhaus sein. (Ida Cermak: Ich klage nicht. Begegnungen mit der Krankheit in Selbstzeugnissen schöpferischer Menschen, S. 128)


Kleine und starke Charaktere

Kleine Charaktere müssen fleißig sein, weil sie immer ein Alibi brauchen, um sich zu rechtfertigen, vor sich, vor den anderen: Ich habe heute das und das gemacht, ich habe nicht umsonst gelebt, und vergib uns unsere Schuld, amen. Wenn das Alibi fehlt, können sie nicht pennen. Weil sie Angst haben, die Kleinen. Vor dem Tod haben sie Angst, die lieben Kleinen, deshalb müssen sie jeden Tag was für ihre Unsterblichkeit tun. Unsterbliche Werke müssen die süßen Kleinen täglich schaffen. Und was hat der Verfasser eines unsterblichen Werkes von seinem unsterblichen Werk, wenn er verfault ist? Fanfare! Starke Charaktere brauchen kein Alibi. Sie haben nicht nötig, sich von irgend jemandem zu rechtfertigen. Sie liegen in der Sonne, sie können sich leisten, auf Anerkennung zu pfeifen, sie ruhen in sich selbst. Wir scheißen auf die Nachwelt, meine Damen, wir leben, Küßchen. (Irmtraud Morgner: Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura, S. 244)



Frühzeitige Aufklärung

Von den Personen, mit denen meine Familie Umgang pflegt, haben alle den gleichen Weg beschritten: eine Jugend, in der man seine Intelligenz gewinnbringend anzulegen versucht, in der man das Studienpotential wie eine Zitrone auspreßt und sich eine Spitzenposition sichert, und dann ein ganzes Leben, in dem man sich verblüfft fragt, warum derartige Hoffnungen in einer so leeren Existenz gemündet haben. Die Leute meinen, sie verfolgen die Sterne, und dann enden sie wie Goldfische in einem Glas. Ich frage mich, ob es nicht einfacher wäre, den Kindern von Anfang an beizubringen, daß das Leben absurd ist. Das würde zwar die Kindheit um ein paar schöne Momente bringen, doch für den Erwachsenen wäre es ein beträchtlicher Zeitgewinn - ganz abgesehen davon, daß man sich mindestens ein Trauma ersparen würde, dasjenige des Goldfischglases. (Muriel Barbery: Die Eleganz des Igels, S. 16)


Kindliches Gelächter

Sie werden von drei tropischen Regengüssen gepeitscht, und sie teilen lachend deren Wärme und Heftigkeit. George kann sich nicht erinnern, in den letzten Jahren so sehr gelacht zu haben. Lachen vor Glück, lachen zu können. Lachen wegen der wiedergefundenen Kindheit. Vielleicht kann man so vehement nur mit einem Mann lachen, mit dem man soeben mit der gleichen Vehemenz geschlafen hat? Hat Gauvian mit seiner Frau jemals so gelacht? Bei ihm dürften eher Lachsalven unter Männern üblich sein, an hohen Feiertagen in der Kneipe. Unter Frauen lacht man leise und heimlich und beherrscht sich schnell wieder: "Das ist ja alles recht und schön, aber die Pflicht ruft!" Nach ein paar Ehejahren, Jahren schweren Lebens, in denen sich die Kluft zwischen den Geschlchtern noch vertieft - jeder bei seiner mit Worten nicht mitteilbaren Aufgabe, der eine auf See, der andere zu Hause, in der Fabrik oder auf dem Feled -, verliert man mehr und mehr die Fähigkeit zum kindlichen Gelächter. (Benoite Groult: Salz auf unserer Haut, S. 114)


Liebe und Geld

Weißt du, ich halte mich nicht für verbittert oder zynisch oder desillusioniert oder sonstwas. Ich halte mich bloß für jemand, der die Dinge jetzt klarer sieht als zuvor. Liebe und Geld sind zwei große Hologramme, die sich glitzernd vor uns drehen und wenden wie reale 3-D-Gegenstände. Dann greifst du danach, und deine Hand geht einfach durch sie durch. Ich habe immer gewußt, daß Geld eine Illusion ist, aber ich wußte auch, daß es dennoch innerhalb gewisser Grenzen Macht besaß, und eine wunderbare Macht dazu. Ich wußte nicht, daß die Liebe auch so ist. Ich wußte nicht, daß man mit der Hand einfach hindurchfassen kann. Jetzt weiß ich es, und ich bin weise. (Julian Barnes: Darüber reden, S. 225)


Wirkliche Taten

Ich verspreche Ihnen, daß wir Sie nicht durch theoretische Gespräche langweilen werden, wie im vorigen Herbst einmal... erinnern Sie sich noch?" "Ach", sagte Therese und reckte sich, "es kommt so wie so nichts dabei heraus. Taten! meine Herren!" "Und was kommt bei Taten heraus"? fragte Leo. "Sie sind höchstens Privaterlösungen für den Moment." "Ja, Taten, die man für sich selbst begeht", sagte Therese. "Nur was man fähig ist, für die andern zu leisten, ohne Rachsucht, ohne Eitelkeit persönlicher Natur, namenlos womöglich, nur das nenn ich eine Tat". (Arthur Schnitzler: Der Weg ins Freie)


Mangelndes Vorausdenken

Wenige Jahrzehnte der unsachgemäßen Bodenwirtschaftung haben genügt, um eine in Jahrtausenden gewachsene natürliche Ressource unwiederbringlich zu zerstören. Zwar sind auch Böden keine statische Größe, doch die Bodenneubildung ist ein extrem langsamer Prozeß. Um 2,5 Zentimeter landwirtschaftlich nutzbaren Boden aufzubauen, benötigt die Natur etwa 500 Jahre. Da aber die Landwirtschaft mindestens 25 Zentimeter tiefe Böden braucht, dauert dieser Prozeß 3000 Jahre. Ein Meter dicke Unterböden benötigen gar Entwicklungszeiten von zehntausend bis hunderttausend Jahren. Die natürliche Bodenerneuerung liegt im Bereich geologischer Zeitskalen. Auf menschliche Zeitskalen bezogen müssen auch Böden als nicht-erneuerbare Ressource eingestuft werden. (Michael Baeriswyl: Chillout. Wege in eine neue Zeitkultur, S. 88)


Die große Maschine

Nicht in einer fortschreitenden Abkopplung der Wirtschaft von der Lebenswelt, geschweige denn in einer Anpassung der Lebenswelt an die Sphäre der Wirtschaft, liegt die Zukunft für einen neuen Umgang mit der Zeit, sondern gemäß Barbara Sichtermann darin, "das Leben vom Förderband zurück auf die Erde" zu bringen und die Wechselfälle des Lebens wieder in die ökonomische Sphäre zurückzuholen. Mit den "Wechselfällen" sind dabei all jene Ereignisse gemeint, die teils einer natürlichen oder sozialen Rhythmik folgen, zumeist unvermeidbar sind und letztlich für ein bewegtes Leben sorgen wie Masern, Mumps und Keuchusten, Schneesturm, Föhn und Hagel, Besuch der Schwiegereltern, Jubiläen und Todesfälle, Einbrüche und Umzüge, Geburtstage und Schwangerschaften, Apfelblüte und verregnete Ostern, Stromausfälle und Kündigung, Festessen und Totenwachen, Frühgeburten und Weltschnmerz. Solche Wechselfälle sind für Berufstätige, sprich: Männer, kaum vorgesehen. Zum Zuständigkeitsbereich der Frau erklärt, sollen sie in ihren Wirkungen auf den Arbeitenden neutralisiert und von den Frauen vorhergesehen, abgefangen und durchgestanden werden. Daß die Frauen dergestalt dem Leben näher stehen sollen, nützt ihnen jedoch insofern wenig, als ihre einzige Aufgabe darin besteht, die Arbeit vor dem Leben zu schützen. So wird zwar die Effizienz der Arbeitszeit gesteigert, Lebenszeit aber schrumpft auf den Stellenwert einer Restgröße. Das Leben vor dem Tode versäuert zu einer Vermeidungsstrategie und die individuellen Eigenzeiten verkommen zur Dispositionszeit ökonomischer Interessen. Leben jedoch müßte noch zu etwas anderem gut sein als bloß dazu, die "große Maschine am Funktionieren und das eigene ich dafür fit zu halten." Eine neue Zeitkultur müßte dafür sorgen, daß Frauensachen wieder zu Menschensachen werden. (Michael Baeriswyl: Chillout. Wege in eine neue Zeitkultur, S. 171)


Pläne und Gelegenheiten

Zeitmanagement-Kurse sind somit weniger Anleitungen für einen geglückten Umgang mit Zeit als vielmehr eine zusätzliche Option im Arsenal der Mobilmachtungsstrategien beruflicher Aufsteiger im Kampf um einen der limitierten Plätze an der Sonne. Eine Strategie, in der Scheitern oder Mißerfolg weder vorgesehen noch gewollt sind. Eine Strategie, die suggeriert, daß alles, auch ein optimaler Lebenslauf, machbar sei, und dabei ignoriert, daß ein erfülltes Leben weniger aus Plänen als vielmehr aus Gelegenheiten besteht. "Man kann nur leben, indem man oft genug nicht macht, was man sich vornimmt, hat es der Schriftsteller Elias Canetti auf den Punkt gebracht. Diese Einsicht ist zwar kein Rezept für eine rasante Karriere, womöglich aber für ein gelingendes Leben. (Michael Baeriswyl: Chillout. Wege in eine neue Zeitkultur, S. 61)


Sich einen Sinn zurechtzimmern

Gab es vielleicht einen alten, ihm bisher nicht offenbarten Fluch, der ihn jetzt traf? Wie konnte er der Unentschlossenheit entkommen, die sein Leben verdüsterte? Selbst Galila machte sich in vollem Ernst daran, ihr Leben zu ändern. Warum tat er es ihr nicht nach? Kämpft man gegen die Flut und sieht nicht den rettenden Fels, muß man ertrinken. Hat das Leben keinen Sinn, warum schafft man sich keinen? "Es ist falsch, in dieser Welt nach einem Sinn zu suchen. Wahrscheinlich besteht unsere oberste Pflicht darin, sich einen Sinn zurechtzuzimmern." (Nagib Machfus: Zuckergäßchen)


Rührend alberne Lebensplanung

Wüßte man es doch nur von Anfang an, wie rührend albern jeder Plan im Leben ist, dachte ich, das Auge ein wenig matt. Dann hätte man all die Stunden, die man verbringt mit der Erstellung von Listen, auf denen man Vor- und Nachteile einer Entscheidung aufzeichnet, und mit dem Sinnieren darüber, was sein würde und wie es aussehen sollte, das Leben, später, und all die unglaublich wichtigen Entscheidungen zum Grillen von Innereien verwenden können. Das kann sich doch keiner vorstellen, wie er sich in zehn Jahren fühlen wird, oder auch nur in fünf, und was sind das für Menschen, die mit zwanzig zu wissen glauben, wo sie ihren Lebensabend oder auch nur den Urlaub in einem Jahr verbringen möchten. Irgendwann hatte ich verstanden, daß meine Wünsche, meine Haut, meine Ideen, mein Befinden sich mit jedem neuen Jahrzehnt komplett ändern würden. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 184)


Glück kommt durch Liebe

Der Grund aller Weisheit ist: Glück kommt nur durch Liebe. Sage ich nun "Liebe deinen Nächsten!" so ist das schon eine verfälschte Lehre. Es wäre vielleicht viel richtiger zu sagen: "Liebe dich selbst so wie deinen Nächsten!" Und es war vielleicht der Urfehler, daß man immer beim Nächsten anfangen wollte... Jedenfalls: das Innerste in uns begehrt Glück, begehrt einen wohltuenden Zusammenklang mit dem, was außer uns ist. Dieser Klang wird gestört, sobald unser Verhältnis zu irgendeinem Ding ein andres ist als Liebe. Es gibt keine Pflicht des Liebens, es gibt nur eine Pflicht des Glücklichseins. Dazu allein sind wir auf der Welt. Und mit aller Pflicht und aller Moral und allen Geboten macht man einander selten glücklich, weil man sich selbst damit nicht glücklich macht. Wenn der Mensch "gut" sein kann, so kann er es nur, wenn er glücklich ist, wenn er Harmonie in sich hat. Also wenn er liebt. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 13: Betrachtungen und Berichte. 1899-1926, S. 386)


Übersättigung an Glück

Etwas zu wünschen übrig haben, um nicht vor lauter Glück unglücklich zu sein. Der Leib will atmen und der Geist streben. Wer alles besäße, wäre über alles enttäuscht und mißvergnügt. Sogar dem Verstande muß etwas zu wissen übrigbleiben, was die Neugier lockt und die Hoffnung belebt. Übersättigungen an Glück sind tödlich. Beim Belohnen ist es eine Geschicklichkeit, nie gänzlich zufriedenzustellen. Ist nichts mehr zu wünschen, so ist alles zu fürchten: 'unglückliches Glück'. Wo der Wunsch aufhört, beginnt die Furcht. (Balthasar Gracian) ^


Ein jeder Tag

Ein jeder Tag hat einen Augenblick, den findet Satan nicht
Und auch nicht seiner Teufel Schar. Der fleiß'ge aber
Findet ihn & mehret ihn, & wenn er aufgespürt,
Er jeden Augenblick des Tags erneu'rt, wenn man ihn richtig nützt.
(William Blake: Milton) ^


Möglichkeiten des Wachstums

Fast jede Lebenssituation bietet einem Möglichkeiten zum Wachstum. (...) Doch um diese Transformation zu bewältigen, muß man bereit sein, unerwartete Gelegenheiten zu erkennen. Die meisten Menschen laufen aufgrund ihrer genetischen Programmierung und gesellschaftlichen Konditionierung auf so starren Bahnen, daß sie sämtliche Chancen ignorieren, einen anderen Kurs einzuschlagen. (Mihaly Csikszentmihaly: Flow. Das Geheimnis des Glücks) ^


Intensiv leben

Aber was ist "leben"? Tun, was man will? Das glaubt man, wenn man jung ist. Leben, das bedeutet immer: tun, was man soll. Ich glaube fast, es ist gleichgültig, was man tut. Es kommt nur auf die Intensität an, mit der man es tut. Wer diese Intensität nicht hat, der wird niemals erfahren, was leben heißt, und der, der glüht, wird in allem, was er tut, "leben". Aber vielleicht ist auch das keine sehr tiefe Weisheit. Vielleicht kommt es nicht auf die Intensität an, sondern auf das Fundament oder auf die Richtung oder, um es in Ihrer Sprache zu reden: auf "die gute Meinung". (Luise Rinser: Abenteuer der Tugend) ^


Entscheidungen beibehalten

Wenn man die Verpflichtungen einer altmodischen Ehe eingeht und dies bereitwillig tut, statt durch die Tradition dazu gezwungen zu werden, braucht man sich keine Sorgen mehr zu machen, ob man die rechte Wahl getroffen hat oder ob die Kirschen in Nachbars Garten vielleicht besser schmecken. Als Folge davon wird ein großer Teil der Energie zum Leben freigesetzt, statt auf Sorgen verwendet, wie man vielleicht anders leben könnte. (Mihaly Csikszentmihaly: Flow. Das Geheimnis des Glücks) ^


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